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Das Leben ist kein Film. Es gibt keine Drehpause, kein Skript. Und manchmal stehst du da, umgeben von Hühnern, Schulden und der Erkenntnis, dass du Mist gebaut hast." Bianka steht nach der Trennung von Peter vor einem Leben, das sie am liebsten wegmoderieren würde. Statt Ruhe gibt es renovierungsbedürftige Wände, meckernde Nachbarn und Hühner mit der Arroganz von Mini-Diktatoren. Und als wäre das nicht genug, steht Peter wieder vor der Tür. Männer tauchen ja immer dann auf, wenn man gerade dabei ist, sich neu zu erfinden. Aber Bianka hat ihre "Crew": Jo - die Yogini, Carmen - die Studienliebe, Anita - die pragmatische. Was wie eine romantische Vorstellung von Freundschaft klingt, wird schnell zur Reality-Show ohne Skript. Alle Dramen dieser Frauen finden im Wohnzimmer statt, und der Hund Bobek ist der Einzige, der nicht jammert. Parallel läuft ein Thriller — in Biankas Kopf. Sie schreibt an einem Roman. Kein Liebesgedöns, sondern ein Psychothriller. Dunkel. Kalt. Genau das Gegenteil ihres Lebens, das zu warm und chaotisch ist. Ihre Protagonistin Angelika, eine manipulative Psychopathin, beginnt mehr Raum in Biankas Gedanken einzunehmen. Die Grenze zwischen Roman und Realität verwischt. Dann taucht Oksana auf. An der Haustür steht eine Frau mit einem Koffer, die vor ihrem Mann geflohen ist. Kein Drama, keine Tränen — nur diese eine Frage: "Hast du Platz?" Oksana bleibt. Ihre Ruhe und ihr unerschütterlicher Mut inspirieren Bianka. Denn Oksana hat "Nein" perfektioniert. Kein zögerliches, nervöses Nein, sondern ein klares, unumstößliches "NEIN." Bianka sieht es und weiß, dass auch sie ihre Macht zurückgewinnen kann. Der große Showdown kommt schneller als erwartet. Peter steht vor der Tür. Diesmal nicht mit Blumen, sondern mit einem Plan — wie Männer das eben so machen, wenn sie glauben, das "letzte Wort" zu haben. Die Tür fällt zu? Hat Bianka Ihre Nein gefunden? Das wird sich zeigen. Fazit: "Schätzchen, sag einfach … Nein!" ist der Auftakt einer Trilogie über die Kunst des Neinsagens, die Macht von Freundschaften und den Moment, in dem man erkennt, dass die Kontrolle über das eigene Leben nicht verhandelbar ist. Es ist eine Heldinnenreise, die sich zwischen Selbstfindung, Freundschaftsroman, Emanzipation und Persönlichkeitsentwicklung bewegt. Es ist Sex and the City mit Hühnern, gewürzt mit einem Hauch von Carlos Ruiz Zafóns Melancholie. Ein bisschen Chaos, ein bisschen Magie — und viel, viel Klarheit, die erst kommt, wenn man endlich "Nein" sagt.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
ANIK KINA
SCHÄTZCHEN,
SAG EINFACH … NEIN!
Inhalt
Title Page
Anfänge sind immer schwer
Routine … eine einfache Sache, die immer hilft
Der Garten und seine Werte. Oder wie mein innerer Geist entspannen kann.
Die Aktivität soll dazu beitragen, dass Frau sich besser fühlt.
Nachbarschaftsprobleme
Arbeitstitel: Mord und Macht – Teil eins
Rückkehr und Abschied
Mord und Macht – Teil zwei
Das Hühnerkino
Mord und Macht – Teil drei
Der Frauen-Spleen
Leben wie Gott in Frankreich
Mord und Macht – Teil vier
Mord und Macht – Teil fünf
Du und ich unter einem Dach?
Mord und Macht – Teil sechs
Umzug
Oksana
Der Winter kommt
Mord und Macht – Teil sieben
Mord und Macht – Teil acht
Mord und Macht – Teil neun
Was geschah …
Mord und Macht – Teil zehn
Nein
Pech oder Schicksal?
Warten auf das Ende
Mord und Macht – Teil elf
Manchmal muss man auf sich selbst warten
Mord und Macht – letzte Szene
Der Berg kam nicht zum Propheten, der Prophet kam zum Berg
Danksagung
Über die Autorin
Impressum
Keine Notwendigkeit drängt uns, so zu sein, wie andere uns sehen wollen.
Tarot-Tageskarte: Der Narr – Du bist frei, du bist neugierig und hast Mut, hmm, echt jetzt? Okay. Ich darf kindlich sein, aber ehrlich, ich bin fast fünfzig – weiß jemand in meinem Alter überhaupt noch, wie sich das anfühlt? Zöpfe flechten wird da nicht wirklich helfen. Optimismus … definitiv die falsche Adresse.
August: ein Freitag …
Projekt: Buch
Geschriebene Seiten: 0
Ideen: 0
Ich lach mich tot, schon wieder eine Schreibblockade. Die wievielte? Keine Ahnung. Denn mal ehrlich, worüber soll man noch schreiben, wenn sich alles auf dieser Welt schon abgenutzt, durchgekaut und bis aufs Mark ausgelutscht anfühlt? Ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, was ich noch schreiben soll! Und wer ist schuld? Natürlich ich. Schließlich habe ich mir diesen verdammten Beruf ausgesucht, der mich ständig quält. Ich bin schuld … wie immer. Egal, was passiert – ich bin's. Die Wolken hängen schwer am Himmel? Bestimmt meine Schuld. Der Rasen wächst zu lang? Auch ich. Die Rechnungen stapeln sich? Klar, meine Verantwortung. Alles scheint auf mich zurückzufallen. Ich, ich, ich. Und, wo bitte schon ist Liebe meines Lebens? Wo? … Nicht hier! … Momentan hasse ich mein triviales Dasein
Das eigentliche Problem? Ganz einfach: Dies sollte mein viertes Buch werden, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, worüber! Irgendwann gehen einem doch die Themen aus, oder? Ja, aber der Verlag wartet, Termine, Zusagen … alle warten auf mich. Andere finden doch auch Themen, also muss ich das auch schaffen. Mit achtundvierzig Jahren, einem Haus auf den Schultern und diesen endlosen Krediten und Rechnungen, die wie Zecken mein Bankkonto leer saugen … sind fehlende Ideen keine Option. Punkt, Bianka. Reiß dich zusammen, Frau!
Noch ein Buch, und ich könnte bis zur Rente rocken … na ja, unwahrscheinlich. Aber dieser Gedanke verschaffte mir wenigstens ein kleines bisschen Erleichterung. Seien wir aber realistisch, das ist einfach unmöglich. Noch zwei Bücher … vielleicht drei, wenn ich Pech hatte und etwas schiefging. Bei dem Gedanken spürte ich, wie mein Kopf schmerzte. Drei Bücher! Das war absolut verrückt. Einfach verrückt! Mein zerbrechliches Nervenkostüm würde das niemals aushalten. Dieser Druck, dieser endlose Schreibmarathon … Tag für Tag. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Aber je mehr ich es versuchte, desto mehr tat ich es trotzdem.
Telefon … Naaaa Gott sei Dank. Endlich hat mich jemand aus der Qual des Starrens auf ein leeres virtuelles Blatt befreit. Ein kurzer Moment der Erleichterung überkam mich, doch sofort folgte das unangenehme Gefühl der Niedergeschlagenheit, weil ich immer noch nichts geschrieben hatte und schon wieder nach einer Ausrede suchte, um es einfach sein zu lassen. Meine innere Verfassung fühlte sich an, als läge ein Stein in der Größe des Mondes auf mir. Wie soll man unter solchen Bedingungen leben, geschweige – kreativ sein, dachte ich, als ein weiterer Klingelton die Luft durchdrang. Peter? Naturlicht nicht, Jo am Telefon.
„Was willst du?“, brummte ich unhöflich in den Hörer und tat so, als wäre ich gerade aus einem genialen Gedanken gerissen worden – möglicherweise einer Idee, die die Welt auf vielschichtige und tiefgreifende Weise verändern würde, wie es nur bei Genies der Fall ist … Haha.
„Schreibst du? Oder tust du nur so, als ob du schreibst?“, fragte Johanna, kurz Jo, völlig unbeeindruckt von meinem mürrischen Ton.
„Ich wollte gerade anfangen, aber du hast mich aus meiner kreativen Stimmung gerissen, und wenn dieses brillante Buch nicht entsteht, bist du schuld, aber das nur nebenbei bemerkt.“ Ich seufzte tief.
„So schlimm?“
„Jo, was mache ich hier? Das ist einfach ein Desaster. Ich wäre am Spülbecken produktiver! In meinem Kopf ist Leere … eine riesige, gewaltige Leere.“ Stille breitete sich auf beiden Seiten des Hörers aus. „Jo, da ist nichts …“, flüsterte ich verschwörerisch in den Hörer. „Nichts“, piepste ich.
„Warte mal.“ Rascheln von Papier drang an mein Ohr, und Jo räusperte sich. Ich erkannte sofort, dass sie sich auf unser altbekanntes Ritual vorbereitete, das ich fast schon vergessen hatte. „An Bianka aus der Zukunft …“, begann sie feierlich.
„Dein erstes Buch war ein Bestseller, dein zweites Buch war ein Bestseller, und auch das nächste Buch wird einer sein! Und weißt du, warum? Weil du Talent hast … Merke dir das, das sagt dir Bianka aus der Vergangenheit, die gerade ihr drittes Buch beendet! Ich weiß, dass du Angst hast und denkst, du schaffst es nicht, aber bisher hast du es immer großartig gemeistert. Und deine Angst ist deine Muse … so wie bei anderen Schriftstellern ihre Gewohnheiten. Jede kreative Seele hat irgendwelche Eigenheiten, und bei dir ist es eben, das ständige Zweifeln an deiner Kreativität. Glaube an deine Legende, so wie andere daran glauben … und fang an zu schreiben!
Erinnerst du dich, das letzte Mal hat dir ein Spaziergang im Wald geholfen … vielleicht ist der Wald auch diesmal das, was du suchst? Sitz nicht herum, grüble nicht über deine Probleme nach, sondern geh unter einen Baum, zu den Hühnern, in den Garten … wohin auch immer … du schaffst das.
Bianka aus der Vergangenheit.“
Stille folgte. Johanna seufzte in den Hörer und rief dann: „Kinder, jetzt aus voller Lunge!“ Ich hörte Stühle rücken, Fußtritte, Lachen und dann kehrte für einen Moment Ruhe ein – nur um von einem ohrenbetäubenden Chor aus Kinderstimmen durchbrochen zu werden, die schrien: „Du schaffst das!“ Tränen traten mir in die Augen, bereit, jederzeit zu fließen, und ich schniefte gerührt.
„Und, hats geholfen?“, fragte Jo pragmatisch.
„Ja, danke.“
„Gut, dann gehe ich wieder unterrichten. Bis zum nächsten Mal.“ Jo legte auf.
Nachdem Jo aufgelegt hatte, saß ich noch eine Weile still da, das Telefon immer noch in der Hand, und versuchte, ihre Worte in mir nachklingen zu lassen. „Du schaffst das.“ Bianka aus der Vergangenheit, voller Selbstvertrauen und Motivation – das sollte doch irgendwie inspirierend sein, oder? Früher schien es so einfach, zu glauben, dass alles möglich war. Das ein Spaziergang im Wald und ein paar Hühner mich wieder auf den richtigen Kurs bringen würden. Doch jetzt fühlte es sich anders an. So viel schwerer. Besonders, weil dieses dritte Buch eben kein Bestseller war … die Bianka aus der Vergangenheit hatte sich gewaltig geirrt. Mein drittes Buch war ein Flop.
Vielleicht lag es an den überhöhten Erwartungen – dieses Buch sollte wieder ein Bestseller werden, wie die anderen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Druck, erfolgreich zu sein, ins Unermessliche wächst und mich zwischen der Liebe und dem Hass für meinen Beruf schwanken lässt – beide Gefühle begleiten mich ständig. Ich habe immer versucht, die beste Schriftstellerin zu sein, die brillanteste, auch wenn nicht die schnellste (daher nur drei Bücher statt sieben oder acht) und vielleicht auch nicht die pflichtbewussteste, ich gebe es offen zu. Aber dennoch war ich unermüdlich – in meinem eigenen Tempo. Zählte das nicht? Was musste eine Frau tun, um sich endlich sicher zu fühlen? Was?
Es gibt so viele Legenden über unseren Beruf, das wusste ich. Die Vorstellung des Autors als einsamen „Eulenschreiber“ war dabei immer meine Lieblingsgeschichte. Dieser Mythos vom Schriftsteller, der um 18 Uhr aufsteht, den Alltag vergisst, kalten Kaffee trinkt und eine Zigarette nach der anderen raucht, während er im dichten Rauch akribisch an seinem Roman tippt – selbstverständlich auf einer Schreibmaschine. Eine weitere Legende, die sich nahtlos in die vielen Erzählungen über unseren Beruf einfügt.
Dann gibt es den „intellektuellen Literaten“. Der braucht ein Publikum – und eine Brille. Natürlich eine Warhol-Brille, das versteht sich von selbst. Unser Mann der Feder raucht ebenso eine Zigarette nach der anderen, gestikuliert wild und spricht in einer Gruppe von Begeisterten (oder Desinteressierten, das macht keinen Unterschied) mit leidenschaftlicher Stimme über seine Arbeit und deren Bedeutung für diese abscheuliche Welt. Nachdem er sich selbst lange genug zugehört hat, setzt er sich vor seine Schreibmaschine (ein Erbstück seines Großvaters, versteht sich). Seine Finger fliegen in schwindelerregendem Tempo über die Tasten, während er seine flüchtigen Geniegedanken festhält, inspiriert von seinem eigenen Diskurs. Der „Intellektuelle“ ist bekannt für seine Effizienz.
Und dann ist da der „Säufer-Schreiber“ – der mir persönlich am liebsten ist. Dieser Typ fühlt sich in jeder Kneipe zu Hause. Auch er raucht selbstverständlich eine Zigarette nach der anderen. Und ja, er schreibt auch auf einer Schreibmaschine, aber nicht, weil er Technik verabscheut oder nostalgisch veranlagt ist. Nein, er hat seinen Laptop längst versoffen! Tja, und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als die alte Schreibmaschine seiner Großmutter zu benutzen – die in der DDR als Sekretärin gearbeitet hat.
Ich hätte stundenlang über diese faszinierende Welt erzählen können, die in den Köpfen der Menschen fest verankert ist. Da gab es den Nachtigall-Schreiber, den depressiven Schreiber und so viele andere. Aber keine dieser Gruppen schien mich zu repräsentieren. Wo waren die Angsthasen? Die jammernden, sich selbst fürchtenden Schreiber? Zeigt euch! Ich will mich nicht so allein fühlen.
War die Aussicht, in Zukunft drei Bücher zu schreiben, vielleicht deshalb so abschreckend? Ich meine, bis dahin würde ich sicher einen Herzinfarkt bekommen … ganz zu schweigen von einer anständigen Depression. Warum, um Himmels willen, schreibe ich überhaupt noch? Wäre es nicht viel einfacher, in einem Verlag zu arbeiten? Oder als Gärtnerin, Barkeeperin, Reinigungskraft? Ehrlich gesagt, alles klang verlockender.
Aber warum tue ich es immer noch? Tja, vielleicht gibt es eine einfache Erklärung: Wenn das Manuskript endlich fertig ist, dann riecht es nach meinem Schweiß, ist getränkt von schlaflosen Nächten und meinen „rotznäsigen“ Tränen. Und wenn es dann vor mir liegt, fertig und bereit, gedruckt zu werden, dann überkommt mich eine kurze, aber heftige Welle der Erleichterung. Diese flüchtige Harmonie – ein seltener Gast – schleicht sich dann in mein Leben, nur um sofort wieder zu verschwinden.
In diesen Momenten denke ich, dass es sich doch irgendwie lohnt. Aber lassen wir uns nichts vormachen: In Gedanken habe ich diesen Job schon tausendmal gekündigt. Und obwohl ich im Verlag wahrscheinlich unter dem Pseudonym „Die ewige Arbeitssuchende“ bekannt bin, schreibe ich weiter. Wofür? Für diese verdammte Harmonie? Vielleicht. Oder weil ich einfach wie ein alter Christbaumschmuck im Juni bin, der nicht weiß, wohin mit sich. Wie ein kleiner streunender Hund, der hofft, dass doch noch jemand kommt, um ihn mitzunehmen.
Natürlich bleibe ich auch fürs Geld. Sagen wir, ich bin ein Sklave des Systems. Und, ja, vielleicht auch ein bisschen wegen des Prestiges, das wie eine glitzernde Staubwolke auf meinen kaputten Schultern landet und mich kurz aufrecht stehen lässt. Aber seien wir ehrlich: Es gibt auch diese masochistische Seite. Denn, seltsamerweise … ich mag es. Verrückt, oder? Es ist wie mit diesen Menschen, die freiwillig einen Marathon laufen. Man schaut sich die Massen verschwitzter Körper an und fragt sich im Stillen: „Warum zur Hölle tun die sich das an?“ Aber dann stehen sie da, am Ende völlig erledigt, und sagen ernsthaft – mit einem gequälten Lächeln: „Das war großartig! Ich kanns kaum erwarten, das noch mal zu machen!“ Und du fragst dich: Läuft bei denen noch alles rund?
Okay, ich werde mich an die Arbeit machen. Eines steht fest: Es wird auf keinen Fall ein weiterer romantischer Krimi. Es ist mir völlig egal, was sie in diesem Verlag wollen. Sollte sich noch einmal ein blondes, brünettes oder dunkelhaariges Mädchen zufällig in meine Hauptfigur verlieben – die natürlich ein Detektiv ist – dann schwöre ich, werde ich mir die Adern aufschlitzen. Sollte mir wieder jemand sagen: „Bianka, beende es mit einem Happy End, weil es sich viel besser verkauft“, dann werde ich die Treppe hinunterstürzen und einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem ich meinem Verlag offen die Schuld für psychische Gewalt gebe.
Tarot-Tageskarte: Der Mond – Verwirrung und Unsicherheit, Illusion und Täuschung, eine innere Reise in dein Unterbewusstsein. Fische leben im Reich der Intuition, und auch deine starken Empfindungen haben ihre Berechtigung. Nimm deine Ängste wahr. Fang an, deine Forderungen an das Leben zu stellen und ihnen einen Weg zu bahnen. Ja, ja, ja, ich tue es – ein Ehrenwort – aber bitte nicht heute. Heute will ich ein Hefeteig sein, kuschelig zugedeckt und in Ruhe gelassen werden. Habe ich gestern irgendwo diesen Spruch gelesen? Er beschreibt genau, wie ich mich fühle: wie ein Teig, ein kleiner Klumpen von irgendetwas … traurig, traurig.
August: Montag
Geschriebene Seiten: 0
Ideen: 0
Geisteszustand: Hmmmmmmmmm
Montag … neuer Anfang, neue Energie, neue Inspiration. Ha! Wer hat sich diesen Blödsinn ausgedacht? Das ganze Wochenende saß ich rum wie ein wartender Hund und hoffte auf seinen Anruf, nur um am Sonntagabend festzustellen, dass mein lieber Peter, die Liebe meines Lebens, mich mal wieder versetzt hatte. Wer macht so was? Warum, um Gottes willen, passiert mir das ständig nach all den Jahren, die wir zusammen sind? Warum erwarte ich überhaupt noch irgendwas … von ihm!
Und heute? Natürlich halfen weder mein ausgeklügelter Fünf-Kaffee-Plan noch der Versuch, mich durch den Tag zu schleppen – nicht nur bei meinem Beruf, der mir Brot und Obdach sichert, sondern bei ihm, diesem Schuft, der mich immer weiter in den Wahnsinn treibt. Auf dem Schlachtfeld, in meinem Kopf herrschte absolute Funkstille, kein Wunder. Es war, als hätten die Wörter eine Generalversammlung abgehalten und entschieden, mich kollektiv im Stich zu lassen. Millionen von Buchstaben lehnten sich entspannt zurück, winkten mir freundlich zu und lachten über meinen Kampf. Kleine, gemeine Widerlinge. Ganz ehrlich? Ich wünschte ihnen allen, dass sie im nächsten Leben Schriftsteller mit Schreibblockaden werden. Karma erwischt früher oder später jeden – sogar diese fiesen kleinen Bastarde von Mutter Muse!
Zum Glück gab es da Jo, meine ewige Freundin, meine Zuflucht, mein Versteck an grausamen Tagen. Jo, die Meisterin der Esoterik und selbst ernannte Chakra-Expertin. Sie behauptete immer, dass Peters und meine Energien einfach nicht miteinander harmonierten. „Es liegt wahrscheinlich an den Schwingungen,“ sagte sie oft, während sie mich mit diesem überlegenen Blick musterte – als ob sie und nur sie, die Weisheit des Universums entdeckt hätte und ich zu dumm wäre, sie zu verstehen. Typisch Jo. Sie hatte die Gabe, simple Dinge in so viel Mystik zu verpacken, dass du dich automatisch wie ein Idiot fühlst. Dabei weiß ich doch, wie dieses ganze Ding mit den Chakren und Energien funktioniert.
Beispiel gefällig? Letztens, beim vierten Glas Wein, sagte ich zu ihr: „Jo, Peter und ich passen einfach nicht zusammen.“ Punkt. Nichts Kompliziertes. Eine einfache Wahrheit, so klar wie ein Glas billiger Landwein. Aber Jo wäre nicht Jo, wenn sie es dabei belassen würde. Sie sah mich lange an, wie eine Katze, die auf eine besonders langsame Maus wartet, und sagte dann: „Nein, Bianka, menschlich seid ihr auf der gleichen Welle aber eure Seelen sind nicht in synchroner Schwingung, besonders auf der vierten Chakra-Ebene. Euer energetisches Feld passt einfach nicht in die esoterischen Arkana des transzendenten Sonnenuntergangs.“
Dass sie im Grunde das Gleiche sagte, wussten wir beide. Aber was soll's? Ich verzeihe ihr alles. Wir kannten uns schon so lange, dass Worte zwischen uns manchmal fast bedeutungslos geworden waren. Sie brachte mich in meine Mitte, war wie eine Insel im großen Ozean, die jede Welle trotzt und erfolgreich besiegt. Wenn ich müde bin, sind die Ufer da. Sie warten auf mich, bereit, mich zu stützen, mir zu helfen, mich selbst zu begreifen, mich zu warnen, wenn es nötig ist, und mich so zu nehmen, wie ich bin. Dank ihr kenne ich Tarot, dank ihr kenne ich Literatur und begreife die Schönheit jedes Wortes. Ich erinnere mich an unsere ersten Gedichte … grauenvoll, aber bei Kerzenlicht und geklautem Wein aus dem Keller meines Vaters fühlten sich unsere gestelzten romantischen Blabberreien wie reine Poesie an. Auch jetzt gibt mir Jo die ersten Kritikpunkte zu meinem Manuskript, und sie schenkte mir ein neues Tarotbuch – ein kleiner Hinweis, dass ich mich wieder meinen Wurzeln zuwenden soll. Tatsächlich lege ich mir jeden Tag eine Karte, und mein Unterbewusstsein spricht zu mir … Ich sage nicht, dass mir alles gefällt, was es da sagt, aber trotzdem denke ich darüber nach. Nur dank Jo bin ich noch hier … Ob sie das weiß?
Unsere Freundschaft begann, als wir einander brauchten wie die Luft zum Atmen. Ich, weil die Einsamkeit und das Gefühl, nirgends dazuzugehören, mich langsam aber sicher in den Wahnsinn trieben. Jo, weil sie zu Hause die Hölle durchlebte – mit einem saufenden Vater und einer krebskranken Mutter, die alles in Gebete legte, als Ersatz für medizinische Behandlung.
Anstatt ihre Krankheit zu behandeln, arbeitete Jos Mutter weiter und verheimlichte ihren Zustand, damit Jo nicht aus allen Wolken fiel. Aber hey, wie täuschst du ein Kind, das schon längst aufgehört hat, ein Kind zu sein?
Der Krebs, der bei richtiger Behandlung problemlos hätte geheilt werden können, erwies sich aber nach wenigen Monaten als tödlich. Jo war mit 17 ganz auf sich allein gestellt. Ihre Mutter tot, ihr Vater im Dauersuff, der Kühlschrank leer und die Schulden erdrückend. War das ein göttlicher Plan? Eher ein schlechter Scherz, würde ich sagen. Aber Gott hüllte sich, wie immer, vornehm in Schweigen.
Ob Jo damals die Werte ihrer Mutter teilte? Wohl kaum. Aber wir sprachen nie darüber. Wenn sie ihre Mutter vermisste, legte sie sich Tarotkarten und schwieg. In dieser Stille lag all der Schmerz, die Enttäuschung. Die Person, die für sie hätte kämpfen sollen, hatte es nicht getan. Jos Mutter hatte sich praktisch selbst aufgegeben, als sie sich weigerte, gegen den Krebs zu kämpfen.
Nur zwei Mal hab ich Jo wirklich gebrochen erlebt. Einmal, als wir am Grab ihrer Mutter saßen. Wieder war ein Jahr vergangen, in dem ihr Vater die Rente verprasste, während die Blumen auf dem Grab mit dem Unkraut kämpften. Plötzlich bekam Jo diesen fernen Blick. Ihre Wimpern flatterten nervös. Ich dachte, sie würde weinen. Doch statt Tränen kam ihre Stimme, leise und brüchig: „Wie konnte sie das tun, Bianka? Wie konnte sie mich bei ihm lassen?“ Ihre Augen bohrten sich in meine. „Wie konnte sie so feige sein? Warum hat sie den Ärzten nicht zugehört? Wie kann man Krebs ignorieren und glauben, dass Gebete das schon richten?“ Ihre Stimme wurde lauter. „Sie hat mich verlassen, Bianka. Ihr eigenes Kind! Sag mir: warum? Erklär’s mir, weil ich es einfach nicht verstehe!“
Ich schwieg. Es gab nichts zu sagen, was diesen Schmerz lindern konnte. Also umarmte ich sie einfach.
Nach dem Tod ihrer Mutter brach Jo den Kontakt zu ihrem Vater ab. Als sie hörte, dass er im Krankenhaus starb, besuchte sie ihn nicht. Er war für sie längst tot. Meine Mutter, immer fest an christliche Werte glaubend, meinte: „Vielleicht wirst du es bereuen, Jo. Man bereut solche Dinge später.“
„Hören Sie“, sagte Jo mit einer Schärfe, die meine Mutter zum Schweigen brachte, „mein Vater hat aufgehört, für mich zu existieren, lange bevor meine Mutter starb. Er war ein Monster. Und sie ist ihm nicht aus Liebe geblieben, sie ist geblieben, weil ihr wichtiger war, was die Leute sagen würden. Vor allem die Kirche.“
Meine Mutter saß stumm da, getroffen von Jos bitteren Worten.
„Sie hat sich für den Tod entschieden“, fügte Jo hinzu, ihre Stimme wurde plötzlich ruhig. Dann drehte sie sich um und verschwand.
„Da haben wir den Salat“, seufzte meine Mutter leise.
„Ja“, stimmte ich zu, und wir tranken unseren längst kalten Tee.
Eine Weile später kam Jo zurück. Ihre Augen waren rot, aber sie sagte nichts. Meine Mutter reichte ihr wortlos ein Taschentuch, umarmte sie und sagte nur: „Du bleibst bei uns, Jo.“
Jo blieb. Wir sprachen nie mehr darüber.
Wir waren unzertrennlich. Studierten dasselbe, wohnten im gleichen Wohnheim, aßen denselben faden Fraß in der Mensa … bis meine erste Liebesaffäre auftauchte. Oder vielleicht war es doch meine erste ernsthafte Liebesbeziehung? Meine erste Liebe, Carmen. Ach, Carmen …
Bianka, du schweifst schon wieder ab. Buch schon vergessen? Was interessieren dich die längst vergangenen Dramen, Mensch! … Oder vielleicht doch ein Psychothriller? Meine Gedanken kämpften sich durch das Dickicht der Erinnerungen zurück in die Gegenwart und zu meinem unglückseligen Buchprojekt. Vielleicht war das die Lösung für mein Dilemma? Hm … warum nicht? Eine gute Idee, auch wenn mein Verlag wahrscheinlich entsetzt sein würde. Aber ehrlich gesagt, was interessierte mich der Verlag? Zwei meiner Bücher hatten sich gut verkauft, das dritte … nun, sagen wir mal, es lief schleppend. Wäre mein Roman eine Person, hätte man ihm das Prädikat „stets bemüht“ verliehen. Ja, so vorhersehbar und flach war er. Und ich hatte sie alle gewarnt! Ich sagte, dass ein weiterer romantischer Krimi keine gute Idee war. Hat mir jemand zugehört? Natürlich nicht. Und so kam, was kommen musste: ein Fiasko auf ganzer Linie. Meine treuen Leser kauften es, wahrscheinlich aus Mitleid, und versuchten, freundlich zu lächeln. Aber das half nichts, denn die Kritiker zerfetzten das Buch in der Luft. Ich fand das extrem unfair. Erstens, Fehler können jedem passieren. Zweitens, was wissen die schon über das Schreiben? Nichts! Ich könnte genauso gut anfangen, Kritiken zu schreiben. Aber Kritiken sind keine Bücher! Natürlich hatten sie in einigen Punkten recht – zum Beispiel bei meiner Hauptfigur Kommissar Florian Kowal, dieser blendend aussehende und unglaublich intelligente Kerl, den ich wie eine Art jüngeren Brad Pitt entworfen hatte – allerdings ohne die exzentrischen Allüren – war anfangs die perfekte Hauptfigur. Charmant, mit einer finsteren Vergangenheit, ein Mann des Gesetzes, der gleichzeitig bereit war, gegen ebendieses Gesetz zu verstoßen, wenn die Umstände es erforderten. Doch er war immer der Gute, egal, was passierte – mit einem Herzen, sauber wie die Bettwäsche meiner Mutter, vielleicht ein wenig abgenutzt, durchlöchert, aber trotzdem rein. In solche Bettwäsche, wie wir aus Erfahrung wissen, saugt sich alles ein – das Gute, das Traurige und das Unerwünschte.
Im ersten Buch war er ein voller Erfolg. Die Leser lagen mir zu Füßen, der Verlag war begeistert, und ich fühlte mich wie die Königin der Krimis. Aber na ja … wie das eben so läuft, irgendwann ist der Lack ab.
Im dritten Band war unser Held nicht mehr der strahlende Stern, sondern eher das ‚Möchte-gern-Sternchen‘. Mein geliebter Florian war langweilig geworden. Irgendwie hatte ich ihn gegen die Wand geschrieben. Es ist mir tatsächlich gelungen, bereits im zweiten Band mein bestes Pferd im Stall zu Grunde zu richten … Glückwunsch … wahrscheinlich ein Guinness-Weltrekord. Er reagierte wie immer: Sieht er Mord, besonders an Frauen und Kindern, sieht er rot. Familienverstrickungen, Trauma aus der Kindheit – klassischer Fall, oder? Natürlich wollte ich ihm Tiefe geben, ein psychologisches Profil, das erklärt, warum er so handelt. Klingt doch gut, oder? Leider war die Realität dann doch anders. Statt tiefgründig und fesselnd wirkte Florian wie ein abgedroschenes Klischee auf zwei Beinen. Immer derselbe Ablauf: Mord – Trauma – Aggression – Lösung. Hm, warum hatte ich das nicht früher bemerkt?
Die Kritiker sahen das natürlich sofort. Sie hatten mich darauf hingewiesen, dass Florian vorhersehbar geworden war. Und schlimmer noch, meine Leser merkten das auch. Das Feedback war gnadenlos: „Zu klischeehaft, zu steif, keine Entwicklung.“ Zack, zack, zack, die Messer flogen. Ich kann ihnen nicht mal richtig böse sein.
Deshalb, ja, im neuen Buch wird Florian eine besondere Rolle spielen – und dann werde ich ihn eiskalt sterben lassen. Natürlich nicht einfach so, er bekommt seinen großen Moment. Ein Heldentod, natürlich. Eine dramatische Szene, die seinen bisherigen Heldentaten würdig ist. Aber dann ist es vorbei, tschüss, auf Wiedersehen … Florian, mein einst geliebter Protagonist, landet im Leichenschauhaus. Ich stelle mir das so vor: ein Sack, in dem er in die Gerichtsmedizin getragen wird. Ein makelloser Abgang – wenn man davon absieht, dass er tot ist. Aber wir sterben schließlich alle irgendwann.
Und, dass das klar ist … keine Blondinen, keine Happy Ends. Schluss mit dem ständigen „Bianka hier, Bianka da“. Ich musste hart sein!
Carmen sagte das immer und sogar Jo unterstützte Carmens Meinung. Es kam äußerst selten vor, dass sie sich in etwas einig waren, und doch erklärten mir beide dasselbe: „Bianka, das ist dein Buch, du glänzt unter dem Titel mit deinem Namen. Lass dich nicht verarschen.“ Nun, ich würde mich nicht verarschen lassen! Ich würde einen Bestseller schreiben, ich würde einen Nobelpreis bekommen oder zumindest ein paar gute Tantiemen. Die Kritiker würden mich lieben für das neue, frische Wendeszenario (Florian stirbt), und das nächste Buch, das ich veröffentlichen würde, wäre mein Gedichtband. Übrigens, der Band wartete seit einiger Zeit geduldig in meiner Schublade, zurückgehalten durch den mürrischen Ton meiner Redakteurin.
„Weißt du, Bianka, die poetische Ausrichtung passt nicht wirklich zu deinem aktuellen Autorenprofil. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns das auf dem Buchmarkt leisten können. Wir sollten deine momentane Positionierung am Markt noch einmal überdenken.“ . Warten wir noch zwei Jahre und sehen, was passiert, ja?“
Oder wechsle ich einfach den Verlag? Was für ein schöner Gedanke, aber zuerst ein Nobelpreis.
Tarot-Tageskarte: Das Ass der Stäbe – Du bist der Schöpfer, du bist der Anfang, die Mitte und das Ende. Dank dir nehmen Projekte und Ideen ihren ersten Atemzug … Na bitte, wenn das kein gutes Omen ist. Ich bin bereit, warte wie ein offenes Buch. Man muss zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit man gehen darf – von wem war das noch? Heinrich Böll. Dieser Satz bringt es auf den Punkt, und genau das werde ich jetzt tun. Ich spüre ein leises Fauchen der Hoffnung in mir. Endlich.
August: Dienstag
Idee: 1
Geschriebene Seiten: 0
Geisteszustand: optimistisch
Saß gerade im Garten und versuchte, mich zu entspannen. Aus meinem Kopfhörer plätscherten engelsgleiche Stimmen tantrischer Yoga-Rhythmen, die meine Handlungsbereitschaft ins Jenseits beförderte. Ich nippte an meinem Kaffee und beobachtete mit konzentrierter Hingabe die Hühner, die meinen kränklich aussehenden, gelb abgemagerten Rasen durchwühlten.
Ich meditierte über das Buch. Die Idee von gestern schien auch nach einer langen Nacht noch attraktiv. Eine kalte, blutige Krimigeschichte im skandinavischen Stil. Ich hatte irgendwo gelesen, dass all diese tristen, nebligen Thriller sich wie warme Semmeln verkauften, also warum nicht? Mit meiner ausgeprägten Fantasie sah ich ein böiges, graues Meer, natürlich auch Regen, manchmal durchsetzt mit Schneeflocken, wenn schon … denn schon. Selbstverständlich war es November, gespenstisch und mysteriös. Der alte Fischer stieg an Bord seines keuchenden Fischerbootes. Okay, hier bestand ein Problem: Ich wusste nichts über Fischkutter.
Es müssten einige explorative Studien zu dem Thema durchgeführt werden. Im Grunde war das Meer für mich eine eher unbekannte Gegend. Mm … Ein See? Nein, nicht genug Drama. Auf dem Meer konnte viel passieren. Wir hatten also einen alten Fischer und das Meer, ein wenig zu viel Hemingway an dieser Stelle. Eine unschöne Kombination. Nehmen wir an: ein Fischer unbestimmten Alters und das Meer. Jawohl, das klang perfekt! Natürlich eine Leiche in einem Sack. Konnte eine Leiche auf See entdeckt werden? Gute Frage. Wahrscheinlich nicht? Vergessen wir nicht die Wellen … nun, was jetzt? Aber, aber in dieser Serie „Dexter“? Genau! Da gab es auch eine Leiche auf See. Wenn Dexter, unser Sozialpsychopath mit Herz, das Meer mit Säcken voller Gliedmaßen und Köpfe verunreinigen konnte, warum sollte das in meinem Buch nicht funktionieren?
Die angenehm vibrierende, fast verlockende, weibliche Stimme aus den Tiefen des Kopfhörers sagte mir nun, dass ich meine Gedanken zum Schweigen bringen und mich mitreißen lassen sollte, ohne sie zu beachten. Interessant. Wie kam man zu solcher Konzentration? Wie machte man das? Übrigens, keine dumme Idee, mit diesen Säcken … aha, jetzt Plural? Langsam wurde es hier ziemlich mörderisch. Ein Psychopath konnte auch nicht schaden? Psychopathen waren schöpferische Gestalten, bei denen immer was los war. Außerdem musste Florian einen interessanten Tod sterben … oh, wie grausam würde es sein! Der arme psychopathische Stümper hatte die Arbeit vermasselt und die Säcke schlecht befestigt, das passierte sogar den Besten, jeder hatte zwischendurch mal einen schlechten Tag, nicht wahr?
Jetzt hatten wir Optionen. Vor meinem geistigen Auge deutete sich ein Szenario an … Meine Hühner stöberten neben einem kürzlich gepflanzten Baum herum – diese kleinen Biester! Eigentlich müsste ich aufstehen und sie verscheuchen. Aber wer hat Zeit für solche Lappalien? Also, was hatten wir? Ein Fischer, unbestimmten Alters, entdeckte schwarze Säcke à la „Dexter“ auf dem Meer. Bingo!
Wieder klingelte das Telefon. „Ignoriere es, Bianka. Konzentriere dich einfach aufs Atmen. Einatmen … Ausatmen … Pforte zur Seele und so’n Kram.“ Jo und ihre Weisheiten. Leichter gesagt als getan. Mein Geist hing sowieso schon am Klingelton fest. Wer könnte das sein? Und warum zur Hölle habe ich das Handy nicht auf Flugmodus gestellt?
Seufzend – zugegeben, innerlich erleichtert über die Unterbrechung – griff ich zum Hörer … Carmen? Meine Hand schwebte eine Millisekunde über dem grünen Knopf. Will ich das wirklich? Natürlich will ich.
„Hallöchen!“, quietschte ich ins Telefon. Charmant, wie immer.
„Na, was machst du?“ Carmens silbrige Stimme mit dem dezenten südländischen Akzent vibrierte durch die Leitung.
„Ähm … ich meditiere“, sagte ich wahrheitsgemäß und bereute es sofort, denn ich wusste schon, was als Nächstes kommen würde.
Eine bedeutungsvolle Stille legte sich zwischen uns. Ich konnte förmlich sehen, wie sich ihre Stirn in Falten legte. Carmen und Meditation? Ein absoluter Gegensatz. Für sie war das alles nur neumodischer Unsinn, der so schnell vergeht, wie er gekommen ist – laut, schnell und schmerzlos. Ihre Antwort kam prompt: „Was du brauchst“, sagte Carmen, „ist Wille und Disziplin, nicht irgendeine absurde Meditation.“
Ich wusste genau, was kommen würde. Carmen konnte mit solch „esoterischen Experimenten“ nichts anfangen. Für sie gab es nur harte Fakten, eiserne Disziplin und Willenskraft. Worte, die aus ihrem Mund eine Schwere und Bedeutung bekamen, die mich immer wieder trafen. Sie war meine spanische Jeanne d’Arc – unnachgiebig, wild, ein Herz wie ein hundert Jahre alter Stein, rissig und hart.
Wenn man die Kratzer kannte, konnte man sich darin festhalten. Ich kannte den Weg durch dieses Labyrinth, zumindest meistens. Doch wehe dem, der sich darin verlor. Dann blieb von einem nicht mehr viel übrig, nur Splitter, immer weniger von sich selbst. Nach einer Weile war man nur noch Staub, rücksichtslos aufgesogen und wieder ausgespuckt, um erneut verschlungen zu werden. So war sie, Carmen – sinnlich und erschreckend zugleich.
„Hallo? Bianka? Hörst du mir überhaupt zu?“ Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Ja, ja, ich höre zu“, log ich halbherzig.
Ich liebte sie. Und gleichzeitig hatte ich solche Angst vor ihr.
„Wie gesagt …“
„Carmen, lass mich doch“, murmelte ich. „Es ist das Einzige, was bisher geholfen hat. Ich hab immerhin endlich einen Plan, was ich schreiben soll … nach einer Woche!“ Ich zog es in die Länge, ein kläglicher Versuch, Mitleid zu erregen.
„So lange dauert das diesmal?“ Ihre Stimme klang irritiert, aber sie schaltete sofort auf den nächsten Punkt.
„Hat der Depp angerufen?“, fragte sie unverblümt.
„Nö.“ Kurz und schmerzlos.
„Ach je … wie soll das mit euch weitergehen? Es wird mit den Jahren nicht besser, Bianka. Du musst endlich etwas unternehmen.“
„Ich weiß.“ Dasselbe Mantra, immer wieder.
„Dein ‚Ich weiß‘ kenne ich zur Genüge. Du musst disziplinierter sein, Durchsetzungsvermögen zeigen. Andere Menschen schaffen es, sich an Regeln zu halten, also kann er das auch, Krankheit hin oder her, verdammt noch mal!“ Ihre Wut war fast greifbar. Ich hörte, wie sie scharf ausatmete. Da war es wieder, das typische Carmen-Zeichen.
„Wie lange hast du noch bis zum Abgabetermin?“
„Nicht lange.“ Ich wusste, was jetzt kommen würde, also wechselte ich dezent das Thema, bevor sie weiter auf mir herumhacken konnte.
„Warum rufst du eigentlich an?“, fragte ich unschuldig. „Hast du was Bestimmtes?“
„Ich wollte fragen, ob wir ins Kino gehen wollen. Ich hab dich lange nicht gesehen, und der neue Film soll gut sein … aber weißt du was? Konzentriere dich lieber auf dein Buch.“ Sie seufzte.
Im Hintergrund hörte ich eine andere weibliche Stimme, die etwas erklärte, gefolgt von einem weiteren Seufzen von Carmen. Halbherzige Versuche, den Lautsprecher zu verdecken, hatten das Gegenteil zur Folge – ich hörte jedes Wort. Carmen klang in diesem Moment, als könnte sie selbst die Sonne in einen hängenden Eisklumpen verwandeln. Ich verspürte bereits Mitleid mit der mir unbekannten Frau.
„Frau Branik, habe ich nicht ausdrücklich gebeten, dass man mich fünf Minuten in Ruhe lässt? Bitte verschonen Sie mich mit diesen Nebensächlichkeiten!“ Carmens Stimme schnitt durch die Luft.
Eine schwache Antwort drang durch den Hörer.
„Ja, ja, ja, immer diese Ausreden! Sie sind doch meine Assistentin, oder? Sollten Sie mir nicht das Leben erleichtern und solche Schwachköpfe von mir fernhalten? Wofür bezahle ich Sie eigentlich?“
„Bianka, ich rufe später an. Offenbar ist es in dieser Firma nicht mal möglich, in Ruhe eine Pause zu machen.“ Zack, und weg war sie.
Typisch Carmen – immer direkt, immer kontrollierend, selbst in den kleinsten Situationen.
Während ich den Hörer auflegte, konnte ich nicht anders, als zu lächeln. Carmen war eben Carmen. Sie war eine Naturgewalt, die keinen Raum für Unsicherheiten ließ. Schon seit wir uns kannten, hatte sie diese unerschütterliche Art, die Welt zu sehen und ihren Platz darin zu behaupten.
Ich erinnere mich noch genau an die Geschichte, wie sie mir eines Abends in unserer Studentenzeit erzählte, warum sie sich Carmen nannte. Sie war als Eva geboren worden, in eine tief religiöse Familie auf dem abgelegenen spanischen Land. Der Name wurde von Generation zu Generation an die älteste Tochter weitergegeben. Doch Carmen wäre nicht Carmen, wenn sie sich mit so einer Tradition abgefunden hätte. Bereits mit vierzehn hatte sie entschieden, dass Eva nicht zu ihr passte. Ab diesem Tag sollten sie sie alle ‚Carmen‘ nennen.
„Warum Carmen?“ hatte ich sie damals gefragt, als meine Augen vor Staunen groß wie Untertassen wurden. Ihre Antwort war so typisch für sie: „Weil ich mit dieser biblischen Idiotin Eva nichts zu tun haben will! Lilith wäre mir lieber, sie war wenigstens klug genug, den Idioten rechtzeitig zu verlassen, anstatt verbotene Äpfel zu essen.“
„Und warum nicht Lilith?“, hakte ich nach.
„Nun“, sagte sie, „damals liebte ich Opern, besonders Bizets Carmen. Da kam mein Wunsch nach einem neuen Namen auf.“ Meine Freundin hatte diese Mischung aus Stolz und Trotz in ihrer Stimme, die sie immer dann zeigte, wenn sie entschlossen war, ihren eigenen Weg zu gehen – egal, was andere dachten.
Sie erzählte mir auch, dass sie ihrer Mutter in einem Atemzug klargemacht hatte, dass sie weder die Kirche noch den Mann als Institution akzeptierte, weil sie eben Frauen lieber mochte und dass sie ab sofort in dieser Hinsicht nichts mehr von ihr erwarten sollte – keine Enkelkinder, keine traditionellen Vorstellungen von Ehe oder sonst was.
„Hast du das alles wirklich so gesagt?“, fragte ich sie damals mit einer Mischung aus Bewunderung und Unglauben.
„Ach, Bianka, das Unkraut jätet man besser, solange es noch klein ist. Man wartet nicht darauf, dass es Wurzeln schlägt“, hatte sie geantwortet und mich dabei durchdringend angesehen, als wüsste sie genau, dass ich innerlich noch unsicher war, wie ein junger Welpe. „Nur du selbst zu sein in einer Welt, die Tag und Nacht versucht, dich wie alle anderen zu machen – das ist der schwerste Kampf, den ein Mensch bestehen kann, und er hört nie auf“, fügte sie mit einem Zitat von E. E. Cummings hinzu, als wäre das der selbstverständlichste Grundsatz überhaupt.
Carmen war eben so – immer auf den Punkt, kompromisslos und bereit, sich selbst zu retten, bevor es zu spät war. Habe ich es damals verstanden? Nein, habe ich nicht. Und jetzt? Ja. Und trotzdem … Mein Unkraut wächst und gedeiht prächtig, weil ich mich formen ließ – nach den Wünschen von so vielen. Damals verstand ich zwar die Bedeutung ihrer Worte nicht, aber ich spürte die Kraft dahinter und zugleich die Kluft zwischen uns. Für mich war es ein Abenteuer, mit Carmen zusammen zu sein; für sie war es das Leben.
Von dem Moment der Offenbarung an reagierte Carmen konsequent nicht mehr auf ihren alten Namen, ging nicht in die Kirche und verabredete sich mit Mädchen, obwohl ihr Vater es verbot und mit einem Gürtel drohte, die Mutter in der Ecke klagte. Ganz zu schweigen von den Großeltern, Cousinen und Tanten und allen unzähligen Nachbarn, die es plötzlich als Ehrensache betrachteten, ihren Senf zu der Debatte hinzuzufügen.
Sie zahlte einen hohen Preis für die Wahrheit, in der sie leben wollte. Plötzlich, über Nacht, war Carmen anders. Sie wurde zu etwas Peinlichem, das gegen das heilige Gesetz der grauen Menschenmasse verstieß, die predigte: „Sei wie alle anderen, und wehe dir, wenn nicht!“ Man mied sie. Sie wurde bedroht. Der Pastor, ein Freund der Familie, versprengte Weihwasser in der festen Überzeugung, dass das Mädchen von einem Dämon besessen sei. Ihre Mutter sprach nicht mehr mit ihr, ihr Vater verließ den Raum, wann immer sie in der Nähe war. Jede andere Person hätte aufgegeben, eine Maske aufgesetzt und so getan, als wäre sie jemand anderes, nur um den Konsequenzen der eigenen Entscheidungen zu entgehen. Nicht Carmen. Carmen wurde zur Bastion ihrer selbst. Sie war ihre eigene Begleiterin, Freundin und Vertraute. Sie spürte die Einsamkeit inmitten der bellenden Meute jedes Mal, wenn sie ihr Zimmer verließ – ob auf dem Weg zur Schule oder beim Spaziergang. Einmal landete sie sogar im Krankenhaus. Die Kinder der Nachbarn bewarfen sie mit Steinen. Eine kleine Narbe unter ihrem Auge ist bis heute sichtbar. Die Kinder hatten keine Konsequenzen zu fürchten, der Vorfall wurde ignoriert. Wie so viele andere ähnliche Ereignisse.
Dieses familiäre und öffentliche Lynchen dauerte Jahre. Soziale Abgeschiedenheit, Mobbing, eine ganze Reihe von psychischen und physischen Verfolgungen, haben auf Carmens schönem Gesicht eine zynische Grimasse gezeichnet, die ihre Flügel wie ein Schild vor ihren Augen ausbreitet und ihnen die Kälte und Härte polierten Stahls verliehen. Das wachsende Misstrauen allen gegenüber hat eine Blockade entstehen lassen, aus tausend Dornen und Fallen – Labyrinthe, die sich um ihr weiches Inneres gewickelt haben. Um dorthin zu gelangen, musste man wissen, wie. Jeden Tag mühsam dazulernen und für ein neues Stück Land kämpfen.
Nichts war umsonst, alles musste mit Gewalt erobert werden, und die einzige Belohnung waren Momente unbeschwerten Lachens. Witze und Scherze in der Wärme des Bettes, wo der Körper in der Stille der letzten Atemzüge seine Arme verschränkt. Ein unschuldiger Film, der zusammen angeschaut wurde. Und es genügte, dass der Morgen anbrach, der Film zu Ende war, der Hund bellte und das prosaische Leben zurückkehrte … und mit ihm diese Grimasse, dieser Zynismus, dieser scharfe Blick. Und wieder musste alles von Neuem erkämpft werden.
Als wir uns trafen, waren wir jung und rebellisch. Für mich war es der Beginn eines neuen Kapitels, in dem Sarkasmus und Ironie mein neues Selbst definierten. Eine neue Stadt, ein Studium, neue Menschen – all das passte perfekt zu meinem neuen Ich. Es fühlte sich an, als hätte man mir ein neues Spielzeug geschenkt. Ich erschuf mich als emanzipierte Frau, weit entfernt von Konventionen und dem eintönigen Alltag. Stundenlang diskutierte ich mit meinen neuen Bekannten über die Rolle der Frau in der Welt, die Bedeutung der Literatur, über freie Liebe und das Patriarchat.
Meiner Meinung nach war ich der Inbegriff von Mut, wie die berühmte George Sand, die für ihre Freiheit und gegen die Konventionen ihrer Zeit kämpfte. Ich hatte eine Mission zu erfüllen, bedeutsam und wichtig. Mutig, weil ich hätte in meiner Heimatstadt studieren und unter dem schützenden Flügel meiner Familie bleiben können. Mutters Kartoffelpüree mit einem Kotelett essen und ihr meine Wäsche geben. Ja, das hätte ich gekonnt, aber ich hatte mich, überzeugt von meiner damaligen Tapferkeit, für den schwierigeren Weg entschieden, unabhängig und voller Dornen, ins Erwachsenenleben einzutreten. Mein Studienort war weit genug entfernt von Mamas Koteletts und ihren Fragen. Ich sah mich als eigenständige Einheit, als Heldin, Quasi-Vertreterin einer neu entstehenden Spezies: die unabhängige, moderne Frau. In meiner Vorstellung waren die Suffragetten nichts im Vergleich zu mir!
Und ich glaubte wirklich an diesen Unsinn, vergaß dabei aber, dass ich zwar ausgezogen war, um ein freies, unabhängiges Individuum zu sein – allerdings ohne die damit einhergehenden Pflichten. Ja, ich hatte meinen Studienort weit genug entfernt gefunden, um den Fragen zu entkommen, aber nicht weit genug, um nicht jedes Wochenende nach Hause zu fahren, müde und verschlafen über Kolloquien, Prüfungen und den harten Studentenalltag zu klagen. Meine arme Mama reagierte wie eine echte Heilige: Sie gab mir etwas zu essen, umarmte meinen verkaterten Körper, küsste mich auf die Stirn und versuchte, die Partygerüche von mir nicht allzu tief einzuatmen. Sie wusch meine verschwitzte, rauchige Kleidung voller Abenteuer und beschwerte sich nie. Für den Rückweg packte sie mir einen halben Kühlschrank ein, weil ich ihrer Meinung nach „kränklich aussah“. Mein Vater überreichte mir großzügig einen Teil seiner Brieftasche, stolz darauf, dass seine Tochter studierte, und klopfte mir anerkennend auf den Rücken. Habe ich jemals gefragt, woher sie das Geld nahmen? Nein. Habe ich mich dagegen gewehrt, obwohl ich mich insgeheim ein wenig schämte? Auch nicht. Tief im Inneren dachte ich, ich hätte es verdient – verdient, das Erwachsensein zu spielen, zu rebellieren und für meine aus der Luft gegriffenen Theorien zu kämpfen, die mich zur intellektuellen Elite zählten, was damals der Höhepunkt meiner Träume war.
Mein kleinstädtisches, provinzielles Selbst, voller Komplexe – wuchs in einem absurden Tempo. Alles war möglich, alles musste ausprobiert werden, und es war offensichtlich, dass man unangepasst und frei sein musste wie alle anderen, die ich kannte. Ergo, Carmen und ihre höhlenartigen, tiefen Blicke vom Rande des Glases, mit unbestimmtem Inhalt, waren der nächste logische Schritt in meiner Entwicklung. Try, try and try again – mein Motto für den Tag. Ich hatte nicht daran gedacht, dass aus einer Affäre eine Beziehung entstehen könnte. Ich habe mich damals als unnahbare Femme fatale gesehen, die ihr eigenes Herz fest in der Hand hält. Diese Illusionen über mich selbst wurden von Carmen in erschreckend kurzer Zeit zerstreut und mein Ich vollständig von ihr vereinnahmt.
Die Affäre hat sich zu einem sehr energiegeladenen Liebesverhältnis voller Sex und dem Verlangen nach mehr entwickelt. Mein Herz wurde ohne Zögern meinerseits mit einer dünnen, aber starken Leine an das Bein meiner Geliebten gebunden. Eine Herrin, die immer mehr wollte. Mehr von mir, überall. Mehr von ihren Händen auf mir, meinen Brüsten, zwischen meinen Schenkeln. Mehr von ihrer Zunge, mehr von ihrem Atem an meinem Hals. Ihre Hände rochen nach mir, nach meinem Inneren. Sie glitten effizient durch hungrige, kurvige Ecken und Winkel, die sie nicht kannten. Sie streichelten meine Brüste, um für Carmens Zunge Platz zu machen, einer vibrierenden, allgegenwärtigen, heißen Zunge, die meinen Körper in einen Zustand der Erwartung versetzte, ein ständiges Verlangen nach mehr. Alles zuckte in mir und wartete auf ihre Haut, zarte kleine Brüste, angeschwollene Schamlippen, um sie mit meinen Küssen zu bedecken. Meine Küsse waren hart, manchmal süß, voller Hingebung und manchmal ätherischer Zärtlichkeit. Ich wollte ihren schnellen Atem hören und sicher sein, dass ihre Schenkel sich nur für mich öffneten, ihre Brustwarzen sich strafften und ihren papierenen, grazilen Körper bis zum Zerreißen von mir und nur von mir besetzt würde.
Es gab keine Stellung, die wir nicht ausprobierten. Kein Ort, der uns nicht gehörte. Wir haben uns überall geküsst: Parks, verlassene Mietshäuser, Kneipen, Kirchen.
„Du gehörst mir“, sagte sie, zog meine Hüften an den Rand des Bettes, spreizte meine Beine, wie passive Kreaturen, die sich nicht zu wehren vermöchten, zu den Seiten und starrte, mit der Miene eines Schatzhalters, auf meine entblößte Nacktheit.
„Du bist meine Frau.“
„Ja, das bin ich“, antwortete ich und wartete ungeduldig darauf, dass ihre Finger in mich eindrangen. Zuerst langsam, rhythmisch, um schneller und unkontrollierbarer herauszufließen, im Rhythmus meiner immer größer werdenden Augen und Stöhnen. Forschend, sogar chirurgisch, beobachtete sie mein Gesicht und die Veränderungen, die darauf vorgingen, mit dem Ausdruck eines Sammlers in ihren Augen, des Besitzers eines reinrassigen Wesens, zu dem ich unter ihrer Berührung wurde.
Nie wieder habe ich mich so geliebt und gewollt gefühlt wie bei ihr. Niemand hat mich je so angesehen wie sie. Niemand hat mich je so aufgenommen und begehrt wie sie. Und doch habe ich das sexuelle Eden verlassen, obwohl es zwischen uns für immer so hätte sein können. Meine Feigheit jedoch, die Konsequenzen zu tragen, konsequent anderes zu sein, hat überwogen. Und Peter, mein Unkraut.
Tarot-Tageskarte: Die Königin der Stäbe – Kali, die mystische Göttin. Leider umgekehrt. Seltsamerweise wundert mich das nicht, es passt ideal zu dem, was ich gerade begreife. Kali ist eine Verkörperung der wilden, ungezähmten Kraft des Universums, die keine Furcht kennt und sowohl die dunklen als auch die hellen Seiten des Lebens akzeptiert. Die umgekehrte Seite ist jedoch eine Warnung und könnte darauf hinweisen, dass eine starke Frau (Ich?) ihre wahre Natur unterdrückt und sich hinter gesellschaftlichen Konventionen und Fassaden versteckt. Das führt zu seelischer Verkrüppelung. Wenn moralische Gesetze die natürlichen Gesetze lange genug unterdrücken, entsteht eine Blockade, die gefährlich werden kann. Kali „gibt und nimmt“. Sie bringt sowohl Leben als auch Tod, Zerstörung und Schöpfung. Sie nimmt das Ego und falsche Bindungen, aber sie gibt auch Befreiung und Transformation. Ja, ich spüre es. Es kommt, und ich werde tatsächlich folgen. Meine schlaue Freundin Jo sagte einmal zu mir: „Bianka, wenn du dich nicht entscheidest, wird das Leben es für dich tun – und dann hast du keinen Einfluss mehr darauf.“
August: wahrscheinlich Mittwoch oder vielleicht sogar Donnerstag?
Ideen: 1
Geschriebene Seiten: noch 0
Handlung: ein Fischer, Leichensäcke, vielleicht ein Psychopath, Florian, Ilona, die Florian hilft, Ilonas Besonderheit: Sie ist eine Schwätzerin.
Geisteszustand: nervöser Schluckauf, dieser Idiot hat nicht angerufen.
Ich jätete hartnäckig das Unkraut, das sich wie ein Fliegenschwarm auf meiner Malvenrabatte niedergelassen hatte. Normalerweise hatte ich nichts gegen ungebetene Gäste, besonders wenn sie hübsch sind. Mein nicht vorhandenes Wohlbefinden und mein ungesunder Aktivismus ließen diese armen Pflanzen jedoch unter meiner Hand verschwinden, brutal aus ihrem bisher stillen Heim gerissen, wie durch die Berührung eines Zauberstabs. Meine ökologische Seele riss sich in diesem Moment die Haare vom Kopf, als sie diese Brutalität sah, und der Geist meines Gartens vergoss in meiner Vorstellung die Tränen.
Gewöhnlich, wenn meine Stimmung vernunftmäßig temperiert war und nicht, wie heute, einer tickenden Bombe ähnelte, mochten wir, mein Garten und ich, uns sehr. Wir waren fast symbiotische Nachbarn. Ich ließ ihn wachsen, wo er wollte und wie er wollte, ohne zu viel zu beschneiden oder mich in seine Angelegenheiten einzumischen, während er mich mit Geschenken in Form von Gemüse und neuen Tieren, die bei uns eingezogen sind, überhäufte. Allerdings hatte alles seine Grenzen. Rosen klammerten wie Hände, Bäume streckten ihre langen Arme aus, eine Hecke, gemütlich, beinahe matronenhaft, legte sich auf die Straße. Gelegentlich musste ich in dieses mysteriöse Leben meines Mitbewohners eindringen und etwas herausreißen, sonst würde ich wie Dornröschen enden, umgeben von einer Mauer aus Himbeeren, Blaubeeren, Unkraut und Hecken.
Wenn ich in solchen Momenten mit Säge und Gartenschere auf die Schwelle meines Hauses trat, spürte ich die Last des stummen Protests auf meinen Schultern. Ich hörte ein beleidigendes Geflüster an meine Adresse. Die Hecken fragten mich: „Warum, warum müssen wir gerade sein?“ Der Rasen wispert: „Warum so kurz und langweilig?“ Es passierte sehr oft, dass mich der Mut verließ und ich es plötzlich nicht mehr übers Herz brachte, etwas herauszureißen oder zu beschneiden. In den meisten Fällen bereute ich es später, denn dieses Ding, an das ich mein Herz verloren hatte, wuchs zu monströser Größe heran, war giftig oder Gott bewahre, beides. Ein Beispiel für meine Feigheit war eine Pflanze, die ich in meinem Hühnerstall entdeckt hatte: winzige, unschuldige lila-rosa Blüten. Ein üppiger Busch von normaler Größe. Ah, nichts könnte verkehrter sein! Nach einer Woche musste man sich mit einer Machete zu den Hühnern durchwühlen. Unschuldig, wie es schien, brachte der Busch seine Gefährten mit und stellte sich als giftig heraus … er schickte zwei meiner Grazien in den Hühnerhimmel.
Trotz dieser erwähnten Momente der Feigheit, oder vielleicht dank ihnen, wer weiß … war die Koexistenz zwischen mir und meinem grünen Gefährten sehr harmonisch. Mein Garten war magisch, voller Leben und Mysterien. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn eines Abends eine Fee mit einer Einladung zum späten Nachmittagstee und Klatsch um die Ecke gekommen wäre. Ich bin mir sicher, es ist nur eine Frage der Zeit. Andererseits: Meine Feen kannten mich. Wein war mir lieber – wer wollte schon Tee?
Kein Wunder also, dass mir in dem Garten die besten Inspirationen und die interessantesten Ideen in den Sinn kamen. Die weiche Erde gab mir meine geistige Gesundheit zurück und meine Probleme schrumpften auf normale Größe. Deshalb hatte ich, um mich von meiner Idee zu distanzieren und, seien wir ehrlich, auch vom Peter-Problem, meine Harke gegen das eigensinnige, unerwünschte Unkraut erhoben, um meine geliebten Malven zu schützen.
Um auf das Buch zurückzukommen: Erstens, ich hatte ursprünglich gedacht, dass es keine Notwendigkeit für eine weibliche Leiche geben würde, aber falsch gedacht. Natürlich brauchten wir eine Frauenleiche, am liebsten blond. Blondinen verkauften sich gut – sie waren so unschuldig, dass sie unweigerlich positive Gefühle beim Leser hervorriefen. Zweitens würde Florian eine Partnerin bekommen, Ilona. Fräulein Ilona war ein Mensch, der viel zu sagen hatte, über viele Dinge. Der potenzielle Konflikt zwischen meinem mürrischen Detektiv und der Schwätzerin war also praktisch vorprogrammiert. Unsere Ilona, eine absolute Quasselstrippe, würde dabei hübsch und intelligent sein. Eine Affäre zwischen den beiden konnte sich ergeben, musste aber nicht – wir würden sehen, wie sich die Situation entwickelte. Drittens würde der Bösewicht dieses Mal eine psychopathische Frau sein. Man musste den Leser schließlich überraschen.
Was als Nächstes passieren würde? Woher sollte ich das wissen! Wenn sich mein Manuskript so schnell entwickeln würde wie mein Tagebuch, wäre ich längst der nächste Stephen King und würde nicht so dämlich aus der Wäsche gucken wie jetzt. Nun ja, man wird ja wohl noch träumen dürfen. Apropos, wie machte er das eigentlich? Dreißig Bücher! Schlief er überhaupt? Vielleicht war er gar kein Mensch? Ich hatte keine Ahnung, wie andere das machten, und meine Redakteurin – diese bedrohlich wirkende Frau von der Größe eines Gartenzwergs – ließ bereits grüßen.
Die Zusammenarbeit an einem neuen Buch folgte jedes Mal einem ähnlichen Schema. Sie erinnerte mich ein bisschen an ein Minenfeld, auf dem eine kleine Partisanin, „Fräulein Krystyna“, langsam, leicht gebeugt, im Tarnkostümchen, an den Zaun mit der Aufschrift Ich arbeite, nicht stören heranschlich. Dort streckte sie langsam ihre, für ein so kleines Wesen recht imposante Nase heraus und klärte die Situation mit einer kurzen WhatsApp-Nachricht ab.
Immer wieder tauchten solche kurzen Anfragen auf, um mich auf die nächste Aktion vorzubereiten – die E-Mail-Aktion. Die Texte nahmen eine leicht eindringliche Form an, aber noch im Rahmen des Zumutbaren. Wir tauschten uns dann höflich über die Entwicklung des Buches aus und darüber, wie wichtig es mir sein sollte, den gesetzten Abgabetermin einzuhalten. Ich wies natürlich auch höflich darauf hin, dass das Schreiben an einem Buch ein intellektueller Prozess sein sollte und nicht wie das Stapeln von Pizzakartons. Dementsprechend brauchte alles seine Zeit. Krystyna, unsere kleine Kämpferin, stimmte dem normalerweise zu.
Dann kehrte Stille ein. Da wir uns gut kanten, wussten wir beide, dass dies die Stille vor dem Sturm war. Nach dem schriftlichen Mailaustausch folgte der Telefonterror – eine nicht sehr angenehme Sache, die sich mit einem gewissen einstudierten Drama abspielte. Wo mir mit diversen Konsequenzen gedroht wurde und ich unter Bezugnahme auf die These der Freiheit des Schreibens versuchte, einen neuen Abgabetermin zu ergattern.
Ich gebe zu, dass diese Phase unserer Zusammenarbeit anstrengend, aber sehr notwendig war, denn ohne Krystyna würde die Zeit für mich stehen bleiben und meine Gedanken unbewusst um Peter kreisen, genau wie jetzt …
Warum hat er sich nicht gemeldet, wo er das doch versprochen hatte? Was tun in dieser Situation? Anrufen oder lieber hingehen? Wo ist er jetzt? Nimmt er seine Tabletten? Wo schläft er und mit wem? Würde er wieder mit mir Schluss machen und dann wie ein geschlagener Hund angekrochen kommen, um eine neue Chance zu erbetteln?
Es gab Orte, die man besser nicht besuchen sollte … denn was sollte man in so einer überwältigenden Situation tun? Laut Carmen mussten solche inneren Orte und Erinnerungen aus einer gewissen Distanz betrachtet werden, um das uns wohlbekannte Unkraut, das sich bei uns so heimisch fühlte, zu erkennen und herausreißen zu können. Verdammt noch mal, statt Unkraut hatte ich aus Versehen eine Malve ausgerissen. Arg … diese überflüssigen Probleme, als hätte man nicht schon genug mit dem Leben selbst zu kämpfen. Nein, nein, nein, nicht Probleme. Mit normalen Problemen kommt man wunderbar zurecht. Bedauerlicherweise gehörte Peter zu der Sorte Belastungen, die man nicht mehr als Problem bezeichnen konnte. Peter ist mehr als ein Problem, mehr als ein Ort, mehr als ein Hindernis. Peter ist wie die gesamte Chinesische Mauer, die ich schon so lange auf meinen Schultern trug, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, wie es war, sich leicht zu fühlen.
Ich hatte Peter durch Carmen kennengelernt. Was für eine Ironie des Schicksals. Später machte sich Carmen Tag und Nacht Vorwürfe, und ich nickte zustimmend und fügte leise hinzu, wie schön das Leben ohne Peter wäre … mein Karma. Kein Zwang, an ihn zu denken, kein Zwang, ihn und seinen Körper zu lieben, keine Abhängigkeit von dieser dummen Liebe, die wie ein Stein war. Unser erstes Treffen hätte mich zum Nachdenken anregen sollen, aber da sah ich nur die Energie, die von ihm ausging, die Vitalität, diese durchdringende Intelligenz in seinen Augen und dieses magnetische Lächeln.
Carmen und ich waren in einer Kneipe, die wir oft besucht hatten, wenn wir keine Ahnung hatten, was wir mit der Zeit anfangen sollten. Der Pub war billig, dreckig, mit einer bulldoggenartigen Barkeeperin. Die für damalige Zeiten eine tolerante Frau war. Sie ermöglichte es Menschen, die „anders“ lebten, sich in den dunklen Ecken der Kneipe zu Hause zu fühlen. Ihr nonchalanter Pub, ursprünglich eine Kneipe namens „Bei Anna“, war unser kleines Universum, in dem sich niemand einmischte. Paare saßen hier und da und machten, was sie machten, und mit wem sie das machten, war allen herzlich egal. Die einzige Regel in der Kneipe, abgesehen von Bargeld (natürlich), war fast heilig: kein Gefummel an der Theke! Das Motto der Bardame? Du willst ein Techtelmechtel mit jemandem haben? Dann ab aufs Klo, ins Gebüsch, nach oben, weiß der Geier wohin, Hauptsache nicht an der Theke. Eine kalte Natur würde ich sagen. Ich habe die Dame trotzdem sehr gemocht.
Die Toilette, möglicherweise seit tausend Jahren nicht gereinigt, war ein ziemlich unattraktiver Ort. Niemand, der bei klarem Verstand war, würde sich freiwillig an eine Wand lehnen oder auf einer der Kloschüsseln setzen. Schon beim Anblick besagter Toilettenschüsseln könnte sich jemand eine schwere Geschlechtskrankheit zuziehen. Aufgrund eines solch beschämenden hygienischen Zustands versteckten sich alle in Ecken, die, dank der paranoiden Sparsamkeit der Besitzerin, dunkel und still waren, voller Grunzen und Keuchen. Dies wiederum hinderte andere in keiner Weise daran, Getränke mit unbestimmter Prozentzahl zu konsumieren und über das Weltgeschehen zu diskutieren, und alle waren glücklich.
Als Peter sich zu uns setzte, um zu fragen, warum Carmen ihm aus dem Weg ging, waren wir gerade dabei zu überlegen, was wir an diesem kalten, bewölkten Abend als Nächstes tun sollten. Unsere Energie ging langsam zur Neige, und das Fehlen eines ruhigen Ortes, an dem wir uns zelebrieren konnten, verbesserte in keiner Weise unsere Launen. Langsam fühlten wir uns selbst und dem Widerspruch unserer Interessen überdrüssig. Sie wollte, dass unsere Beziehung offiziell wird, ich wollte aus Angst vor sozialem Druck bloß eine Affäre, nichts Seröses. Daher kam es immer häufiger zu Streitereien, die mit einer schnellen Nummer in den dunklen Gassen der Stadt beendet wurden, um unsere fragile Zusammengehörigkeit wiederherzustellen. Als Peter also versehentlich seine Frage stellte, zischte meine Freundin, inbrünstig: „Weil du ein Schwein bist!“
„Ein Schwein?“ Seine tief liegenden, ausdrucksstarken Augen weiteten sich in stillem Protest.
Während sie sich anstarrten, trat ich über die Schwelle seiner Welt und schloss die Tür hinter mir. Es war ein elektrisierendes Gefühl von süßem, aber erschreckendem Fallen. Alles passierte in einer langen Sekunde … in dieser Zeit blieben Carmen und mein Herz stehen. Wir haben uns – verloren. Er hat uns getrennt. Sein entwaffnendes Lächeln, in dem leichte melancholische Koketterie, einen tiefen Schatten auf seine Lippen legte. Diese intelligenten, allwissenden grünen Augen unter den langen grauen Wimpern. Zarte, fast vogelähnliche Haltung, die Sorgfalt erforderte, und die männlichen, unpassenden Hände, die zu seinen Worten tanzten, Geheimnisse und Fetzen der Wahrheit übermittelnd, die aus dem hübschen Mund flossen.
All das hat sich zwischen Carmen und mich gedrängt, war plötzlich da, einfach so … in einer Sekunde. Ich verliebte mich mit einer Intensität, die mein Inneres und meine Gedanken verschlang. In diesem Moment hörte ich auf zu existieren.
„Was soll das? Ich habe dir das Geld geliehen, und du zahlst es nicht zurück! So etwas macht man nicht! Ich habe dir vertraut, Mann! Denkst du, ich schlafe auf Säcken voller Geld oder was?“ – Der starke spanische Akzent milderte ein wenig die Schärfe der Worte der wütenden Carmen … trotzdem tat es mir leid, dass ich mir das anhören musste. Ich legte mit einer sanften Geste eine Hand auf ihr Knie, was meiner Meinung nach beruhigen sollte. Das ging leider nach hinten los. Carmen schob meine Hand weg. Sie funkelte mich an.
„Übe deine Diplomatie woanders, Bianka! Er schuldet mir eine Menge Geld, schon seit sechs Monaten! Was erwartest du, soll ich ihn vielleicht dafür loben?“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Nun, deshalb bin ich hier und suche dich in der ganzen Stadt“, warf Peter ein und starrte mich an, als hätte er meine Anwesenheit gerade erst bemerkt. Er lächelte und zwinkerte mir zu, als wären wir schon lange Freunde und Verbündete gegen einen gemeinsamen Feind. Dies blieb Carmen leider nicht verborgen.
„Oh, und jetzt flirtest du mit meiner Freundin, toll … möchtest du sie auch haben? Vielleicht willst du auch meine Niere? Falls das noch nicht genug ist?“ Hochgezogene Augenbrauen, verächtlich gekräuselte Lippen … oh, wie hab ich sie damals gehasst.
„Nein danke, ich habe meiner eigenen Organe, die funktionieren immer noch, wie durch ein Wunder. Dieses Mal möchte ich dir wirklich nur das Geld zurückgeben und euch Mädels als Entschuldigung auf einen Drink einladen.“ Während er sprach, zog er seine Brieftasche heraus und legte sie vorsichtig auf den Tisch, während er den Stuhl sanft zurückzog, mit so präziser Eleganz, als ob die Bewegungen auf seiner Uhr in Millisekunden gemessen würden. Seine vogelartige Statur passte sich dem Stuhl an. Wir schwiegen alle. Ich studierte stumm sein Gesicht und fragte mich, was mit mir nicht stimmte. Carmen dagegen verzog ihre Miene, ungläubig, dass es wirklich passierte.
„Bist du dir sicher?“
„Ja.“
„Einfach so, die ganze Summe?“
„Die ganze Summe.“
Ich sprang mit den Augen von einem Gesicht zum anderen, fasziniert von der Aktion.
„Na dann …“ Die Ironie in der Stimme meiner Freundin entging meiner Aufmerksamkeit nicht.
„Bitte schön. Ich zahle dir jeden Cent und entschuldige nochmals, dass es so lange gedauert hat. Ich war nicht ich selbst, als ich mir Geld von dir geliehen habe.“ Peter hielt inne, atmete langsam die angehaltene Luft durch den Mund aus. Schließlich platzte er heraus: „Carmen, darf ich dich bitten, mir nie wieder etwas zu leihen? Egal, was ich dir sage oder welche Pläne ich mache. Leih mir nichts mehr, besonders kein Geld, okay? Bitte.“
Ah, diese Augen, plötzlich voller Reue, Verstrickung, Hilflosigkeit. Ich wollte aufspringen und ihn umarmen. Peter holte ein großes, abgezähltes Bündel Scheine aus seiner Brieftasche. Meine Freundin pfiff anerkennend, als sie das Geld in ihre Tasche steckte, dann zerzauste sie mit einer streichelnden Bewegung seine etwas langen, blonden Locken.
„Sicher, ich lasse mich nie wieder von dir täuschen. Versprochen.“