Scheinwerfen - Giuliano Musio - E-Book

Scheinwerfen E-Book

Giuliano Musio

4,6

Beschreibung

Es handelt sich sicher um einen der ungewöhnlichsten Familienbetriebe im heutigen Bern: Durch bloße Berührung können die Weingarts verschüttete Erinnerungen anderer Menschen sehen. Aber was als Geschäft gut funktioniert, wird für die Beteiligten mehr und mehr zur persönlichen Falle. Eine Gabe wird zum Fluch, Erinnerungen werden zum Verhängnis. Humorvoll abgründig und mit realistischer Prägnanz erzählt Giuliano Musio von der fatalen Macht der Erinnerung. Das "Scheinwerfen" vererbt sich in der Familie Weingart seit Generationen und wurde für einige von ihnen inzwischen zur guten Lebensgrundlage. Julius, studierter Psychologe und in mancher Hinsicht ein Spätzünder, versucht mit trauriger Verzweiflung den Ansprüchen des Geschäfts gerecht zu werden und hinter das Geheimnis zu kommen, das seine Freundin Sonja in letzter Zeit immer stärker zu belasten scheint. Sonja ist gleichzeitig seine Cousine und arbeitet ebenfalls in der Praxis, genauso wie sein Bruder Toni, der mit seiner Homosexualität hadert und sich auf eine problematische Vereinbarung mit dem Sohn eines Kunden einlässt. Nur der plötzlich auftauchende Halbbruder Res ist grundsätzlich mehr als zufrieden mit sich und der Welt, was aber vor allem an einem geistigen Manko und einer daraus resultierenden, ganz eigenen Wirklichkeit liegt. Die Geschehnisse um sie alle haben mehr miteinander zu tun, als sich die Brüder zunächst vorstellen können. Ihre Gabe, fremde Erinnerungen zu sehen, wird die einzelnen Fäden nach und nach zusammenspinnen. Aber es werden Erinnerungen sein, die vielleicht besser weiterhin geruht hätten. "Scheinwerfen" ist Kanditat für die HOTLIST 2015 (als eines von 30 Büchern aus 171 Einreichungen) Die Hotlist ist zu einem der wichtigsten Instrumente geworden, um das zu zeigen, was die unabhängigen Verlage für den Reichtum, die Qualität und den Erfolg der Buchkultur im deutschsprachigen Raum leisten.

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Seitenzahl: 518

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°luftschacht

© Luftschacht Verlag – Wien

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

www.luftschacht.com

Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuß – www.matthiaskronfuss.at

Satz: Luftschacht

ISBN: 978-3-902844-51-4

eISBN: ISBN-ebook: 978-3-902844-81-1

Giuliano Musio

Scheinwerfen

Roman

Der Autor dankt ganz besonders Christian de Simoni und Rainer Götz. Ein herzliches Dankeschön geht an Adrian Baumgartner, Thorsten Dönges, Axel von Ernst, Monika Jenni, Matthias Kronfuß, Jürgen Lagger, Karin Maurer, Romeo Musio, Vero Trüb und das Café Kairo.

FOLGE 1

GEBURTSTAG

Eines Abends öffnete sich in der Decke ein Loch, und Toni begriff, dass zuoberst im Haus noch gar nicht Schluss war. Eine Leiter im Flur führte an einen rätselhaften Ort, den seine Eltern Dachboden nannten. Toni kroch über den Teppich, hielt sich an einer Sprosse fest und schaute hinauf in die viereckige Öffnung. Er sah in einen Raum, der ganz anders war als die Zimmer des Hauses: mit schummrigem Licht und schrägen Holzwänden. Trockene, nach Staub riechende Luft sank zu ihm herab. Er versuchte hochzuklettern, seinem Vater hinterher. Aber seine Mutter nahm ihn auf den Arm und trug ihn in sein Zimmer. Er schrie.

Lange dachte er, das gesamte Haus sei von dieser fremden Welt umgeben. Er glaubte, das Loch, das er gesehen hatte, sei nur einer von zahlreichen Zugängen. Vor dem Einschlafen betrachtete er die Wände um sich herum. Dahinter vermutete er ein Universum aus verzweigten Gängen, verborgenen Türen und vergessenen Räumen. Er träumte davon, wie er durch dieses Labyrinth schlich, manchmal mit seinem Bruder, aber meistens allein, um dann am Ende unbemerkt in sein Zimmer zurückzukehren.

Als er groß genug war, dass er die Leiter selbst von der Decke herunterziehen konnte, stieg er ab und zu auf den Dachboden, um sich die Umgebung von oben anzusehen. Er rückte eine Kiste zum Dachfenster und stellte sich darauf. Dann blickte er hinunter in den Garten mit dem Mirabellenbaum und dem kleinen Teich. Hinter der Mauer lagen die Straße, das Freibad, der Fluss. Wenn er sich ans Fenster auf der anderen Seite stellte, sah er zum Bundeshaus und zur Drahtseilbahn, die von der Altstadt ins Quartier hinabführte. Direkt unter ihm die Vorgärten der Nachbarhäuser, Blumenbeete und Wäscheleinen mit flatternden Bettlaken.

Einmal kam er von der Schule nach Hause und hörte, wie in einem dieser Vorgärten zwei Nachbarinnen über seinen Vater redeten. Sie fragten sich, was er in seiner Praxis eigentlich anbot. Sie hatten die Kunden beobachtet, die ins Haus gingen: Eine stark Geschminkte sei dabei gewesen, ein Mann im Rollstuhl, eine Rentnerin, auch ein Araber oder etwas Ähnliches. Ein System sei nicht erkennbar. Sie sprachen darüber, was das Wort auf dem Schild am Eingang bedeuten könnte, ob vielleicht ein Rechtschreibfehler vorliege und es eigentlich „Scheinwerfer“ heißen sollte.

Toni hatte sich bis dahin nie die Frage gestellt, warum sein Vater zu Hause arbeitete und was er mit seinen Kunden überhaupt machte. Jetzt hakte er nach. „Das verstehst du nicht“, sagte seine Mutter, „du bist noch zu klein.“ Sein Vater aber legte ihm die Hand auf den Bauch und ließ ihn vom letzten Schulausflug erzählen. Dann lächelte er und sagte: „Im Zug habt ihr Kühe gezählt.“

Von nun an sah sich Toni die Menschen, die ins Haus kamen, genau an. Er schaute zu, wie sein Vater mit ihnen die Treppe hochstieg, lauschte dem Knarren der zweiten und der obersten beiden Stufen und hörte schließlich, wie sich oben die Tür schloss. Er versuchte zu erraten, wegen welcher Probleme die Kunden seinen Vater aufsuchten. Ob er richtig lag, erfuhr er aber nie. Denn wenn seine Eltern nach der Sitzung noch mit einem Besucher plauderten, ging es immer um Belangloses: Man vereinbarte den nächsten Termin oder redete über Ferienpläne. Einige Kunden interessierten sich für das Haus und wollten wissen, aus welcher Zeit der Bau stammte. Tonis Vater faselte dann irgendwas von Jugendstil, worauf die Mutter ihn immer mit weitschweifigen Ausführungen korrigierte.

Tonis Mutter bezeichnete das Haus manchmal als ihr drittes Kind – eine Formulierung, die sie für äußerst schöpferisch hielt. Immer wieder erwähnte sie das Glück ihrer Familie, im schönsten Stadtteil von Bern zu leben. Je älter Toni wurde, desto weniger konnte er ihr Urteil nachvollziehen. Er glaubte die Beobachtung zu machen, dass die Menschen in der Nachbarschaft fleischigere Gesichter hatten als anderswo. Vielleicht war es eine Folge von zu ausgewogener Ernährung, zu vielen Grünflächen, zu verkehrsberuhigten Straßen, schlicht zu viel davon, was man Lebensqualität nannte. In diesen Sumpf aus Gesundheit und Wohlbefinden passte er nicht rein. Und obwohl er nun im Haus am Erlenweg derselben Arbeit nachging wie einst sein Vater, mietete er eine Wohnung in einem nördlichen Außenquartier der Stadt, wo ihm alles etwas schmutziger vorkam.

Heute redete man in der Nachbarschaft längst nicht mehr so viel über die Praxis wie noch während Tonis Kindheit. Denn in den Jahren, seit er ausgezogen war, waren an den Häusern der Umgebung etliche weitere Schilder wie Popups hervorgeschossen. Die Angebote reichten von Shiatsu, Reiki und Qigong über Tanz-, Mal- und Edelsteintherapie bis zu Fußreflexzonenmassage und Schröpfen. Der Familienbetrieb der Weingarts fiel zwischen all den anderen Praxen gar nicht mehr auf. Inzwischen hatte sich Tonis Mutter im obersten Stock ihren Wohnbereich eingerichtet, in der Mitte lagen die drei Behandlungsräume, im Erdgeschoss die Diele mit dem Empfang sowie die Küche und der Salon, der auch als Wartezimmer diente.

Toni war es nun schon ein paar Jahre gewohnt, täglich kurz nach neun Uhr im Erlenweg einzutreffen. Eines Morgens im Frühherbst saß ein alter Mann mit graugelbem Haar auf den Stufen vor der Eingangstür. Toni warf die Zigarette weg und verlangsamte seinen Schritt. Der Alte hatte dünne Arme und Beine, aber einen runden Bauch. Er hatte die Hände auf die Knie gelegt und lächelte Toni an. Toni grüßte knapp und versuchte, an ihm vorbei zur Tür zu kommen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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