Scherben, Mond & Milchkaffee - Katharina E. Volk - E-Book

Scherben, Mond & Milchkaffee E-Book

Katharina E. Volk

4,5
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Liebesleben von Amanda, 59, und Lara, 29, liegt in Scherben, sie sind beide soeben verlassen worden: Amanda von ihrem langjährigen Ehemann, der sich eine Jüngere gesucht hat, und Lara von ihrem Freund, der die Neue auch noch ungeniert in die gemeinsame WG mitbringt. Als sich die zwei Frauen zufällig kennenlernen, zieht Lara trotz des großen Altersunterschieds spontan bei Amanda ein. Das ungewöhnliche Duo beschließt, sich gemeinsam in den Online-Dating-Dschungel zu wagen, und zwar mit einem Plan, der sie vor Enttäuschungen bewahren soll: Amanda sucht einen Mann für Lara und Lara sucht einen für Amanda! So kann schließlich nichts mehr schiefgehen - oder doch?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 352

Bewertungen
4,5 (18 Bewertungen)
12
3
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katharina E. Volk

Scherben, Mond & Milchkaffee

Roman

INHALT

Für meine Großmütter Hedwig und Elisabeth, deren Kichern ich gelegentlich durch den Kosmos schallen höre …

Und für alle Frauen, die gerade Liebeskummer haben: Es wird besser, es wird wieder gut – versprochen!

Höhepunkte und Sanddornmarmelade

»Aaah! Jaa! Jaaaa!« Müde klappe ich ein Auge auf und stelle mit einem Blick auf die Leuchtanzeige meines Weckers fest, dass es kurz vor Mitternacht ist. Ich habe also schon zwei Stunden lang tief und fest geschlafen. Bei dem ungemütlichen Novemberwetter war mir heute nach der Arbeit nur noch nach einem duftenden Vanilleschaumbad zumute und anschließend war ich so müde, dass ich früh schlafen gegangen bin.

Zumal Lars heute wieder mal auf einer seiner BWL-Partys ist, die angeblich so langweilig sind, dass ich mich mit den angehenden Betriebswirtlern nur unwohl fühlen würde, wie Lars meint. Für meinen Schatz sind diese Partys Pflicht, um schon mal Verbindungen zu knüpfen, die ihm später beruflich nützlich sein könnten.

Die Geräuschkulisse in unserer kleinen WG ist – jedenfalls für diese Zeit – ungewöhnlich. Marius scheint endlich mal eine Frau mitgebracht zu haben. Aber eine, die beim Sex so laut ist, passt irgendwie gar nicht zu ihm. Marius wird ja schon rot und entschuldigt sich, wenn ihm mal die Tür zu laut ins Schloss fällt. Wie er nach dem Studium als Lehrer bestehen will, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel. Marius steht nicht gern im Rampenlicht, er ist bescheiden und rücksichtsvoll. Als Mitbewohner ist er natürlich sehr angenehm, zumal er sich auch noch immer an den Putzplan hält. Bei seinem Nebenjob im Bioladen kann jede ironische Bemerkung einer besonders hübschen oder besonders unzufriedenen Kundin ihn furchtbar in Verlegenheit bringen. Wie will er da später eine ganze Horde pubertierender Zicken und Rüpel in Schach halten? Aber das muss er natürlich selbst wissen. Vielleicht möbelt seine neue Freundin sein Selbstbewusstsein ja jetzt mal so richtig auf.

»O Larsi! Das ist so guuut!«

Mit einem Mal sitze ich senkrecht im Bett. Larsi??? Ein paar Sekunden lang verharre ich reglos und spüre mein Herz gegen meine Rippen hämmern, als hätte ich einen Sprint hinter mir. Mit aufgerissenen Augen starre ich an die gegenüberliegende Wand, an der sich im Licht der Straßenlaterne die Schatten einiger Zweige bewegen.

»Beruhige dich, Lara«, rede ich mir schließlich selbst gut zu. »Dafür muss es eine ganz einfache Erklärung geben.«

Ich schlage meine geblümte Decke zurück und steige mit zitternden Beinen aus dem Bett.

»O Gooott!« Die Frauenstimme, die da ungehemmt durch die Altbauwohnung tönt, ist schrill und durchdringend. Ich öffne leise meine Zimmertür und schleiche barfuß über den Flur. An der Nussbaumkommode stoße ich mir im Dunkeln den kleinen Zeh, aber seltsamerweise verspüre ich überhaupt keinen Schmerz. Stattdessen gehe ich wie ferngesteuert weiter auf Lars’ Zimmer am Ende des Flurs zu. Das Lustgeschrei kommt ganz eindeutig von dort und nicht aus Marius’ Zimmer, das links von der Küche liegt. Ich greife nach der Klinke, halte aber noch einen Moment inne. Lars könnte ja auch einem Kumpel sein Zimmer zur Verfügung gestellt haben, schießt es mir durch den Kopf. Es soll ja Typen geben, die noch bis zum dreißigsten Lebensjahr zu Hause wohnen, ihre Eltern aber doch nicht voll und ganz an ihrem Privatleben teilhaben lassen wollen. Unsere WG als Stundenhotel – nicht unbedingt eine meiner Lieblingsvorstellungen, zumal ich schließlich auch oft in Lars’ Bett schlafe.

Den Namen Lars gibt es jedenfalls häufig. Erst neulich hat mir eine Kundin während der Behandlung ausführlich erzählt, welche fünf Vornamen in den Jahren 1979 bis 1982 für Mädchen und welche für Jungen statistisch die ersten Plätze belegt haben. Womit manche Leute sich beruflich beschäftigen, erstaunt mich immer wieder. Im Augenblick kann ich mich nur leider nicht erinnern, ob der Name Lars wirklich ganz vorn auf der Rangliste zu finden war. Aber es könnte sein. Vielleicht war es aber auch Leander.

Mit angehaltenem Atem drücke ich jetzt die Klinke und öffne leise die Tür. Auf den Hintern, der sich vor meinen Augen rhythmisch auf und ab bewegt, habe ich selbst noch vor ein paar Tagen mit einem schwarzen Edding die Buchstaben L&L geschrieben. Das lässt die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hier doch nicht um den Hintern meines Freundes handelt, gegen null tendieren. Ansonsten kommt eigentlich nur noch der schier unglaubliche Zufall infrage, dass ich eine eineiige Zwillingsschwester habe, deren Vorname ebenfalls mit L beginnt. Larissa? Linda? Laura? Sie müsste dann aber schon bei der Geburt von mir getrennt und von meiner Mutter verheimlicht worden sein. Gleichzeitig müsste sie mir aber derart ähnlich sein, dass sie genau wie ich einen Freund namens Lars hat und außerdem ebenfalls in einem Anfall alberner Zärtlichkeit die Idee hatte, mit einem Edding ein vorübergehendes Tattoo zu erschaffen. Zudem müsste sie hier in dieser Stadt leben und ausgerechnet heute keinen anderen Raum zur Verfügung gehabt haben als gerade dieses Schlafzimmer. Von meinem Lars. Mit einem derartig seltenen Zufall könnte ich mich bestimmt bei einer Boulevard-­Zeitung melden und für die Story viel Kohle abkassieren.

Seltsam, welche Gedanken einem durch den Kopf schießen, während gerade eine Welt zusammenbricht. Geradezu unheimlich. Wie ein Gespenst stehe ich in meinem Nachthemd mit dem verwaschenen Rosenmuster in der Tür und starre fassungslos auf die Szene vor mir.

Noch kann ich nicht erkennen, wem die gespreizten Schenkel gehören, zwischen denen Lars sich stöhnend bewegt. Die Frau war jedenfalls vor nicht allzu langer Zeit bei einer professionellen Pediküre, so viel stelle ich mit routiniertem Blick fest. Dass ich in einem solchen Augenblick ausgerechnet dieses Detail ­registriere, kann nur eine beruflich bedingte Macke sein, so wie ein Zahnarzt den Leuten vermutlich immer sofort aufs Gebiss schaut, egal, ob sie philosophische Weisheiten von sich geben oder nur Müll reden. Es dauert nicht lange und die Stimme zu den pedikürten Zehen stößt ein letztes schrilles Jaaa! aus, dann rollt Lars sich ermattet auf die Seite.

»Nein!«, rufe nun ich aus und schlage mir eine Hand vor den Mund. Die dunkelhaarige Frau mit dem Pagenkopf, die nichts weiter trägt als den blau-rot gestreiften Schlips, den ich Lars zum Geburtstag geschenkt habe, und die sich mit rosigen Wangen in der dunkelblauen Satinbettwäsche rekelt, ist erst vorgestern in der Praxis gewesen. Ich habe der Schlampe, die gerade mit meinem Freund gevögelt hat, eigenhändig die Fußnägel lackiert!

»Veronika Lindemann«, stoße ich krächzend hervor. Plötzlich kann ich mich glasklar erinnern. Aromafußbad, Hornhautbehandlung und Lackieren der Nägel in klassischem Rot. Hat in der Gala geblättert und arrogant geschwiegen. Es gibt ja unterschiedliche Arten von Schweigern. Die Friedlichen, die einfach nur die Ruhe der Fußpflegepraxis genießen, die ­Erschöpften, die die Schnauze von was auch immer gestrichen voll haben, die Einfallslosen, die schlicht nichts zu sagen haben, und eben auch die Arroganten, die ein Gespräch für unter ihrer Würde halten.

Jetzt stützt sich Veronika ungeniert auf ihre Ellbogen. »Du bist doch die Fußpflegerin, oder?«

Ich bringe nur ein unartikuliertes Schnaufen hervor und starre Lars an. Der kratzt sich am Kopf und zieht sich im Gegensatz zu Veronika immerhin die Decke über den Unterleib.

»Ich dachte, du bist heute Abend bei Janina«, sagt Lars.

Dieser Satz bewirkt in meinem Hirn augenblickliche Leere.­ Ich dachte, du bist heute Abend bei Janina. Ich dachte, du bist heute Abend bei Janina. Offenbar können meine kleinen grauen Zellen ab sofort nur noch den zuletzt gehörten Satz wie in einer Endlosschleife abspulen. Zu anderen nennenswerten Leistungen ist mein Hirn nicht mehr in der Lage. Ich dachte, du bist heute Abend bei Janina. Wahrscheinlich ein Satz voller Bedeutung. Nur kapiere ich leider überhaupt nichts. Ich kriege nur noch mit, dass hier alles ganz falsch läuft. Der falsche Satz im falschen Moment und die falsche Frau im falschen Bett.

Veronika Lindemann setzt sich jetzt auf. Der Schlips baumelt zwischen ihren vollen Brüsten. »Hör mal, Larsi, deine Mitbewohnerin scheint mir ganz schön durch den Wind zu sein. Ich geh mal duschen, ja?«

»Alles klar«, sagt Lars.

Veronika schwingt ihre langen, gebräunten Beine über die Bettkante und kommt ungerührt auf mich zu. Ich befinde mich offenbar in einer Art Schockstarre, denn ich kann mich keinen einzigen Zentimeter wegbewegen. Veronika quetscht sich an mir vorbei durch die Tür. Erst als ihre nackte Haut meinen Arm berührt, zucke ich zusammen, presse meine eiskalten Hände an mich und gehe einen Schritt zur Seite.

»Alles klar?«, bricht es aus mir hervor. »Was soll das heißen – du dachtest, ich bin heute Abend bei Janina?«

»Hat Janina heute nicht ihren kinderfreien Abend? Ich dachte, du machst heute den Babysitter«, antwortet Lars und kratzt sich das Brusthaar.

»Darum geht es nicht!«, schreie ich mit plötzlich überschnappender Stimme. »Was redest du denn da von Babysitten? Bist du irre? Ich will wissen, was hier eigentlich los ist! Was machst du hier? Und was macht diese Veronika hier? Und wieso …«

Kopfschüttelnd breche ich ab. Im Moment kann ich sowieso keinen klaren Gedanken fassen.

Lars setzt plötzlich seinen speziellen Blick auf. Er legt den Kopf schräg und deutet einen Schmollmund an. Mit diesem Dackelblick hat er schon öfter versucht, mich zu irgendetwas zu überreden. Mal wollte er einen bestimmten Film im Kino sehen, mal sollte ich ihm auf den letzten Drücker eine seiner Hausarbeiten tippen oder auch mal ein Abendessen kochen, auch wenn ich eigentlich keine Lust dazu hatte. Jetzt höre ich ihn sagen: »Ach komm schon, Lara. Du hast doch selbst gemerkt, dass es in letzter Zeit zwischen uns nicht mehr so richtig stimmt.«

»… nicht mehr stimmt«, murmele ich und habe das Gefühl, dass meine Beine gleich nachgeben werden. Bevor das passieren kann, drehe ich mich um und gehe schnurstracks zurück zu meinem Zimmer, vorbei am Bad, wo Veronika trällernd unter der Dusche steht.

Eine halbe Stunde später stehe ich hysterisch schluchzend vor dem schmucklosen Mietshaus, in dem meine beste Freundin wohnt, und klingle Sturm. Ich bin mir sehr sicher, dass Janina zu Hause ist, denn ihren kinderfreien Abend hat sie für heute abgesagt. Weil Lukas heute Nachmittag erhöhte Temperatur und Halsweh hatte, wollte Janina lieber selbst bei ihrem Söhnchen bleiben, sonst hätte ich den Abend vielleicht wirklich als Babysitterin in ihrer Wohnung verbracht.

Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, bis Janina endlich den Kopf aus dem Fenster steckt, um zu sehen, wer vor der Tür steht. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragt sie ungehalten.

»Mach die Tür auf«, schluchze ich.

Janinas Kopf verschwindet, der Türsummer ertönt und ich schleppe mich die Stufen bis in den dritten Stock hoch.

Die Tür zur Wohnung ist nur angelehnt. Ich schlüpfe in den Flur und lasse meine Leinentasche, in die ich wahllos ein paar Klamotten gestopft habe, neben der Garderobe fallen. Janina kommt aus Lukas’ Kinderzimmer. »Mist«, zischt sie, »jetzt ist er aufgewacht.«

Ich zucke hilflos die Achseln. Jetzt schaut Janina mich endlich an. »Ach du lieber Himmel, wie siehst du denn aus? Was ist denn passiert?«, fragt sie besorgt und nimmt mich in den Arm.

»Lars poppt mit einer anderen«, schniefe ich.

Und jetzt, da ich es so deutlich ausspreche, trifft es mich gleich noch einmal wie ein Keulenschlag und die Tränen fließen auch schon wieder über mein Gesicht, als wollten sie dem scheußlichen Novemberregen draußen Konkurrenz machen.

»Was ist Poppen?«, fragt Lukas plötzlich mit heiserem Stimmchen. Unbemerkt hat er sich aus seinem Zimmer in den Flur geschlichen.

»Das muss ein Fünfjähriger noch nicht wissen«, sagt Janina schnell.

»Ich will’s aber wissen«, beharrt Lukas.

Janina rollt mit den Augen. »Das ist so was wie Turnübungen, okay?« Lukas nickt.

»Ab in die Küche mit euch beiden, ich mache jetzt heiße Milch mit Honig«, bestimmt Janina und schiebt mich vorwärts.

Widerspruchslos lasse ich mich auf einen der drei grün gestrichenen Küchenstühle sinken. Etwas Hochprozentiges wäre mir jetzt eigentlich lieber, aber ich habe schlicht keine Kraft, um zu protestieren oder Wünsche zu äußern.

Janina rührt eine Weile in einem Topf am Herd herum. Dann stellt sie je ein Glas Milch vor Lukas und vor mir ab, so, als wäre ich das zweite Kind.

Janina seufzt. »Ist es also endlich passiert«, sagt sie schließlich mit resigniertem Unterton.

Irritiert hebe ich den Kopf. »Was soll das denn heißen? Du klingst ja so, als hättest du praktisch nur darauf gewartet.«

»Sagen wir mal so«, beginnt Janina, »ich bin nicht wirklich überrascht.«

»Na toll«, sage ich und werde von weiteren Schluchzern geschüttelt.

»Warum heulst du?«, fragt Lukas interessiert.

Ich habe nichts gegen Janinas Söhnchen. Aber im Augenblick wäre ich doch sehr froh, wenn der kleine Mann in seinem Bett liegen würde.

»Lass die Lara einfach in Ruhe, ja?«, kommt mir Janina zu Hilfe. »Trink deine Milch und dann geht es zurück ins Bett.«

Lukas trinkt erstaunlich folgsam sein Glas leer und macht sich auf den Weg zu seinem Kinderzimmer. Ein paar Sekunden später ist er allerdings schon wieder da. Diesmal bringt er seinen Kuschelhasen mit den langen Plüschohren und drückt ihn mir in den Schoß. Das finde ich wiederum so süß, dass ich unter Tränen tatsächlich lächeln muss.

Zehn Minuten später hat Janina Lukas eine allerletzte kurze Gutenachtgeschichte vorgelesen und wir sitzen endlich allein am Küchentisch. Janina streichelt meinen Handrücken.

»Jetzt ist also der Traum deiner Mutter geplatzt«, stellt sie fest.

Verwirrt ziehe ich meine Hand zurück.

»Der Traum meiner Mutter?«, echoe ich. Müssen heute Nacht eigentlich alle so daherreden, dass ich kein Wort verstehe?

»Lara, Süße, das klingt jetzt vielleicht merkwürdig. Aber ich hatte wirklich immer das Gefühl, dass du mit dieser Beziehung zu Lars eher deiner Mutter einen Wunsch erfüllst als dir selbst!«

»Wie kommst du denn bloß auf so was?«, frage ich hilflos nach und fühle mich total überfordert.

Warum tröstet Janina mich nicht einfach? Warum sagt sie nicht, dass Lars ein Arschloch ist? Denn das ist er doch, oder nicht? Oder irre ich hier in einem Albtraum umher, in dem alles anders ist, als ich denke, und alle den Durchblick haben – alle außer mir?

»Deine Mutter hat es doch nie so richtig toll gefunden, dass du so wie sie Fußpflegerin geworden bist. Sie selber hat sich beruflich nie weiterentwickelt und ist auch keine neue Beziehung eingegangen, nachdem dein Vater sich aus dem Staub gemacht hat. Seit zwei Jahren wartet sie darauf, dass Lars dich heiratet und dass er dich unterstützt, damit du dich irgendwann selbstständig machen kannst.«

»Darauf warte ich doch auch!«, entgegne ich heftig und ziehe die Nase hoch.

Janina legt wortlos eine Küchenrolle vor mich hin.

»Besser gesagt, ich habe darauf gewartet. Bis heute«, füge ich hinzu und putze mir, erneut losheulend, die Nase.

Janina holt tief Luft. »Ich weiß«, sagt sie, »und für Lars war das ja auch super. Du hast Ordnung in die WG gebracht, hast ihm die Hausarbeiten getippt und klaglos ertragen, wie seine Eltern dich behandelt haben. Du hast nicht gedrängelt und deine eigenen Wünsche in den Hintergrund gestellt. Bequemer ging’s für ihn doch gar nicht.«

»Und was hat das alles mit meiner Mutter zu tun?«, frage ich entgeistert nach.

»Lars sollte erfüllen, was deine Mutter sich für dich wünscht. Natürlich meint sie es nur gut und will, dass es dir mal besser geht als ihr. Das heißt noch lange nicht, dass Lars auch der richtige Mann für dich ist.«

Ich starre Janina an und spüre, wie sich irgendwo tief unten in meinem Bauch eine sagenhafte Wut ansammelt. Ich weiß nur noch nicht, gegen wen genau sie sich eigentlich richtet. Gegen Lars, gegen Janina, gegen beide oder gleich gegen den ganzen Rest der Welt.

Ihre psychologischen Mutter-Kind-Analysen kann Janina sich jedenfalls an den Hut stecken. Nur weil sie ein paar ­Semester Psychologie studiert hat, bevor die Schwangerschaft ihr da­zwischenkam, kann sie jetzt nicht einfach anfangen, hier ­irgendwelche abstrusen Theorien über mein Leben auszubreiten.­

Ihr selbst hat die Psychologie schließlich herzlich wenig genutzt. Denn ihren Ralf konnte sie damit auch nicht bei der Stange halten. Als Lukas damals seine Dreimonatskrämpfe hatte, war es von Ralfs Seite aus nämlich sehr schnell um sein Nervenkostüm und dann auch um die große Liebe geschehen. Und um Janinas Studium ebenfalls. Inzwischen arbeitet sie als Sekretärin. Den Stress, den sie als alleinerziehende Mutter hat, finde ich wirklich nicht beneidenswert.

»Dann ist ja alles klar«, sage ich gereizt, »deiner Meinung nach sollte ich also froh sein, dass Lars mit einer anderen ­vögelt, weil er sowieso der Falsche für mich war. Habe ich das richtig verstanden?«

»Natürlich nicht«, sagt Janina begütigend. »Bist du dir denn ganz sicher, dass er fremdgeht? Mit wem denn überhaupt?«

Endlich bekomme ich Gelegenheit, das Grauen in allen Einzelheiten vor Janina auszubreiten. Bei meiner Schilderung des blau-rot gestreiften Schlipses rückt sie den Rotwein raus. Und als ich ihr erzähle, wie Veronika Lindemann unter der Dusche die Melodie von Love me tender geträllert hat, haben wir schon das zweite Glas geleert.

Gegen drei Uhr früh gähnt Janina zum fünften Mal und fragt mich: »Was hast du denn jetzt vor?«

Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. »Keine Ahnung«, flüstere ich.

Erst jetzt wird mir so langsam die Tragweite der Situation bewusst. Lars und ich wohnen schließlich in derselben WG. Die günstige Miete ist mir bei meinem schmalen Gehalt in den letzten zwei Jahren sehr entgegengekommen. Damals bin ich außerdem begeistert in die WG eingezogen, weil das meine Gelegenheit war, mir studentischen Wind um die Nase wehen zu lassen, auch ohne selbst zu studieren. Dass jeder sein eigenes Zimmer hat, fand ich bis jetzt immer vorteilhaft. Jeder von uns konnte sich zurückziehen und abends noch nach Lust und Laune lesen oder fernsehen, ohne den anderen zu stören. Wenn ich bei Lars sein wollte oder er bei mir, trennte uns nur der Flur von unserer Zweisamkeit. Jetzt hat das plötzlich einen gravierenden Nachteil: Lars, der den Mietvertrag unterschrieben hat, kann in seinem WG-Zimmer tun und lassen, was er will – in jeder Hinsicht.

»Meinst du, ich kann Lars verbieten, diese Veronika in die WG mitzubringen?«, frage ich und hebe den Kopf.

»Wenn der Saftsack auch nur einen Funken Gefühl im Leib hat, war das gestern ja wohl ein einmaliger Auftritt, weil er dachte, dass du nicht zu Hause bist«, schnaubt Janina. »Schlimm genug, dass er das ausnutzen wollte. Aber ab sofort wird diese Veronika wohl ihr eigenes Zuhause zur Verfügung stellen müssen.«

Bei der Vorstellung, wie mein Lars von nun an in einem mir unbekannten Schlafzimmer die gebräunte Haut dieser lang­beinigen Schlipsschnepfe streichelt, drehe ich fast durch.

»Ich halte das nicht aus«, schluchze ich.

»Du schläfst jetzt erst mal auf meinem Sofa«, sagt Janina und wankt ins Nebenzimmer, um eine warme Decke für mich aus dem Schrank zu kramen. »Morgen sehen wir weiter.«

Als Janina um halb sieben das Licht im Wohnzimmer anknipst, habe ich das Gefühl, keine Minute geschlafen zu haben. Zu viele Fragen kreisen in meinem übermüdeten Kopf. Warum habe ich nicht früher etwas bemerkt? Wieso hat Lars nicht mit mir geredet? Seit wann hat er eigentlich beschlossen, dass es zwischen uns nicht mehr stimmt? Ist da noch etwas zu retten? Was habe ich falsch gemacht?

Außerdem habe ich ungefähr fünfundzwanzig Mal auf das Display meines Handys geschaut. Und ich kann nur schwer glauben, dass Lars sich tatsächlich nicht gemeldet hat. Dass mein Handy funktioniert, hat mir leider mein Telefonanbieter bewiesen, indem er mich per SMS über die Möglichkeit eines Tarifwechsels informiert hat. Mal eben zum Nulltarif das Leben wechseln zu können wäre das deutlich attraktivere Angebot.

»Ich hol schnell Brötchen beim Bäcker um die Ecke!«, ruft Janina. »Schaust du nach Luki?«

Beim Gedanken an Essen dreht sich mir schier der Magen um, aber ich erkläre mich trotzdem bereit, so lange Lukas’ Zahnputzaktivitäten zu überwachen. Der Kleine hat schon gefrühstückt und steht jetzt auf seinem Holzhockerchen vor dem Waschbecken. Sein Fieber ist über Nacht gesunken, sodass Janina zu ihrer Erleichterung kein Problem sieht, ihn in den Hort zu bringen. Allerdings putzt er nicht seine eigenen Zähne, sondern die seines Kuschelhasen.

»Du hast den Schnuffel heute Nacht vom Sofa geschubst!«, begrüßt Lukas mich vorwurfsvoll und schrubbt mit seiner hellblauen Kinderzahnbürste heftig auf dem plüschigen Hasen­gesicht herum.

»Mich hat auch jemand vom Sofa geschubst«, knurre ich schlecht gelaunt. »Und dabei hab ich mir das Herz gebrochen.«

Zum Glück ist Lukas zu beschäftigt, um auf meine pädagogisch wenig wertvolle Äußerung einzugehen.

Mein Anblick im Spiegel lässt mich zurückprallen. So kann ich nicht in der Praxis auftauchen! Ich bin blass wie ein Stück Camembert und habe rote, geschwollene Augen. Wie ich mir heute ein kundentaugliches Lächeln ins Gesicht zaubern soll, ist mir sowieso ein Rätsel. Aber mit diesem Aussehen geht das schon mal gar nicht. Ich laufe zurück ins Wohnzimmer und krame hektisch in meiner Leinentasche herum. In der Nacht stand ich so neben mir, dass ich wahllos irgendwelche Klamotten eingepackt habe. Von meinen Kosmetika fehlt ebenfalls jede Spur. Ich bin blindlings nur noch meinem Fluchtimpuls gefolgt. Aber bei Licht betrachtet, kann ich mich in Janinas kleiner Zweizimmerwohnung sowieso nicht für längere Zeit einquartieren.

Ich ziehe das schwarze Kleid an und eile zurück ins Bad. Lukas ist dazu übergegangen, seinem Hasen ein Vollbad zu verpassen. »Hast du deine Zähne geputzt?«, frage ich.

»Gleich«, sagt Lukas und taucht seinen Schnuffi konzentriert unter. Ich suche derweil im Spiegelschränkchen über dem Waschbecken nach einem Concealer, nach Puder, Rouge und ­einem Lippenstift. Außer einem Föhn, Tampons, Wattestäbchen, Niveacreme, Deo, Bachblütentropfen, Wundsalbe, Pflaster und Zahnseide kann ich aber nur einen farblosen Labellostift entdecken.

Janina kommt soeben zurück und raschelt mit der Brötchentüte.

»Wo hast du denn deine Schminksachen?«, rufe ich.

»Ach, das meiste hatte das Haltbarkeitsdatum überschritten, da hab ich neulich einfach mal gründlich ausgemistet. Ich hab morgens sowieso keine Zeit, mich zu schminken«, antwortet Janina leichthin.

»Aber du gehst doch auch mal aus!«, rufe ich entgeistert.

»Na und? Wenn ich mich noch mal für einen Kerl interessieren sollte, dann muss der mich eben so nehmen, wie ich bin.«

Kopfschüttelnd setze ich mich auf den Rand der Badewanne. Janina könnte so viel aus ihrem Aussehen machen. Mal eine raffinierte Hochsteckfrisur oder offene Haare und kirschrote Lippen und die gesamte männliche Belegschaft ihrer Firma würde ihr hinterherschauen. Stattdessen zwirbelt sie ihre Haare­ nachlässig in einen schmucklosen Dutt und trägt mit Vorliebe dunkle Klamotten, auf denen man Flecken nicht gleich sieht. Ich habe schon lange Lust, mal wieder ausgiebig mit ihr shoppen zu gehen, aber seit Lukas auf der Welt ist, finden wir für solche Aktionen eben nur noch selten Zeit. Im Augenblick habe ich aber andere Probleme.

»Ich brauche Make-up!«, jammere ich, als Janina den Kopf ins Badezimmer streckt.

»Auf dem Weg zum Kinderhort fahre ich einen Schlenker und setze dich an deiner Wohnung ab. Dann bist du für die Praxis noch früh genug dran und kannst dich zu Hause schminken«, bietet sie an.

Seufzend stehe ich auf und folge ihr in die Küche. Janina verspeist mit Genuss ein Marmeladenbrötchen, ich bleibe bei schwarzem Kaffee. Während ich normalerweise für Milchkaffee mit Vanille-Aroma meine Großmutter verkaufen würde, kommt das schwarze, bittere Gebräu meiner Stimmung heute ungemein entgegen.

Janina räumt unser Frühstücksgeschirr in die Spüle und treibt Lukas zur Eile an. Wenig später sitzen wir in ihrem an­gerosteten Golf. Immerhin verfügt sie im Gegensatz zu mir über einen Führerschein.

Als sie in den Birkenweg einbiegt, krampft sich mein Magen zusammen. Wie soll ich mich verhalten, wenn ich Lars jetzt über den Weg laufe? In einer halben Stunde muss ich bei der Arbeit sein und kann mir jetzt keine ellenlangen Diskussionen erlauben. Aber wir können doch auch nicht einfach so aneinander vorbeigehen, als wäre nichts geschehen?

Janina umarmt mich und sagt: »Du schaffst das schon!«

Fehlt nur noch, dass sie mir einen Schokoriegel zusteckt. Aber leider ist das Leben kein Werbespot und meins zurzeit schon gar nicht. Mit wackeligen Knien steige ich aus und schließe wenig später die Wohnungstür auf. Zuerst scanne ich ab, welche Schuhe im Flur stehen, und stelle erleichtert fest, dass die schwarzen Lederschuhe fehlen, die Lars in letzter Zeit mit Vorliebe trägt. Er scheint also schon zur Uni gegangen zu sein.

Umso mehr erschrecke ich, als ich aus der Küche plötzlich ein schrilles Lachen höre. Diese Stimme wird mich wohl noch lange in meinen Albträumen verfolgen und ich werde sie in Zukunft unter hundert anderen heraushören, ob ich will oder nicht: die Stimme von Veronika Lindemann. Was macht die Frau um diese Zeit in unserer WG-Küche? Sie wird doch wohl nach meinem Auftauchen gestern Nacht nicht auch noch bei Lars übernachtet haben? Dreister geht es ja wohl nicht mehr! Das würde allerdings erklären, warum Lars sich nicht bei mir gemeldet hat. Fassungslos schleiche ich auf Zehenspitzen an der Küche vorbei. Aber die Tür ist nur angelehnt und Veronika entdeckt mich prompt.

»Oh, guten Morgen!«, trompetet sie, lehnt sich ein Stück vor und reißt die Küchentür weit auf. »Die Fußpflegerin ist auch da! Willst du mit uns frühstücken?«

Sie deutet mit einladender Geste auf den Tisch, der üppig bestückt ist. Dass Veronika selbst üppig bestückt ist, weiß ich ja schon. Und heute Morgen kann das jeder sehen, der die Küche betritt, denn Veronika sitzt in einem Negligé am Tisch, das mehr enthüllt, als es verbirgt.

Marius, der mit gerötetem Gesicht neben ihr sitzt, hat alles aufgefahren, was seine Bio-Ecke im Kühlschrank hergegeben hat: verschiedene Käsesorten, Vollkornbrötchen und Sanddornmarmelade. Ich bin sprachlos. Sind hier über Nacht sämtliche moralischen Grenzen gefallen und Veronika treibt es mit Lars und Marius gleichzeitig?

»Wie lange kennt ihr euch schon?«, ist die erstbeste Frage, die mir einfällt.

Marius zieht den Kopf ein und fängt an zu stammeln: »Äh, also, die Veronika, die war ja neulich schon mal hier und da, äh, haben wir uns, äh – kennengelernt.«

»Die Veronika war neulich schon mal hier«, wiederhole ich im Zeitlupentempo. Marius hat inzwischen eine auffällige Ähnlichkeit mit einer voll ausgereiften marokkanischen Biotomate angenommen.

»Du … du …«, zische ich jetzt zwischen zusammen­­ge­bissenen Zähnen hervor und verkneife mir nur mühsam ­beherrscht die deftigsten Schimpfworte, die mir gerade durch den Kopf schießen, »du hättest mich ruhig mal warnen können!«

Veronika beißt ungerührt in ihr Brötchen. Als ich mich wutentbrannt umdrehe, höre ich sie nuscheln: »Die Fußpflegerin scheint irgendwie Stress zu haben, oder? Vielleicht Beziehungsstress?«

Schockiert drehe ich mich noch einmal um. Ungläubig starre ich Veronika an und frage sie schließlich: »Du hast wirklich keine Ahnung, wer ich bin, oder?«

Veronika schluckt und antwortet bedauernd: »Du, sorry, dass ich mir deinen Namen nicht gemerkt habe. Aber ich war diese Woche auch noch bei der Maniküre, bei der Massage und beim Friseur.« Sie nimmt einen Schluck Tee und fügt kichernd hinzu: »Ich musste mich ja schließlich hübsch machen für mein Date mit Lars. Warst du die Claudia? Oder heißt du vielleicht Vanessa?«

Veronika schaut mich fragend an. Langsam bin ich einem Herzinfarkt nahe und presse hervor: »Nenn mich einfach Rumpel­stilzchen.«

Dann flüchte ich endgültig in mein Zimmer, lasse mich aufs Bett fallen und starre wie betäubt vor mich hin. Lars hat mich also nicht mal erwähnt! Offensichtlich hat Veronika nicht einmal eine Ahnung, dass Lars in einer festen Beziehung ist. Besser gesagt, war.

Als mein Blick auf den Wecker fällt, springe ich mit einem Aufschrei hoch. In einer Viertelstunde muss ich im fußläufig sein. Das schaffe ich jetzt auf keinen Fall mehr, wenn ich laufe, und auch nicht per Fahrrad. Hektisch krame ich mein Handy aus der Tasche und wähle die Nummer von Tonis Taxizentrale.

Am liebsten würde ich mich krankmelden, aber mir ist klar, dass meine Chefin die heute anstehenden Termine nicht alleine schaffen kann.

Eilig schminke ich mir die Schatten unter den Augen weg, male meine geröteten Augenlider innen mit weißem Kajal aus und tusche zweimal kräftig meine Wimpern. Jetzt sehen meine grau-grünen Augen schon nicht mehr ganz so verheult aus. Innerlich fühle ich mich diesem Tag zwar noch immer nicht gewachsen, aber wenigstens sieht man mir das jetzt nicht mehr auf den ersten Blick an.

Wenig später höre ich vor dem Haus das Taxi hupen. Ich schlüpfe in meine schwarzen Stiefel, reiße meinen Mantel vom Haken und haste den Flur entlang, ohne die beiden Gestalten in der Küche noch eines Blickes zu würdigen. Bloß raus hier!

Sunjay, der mich mit seinem Taxi schon oft vor dem Zuspätkommen gerettet hat, steht neben seinem Wagen, um mir galant die Tür aufzuhalten. Ich steige fast immer hinten ein, weil ich hier genug Platz habe, um meinen Kram auf der Rückbank auszubreiten. Auch jetzt hole ich mein Schminktäschchen noch einmal hervor, trage himbeerfarbenen Lippenstift auf und bürste schließlich meine Haare durch, die ich vor ein paar Monaten schokoladenbraun gefärbt habe.

Sunjay lächelt und zeigt seine strahlend weißen Zähne. Sunjay hat immer gute Laune, zumindest habe ich ihn noch nie anders erlebt. Er wirft mir im Rückspiegel einen prüfenden Blick zu und lässt dabei seinen Kopf ein wenig hin und her wackeln. Dann sagt er bedeutungsvoll: »Der Mensch bringt täglich sein Haar in Ordnung – warum nicht auch sein Herz?«

»Ach, Sunjay«, seufze ich. »Wenn doch alles so einfach wäre wie deine indischen Spruchweisheiten. Ich werde wohl länger als einen Tag brauchen, um mein Herz in Ordnung zu bringen …«

Den Rest der Fahrt über starre ich aus dem Fenster und seufze ab und zu vor mich hin. Dabei macht es mir sonst eigentlich immer Spaß, mit Sunjay zu plaudern. Er lernt jeden Tag drei Stunden lang Deutsch und jobbt ansonsten als Taxifahrer. ­Irgendwann will er zurück nach Indien, wo seine Familie lebt, die er von seinem Gehalt unterstützt. Mit guten Deutschkenntnissen erhofft er sich bessere Arbeitsmöglichkeiten in Bombay. Für Sunjay ist es sonnenklar, dass er eine schöne Inderin heiraten wird, sobald er in der Lage ist, einer Familie einen gewissen Standard zu bieten. Im Augenblick beneide ich ihn regelrecht um seinen klaren Weg. Sunjay weiß einfach genau, was er will, und ich kenne niemanden außer ihm, der so viel Optimismus versprüht, dass alles auch genau so kommen wird, wie er es sich ausmalt.

Als Sunjay vor der Fußpflegepraxis anhält, sage ich entschuldigend: »Tut mir leid, dass ich heute so schweigsam bin, Sunjay.«

Er wackelt mit dem Kopf und lächelt: »Wer viel redet, hat weniger Zeit zum Nachdenken!«

»Da ist was dran«, antworte ich und denke beim Aussteigen, dass ich meine Kunden heute am besten nonstop vollquasseln sollte, denn wenn ich erst mal anfange, über alles nachzudenken, kann ich für nichts mehr garantieren.

»Guten Morgen, Frau Sandmann«, sagt Frau Fink und wirft mir über ihre Hornbrille einen strengen Blick zu. Das hat nichts weiter zu bedeuten, denn dank Sunjay bin ich heute genauso pünktlich wie an jedem anderen Arbeitstag. Annegret Fink guckt aus Gewohnheit streng. Wahrscheinlich findet sie, dass dieser Blick am besten zu ihrem weißen Kittel passt, den sie mit solchem Stolz trägt, als hätte sie ihn zusammen mit einer imaginären Doktorwürde verliehen bekommen.

Annegret Fink ist nicht nur Fußpflegerin – sie ist Podologin! Und darauf legt sie allergrößten Wert. Ich lasse ihr gerne den Vortritt, wenn es darum geht, Warzen zu entfernen. Da habe ich wirklich überhaupt keinen Ehrgeiz.

Das Schönste an meinem Beruf ist sowieso, dass ich Zeit habe, mich mit meinen Kunden zu unterhalten, mir manchmal ganze Lebensgeschichten oder einfach nur spannende Begebenheiten erzählen zu lassen. Natürlich gibt es auch Leute, denen man während der Behandlung am liebsten den Mund zukleben würde. In manchen Fällen würde ich sogar am liebsten einen Psychozuschlag verlangen, weil ich nicht nur meine Dienste als Fußpflegerin erweise, sondern auch noch als seelischer Mülleimer zur Verfügung stehe. Heute könnte ich selbst einen gebrauchen.

»Guten Morgen, Frau Fink«, antworte ich artig und steuere den kleinen Raum mit der Aufschrift »Privat« an. Dort ziehe ich mir mein Kleid über den Kopf und schlüpfe in meine weiße Arbeitshose und das hellblaue Shirt mit dem quer über die Brust verlaufenden Schriftzug fußläufig.

Einmal habe ich es gewagt, Frau Fink einen Verbesserungsvorschlag zu machen. Weil ich nämlich finde, dass der Name fußfidel für eine Fußpflegepraxis viel schöner wäre. Meine Chefin war empört. Sie erklärte mir, dass alle Orthopäden der Stadt, die immer wieder Kunden zu ihr schicken, ihre Praxis seit mehr als zehn Jahren unter dem Namen fußläufig kennen würden, und sie werde durch eine Namensänderung ganz sicher nicht leichtfertig die gute Zusammenarbeit mit den Herren Doktoren aufs Spiel setzen oder gar ihre Stammkundschaft verwirren.

Daraufhin habe ich es dann auch für mich behalten, dass ich es gut fände, den abgetretenen dunkelgrünen Teppich im Eingangsbereich durch einen schönen wollweißen Läufer mit pinkfarbenem Logo zu ersetzen. Ganz zu schweigen von Frau Finks Hornbrille und ihrer langweiligen Prinz-Eisenherz-Frisur, die stufig geschnitten so viel besser aussehen würde. Aber man kann ja bekanntlich niemanden zu seinem Glück zwingen. Und vielleicht sollte ich es auch einfach bleiben lassen, mir Gedanken zu machen, was man an anderen Leuten alles optimieren könnte. Mein eigenes Glück ist gründlich genug aus den Fugen geraten.

Als ich um 18 Uhr aufstehe und meine letzte Kundin verab­schiede, wird mir so schwindlig, dass ich mich am Behandlungsstuhl festhalten muss. Kein Wunder – die Mittagspause habe ich ausfallen lassen und außer weiteren drei Tassen Kaffee heute noch nichts zu mir genommen. Jetzt wird es Zeit für frische Luft. Ich räume auf, werfe die benutzten Handtücher in den Wäschekorb und reinige die Behandlungsgeräte. Dann ziehe ich mich um und verabschiede mich von Frau Fink.

Es wird schon dunkel und ein leichter Nieselregen legt sich innerhalb von Sekunden wie ein Film auf mein Gesicht. Doch die kühle Luft tut gut und ich laufe in zügigem Tempo Richtung Birkenweg.

Den ganzen Tag über habe ich die Gedanken an Lars so gut wie möglich verdrängt. Jetzt macht es mich aber nervös, dass ich immer noch nicht mit ihm gesprochen habe, und ich will es endlich hinter mich bringen.

Schon von Weitem sehe ich, dass unsere Wohnung hell erleuchtet ist. In der Küche und in Lars’ Zimmer, das zur Straße rausgeht, brennt Licht. Ich beschleunige meine Schritte und stürme die Treppe hoch, bevor ich es mir anders überlegen kann. Lars kommt gerade aus seinem Zimmer, als ich aufschließe.

»Oh, hallo, Lara«, sagt er und schaut mich ohne eine Spur von Verlegenheit an. Wie abgebrüht ist dieser Mann eigentlich?! Er hat mir immer noch keine SMS geschrieben oder auf irgendeine andere Art und Weise signalisiert, dass es ihm leidtut, was gestern passiert ist.

»Hallo, Lars. Wir sollten miteinander reden.«

»Einverstanden«, stimmt Lars zu. »Marius hat gekocht, lass uns doch erst zusammen essen.«

Marius ist bei mir unten durch und eigentlich habe ich keine Lust, so zu tun, als könnten wir drei wie bisher ganz normal zusammen essen. Aber ich muss jetzt wirklich etwas in den Magen bekommen, wenn ich nicht über kurz oder lang vom Stuhl kippen will.

»Meinetwegen«, sage ich knapp.

Als ich Marius am Küchentisch gegenübersitze, senkt er seinen Blick und murmelt: »Tut mir leid, Lara.«

»Dir tut doch immer irgendwas leid«, sage ich gereizt. Hätte Marius früher durchblicken lassen, dass Lars sich schon mal mit Veronika in der WG getroffen hat, wäre ich gestern nicht so ins Messer gelaufen. Die lecker duftende Vollkornlasagne mit Parmesankäse kann mich auch nicht trösten. Trotzdem zwinge ich mich, meinen Teller leer zu essen. Lars nimmt sich derweil mit großem Appetit eine zweite Portion.

»Bist du eigentlich sicher, dass du Lehrer werden willst?«, erkundigt er sich nun mit vollem Mund bei Marius.

»Äh, manchmal bin ich mir da auch nicht so, äh – sicher …«, stottert Marius.

»Dann werd doch einfach Koch«, schlägt Lars vor. »Die Lasagne schmeckt echt geil.«

Bei dem Wort »geil« zucke ich unwillkürlich zusammen. »Wenn du deine Berufsberatung beendet hast, können wir uns dann vielleicht endlich unter vier Augen unterhalten.«

Lars setzt seinen Dackelblick auf: »Marius hat aber noch Tiramisu gemacht.«

Als ich gerade überlege, das Tiramisu eigenhändig aus dem Kühlschrank zu holen, um Lars damit das Maul zu stopfen, klingelt das Telefon und ich springe auf.

Janina ist dran. »Weißt du, was die Erzieherin heute zu mir gesagt hat, als ich Lukas vom Hort abgeholt habe?«, fragt sie anstelle einer Begrüßung.

»Janina, ich sitze hier gerade mit Marius und Lars und wir werden gleich …«, versuche ich, sie abzuwürgen, denn ich kann mich jetzt auf Erziehungsprobleme wirklich nicht konzentrieren.

Janina unterbricht mich einfach: »Sie hat gesagt, dass ich doch bitte auf mein Vokabular und auf meinen Umgang achten soll. Mein Sohn sei offensichtlich von schlechten Vorbildern umgeben und seine Wortwahl schockierend frühreif.«

»Wieso?«, hake ich leicht abwesend nach, während ich in die Küche schiele, um zu sehen, wann Lars endlich seinen verdammten Nachtisch aufgegessen hat. »Was hat er denn gesagt?«

»Als die Erzieherin angekündigt hat, den Turnraum aufzuschließen, da hat Lukas zu seiner Freundin Laura gesagt: ›Komm, wir gehen poppen.‹«

»Oh.« Trotz meiner eigenen Sorgen steigt ein nervöses Kichern in mir hoch. Wenn ich mir vorstelle, wie der blauäugige Blondschopf in aller Unschuld seiner kleinen Freundin vorgeschlagen hat, ein paar Purzelbäume mit ihm zu schlagen, und die Erzieherin ihn wegen seiner Wortwahl so völlig falsch verstanden hat, finde ich das trotz meiner Anspannung einfach zu komisch.

Marius beginnt schon den Tisch abzuräumen.

»Janina, ich muss Schluss machen. Lars ist da …«

»Verstehe«, antwortet Janina, »sag dem Muttersöhnchen einen Gruß von mir. Wenn er seine Neue noch mal mitbringt, erwürge ich ihn eigenhändig.«

Wir verabschieden uns und ich gehe zurück in die Küche.

»Du hast doch bestimmt noch einiges in deinem Zimmer zu erledigen, Marius, oder?«, frage ich mit drohendem Unterton.

»Ich wollte eigentlich noch abspülen«, erklärt Marius.

»Nein, das wolltest du nicht«, sage ich bestimmt.

Ich möchte mich nämlich mit Lars in der Küche unter­halten. Seine Lasterhöhle betrete ich bestimmt nicht mehr und in meinem Zimmer will ich auch nicht mit ihm reden, wo wir womöglich gemeinsam auf dem Bett sitzen würden. Da gab es schon bessere Anlässe.

Marius versteht und zieht sich – eine Entschuldigung murmelnd – zurück.

Als ich Lars endlich allein gegenübersitze, überkommt mich plötzlich das völlig irrationale Verlangen, mich auf seinen Schoß zu setzen, die Arme um seinen Hals zu schlingen und mein Gesicht in seinen halblangen, wuscheligen Haaren zu vergraben. Ich will, dass der gestrige Abend gar nicht statt­gefunden hat, dass wir das einfach alles vergessen können. Aber statt meinem Impuls nachzugeben, bleibe ich stocksteif sitzen, umklammere mein Wasserglas und schaue Lars nur abwartend an. Lars fixiert mit seinem Blick das Gewürzregal schräg hinter mir und kratzt sich am Kopf.

»Tja, was soll ich sagen, Lara. Das mit Veronika ist halt einfach so passiert. Auf der BWL-Party Anfang Oktober.«

»Was? Anfang Oktober?«, rufe ich schockiert aus. »Aber du hast doch letzten Mittwoch noch mit mir geschlafen!«

Lars setzt eine etwas zerknirschte Miene auf. »Ich wusste doch zuerst selbst nicht so genau, was ich will. Es ist ja auch nicht so, dass du mir gar nichts mehr bedeutest. Aber mit ­Veronika ist es dann doch was Ernsteres geworden. Meine Mutter findet auch, dass sie gut zu mir passt.«

»Deine Mutter …?«, krächze ich.

»Ja, meine Mutter. Wir sind uns letzte Woche zufällig alle vor der Praxis von Veronikas Eltern über den Weg gelaufen. Meine Mutter hatte bei Veronikas Vater einen Zahnarzttermin und ich habe Veronika von zu Hause abgeholt. Die Praxis liegt direkt neben der Villa von Veronikas Eltern. Das war total praktisch, da konnte ich Veronika meiner Mutter gleich vorstellen.«

»Total praktisch …«, flüstere ich wie ein Papagei, dem die Luft ausgeht.

»Jetzt guck mich doch nicht so an«, sagt Lars. »Wir hätten auf Dauer eben doch nicht wirklich zusammengepasst. Du hast es doch auch nicht gut gefunden, dass ich immer öfter ohne dich auf die Semester-Partys gegangen bin. Vielleicht fehlt dir einfach auch ein bisschen das Verständnis dafür, wie man sich frühzeitig eine Karriere aufbaut. Da gehört halt noch mehr dazu als das Studium an sich. Für eine Partnerschaft ist es aber wichtig, dass man da auf einer Ebene liegt, verstehst du?«

»Sagt deine Mutter, richtig?«, flüstere ich. Noch bin ich damit beschäftigt zu verdauen, wie Lars mir hier das Wort im Mund verdreht. Ich fand es schade, dass er in letzter Zeit immer öfter ohne mich auf diese Partys gegangen ist. Nicht, dass er hingegangen ist. Ich habe nur manchmal im Stillen gedacht, dass es vielleicht noch besser für seine Karriere wäre, wenn seine Abschlussprüfungen endlich in greifbare Nähe rücken würden und er zu diesem Zweck auch seine Hausarbeiten rechtzeitig abliefern würde. Die letzten beiden Arbeiten sind immer noch auf meinem USB-Stick, nachdem ich sie für Lars getippt habe. Er beherrscht das Zehn-Finger-Tastensystem nämlich nicht so gut, und außer­dem kann ich sein Gekritzel mittlerweile besser entziffern als er selbst. Nur für die Übergabe ist noch keine Zeit gewesen, obwohl Lars die Hausarbeiten spätestens übermorgen abgeben muss. Er war in letzter Zeit dazu übergegangen, das Abgabedatum handschriftlich auf seinen Notizblättern zu vermerken und sich darauf zu verlassen, dass ich ihm die getippten und ausgedruckten Seiten rechtzeitig aushändige.

Ich schlucke und sage dann mit möglichst fester Stimme: »Klar, eine Zahnarzttochter ist natürlich viel besser als eine Fußpflegerin.«

»Genau das hat meine Mutter auch gesagt«, antwortet Lars. Warum fällt mir erst jetzt auf, dass Ironie an ihm abprallt wie ein Gummiball an einer Steinmauer?

»Wie gut, dass wir unsere Hochzeit noch nicht konkret geplant haben«, sage ich mit ausdruckslosem Gesicht.

»Genau«, nickt Lars. »Dann wäre alles viel komplizierter geworden. Ich bin echt froh, dass du das auch so siehst.«

»Ich bin auch echt froh«, sage ich und stehe auf. »Ich bin echt froh, dass ich endlich begriffen habe, was du für ein riesengroßes Arschloch bist.«

Erst in meinem Zimmer fange ich an zu heulen. Lars versucht gar nicht erst, mir nachzugehen und noch irgendetwas geradezurücken. Ich kann nicht fassen, wie ich mich von ihm habe ausnutzen lassen. Ich kann nicht glauben, wie naiv ich gewesen bin.

Und als ich eine verheulte Stunde später höre, wie Veronika Lindemann die WG betritt und Marius und Lars mit gewohnt lautstarkem Hallo begrüßt, traue ich kaum meinen Ohren. Schluchzend taste ich nach meinem Handy und schreibe Janina eine SMS: Du kannst zum Erwürgen vorbeikommen.

Aber Janina ist wahrscheinlich damit beschäftigt, Lukas eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, falls sie nicht sogar selbst schon schläft.

Bis kurz vor Mitternacht liege ich wach und starre Löcher in die Luft. Dann höre ich es: »Aaaah! Jaa! Jaaa!«

Veronika scheint bevorzugt um Mitternacht zum Höhepunkt zu kommen. Was würde ich darum geben, über mehr kriminelle Energie zu verfügen! So bleibt mir nur, meine neue David-Garrett-CD einzulegen und das Stück Nr. 3, Beethovens Fünfte in der Rockversion, bis zum Anschlag aufzudrehen. ­Was die Nachbarn dazu sagen werden, dass ich mir das Stück sicherheitshalber zwölfmal hintereinander anhöre, interessiert mich jetzt auch nicht mehr. Denn eins ist klar: Meine Tage in dieser WG sind gezählt. Ich muss ganz dringend hier raus!

Die Haselnussfrau