Schieler - Helmut Held - E-Book

Schieler E-Book

Helmut Held

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Beschreibung

Eine Gymnasiastin wurde ermordet, der potenzielle Täter am Tatort festgenommen. Zwölf Jahre später wird in Burg eine Studentin als vermisst gemeldet und kurz darauf im Wald bei Detershagen die Leiche einer Frau gefunden. Die Tote ist nicht die Vermisste. Der Gerichtsmediziner legt sich fest: Das Opfer wurde von demselben Mann getötet, der damals die Gymnasiastin ermordet hatte. Der deswegen Verurteilte inzwischen entlassen, wohnt in der Nähe. Mit der Bearbeitung werden Oberkommissarin Seide und der hinzukommandierte Kommissar Berger beauftragt, von dem niemand weiß, woher er kam. Nur eins wird deutlich, der Neue verheimlicht etwas. Die Schuld des Tatverdächtigen jedoch wird schnell bezweifelt. Sollten die Zweifel berechtigt sein, kann er den Mord vor 12 Jahren auch nicht begangen haben. Doch wer ist dann der wahre Mörder und wie viele Frauen sind ihm noch zum Opfer gefallen? Wo befindet sich die Vermisste, lebt sie noch, oder wird auch ihre Leiche irgendwann gefunden werden? Die Kriminalisten arbeiten unter Hochdruck. Was sie nicht wissen, der Täter ist ganz nah und hat die Oberkommissarin im Visier.

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Seitenzahl: 535

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Sie nannten ihn:

„Schieler“

Hinweis:

Obwohl Entführungen und Morde, wie sie in dem vorliegenden Buch beschrieben werden, passiert sind und auch wieder passieren werden, ist die Geschichte fiktiv. Alle handelnden Personen sind frei erfunden.

Der Autor

Lektorat und Satz: H. Held Korrektur: Silvia Feick, Umschlaggestaltung: Norbert Held, Celle Verlag: Tredition GmbH, Hamburg ISBN 978-3-8495-6786-6

Helmut Held

Schieler

Ausgerüstet mit einem hohen Intellekt, aber ohne jegliches Schuldgefühl kann ein Mensch zu einer grausamen Bestie werden.

Helmut Held

Prolog

Die Gelegenheit war günstig. Sein Entschluss unumstößlich. Der Siebzehnjährige öffnete leise die Tür seiner Kammer und horchte. Im Haus war alles ruhig. Er klemmte seine Schuhe unter den Arm und erreichte mit drei Schritten die Tür zum Zimmer seiner Mutter. Der Junge legte das rechte Ohr an die Füllung. Er hörte leises Schnarchen. Ein Lächeln überzog sein Gesicht. Es hatte geklappt. Seine Mami, wie er sie nennen musste, schlief fest. Sie, die ständig darüber wachte, dass er ja nicht ohne Erlaubnis das Haus verließ, besaß in den nächsten Stunden keine Gewalt über ihn. Dafür war gesorgt.

Wie jeden Abend wollte sie auch an diesem ein Glas Rotwein trinken. Doch in der angebrochenen Flasche war nur noch ein kläglicher Rest. Sie beauftragte ihren Sohn, eine neue Flasche aus dem Keller zu holen. Darauf hatte der Junge seit Tagen gewartet.

Seine Mutter besaß Barbiturate, von denen sie behauptete, es wären Vitamine. Als Mitarbeiterin einer Apotheke kam sie auch ohne ärztliches Attest an diese Mittel. Wenn im „Kreuzass-Club“ von Möser. Disco war, musste der Junge nach dem Abendessen stets eine, manchmal auch zwei dieser Tabletten schlucken. Anschließend wurde er schnell müde und zog sich ohne Widerspruch in sein Zimmer zurück.

Bis jetzt war die Strategie der Frau aufgegangen. Sie hatte verhindert, dass ihr Liebling mit diesem Pack, das sich in der Diskothek herumtrieb, Kontakt bekam. Dort wurde nach ihrer Ansicht sowieso nur gesoffen und gehurt. Was könnte ihrem Kind da alles passieren! Sie musste ihn schützen. Und vor allem vor irgendwelchen Flittchen, die sich zwischen sie und ihrem Kind drängen könnten. Wenn ihr Sohn am nächsten Tag wegen des verpassten Discobesuches schmollte, nahm sie ihn tröstend in die Arme. Das half. Seit einigen Wochen kein Wort mehr davon, dass er zu diesen Partys wollte. Seine Mutter war zufrieden. Doch sie unterschätzte ihren Sohn. Dem war schnell klar geworden, um welche „Vitamine“ es sich handelte. Geschickt tat er, als schlucke er die Pillen. In Wirklichkeit verbarg er sie in der hohlen Hand und sammelte sie in einer kleinen Schachtel. An diesem Sonnabend war es so weit. Noch im Keller entkorkte er die Flasche und schüttete mehrere, der fast zu Staub zerkleinerten Tabletten in den Rotwein.

Wie erwartet, schon nach dem ersten Glas, begann seine Mutter zu gähnen. Unter dem Vorwand, ebenfalls müde zu sein, zog er sich in sein Zimmer zurück. Er legte sich angekleidet unter die Bettdecke und ließ nur die Nasenspitze herausgucken. Seine Vorsicht war unnötig. Anders als sonst kam seine Mutter nicht, um nach ihm zu sehen. Stattdessen hörte er, wie sie schlafen ging.

Noch einmal horchte der Junge an ihrer Tür. Nur ein leises Schnarchen war zu hören. Auf Strümpfen lief er die Treppe hinunter. Im Flur warf er einen Blick auf den alten Regulator. Ein Erbstück seiner Großeltern. Zweiundzwanzig Uhr. Die fortgeschrittene Zeit störte ihn nicht. Von seinen Klassenkameraden wusste er, der Discobetrieb ging oft bis morgens um zwei. Leise zog er sich vollständig an.

Noch einmal horchte er nach oben. Er glaubte, einen Kloß im Hals zu haben und schluckte. Gewissensbisse? Nein, Schuldgefühle kannte er nicht. Doch ungehorsam zu sein, war er nicht gewöhnt. Das Wort seiner Mutter war Gesetz. Oft konnte er seine Wut nur mühsam im Zaum halten, wenn sie ihn davon abhielt, sich mit Gleichaltrigen zu treffen. Der Drang auszubrechen war immer größer geworden, besonders in den letzten Monaten. Anlass dafür war Lea, die schwarzhaarige Schönheit, die seit einem Vierteljahr in seiner Klasse war. Heute hatte er sich dazu aufgerafft. Endlich. Lautlos schlich er aus dem Haus. Auch die Nachbarn sollten ihn nicht bemerken. Mit schnellen Schritten ging er zu den Garagen. Er sah sich um. Niemand da. Das Rolltor schwang nach oben. Behände setzte sich der Junge hinter das Lenkrad des schwarzen Golfs. Für ihn war es vom Vorteil gewesen, Klassenbester zu sein. Obwohl bei den Mitschülern wegen eines schief stehenden Auges heimlich verlacht, tat der ein Jahr ältere Bruno Karsten so, als wäre er sein bester Freund. Dabei war sein Beweggrund offensichtlich. Er brauchte ihn für seine Hausaufgaben und für Spickzettel, egal in welchem Fach. Bruno hatte zu seinem achtzehnten Geburtstag ein Auto geschenkt bekommen. Sein Vater, ein sehr gut situierter Banker, konnte sich das leisten. Wichtigtuerisch kam Bruno damit täglich zum Unterricht.

Er hatte Karsten eine Bedingung für seine Hilfe gestellt. Er verlangte, mit dessen Auto fahren zu dürfen. Sein Mitschüler war darauf eingegangen und ließ ihn auf abgelegenen Straßen ans Steuer. Die Theorie war für den Jungen keine Hürde. So kam er auch jetzt mit dem Auto seiner Mutter gut zurecht.

Er dachte an Lea, an ihr freundliches Lächeln, wenn sie ihn ansah. Sie gehörte nicht zu denen, die ihn auslachten, weil er wegen des Augenfehlers eine dicke Brille tragen musste und deshalb den Spottnamen „Schieler“ bekommen hatte. Der Junge lächelte. Demnächst war eine OP geplant, die sein Schielen beseitigen würde. Das wollte er Lea heute sagen. Er liebte sie. Er war überzeugt, nur sie ist das Mädchen, mit dem er sein zukünftiges Leben teilen will. Er erinnerte sich ihrer Blicke. Gar kein Zweifel, auch sie mochte ihn, wartete nur darauf, dass er sich ihr endlich nähert. Und das wollte er heute tun. Er wusste, Lea war an den Sonnabenden auch in der Disco. Sein Inneres fieberte angesichts der bevorstehenden Begegnung. Mit Mühe unterbrach er seine Fantasien. Vor ihm lag eine mehrere Kilometer lange Strecke mit Baumreihen rechts und links. Dahinter Felder, auf denen nicht selten Rehe ästen. Hier war immer mal mit Wildwechsel zu rechnen. Er fuhr langsamer und konzentrierte sich auf die Straße. Bloß keinen Zusammenstoß riskieren.

Seine Mutter kam ihm in den Sinn. Eine innere Unruhe erfasste ihn. Hoffentlich waren die Schlafmittel stark genug. Nicht auszudenken, wenn sie aufwachte und merkte, dass er nicht in seinem Zimmer war. Nach dem Tod seiner jüngeren Schwester vor ein paar Jahren war seine Mutter nur noch auf ihn fixiert. Sie war alleinerziehend. Dass er nur ein Elternteil hatte, war ihm erst bewusst geworden, als er in die Schule kam. Die Mitschüler sprachen von ihren Vätern und gaben mit ihnen an. Er hatte seine Mutter gefragt. Statt eine befriedigende Antwort zu geben, schärfte sie ihm ein, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Von dem habe sie sich scheiden lassen. Der habe nichts getaugt. Er sei wieder verheiratet und lebe in einer anderen Stadt. Wie sie ihm eindringlich klar machte, sollte er nie wieder nach diesem Menschen fragen. Das tat er auch nicht, machte sich aber so seine Gedanken über einen Mann, den er Onkel Rolf nennen musste. Solange seine kleine Schwester lebte, kam dieser Onkel sehr oft zu ihnen. Nach deren Tod wurden seine Besuche immer seltener, bis sie so gut wie ganz unterblieben. Dafür wurde seine Mutter immer reizbarer, manchmal richtig hysterisch. Inzwischen wusste er, wer Onkel Rolf war und wo er wohnte. Er vermutete sogar, dass seine Schwester die Tochter dieses Mannes war. Nach deren Ableben gab es für Onkel Rolf keinen Grund mehr zu kommen.

Der Junge wurde aus seinen Gedanken gerissen. Im Lichtkegel der Scheinwerfer überquerte ein einzelnes Reh die Straße. Heftig trat er auf das Bremspedal. Das Quietschen war schrill. Die Räder blockierten. Nur mit Mühe bekam er das ausbrechende Auto zum Halten. Was er jedoch nicht verhindern konnte, war ein seitlicher Anprall gegen einen Begrenzungsstein.

Erschrocken blieb er sitzen. „Verflucht, auch das noch!“ Die Karosserie war beschädigt. Anders konnte es nicht sein. Im Geist sah er das wutschäumende Gesicht seiner Mutter. Er sprang aus dem Wagen und sah sich den Schaden an. Der rechte hintere Kotflügel war total verbeult. Ratlos umrundete er das Auto. Langsam ebbte der Schock ab und sein Verstand setzte wieder ein. Es war doch ganz einfach. Wenn er zurückkam, würde er das Auto in der Nähe seiner Wohnung stehen lassen und das Garagentor aufbrechen. Nicht er hatte den Wagen herausgeholt, sondern Einbrecher. Ja, das war die Lösung. Erleichtert atmete er auf. Die Beklommenheit wich. Jetzt war nur noch eins wichtig. Niemand durfte ihn mit dem Auto sehen. Er überprüfte die Straße. Kein Verkehr. Na, Gott sei Dank! Ein Blick auf die Uhr. Schon nach Mitternacht!

Das gibt’s doch nicht, dachte er. Wo ist denn bloß die Zeit geblieben? Nun aber schnell, sonst treffe ich Lea womöglich nicht mehr an.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Angebetete bis zum frühen Morgen im Club blieb. Nach zehn Minuten erreichte er die Gemeinde. In einer Gasse am Ortsrand ließ er den Wagen stehen und ging zu Fuß weiter. Was sie wohl sagen wird, wenn sie mich sieht? Beschwingt und voller Vorfreude erreichte der Verliebte den Jugendclub. Alle Fenster des zu ebener Erde liegenden Saals waren hell erleuchtet. Wo wird sie sein? Tanzt sie? Oder hat sie eine Vorahnung und wartet auf mich? Schieler, du bist ein Spinner. Er grinste schief, als ihm klar wurde, dass er sich selbst mit dem verhassten Spitznamen bezeichnet hat. Er trat bis an die Hauswand und versuchte, durch eines der Fenster in den Saal zu sehen. Doch im Gewühl der herumspringenden Paare war die Suche nach Lea sinnlos. Von der Decke hing eine bunt schillernde, rotierende Kugel. In der brachen sich die Blitze der bunten Scheinwerfer. Sie ließen den Saal mit den Teenies in einem regenbogenfarbenen, nebulösen Licht erscheinen. Der Discjockey auf der Bühne schob den Regler seiner Anlage weiter auf. Die Bässe dröhnten. Die Rhythmen der Songs waren weithin hörbar. Ein Wunder, dass sich niemand aufregte. Tatsächlich lagen die nächsten Häuser nur knapp dreihundert Meter entfernt. Was geht’s mich an, dachte der Junge und begab sich mit schnellen Schritten zum Vordereingang. Kurz bevor er diesen erreichte, kam ein Mädchen aus der Tür. Dicht dahinter ein junger Mann. Den kannte der Junge nur zu gut. Der „Schöne Fred“, ein ehemaliger Schulkamerad. Sein Atem stockte. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Das Mädchen war Lea, seine Lea. Was er da zu sehen bekam, war für ihn unbegreiflich.

Fred nahm Lea in die Arme und küsste sie. Fassungslos erstarrte der Junge. Dennoch erwartete er, Lea würde dieses arrogante, aufgeblasene Arschloch zurückweisen. Doch er irrte sich. Das Mädchen erwiderte dessen Zärtlichkeiten mit leidenschaftlichen Küssen. Ihre Körper verschmolzen wie zu einem. Derart miteinander beschäftigt entging den beiden, was um sie herum geschah. Der Junge hatte sich etwas gefasst und huschte bis dicht an die Hauswand. Hier war es dunkel. Alles, was er sich erträumte, war wie eine Luftblase zerplatzt. Wie konnte Lea ihm das antun? Sie musste doch gewusst haben, wie es um ihn steht. Und ausgerechnet dieser Lackaffe, dieser geistige Tiefflieger, der sich ständig damit brüstete, welches Mädchen er am Vortag flachgelegt hatte. Wie konnte sie sich mit so einem Menschen einlassen?

Seine Enttäuschung war grenzenlos. Verzweifelt schlug er mit den Fäusten gegen die steinerne Wand. Der Schmerz in seinen Händen ließ ihn wieder zu sich kommen. Er sah nach dem Pärchen. Das entfernte sich gerade, ohne ihn zu sehen. Wo werden sie hingehen? Er wollte es wissen. Und wie weit wird Lea den Kerl gewähren lassen? Würde sie mit ihm etwa …? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Bestimmt ließ sie sich nur ein Stück bringen. Ihr Zuhause befand sich im Nachbarort. Fred wohnte nur wenige Straßen weiter. Der Junge rannte los. Als Freds Wohnhaus in Sichtweite kam, sah er, wie beide darin verschwanden. Abrupt blieb er stehen. Um ihn herum schien sich alles zu drehen. Seine Beine begannen zu zittern. Er lehnte sich gegen einen Gartenzaun. Es half nicht. Langsam rutschte er in die Hocke und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Tränen rollten über sein Gesicht. Er zerfloss vor Selbstmitleid.

Der Junge wusste nicht, wie lange er in dieser Stellung ausharrte. Schließlich wich der unbändige Groll. Sein Gehirn begann wieder zu funktionieren. Er sah auf seine Armbanduhr. Zweiuhrdreißig. Er blickte zu dem Haus hinüber. Im Dachgeschoss war noch immer ein einzelnes Fenster erleuchtet. Dort mussten sie sein. Wie sie es wohl treiben? Seine Vorstellungen überschlugen sich. Wütend knirschte er mit den Zähnen. Eines Tages wird er sich rächen.

Mit Rachenehmen kannte sich der Junge bestens aus. Schon als Kind im Alter von nicht einmal zehn Jahren hatte er eine Katze gefangen, sie mit Spiritus übergossen und angezündet. Das Tier gehörte dem Nachbarjungen. Der hatte ihn zwei Tage zuvor verprügelt, weil er mit einem Brennglas einem lebenden Maikäfer ein Loch in den Bauch brannte.

Aus einem Versteck heraus hatte er zugesehen, wie die Leute vergeblich versuchten, die Katze zu retten. Natürlich war der Verdacht auf ihn gefallen. Doch sie konnten nichts machen. Seine Mutter hatte sich schützend vor ihn gestellt und den Nachbarn und auch der Polizei gegenüber behauptet, ihr Junge würde so etwas nie und nimmer tun. Zudem wäre er zur fraglichen Zeit bei ihr in der Apotheke gewesen. Zwar hatte sie ihm im Nachhinein ein paar Vorwürfe gemacht, als er ihr aber sagte, warum er das getan hatte, zeigte sie Verständnis. Er musste nur versprechen, es nicht wieder zu tun.

Während sich der Junge zurückerinnerte, sah er noch immer wie gebannt zu dem erleuchteten Fenster. Sein Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Kichern. Diesmal würde er sich für seine Rache etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Das stand fest. Doch hier weiter auszuharren war sinnlos. Lea blieb vermutlich die ganze Nacht bei dem „Stinktier“. Danach wird der sie nach Hause bringen oder sie fährt mit dem Zug oder Bus.

Ein scharfer Windstoß pfiff um die nächste Hausecke. Dem Jungen wurde kalt. Die aus der Ferne herüberklingende Musik war verstummt. Der Discjockey schien Feierabend gemacht zu haben. Dafür aber waren grölende Fußgänger zu hören.

Ganz in der Nähe klirrte Glas. Einer der Angetrunkenen hatte eine leere Bierflasche auf das Pflaster geknallt. Der Junge verbarg sich schnell hinter einem Baum. Er wollte nicht gesehen werden. Nach einigen Minuten war alles wieder ruhig. Die Randalierer waren verschwunden. Für den Jungen wurde es Zeit, das Auto zu holen und den Heimweg anzutreten.

Nach einem letzten hasserfüllten Blick zu dem erleuchteten Fenster setzte er sich widerwillig in Bewegung. Er war gerade ein paar Schritte gegangen, als ein Geräusch an seine Ohren drang. Er blieb stehen und drehte sich um. Lea und Fred. Beide standen vor der Haustür. Sie gestikulierte. Er zuckte mit den Schultern. Das sah wie eine Verabschiedung aus. Der Junge wollte es nicht glauben. Zu dieser Zeit ließ man doch kein Mädchen alleine gehen. Doch es war so. Fred ging zurück ins Haus, während Lea in seine Richtung kam. Sie durfte ihn nicht sehen. Schnell trat er in einen dunklen Bereich und wartete, bis das Mädchen vorbeigelaufen war. Er schaute ihr nach.

Mit Sicherheit wollte sie zu dem gar nicht weit entfernten Bahnhof laufen. Ob zu dieser Zeit überhaupt noch ein Zug fuhr? Das musste erkundet werden.

Als Lea hinter der nächsten Biegung verschwunden war, rannte der Junge zu seinem Auto. Nochmals ein prüfender Blick in die Runde. Kein Mensch weit und breit. Ein Hund schlug an. Anlass für einige andere Kläffer, sich ebenfalls bemerkbar zu machen. Schnell schloss der Junge das Auto auf, stieg ein und startete den Motor. Der Wagen fuhr an und rollte bis zur Einmündung der Straße, die zum Bahnhof führte. Er sah nach links und rechts. Kein Fahrzeug, kein Passant. Auch von Lea war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie ihr Ziel bereits erreicht. Der Junge fuhr weiter, bis er den Bahnsteig sehen konnte. Von Lea keine Spur. Er stieg aus und sah sich den Fahrplan an. Der nächste Zug fuhr erst in zwei Stunden. Lea wird das gewusst haben, dachte er, schließlich ist sie fast jedes Wochenende hier.

Die Frage lautete: Wollte sie zur Bushaltestelle oder gar per Anhalter fahren? Zu Fuß war die Strecke einfach zu weit.

Wenn sie per Anhalten fahren will, dann aber in meinem Wagen ging es ihm durch den Kopf. Die Augen des Jungen begannen zu glänzen, und er lachte. Wenn sie sich mit diesem Gehirnamputierten eingelassen hat, warum nicht auch mit mir. Das Flittchen! Mami hat recht, die Weiber, die in die Disco gehen, taugen alle nichts. Huren, ja Huren. Er trat viel zu heftig auf das Gaspedal. Die Vorderräder drehten kreischend durch, der Wagen schoss schlingernd vorwärts. Viel fehlte nicht, und das Auto wäre statt durch die Kurve, in der stand, geradeaus gegen das Bahnhofsgebäude gefahren. Der Junge bekam das Fahrzeug im letzten Moment unter Kontrolle.

Er erreichte die Bundesstraße, hielt an und sah zu der schräg gegenüberliegenden Bushaltestelle. Bei sternenklarem Himmel und herrschenden Vollmond war es fast taghell.

Das Mädchen war nicht dort. Das hieß, sie war zu Fuß unterwegs. Da kein Verkehr war, konnte er ungehindert auffahren. Er schaltete das Fernlicht ein und erhöhte die Geschwindigkeit.

Als er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, sah er Lea. Sie lief nur wenige Hundert Meter vor ihm auf dem Fahrradweg. Sehr gut. Jetzt gehörst du mir, dachte er. Der Junge drehte den Rückspiegel über der Frontscheibe und betrachtete sein Mienenspiel. Die Emotionen hatten sein Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. Ein Gesichtsausdruck, den Lea keinesfalls sehen durfte, wenn er neben ihr hielt. Im Nu verändert er seine Mimik. Nur noch pure Freundlichkeit.

Lea blieb stehen und drehte sich um. Sie ging bis an den Rand des Straßengrabens. Der Junge ahnte ihr Misstrauen, mit dem sie das näher kommende und immer langsamer fahrende Auto beobachtete. Feixend stoppte er den Wagen direkt auf ihrer Höhe, um dann jedoch mit einem freundlichen Lächeln auszusteigen und über das Autodach hinweg zu rufen: „Bist du es, Lea?“ Das Mädchen bekam große Augen, als sie ihren Namen hörte und nun in dem Fahrer einen Klassenkameraden erkannte.

„Schieler, du? Seit wann hast du ein Auto?“ Im selben Augenblick wurde dem Mädchen bewusst, dass sie den Jungen mit seinem Spitznamen angesprochen hatte. „Entschuldige, ich, ich …“, stotterte sie, wurde jedoch unterbrochen. „Macht nichts Lea. Ich weiß ja. So werde ich von allen genannt. Ich nehme es dir nicht übel. Willst du nach Haus? Oder warum läufst du hier?“

Lea war erleichtert. Der Klassenkamerad nahm den Spitznamen nicht übel. Beruhigt antwortete sie: „Natürlich will ich nach Haus. Du nimmst mich doch mit, ja?“ „Selbstverständlich. Steig ein!“ Schnell öffnete sie die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz gleiten. „Anschnallen“, sagte er, während er den Motor anließ und den Gang einlegte.

„Schon passiert.“ Der Junge bog gleich darauf von der Bundesstraße ab. „Ich nehme die Abkürzung“, sagte er. Der Wagen fuhr durch die kleine Ortschaft Schermen.

Lea lachte glücklich. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen, die in Jeans zur Disco gingen, trug sie einen kurzen Rock. Ihre Füße steckten in Stiefeln. Der Junge betrachtete sie verstohlen von der Seite, ihr bis weit über die Schultern fallendes Haar, ihr schönes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, die kleine niedliche Nase, die Lippen, die gerade von der Zunge benetzt wurden. Wie lange er schon davon träumte, sie zu küssen. Sie öffnete den Anorak und ließ so einen Blick auf den Pullover zu, der die Formen ihrer Brüste betonte. Der Rock war beim Setzen nach oben gerutscht. Diese runden Knie, die Schenkel, wie sie ihn erregten! Spontan malte er sich aus, was der „Schöne Fred“ wohl alles mit ihr angestellt hatte.

Dem Jungen traten Schweißtropfen auf die Stirn. Ein animalisches Verlangen erfasste seinen Körper und ließ keinen klaren Gedanken mehr zu. Lea bemerkte nichts davon. Sie plapperte munter drauflos, wollte wissen, woher er kam und von wem er das Auto hätte. Dabei fiel dem Mädchen nicht einmal auf, dass es auf keine seiner Fragen eine Antwort erhielt und das Auto immer langsamer wurde. Das war auch kein Wunder. Der Junge hörte gar nicht zu. Seine Blicke wanderten zwischen der Straße vor ihnen und ihren Knien und Oberschenkeln hin und her. Schließlich konnte er sich nicht mehr beherrschen. Seine rechte Hand erfasste ihr linkes Knie und versuchte, an der Innenseite des Oberschenkels nach oben zu gleiten.

Lea kreischte auf. „Spinnst du? Was soll das. Lass das sein, ich will das nicht.“ Sie löste ihren Gurt und versuchte, mit beiden Händen die Hand des jungen Mannes von ihrem Bein zu reißen. Doch der als Schwächling eingeschätzte Mitschüler entwickelte eine ungeahnte Kraft. Seine Hand verkrallte sich in ihrem Schenkel. In ihrer Verzweiflung schlug Lea mit beiden Fäusten auf ihn ein. Er ließ das Bein los, um ihre Schläge abzuwehren.

Der Junge brüllte: „Hör auf und hab dich nicht so. Das arrogante Arschloch durfte dich doch auch ficken. Wenn du willst, gebe ich dir Geld.“ Lea zuckte zusammen. „Du hast mir nachspioniert. Du verdammtes Schwein. Du bist doch krank im Kopf. Lass mich aussteigen! Hast du verstanden? Halt an, ich will raus!“, kreischte sie aus vollem Hals.

Im Scheinwerferlicht tauchte rechts die Einfahrt zu einer betonierten Freifläche auf. Hier machten Brummifahrer oft Halt, um die vorgeschriebenen Ruhepausen einzuhalten, wenn sie auf der nahen Autobahn keinen freien Parkplatz mehr fanden. Der Junge fuhr auf den mit viel Gestrüpp umgebenden Platz. Er hielt am äußersten Ende. Lea reagierte blitzschnell. Noch während sich der Junge von seinem Gurt befreite, riss sie die Tür auf und sprang hinaus. Laut schreiend rannte sie in Richtung Buschwerk. Hier hoffte sie, ihrem Verfolger zu entkommen. Unmittelbar im Bereich des ersten Bewuchses stürzte sie in ein Gebüsch und blieb hängen.

Sie hörte das Keuchen ihres Verfolgers. Als sie zurück und einen anderen Fluchtweg suchen wollte, war der Junge schon heran. An ihren langen Haaren riss er sie zu Boden und kniete sofort über ihr. Vom Entsetzen gepackt, blieb Lea sekundenlang wie erstarrt liegen, um dann loszuschreien. Sie schlug nach ihrem Peiniger und versuchte ihn zu kratzen.

Ein Faustschlag gegen ihre Schläfe verhinderte kurzzeitig einen weiteren Widerstand. Ihre Benommenheit nutzte er, um Strumpfhose und Slip herunterzustreifen. Dabei kam Lea wieder zur Besinnung. Der Junge hatte sich gerade aufgerichtet und zerrte an beide Stiefel. Das Mädchen winkelte blitzartig die Beine an und stieß mit aller Kraft ihre Füße gegen seine Brust. Er taumelte zurück. Sie rollte zur Seite, um hochzukommen, während gleichzeitig ihre markerschütternden Hilferufe weithin schallten.

Der Junge, der sich seines Sieges bereits sicher wähnte, war von dem plötzlichen Angriff überrascht. Doch bevor Lea aufstehen konnte, war er wieder heran und warf sie abermals zu Boden. Ein zweiter wuchtiger Schlag traf sie auf den Mund. Die Lippen platzten auf, ein Schneidezahn brach ab. Schreiend und um sich schlagend leistet sie auch jetzt noch Widerstand.

Nun war es ihr Angreifer, der vor der nicht erwarteten massiven Gegenwehr in Panik geriet. Im Auto war er noch der Meinung, ihre Ablehnung sei nur Ziererei, um ihn scharfzumachen. Inzwischen erkannte er, Lea würde sich ihm niemals freiwillig hingeben. Im Gegenteil, sie wird ihn anzeigen. Was wird seine Mami sagen, was die Klassenkameraden? Man wird ihn ins Gefängnis stecken. Genau das würde passieren. Ihre Schreie. Wenn die jemand hört. Das durfte nicht sein. Seine Gedanken rasten. Sie riefen: Sei still, sei endlich still. Doch über seine Lippen kam kein Laut. Dafür verzerrte sich sein Gesicht zu jener Grimasse, die er kurz zuvor abgestreift hatte.

Er umklammerte ihren Hals mit beiden Händen und drückte zu. Um nicht zu sehen, was er tat, richtete er sein Gesicht nach oben und blickte hinauf zu dem sternenklaren Himmel. Ihre Schreie erstickten. Ihr Körper bäumte sich auf. Mit letzter Anstrengung versuchte Lea, den Jungen von sich zu stoßen. Es gelang nicht. Ihre Atmung setzte aus. Ihre Finger, verkrallt in seinem Anorak, begannen sich zu lösen. Ihre Arme glitten nach unten. Ein letztes Zucken, dann blieb sie unbeweglich liegen.

Der zum Mörder gewordene Schieler neigte das Gesicht langsam seinem Opfer zu. Aus Leas Mund quoll die Zunge. Ihre Augen, weit aufgerissen und blutunterlaufen, starrten ihn an. Was habe ich getan? Was? Unfähig, überhaupt noch vernünftig zu denken, stierte er auf das tote Mädchen. Diese Augen! Sie können ihren Blick nicht von ihm lassen. Im Gefühl zu ersticken, schnappte er nach Luft. Seine Gedanken rasten durch den Kopf. Sie suchten einen Ausweg. Er fand keinen. Noch immer hockte er über der Leiche. „Guck mich nicht an!“, brüllte er. „Du hast doch selbst Schuld! Warum musstest du dich wehren!“ Rasend vor Wut und nicht mehr Herr seiner Sinne, zerrte er ein Messer hervor.

***

Zwölf Jahre später

1

Es war zur Mittagszeit, als der Zug aus östlicher Richtung in den Bahnhof von Burg b. Magdeburg einfuhr. Die Passagiere, die ausstiegen, konnte man an einer Hand abzählen. Unter ihnen ein Mann Mitte dreißig. Sein Gepäck bestand aus einer Laptoptasche und einem mittelgroßen Trolley. Den setzte er ab und sah sich prüfend um. Falls er dachte, abgeholt zu werden, so war das ein Irrtum. Kein bekanntes Gesicht. Auch von den Reisenden, die am gegenüberliegenden Bahnsteig auf die Ankunft des Gegenzuges warteten, nahm niemand Notiz von ihm. Dem Mann schien das nur recht zu sein. Er lächelte und betrachtete neugierig seine Umgebung wie jemand, der zum ersten Mal hier war und sich informieren wollte. Doch so war es nicht. Der Mann war hier geboren und auch zur Schule gegangen. Nur mit dem Zug war er schon lange nicht mehr angereist. Das war früher anders gewesen. An den Wochenenden war er als Kind oft mit seinen Eltern zu Verwandten in den nächsten Ort gefahren.

Die überdachten Bahnsteige und auch das alte Bahnhofsgebäude sahen noch genauso aus wie damals. Natürlich waren die Gleisbetten erneuert und ein weiterer Schienenstrang gelegt. Aber den großen Rangierbahnhof gab es noch immer. Auf diesem standen die Waggons in langen Reihen wie eh und je. Der Mann hob den Trolley an und schritt leichtfüßig zur Treppe, über die man in die weiß geflieste Unterführung gelangte. Von dort führten eine Treppe in die Bahnhofshalle und eine weitere direkt auf den Vorplatz. Diese nutzte der Mann. Er blickte auf die Uhr, die in einem blau gestrichenen Gerüst eingearbeitet war. Viertel nach zwölf.

Der gepflasterte Vorplatz mit seiner Ausfahrt zur Stadt war rund und glich in seiner Form einer liegenden dickbäuchigen Flasche mit einem langen Hals. Der Mann lief bis zur Bordsteinkante, blieb stehen und sah sich die Vorderansicht des Bahnhofsgebäudes an. Auch hier kaum eine Veränderung. Lediglich die gelb abgesetzten Flächen und die Fensterrahmen zwischen den Backsteinfronten waren frisch gestrichen.

Vor dem Gebäude acht Taxis, deren Fahrer auf Kundschaft warteten. Einige standen in der Nähe ihrer Fahrzeuge und unterhielten sich. Andere saßen hinter dem Lenkrad und lasen Zeitung. Ein junger Bursche lehnte mit einer Bratwurst in der Hand am Tresen des kleinen Imbissstandes. Der war neu. Den gab es früher nicht.

Der Blick des Mannes schweifte hinüber zu dem gegenüberliegenden, gepflegt aussehenden Park. Noch am Überlegen, ob er zu Fuß geht, oder …, als ihm die Entscheidung mehr oder weniger abgenommen wurde.

„Guten Tag, ich nehme an, Sie sind fremd hier. Wo soll es denn hingehen?“

Einer der Taxifahrer hatte in ihm einen potenziellen Kunden erkannt und war näher gekommen. Der Mann verkniff ein Lachen. Stattdessen nickte er und nannte die Adresse.

„Na ja, weit ist das nicht.“

„Wenn es Ihnen nicht …“

„Nein, nein. So war das nicht gemeint. Wie Sie sehen, ist die Konkurrenz groß. Ich bin froh, einen Kunden zu kriegen und jeder Cent zählt.“

Während der Wagen durch die Stadt rollte, versuchte der Fahrer herauszubekommen, wer sein Fahrgast war, von wo er kam und zu wem er wollte. Doch der reagierte überhaupt nicht. „Auch gut, ich wollte Sie nur unterhalten“, brummelte der Fahrer mürrisch. Nun bequemte sich der Mann, doch zu sprechen.

„Unterhalten? Sie sind nur neugierig. Anstatt Fragen zu stellen, sollten Sie lieber den kürzesten Weg zum Ziel nehmen.“ Der Fahrer sah seinen Passagier überrascht an. Der verzog keine Miene und ohne den Blick von der Straße zu nehmen, sagte er: „An der Oberstraße sind wir jetzt das zweite Mal vorbeigefahren.“

„Das, das …“

„Hören Sie auf zu stottern und halten Sie an.“ Das Taxi hielt. Der Mann bezahlte wortlos den auf dem Display abzulesenden Betrag und stieg grußlos aus. Er schulterte seine Laptoptasche, zog den Griff seines Trolleys heraus und ging den Koffer hinter sich herziehend geradeaus weiter. Zu Fuß war er diesen Weg schon lange nicht mehr gegangen. Bisher war er immer mit seinem Auto gekommen. Diesmal war das nicht möglich. Vor gut drei Monaten war er seinen Führerschein losgeworden. Er hatte es damals, wie so oft, sehr eilig und war in eine Radarfalle gerast. Es war nicht das erste Mal. Die Höhe des Bußgeldes und seine Punktesammlung in Flensburg konnte er noch verkraften, wenn auch schwer. Die Dauer des Entzuges jedoch traf ihn hart. Mit der Straßenbahn oder gar mit dem Fahrrad zu fahren, fand er nicht so gut. Doch was blieb ihm über. Da sein alter Opel schon seit Jahren nur mit Hängen und Würgen durch den TÜV kam, nahm er den Entzug der Papiere zum Anlass, sich von ihm zu trennen. Eine Neuanschaffung hatte er aus finanziellen Gründen immer wieder verschoben.

Die Scheidung war nicht billig, dazu der Unterhalt für seine sechzehnjährige Tochter. Und schließlich die neuen Möbel. Seine Ehemalige hatte nahezu alles, was in der gemeinsamen Wohnung stand, mitgenommen. Als er eines Abends nach Hause kam, starrten ihn die leeren Wände an. Miststück hatte er gedacht und es dabei belassen. Da es nicht in seiner Absicht lag, sich gleich wieder auf eine feste Bindung einzulassen, war er in eine kleine, preiswertere Wohnung gezogen. Aber auch die musste eingerichtet werden. Und nun stand der Kauf eines neuen, wenn auch gebrauchten Autos an. In drei Tagen lief seine Sperre ab. Bis dahin musste er etwas Preiswertes finden.

Er sah nach oben. Kein Wölkchen am Himmel. Die Sonne stand bald im Zenit. Der Sommer versprach heiß zu werden. Die augenblickliche Temperatur bestimmt um die dreißig Grad. Der Mann wischte die ersten Schweißperlen von seiner Stirn und bog in die mit Ahorn bewachsende Magdeburger Promenade ein. Nur noch knapp achtzig Meter. Das Ehepaar Berger hatte dort in den achtziger Jahren ein kleines Haus gebaut. Seit zehn Jahren lebte die Mutter allein. Sein Vater hatte den Kampf gegen den Krebs, der seine Bauchspeicheldrüse zerfraß, verloren. Vor der Gartenpforte setzte er den Trolley ab und atmete tief durch. Was seine alte Dame wohl sagen wird, wenn sie hört, ihr Einziger bleibt auf unbestimmte Zeit? Sie wird sich freuen, das ist sicher. Aber warum er blieb? Was sollte er sagen? Die Wahrheit? Unmöglich! Das konnte er ihr nicht antun. Sie ist nicht mehr die Jüngste und auch mit der Gesundheit stand es nicht zum Besten. Er musste behutsam sein.

„Ich glaubt’s nicht. Marc du und das mitten in der Woche?“ Seine Mutter, eine kleine leicht rundliche Frau mit weißem Haar, stand an der Hausecke. In der Hand hielt sie eine kleine Hacke, mit der sie das Unkraut in einem Blumenbeet bekämpft hatte. Sie warf das Werkzeug zu Boden, streifte die Gartenhandschuhe ab und eilte, sich die Hände an der Schürze abwischend, auf ihren Sohn zu. Der breitete die Arme aus, hob die kleine Frau in die Höhe und wirbelte sie einmal um seine Achse.

„Lass mich runter, du Verrückter. Lass mich bloß runter.“ Er tat es. Die Frau beugte sich über die Gartentür, sah nach links und rechts und dann auf den Rollenkoffer.

„Wo hast du dein Auto gelassen?“

Da war sie, die erste unangenehme Frage. Die abzublocken war noch kein Problem. „Muttchen, du weißt, wie alt der Karren ist. Der Verkauf war lange überfällig. Habe zwar nur zweitausend bekommen, aber besser als verschrotten. Ich will mir hier einen anderen Wagen kaufen. Mit etwas Glück kriege ich ihn billiger als in Berlin. Deshalb bin ich mit dem Zug gekommen.“

Die alte Dame sah ihren Sohn aufmerksam an. „Normalerweise gibt man beim Kauf eines Neuen das alte Auto in Zahlung. Wäre das nicht günstiger?“ In ihrer Stimme klang Misstrauen. Er hatte es geahnt, seine Mutter hinters Licht zu führen, würde alles andere als leicht sein. Ihm wurde klar, schon sein Erscheinen zu dieser ungewöhnlichen Zeit musste ihren Argwohn erregt haben.

„Aber liebste Mutti, nicht für meinen alten Opel. Da war ein junger Kerl aus der Nachbarschaft. Der bot mir hundertfünfzig Euro mehr, als ich sie bei einem Händler bekommen hätte. Der will den Wagen für ein Chaosrennen umbauen. Mir soll’s egal sein.“

Die Mutter fasste ihren Sprössling an das Kinn, schüttelte es leicht und fragte: „Stimmt das auch?“

Marc vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Er nickte und sagte, von sich ablenkend: „Hast du schon mal auf das Thermometer geguckt? Bei dieser Hitze zur Mittagszeit im Garten zu werkeln. Das ist doch …“

„Nun halte mal die Luft an und behandle mich nicht wie ein kleines Kind. Ich weiß schon, was ich tue. War nur kurz draußen, dazu im Schatten und wollte gerade wieder reingehen. Das Essen ist fertig. Für dich wird es auch noch reichen.“ Sie drehte sich um und ging ins Haus. Marc folgte ihr, froh den bohrenden Fragen seiner Mutter erst einmal entgangen zu sein.

Nach dem Mittagsessen, es gab eines seiner Leibgerichte, weiße Bohnen, war er in sein altes Zimmer gegangen. Das war noch genau so eingerichtet wie damals. Jetzt diente es als Gästezimmer. Er räumte seine paar Habseligkeiten in den Schrank und warf sich auf die breite Liege. Schon nach kurzer Zeit war er eingeschlafen und erst nach Stunden wieder wach geworden. Vielleicht hatte ihn der Kaffeegeruch geweckt, oder das Zufallen einer Tür. Seine Mutter wusste, wie sie mit ihm umgehen musste.

Am späten Nachmittag saßen beide auf der von einer Markise überspannten Terrasse. Die alte Frau goss Kaffee ein und musterte ihren Sohn mit forschendem Blick. Der tat, als merke er es nicht. „Wie lange willst du mich noch auf die Folter spannen. Auch wenn im Fernsehen dein Gesicht unkenntlich gemacht wurde. Eine Mutter kann man nicht täuschen.“

Also doch. Seine Vermutung bestätigte sich. Diese verflixten Reporter.

„Marc, dass man dich rausgeschmissen hat, das war mir klar, als du vor der Tür standest. Wissen will ich, ob sie dich vor Gericht stellen. Wenn ja, rechnest du mit einer Verurteilung?“ Ihr Sohn nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse, setzte sie langsam ab und sah seine Mutter an. „Liebste Mutts, ich kann dir weder die eine noch die andere Frage beantworten. Ich weiß es nicht. Nur so viel: Ich bin nicht entlassen. Noch nicht. Und über eine Anklage hat der Staatsanwalt bisher nicht entschieden. Vorerst hat man mich aus der Schusslinie genommen. Deshalb bin ich hier und werde auf unbestimmte Zeit bleiben. Es sei denn, du willst mich nicht in deinem Haus haben.“

Bei seinen letzten Worten verzog sich sein Gesicht zu einem spitzbübischen Schmunzeln. Seine Mutter ging überhaupt nicht darauf ein. Stattdessen sagte sie: „Als ich dich im Fernsehen erkannte, glaubte ich zu ersticken. War ich froh, dass sie deinen Namen nicht genannt haben. Die Nachbarschaft hätte mir die Bude eingerannt. Bitte beantworte mir eine Frage. Hast du den Kerl absichtlich …?“

„Natürlich nicht. Was denkst du von mir.“

„Aber wieso denken sie, dass du …“

„Mutter bitte. Darüber will ich nicht sprechen. Nicht jetzt. Also hör auf zu fragen.“

Die alte Frau stöhnte. „Also gut, ich werde nicht mehr fragen. Kann ich mich wenigstens nach deiner Geschiedenen und deiner Tochter erkundigen?“

„Ja, kannst du.“ Ihr Sohn lachte, fasste über den Tisch, ergriff beide Hände der Mutter und umschloss sie mit den seinen. „Hab dich lieb Mutts.“

„Papperlapapp, hör auf, mir Süßes ums Maul zu schmieren. Was ist mit Sandra und Anica?“

„Deine ehemalige Schwiegertochter hat sich einen Neuen geangelt. Ein gewisser Wilhelm Sorge, sie ist bei ihm eingezogen. Und Anica geht aufs Gymnasium. Wie sie mir erzählte, kommt sie gut zurecht. Ansonsten, du weißt, wie junge Mädchen sind. Sie wollen unter Gleichaltrigen sein. Da spielt ihr alter Vater eine untergeordnete Rolle.“

„Was heißt hier alter Vater. Du bist gerade mal siebenunddreißig. Besucht sie dich wenigstens?“

„Ja, natürlich. Alle zwei bis drei Wochen steht sie Sonntagvormittag vor der Tür. Dann koche ich etwas, oder gehe mit ihr essen. Vor vierzehn Tagen hat sie mir versprochen, in den Ferien auch zu dir zu kommen.“

„Hoffentlich vergisst sie es nicht.“ Betrübt schüttelt die alte Frau den Kopf. „Ich vermisse sie sehr.“

Die folgenden Tage verliefen hektisch. Zwar hatte Marc Berger hinsichtlich einer Automarke keine besonderen Vorlieben, aber was Aussehen, Leistung und Preis anbetrafen, sehr wohl. Der Wagen sollte beeindrucken, superschnell sein und möglichst wenig kosten. Wenn er dem jeweiligen Händler seine Wünsche vermittelte, sah dieser ihn an, als hätte er es mit einem Kranken zu tun. Berger nahm es den Leuten nicht übel. Seine Vorstellungen waren extrem. Er hätte als Verkäufer nicht anders geguckt. So aber zuckte er mit den Schultern, machte auf dem Absatz kehrt und lief zum nächsten Autohaus. Von denen gab es genügend. Doch das Glück war ihm nicht hold. In der nachfolgenden Woche klapperte er die kleineren Gebrauchtwagenhändler ab. Und siehe da, am Freitag fand er einen Sportwagen, äußerlich im Topzustand, mal gerade vier Jahre alt. Mit seinen vielen PS und dem hohen Spritverbrauch war er dem Vorbesitzer zu teuer geworden. Alles Weitere war Verhandlungssache. Der Geschäftsmann war froh, so schnell einen Interessenten für den ungewöhnlichen Wagen gefunden zu haben und blieb im Preis moderat. Da inzwischen auch sein Führerschein per Post gekommen war, konnte er auf der Autobahn mal richtig Gas geben. Zudem war ein weiterer Brief eingegangen, mit der Nachricht, dass sein Zwangsurlaub beendet ist. Marc Berger war erleichtert.

***

2

Zu der Zeit, als Berger sich mit seinem neuen Auto vertraut machte, bekam die Studentin Lydia Seeger Besuch von ihrer besten Freundin. Als Franzi Lindner sich in dem kleinen separaten Zimmer umsah, ahnte sie, was Lydia beabsichtigte. Eine diesbezügliche Frage bestätigte ihre Vermutung und brachte sie vollends in Rage.

„Du kennst den Kerl seit etwa vier Wochen. Jetzt willst du mit ihm das Wochenende verbringen, ohne mir zu sagen, wer er ist“, begann sie laut zu schimpfen.

„Na und?“, erwiderte Lydia. „Wo ist das Problem? Wie oft bist du schon mit einem ins Bett gegangen, den du gerade kennengelernt hast. Der Mann ist in Ordnung. Bisher hat er nicht einmal versucht mich zu küssen, geschweige mehr zu verlangen. Du bist nur neidisch.“

„Und warum verheimlichst du ihn?“

„Er will nicht ins Gerede kommen. Nur darum soll ich unsere Beziehung für mich behalten. Das kann ich auch verstehen. Wenn seine Frau davon erfährt. Das wäre … dazu seine gesellschaftliche Stellung.“

„Was heißt hier gesellschaftliche Stellung? Ich denke, er lebt getrennt von ihr. Da kann es ihm doch egal sein …“ Franzi ließ nicht locker.

„Eben nicht. Noch ist er nicht geschieden. Die Abfindung würde bestimmt sehr hoch ausfallen, wenn publik wird, er hat schon jetzt eine Neue.“

Franzi lachte laut auf. „Von wegen Neue. Er hat sein Ding noch nicht mal in dich rein gesteckt. Es sei, du hast mich belogen. Aber das glaube ich nicht. Und genau das ist es, was mich stutzig macht. Der Kerl ist doch abartig. Du bist ein Rasseweib. Jeder normale Mann würde versuchen, dich so schnell wie möglich zu vernaschen und nicht wochenlang einen auf ehrbar machen. Nee, nee, das will mir nicht in den Schädel.“

Lydia schoss das Blut in den Kopf, als sie einen scheuen Blick in den großen Spiegel über ihrem kleinen Frisiertisch warf. „Ja, ja, sieh dich nur an“, fuhr die Freundin fort, „groß, schlank, lange Beine, die kein Ende nehmen wollen, schwarzhaarig und ein paar Titten, auf denen man Nüsse knacken könnte. Und das alles ohne Silikon!“

„Franzi! Du bist ordinär. Lass das.“

Lydia, deren Gesicht die Farbe einer tiefroten Tomate angenommen hatte, zog schnell ein lockersitzendes T-Shirt über den nackten Oberkörper. Sie war gerade aus der Dusche gekommen, als ihre Freundin an die Tür klopfte. Da sich beide beim Ankleiden oft gegenseitig berieten und sogar Kleidungsstücke austauschten, ließ sie Franzi ein, obwohl sie erst im Slip war.

„Was heißt hier: Lass das! Es ist doch so. Nach dem Fummel, der hier liegt“, Franzi deutete auf ein sehr kurzes Kleidchen, das auf dem Bett lag, „hast du dich bereits entschieden.“

„Na und? Was geht’s dich an? Er hat mich in sein Ferienhaus eingeladen. Und wenn du’s genau wissen willst, da wird das passieren, was dich an dem Mann so stört.“

Franzi prustete los. „Ich werde dir sagen, was mich stört. Diese verdammte Geheimniskrämerei. Wo ist denn dieses Ferienhaus? Weißt du das überhaupt?“

„An einem See, er hat ein Grundstück dort.“

„Ach ja? Ist ja toll. Und an welchem See? Ich wette, du weißt es nicht.“ Franzi stellte sich breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestützt, vor die Freundin und musterte sie mit herausforderndem Blick.

Lydia schwieg, senkte die Lider und sah nach unten. Sie wirkte wie ein verängstigtes Mäuschen, das vergebens das Eingangsloch zu seinem schützenden Bau suchte.

„Hab’s mir doch gedacht.“ Franzi lachte kurz, um hinzuzufügen: „Du weißt es nicht. War nicht anders zu erwarten. Da rate ich dir, das geplante Wochenende sausen zu lassen. Ich meine es nur gut.“

Keine Antwort. Lydias Blickrichtung veränderte sich nicht.

„Also nein. Dann mach ich dir einen Vorschlag. Wir gehen gemeinsam zu eurem Treff und du stellst mir den Typ vor. Männer kann ich besser einschätzen als du. Habe da so meine Erfahrungen.“

Als sei das ihr Stichwort, sah Lydia die Freundin scharf an. Ihre Ängstlichkeit war wie weggeblasen. „Von wegen Erfahrungen …“, sagte sie. „Nein, daraus wird nichts. Ich hab ihm versprochen, unsere Beziehung für mich zu behalten. Und wage es ja nicht, mich zu verfolgen. Dann sind wir die längste Zeit Freundinnen gewesen.“ Jetzt glich Lydia einer Wildkatze, die bereit war, ihr Revier, ihre Beute mit allen Mitteln zu verteidigen. Sie kannte Franzi und ihre Vorlieben; hatte sie sich doch oft Männer geschnappt, die auch für Lydia interessant gewesen wären.

Franzi begriff, sie war zu weit gegangen. Dabei hat sie gar keine arglistigen Gedanken gehabt. Im Gegenteil, sie hatte Angst, die Freundin, gutgläubig, wie sie war, könnte in die Hände eines Perversen fallen. Doch sie hatte es falsch angefangen. So entschloss sie sich zu einem letzten Versuch. Sollte der nicht gelingen, würde sie sich an ihre Fersen heften. Lydias Drohung, die Freundschaft zu beenden, nahm sie nicht ernst. Zum anderen würde sie schon aufpassen, dass sie von den beiden nicht gesehen wird.

„Verdammt, du bist meine Freundin“, begann sie, „kannst du nicht verstehen, dass ich mir Sorgen mache? Wenn du mir nicht seinen Namen nennst, dann wenigsten den Beruf und wo er arbeitet. Ich verspreche dir, dich dann nicht mehr zu löchern.“

Lydia sah Franzi misstrauisch an. Ihre Gesichtszüge entspannten. Die Freundin schien es tatsächlich gut mit ihr zu meinen. Franzi sah das und bekam Oberwasser.

„Ja wirklich, versprochen“, versuchte sie, die anscheinend unschlüssig gewordene Freundin nun doch noch zum Reden zu bewegen. Ihre Bemühungen wären sicherlich von Erfolg gekrönt, wenn Lydia die Fragen hätte beantworten können. Doch sie konnte es nicht. Nichts, rein gar nichts wusste sie von dem Mann. Das wurde ihr in diesem Augenblick bewusst. Was er bisher von sich erzählt hatte, war nicht greifbar. Damit war nichts anzufangen. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Das war im Mai vor knapp vier Wochen.:

Lydia betrat einen der örtlichen Baumärkte, um ein Geburtstagsgeschenk für ihren Vater, einen passionierten Heimwerker, zu kaufen. Sie ging in die Werkzeugabteilung und betrachtete die aufgereihten Akkuschrauber. Eines dieser Geräte sollte es sein. Doch welches? Viel Geld besaß sie als Studentin nicht, aber Plunder sollte es auch nicht sein. Sie sah ratlos von einem Schrauber zum anderen, verglich die Preise, die von fast geschenkt bis zu richtig teuer reichten.

„Na, junge Frau, kann ich helfen?“ Lydia, in der Überzeugung, es mit einem der Verkäufer zu tun zu haben, versuchte auszuweichen. Mit Sicherheit würde der ihr das teuerste Gerät empfehlen. Doch dafür hatte sie nicht das Geld, was sie natürlich nicht sagen wollte. Der Mann schien ihre Gedanken erraten zu haben. Ein kurzes Auflachen. „Keine Sorge. Ich bin auch nur Kunde. Aber mit Werkzeugen kenne ich mich aus. Brauchen Sie den Akkuschrauber selbst, oder …?“

„Für meinen Vater, ein Geschenk zum Fünfzigsten“, antwortete sie leise.

„Na da werden wir schon was finden.“ Lydia blickte auf, sah in das Gesicht des ihr unbekannten Mannes und erstarrte. Sekundenlang konnte sie den Blick nicht abwenden. Was war denn das? Ein Kribbeln lief ihr über den Rücken. Eine Empfindung, die sie bisher so nicht kannte. Und das beim ersten Anblick. Woran lag das? War es die Stimme, der Tonfall, sein Aussehen oder die Augen? Sie fand keine Erklärung, war wie in Trance. So muss sich ein Beutetier fühlen, wenn es von einer zum Angriff aufgerichteten Schlange fixiert wird. Das Blut in ihren Schläfen begann zu pulsieren, ihre Wangen brannten. Mein Zustand steht mir im Gesicht geschrieben, durchfuhr es sie. Was soll der bloß denken? Verwirrt und aufgewühlt wandte sie sich ab, nahm schnell einen verpackten Akkuschrauber und tat, als würde sie die Beschreibung lesen. Sie zuckte zusammen, als der Mann ihr das Paket aus der Hand nahm.

„Viel zu teuer.“ Er legte es zurück, griff nach einem anderen Gerät und sagte: „Für den normalen Heimwerker reicht das aus und es kostet nicht einmal die Hälfte.“ Er trat an das nächste Regal und entnahm ein kleines Kästchen mit durchsichtigem Deckel. „Hier ein Bitsortiment, bester Stahl! Zugegeben, nicht ganz billig, aber dafür besonders haltbar. Daran wird Ihr Vater seine Freude haben.“

Lydia fand langsam ihre Fassung wieder. Das Klopfen in den Schläfen hörte auf und die Wangen brannten auch nicht mehr. „Sind Sie sicher?“, fragte sie. Dabei vermied sie es, in die Augen des Fremden zu sehen. Stattdessen haftete ihr Blick starr auf das empfohlene Werkzeug.

Wieder ließ der Mann ein leises, melodisches Lachen erklingen. „Ganz sicher.“

„Na gut. Ich verlass mich auf Sie.“ Lydia legte die Waren in den Einkaufswagen. Ein kaum Hörbares: „Vielen Dank“ murmelnd, versuchte sie, schnellstmöglich an dem Mann vorbeizukommen. Nur weg, dachte sie. Irgendwie war er ihr unheimlich. Dabei fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Und genau das verstand sie nicht. Wie konnte sie nur solche widersprüchlichen Gefühle empfinden. Mit gesenktem Kopf schob sie ihren Wagen eiligst in Richtung Kasse. Als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten neben sich bemerkte, wusste sie, es gab kein Entkommen. Er war es.

„Was wollen Sie von mir?“

„Sie kennenlernen. Was sonst?“ Schockiert verschlug es ihr die Sprache, wenn auch nur für einen Moment. „Ich habe einen Freund, also geben Sie sich keine Mühe.“

„Haben Sie nicht“, antwortete der Mann ungerührt.

Diese mit Festigkeit vorgebrachte Erwiderung verunsicherte Lydia erneut. Sie beschleunigte ihre Schritte, doch der Mann blieb neben ihr. „Woher wollen Sie das wissen?“, fragte sie schließlich. „Ist doch ganz einfach. Für den Kauf eines Akkuschraubers hätten sie den Freund mitgenommen. Das haben Sie nicht, also existiert er nicht.“ Diese Logik verblüffte Lydia. Sie war simpel, aber richtig. Vor dem Gang zum Baumarkt hatte sie noch überlegt, wen sie als Berater mitnehmen könnte und dabei gedacht, warum habe ich keinen Freund?

„Ein Vorschlag zur Güte“, fuhr der Mann fort, „dort ist eine Imbissecke. Ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein. Sie gefallen mir. Geben Sie mir eine Chance. Bitte.“ Lydia sah den Fremden an. Was sollte sie machen? Bisher hatte noch kein Mann so mit ihr gesprochen. Überdies sah er unbestreitbar gut aus. Auch seine Größe passte zu ihr. Sein Alter? Um die dreißig. Seine Outfit? Ja, Geschmack hat er.

„Nun, was ist schöne Frau? Einverstanden?“

Lydia lächelte belustigt. „Sie Schmeichler. Klappt das bei allen Frauen?“ Der Mann ließ ein jugendlich helles Lachen erklingen. „Nein, nicht bei allen, aber bei den meisten.“ Lydia verzog das Gesicht.

„Halt, rennen Sie jetzt nicht weg, es war ein Scherz.“ Der Fremde fasste an den Einkaufswagen. „Ehrlich“, sagte er, „es war nur ein Spaß. In Wirklichkeit bin ich sehr gehemmt.“ „Sie und gehemmt. Da möchte ich nicht wissen, wie Sie sind, wenn Sie die Hemmungen abgelegt haben.“

Ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen. Der Mann murmelte etwas Unverständliches.

Lydia wurde für Sekundenbruchteile von dem beklemmenden Gefühl befallen, das sie bei seinem ersten Anblick empfunden hatte. Doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war. „Na gut“, sagte sie, „aber nur eine Tasse. Ich muss nach Haus, habe noch Studienaufgaben zu erledigen.“

Sie war kurz vor der Kasse, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte und eine vertraute Stimme sagte: „Nanu Lydia, du im Baumarkt. Was willst denn du mit einem Akkuschrauber?“ Sven Borchert, ein Kommilitone stand neben ihr. Lydia zuckte mit den Schultern. „Geschenk für meinen Vater. Und, was willst du hier?“ „Nur ’n Fahrradschlauch. Sophie hat Panne. Ehe ich ihr den Schlauch flicke, kaufe ich doch lieber einen neuen. Macht weniger Arbeit.“

„Sophie?“

„Ach ja, die kennst du nicht. Eine Hiesige. Tolles Mädchen.“ Sven verzog das Gesicht.

„Ich dachte deine Freundin heißt Kathrina?“ Der junge Student rieb sich das Kinn. „Ja weißt du …“ Er hielt kurz inne, ein verkniffenes Lächeln. „Was soll’s, wir haben uns getrennt. Die war zickig.“

„Du meinst, sie hat nicht so mitgemacht, wie du wolltest.“

„Quatsch. Wir haben uns nicht verstanden.“ Der junge Mann verzog das Gesicht.

„Nun spiel nicht den Beleidigten.“ Lydia gab Sven einen kleinen Knuff gegen den Oberarm. Der lächelte versöhnt, was kein Wunder war. Lydia gefiel ihm ausgesprochen gut. Nur zu gern hätte er sie zu seiner Freundin gemacht. Aber als er zu Beginn ihrer Studienzeit mit ihr anzubändeln versuchte, bekam er eine Abfuhr. Verstehen konnte er das gar nicht. Er war ein junger, gut aussehender, intelligenter Bursche und die Mädchen schauten ihm nach. Warum also nicht auch Lydia. Als er einen zweiten Versuch unternahm, wurde sie sauer und war von dem Zeitpunkt an ausgesprochen unnahbar. „Wir können gute Freunde sein aber mehr nicht“, hatte sie zu ihm gesagt. Eingebildete Ziege war sein Urteil. Doch was blieb ihm übrig. Er musste sich damit abfinden. Seitdem tröstete er sich mit anderen hübschen Bienen, die nicht so verklemmt waren wie Lydia.

„Schon gut“, sagte er, „ich weiß, du meinst es nicht so. Aber wechseln wir doch mal das Thema. Sprechen wir nicht mehr von mir, sondern von dir. Wer war denn der Typ neben dir, der es so eilig hatte zu verschwinden, als ich kam?“

Lydia zuckte zusammen und drehte sich schnell um. Tatsächlich, der Typ, wie er von Sven bezeichnet wurde, war nicht mehr zu sehen. Was hatte das zu bedeuten? Sofort spielten ihre Gefühle Karussell. Einerseits war sie erleichtert, anderseits enttäuscht und schließlich wütend. Was dachte sich der Kerl, sie hier einfach stehen zu lassen, als wäre sie ein Mauerblümchen. Sie sah sich suchend um. Der Baumarkt war gut besucht. Es war ein Tag der Angebote. Viele Kunden schoben ihren leeren Wagen durch die Gänge, blieben hier oder da stehen, verglichen die Preise mit denen auf den Werbeprospekten. Andere Kunden hatten bereits das Gesuchte gefunden und standen mit gefülltem Einkaufswagen in langer Reihe an einer der nur zwei geöffneten Kassen. Den Fremden konnte sie nirgends entdecken.

Lydia biss sich auf die Lippe. Sven brauchte nicht zu sehen, wie es in ihr aussah. Sich betont gleichgültig gebend sagte sie: „Keine Ahnung, wer das war. Hat mich beim Kauf beraten und mir zu dem Akkuschrauber noch ein paar Erklärungen gegeben. Habe ich sowieso nicht verstanden. Muss er wohl gemerkt haben.“

„Also kein Verehrer?“, fragte Sven ungläubig. Lydia warf ihm einen prüfenden Blick zu. Das klang nach Eifersucht. Der spinnt wohl! Habe ich dem nicht oft genug klar gemacht, dass er bei mir nicht landen kann. Sie tippte den jungen Mann mit dem Zeigefinger vor die Brust. „Du hast gehört, was ich gesagt habe. Selbst wenn es anders wäre. Dich würde es nichts angehen. Das musst du doch langsam begriffen haben.“

„Ja, ja, schon gut. Ich muss jetzt sowieso los.“ Sven drehte ab und reihte sich in die Schlange der Wartenden an der nächstliegenden Kasse ein. Lydia schob ihren Wagen in einen der Gänge zwischen den Warenträgern und tat, als würde sie etwas suchen. In Wirklichkeit wollte sie nicht noch einmal mit Sven zusammentreffen. Sie glaubte, er könnte am Eingang auf sie warten, wenn er sie kurz hinter sich stehen sah.

Zum anderen war sie innerlich aufgewühlt und musste erst einmal zur Ruhe kommen. Zwar wollte sie es sich nicht eingestehen aber sie war maßlos enttäuscht. Der Fremde hatte in ihr eine Saite zum Klingen gebracht, deren Melodie sie nicht kannte, die sie aber nur zu gern hören würde. Für sie unverständlich, so für einen Mann zu empfinden, den sie das erste Mal gesehen hatte. Immer wieder lief die Begegnung vor ihrem inneren Auge ab. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Wieso haut er einfach ab? Erst baggert er mich an und dann … Frustriert und mit vor Zorn hochrotem Kopf lief sie von einem Warenträger zum nächsten. Sie nahm hier und da einen Gegenstand zur Hand, betrachtete ihn, ohne zu wissen, was sie ansah.

War es wirklich nur seine Erscheinung, die sie so maßlos erregte? Wütend auf sich selbst suchte sie eine Erklärung und glaubte sie gefunden zu haben. Es war weniger die Anziehungskraft des Fremden, die ihre Enttäuschung und ihren Zorn hervorgerufen hatte als vielmehr ihre verletzte Eitelkeit wegen seines unerwarteten Verschwindens. Ach Scheiß drauf, Männer! Lydia beruhigte sich und ging zur Kasse. Doch noch in der Reihe, in der sie nur langsam vorwärtskam, war der Fremde wieder in ihrem Kopf. Erneut sah sie sich suchend um. Um sie herum nur männliche Kunden, von denen einige sie interessiert musterten und sofort versuchten, mit ihr in Blickkontakt zu kommen. Na, das hat noch gefehlt. Nur schnell weg. Lydia erreichte die Kassiererin. Sie zahlte und strebte mit schnellen Schritten dem Ausgang zu.

„Denken Sie an den Kaffee, junge Frau. Sie haben zugestimmt. Jetzt bestehe ich auch darauf.“ Ein freudiger Schreck fuhr Lydia durch alle Glieder. Er war da. Wieso hatte sie ihn bisher nicht entdeckt? Breit grinsend stand er neben ihr. Lydias Herz machte Freudensprünge. Doch das brauchte der Mann nicht zu wissen. „Wo kommen Sie denn her? An Sie habe ich schon gar nicht mehr gedacht“, sagte sie mit versucht spöttischem Ton.

„Als Ihr Bekannter auf Sie zukam, wollte ich nicht stören. Ich glaubte, meine Anwesenheit würde ihn ärgern.“

Ein leises prustendes Lachen war Lydias Antwort. Menschenkenntnis hat der Kerl auch.

„I wo“, sagte sie, „der hat eine Freundin, manchmal sogar mehrere. Ich bin gar nicht sein Typ.“ Der Fremde schwieg, sah sie nur durchdringend an. Lydia glaubte, sich wie von Röntgenstrahlen durchleuchtet. Sie sah zur Seite und tat, als würde sie sich für das Kuchensortiment des Backshops interessieren. Doch sie war unsicher und wieder von jenem beängstigenden Gefühl befallen, das sie empfand, als sie ihn zum ersten Mal ansah. Was tat sie hier? Hatte sie es nötig, sich von diesem Menschen analysieren zu lassen?

„Ich weiß nicht … Die Studienaufgaben sind wichtig. Also meine Zeit …“, versuchte Lydia erneut, sich dem Bannkreis des Fremden zu entziehen.

„Diese Ausrede lasse ich nicht gelten. Wenn Sie es wirklich so eilig hätten, wären Sie viel früher durch die Kasse gekommen. Stattdessen sind Sie ja noch durch den halben Baumarkt spaziert.“ „Haben Sie mich gesehen?“ Lydia war überrascht.

„Hin und wieder schon.“ Der Mann lächelte, fasste ihren Einkaufswagen und schob ihn kurzerhand zu dem letzten Tisch an der hinteren Wand. Mit einer galanten Verbeugung zog er ihr den Stuhl sitzgerecht, sodass sie den gesamten Eingangsbereich und den vorderen Teil des Baumarktes übersehen konnte. Er selbst rückte den gegenüberstehenden Stuhl ein wenig ab und sagte leise: „Moment“, dabei wies mit einem Finger zum Tresen des Backshops. Sie nickte, während er die paar Schritte tat und seine Bestellung bei der Verkäuferin aufgab. Die Zeit nutzte Lydia, um aus ihrer Umhängetasche einen kleinen Spiegel und den Lippenstift zu kramen. Nach einem Rundblick, ob sie auch nicht von anderen Gästen beobachtet wird und einen Blick zu dem Fremden, der ihr den Rücken kehrte, zog sie schnell ihre Lippen nach. Im Spiegel begutachtete sie das Ergebnis. Der Fremde kam mit einem kleinen Tablett. Auf diesem standen zwei Kaffeekännchen mit Tassen, Sahne und Zucker sowie zwei Teller mit Schwarzwälder Torte und Schlagsahne. Na so was, ein Süßer ist er auch. Zum Glück sieht man’s seiner Figur nicht an. Lydia lächelt in sich hinein.

„Ich hoffe, ich habe Ihren Geschmack getroffen.“ Wieder dieses breite Lächeln, das sie abermals verunsicherte. Warum nur war das so? Doch statt darüber nachzudenken, antwortete sie leise: „Haben Sie. Ich muss mich gewaltig zusammenreißen, um mir das zu verkneifen. Meine Linie …“

„Vollkommen unnötig. Ihr Taillenumfang beträgt kaum mehr als sechzig Zentimeter.“ „Hören Sie bloß auf! So eine Traumfigur habe ich nun wirklich nicht.“ Lydia wurde bis über beide Ohren rot.

„Doch“, sagte er, „die haben Sie. Nun lassen Sie uns aber die Torte genießen.“ Mit gesenktem Blick verzehrte Lydia ihr Stück trank dazwischen einen Schluck Kaffee und versuchte zu erraten, welchem Beruf ihr Gegenüber nachging. Einfacher Arbeiter? Nein, dafür sah er zu gepflegt aus. Sein Anzug war maßgeschneidert. Dahinter steckte Geld. Das Haar - modern frisiert. Sie schielte zu seinen Fingernägeln. Nicht der geringste Schmutz. Im Gegenteil, sie sahen aus, als wären sie gerade erst manikürt worden. Zu einer weiteren Betrachtung kam sie nicht. Der Mann schien wieder einmal ihre Gedanken erraten zu haben. Nach einem Schluck aus der Tasse sagte er: „Ich bin Finanzberater, arbeite für verschiedene Konzerne. Hauptsächlich vermittle ich aber Kontakte zu Politikern als Lobbyist. Sie werden verstehen, dass ich darüber nicht sprechen kann. Finanziell ist es eine sehr lohnende Beschäftigung. Leider ist diese Tätigkeit mit Reisen verbunden. Darunter hat meine Ehe gelitten. Meine Frau hat die Scheidung eingereicht. Kinder habe ich übrigens keine.“ Wieder zeigte der Fremde sein breites Grinsen und fuhr fort: „Nun habe ich Ihnen schon alles Wissenswerte von mir erzählt. Oder habe ich noch etwas vergessen?“

Lydia sah angestrengt in ihre Tasse. Das angenehme Gefühl, einen interessanten Mann kennengelernt zu haben, war jäh verschwunden. Ein Spinner und Putzklopfer, der mich beeindrucken will. Von dem, was er erzählte, glaubte sie kein Wort. Dazu geschieden, unglückliche Ehe. Solche Sprüche kannte sie. Männer waren erfinderisch, wenn es darum ging, eine Frau ins Bett zu kriegen. Sie war sich sicher, der Typ war nur auf ein Abenteuer aus. Sie war geneigt aufzustehen und den Mann einfach sitzen zu lassen. Doch etwas ließ sie zögern. Sie überlegte. Was soll’s, sie hatte nichts zu verlieren. Warum sich nicht einen Spaß erlauben, das Spiel mitmachen, um diesem Burschen eine gehörige Abfuhr zu erteilen? Der wird sich wundern. Sie musste feixen, als sie sich sein verdutztes Gesicht vorstellte, wenn er erst mitbekam, wie sie ihn an der Nase herumgeführt hatte.

Lydia setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und sagte: „Sie haben mehr erzählt, als ich wissen wollte, wie wäre es mit dem Namen?“

„Hab ich den tatsächlich vergessen?“ Wieder ein helles Lachen. „Liegt wohl an meinem Allerweltsnamen: Schulz. Tut mir leid, kann nichts dafür. Auch mein Vorname klingt nicht besonders gut. Frederik, genannt Fred. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich so nennen würden.“

„Warum nicht“, antwortete sie nach einer Pause. „Ich heiße Lydia.“ Während sie hastig den letzten Rest ihres Kaffees austrank, dachte sie: Schulz, oder wie du sonst heißt, wie wird wohl dein nächster Schritt sein? Bestimmt wirst du mich gleich in ein Hotel oder in dein augenblickliches Domizil einladen. Lydia fixierte den Mann hinter gesenkten Augenlidern. Der sah recht gelassen aus. Bedächtig aß er das letzte Häppchen seiner Torte, trank einen Schluck Kaffee und sagte: „Im Landestheater wird Aida gegeben. Ich lade Sie zu morgen Abend ein.“

Lydia zuckte zusammen. Alles hatte sie erwartet aber keine Theatereinladung. Für geraume Zeit verschlug es ihr die Sprache, ihre Gedanken kreisten. Der lässt sich wirklich etwas einfallen, um mich ins Bett zu kriegen. Originell, nicht schlecht. Sie war beeindruckt. „Lydia“, dachte sie, du musst aufpassen!

„Sag mal, wo bist du denn mit deinen Gedanken?“ Franzi stand vor der Freundin; hielt sie an beiden Schultern gepackt und schüttelte sie. Lydia blickte Franzi noch immer geistesabwesend an. Dann wurde Lydia bewusst, woran sie gedacht hatte und sie fragte sich, ob sie Schulz nun doch auf den Leim gegangen war. Doch so wie sie es einschätzte, konnte davon nicht die Rede sein.