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Martha Marthalers Bruder ist tot. Vergiftet mit Schierling. Irene Katz ermittelt. Nach und nach tauchen immer mehr Verdächtige auf. Als Irene Katz eine neue Spur findet, ist es fast zu spät! Wird sie einen weiteren Mord verhindern können? Ein Wettlauf mit der Zeit.
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Seitenzahl: 334
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für Jasmin
und Sebastian
Prolog
Kapitel 1 Au
Kapitel 2 Heidelberg
Kapitel 3 Au
Kapitel 4 Heidelberg
Kapitel 5 Au
Kapitel 6 Heidelberg
Kapitel 7 Muggardt
Kapitel 8 Muggardt
Kapitel 9 Au
Kapitel 10 Heidelberg
„Kapitel 11 Bollschweil
Kapitel 12 Au
Kapitel 13 Muggardt
Kapitel 14 Muggardt
Kapitel 15 Freiburg
Kapitel 16 Freiburg und Au
Kapitel 17 Au
Kapitel 18 Au
Kapitel 19 Freiburg
Kapitel 20 Bollschweil
Kapitel 21 Freiburg
Kapitel 22 Freiburg und Au
Kapitel 23 Au und Scherzingen
Kapitel 24 Muggardt
Kapitel 25 Muggardt
Kapitel 26 Freiburg
Kapitel 27 Freiburg
Kapitel 28 Freiburg
Kapitel 29 Heidelberg
Kapitel 30 Heidelberg
Kapitel 31 Freiburg
Kapitel 32 Freiburg
Kapitel 33 Freiburg
Kapitel 34 Au
Kapitel 35 Freiburg
Kapitel 36 Freiburg
Kapitel 37 Nahe Selestat
Kapitel 38 Freiburg
Kapitel 39 Hütte im Elsaß
Kapitel 40 Hütte im Elsass
Kapitel 41 Au
Kapitel 42 Heidelberg
Kapitel 43 Freiburg
Der Platz, den ich gefunden habe, ist perfekt. Von hier aus kann ich alles haarscharf beobachten. Wenn die Fenster offen sind, höre ich sogar die Stimmen aus dem Haus. Wenn Er wüsste, dass sein Schicksal längst besiegelt ist. Aber Er ist ahnungslos. Er sitzt selbstzufrieden mit seiner Frau beim Abendessen. Sie hat wie immer für Ihn gekocht, seine Tochter hat den Tisch gedeckt, während Er in aller Seelenruhe seine Zeitung gelesen hat. Erst als seine Frau rief: “Das Essen ist fertig“, ist Er aufgestanden und hat sich an den gedeckten Tisch gesetzt. Die Zeitung hat Er aufgeschlagen liegen lassen, denn Er wird - das weiß ich schon, denn ich beobachte Ihn nicht zum ersten Mal - nach dem Essen sofort weiterlesen. Seine Frau und seine Tochter werden den Tisch abräumen und die Küche putzen. Er fühlt sich so sicher in seiner kleinen, überschaubaren Welt. Aber nicht mehr lange! Dann schlage ich zu! Er hätte das nicht tun dürfen! Ich weiß nicht, warum es Menschen gibt, die für sich das Recht gepachtet haben, unfair in das Leben anderer Menschen einzugreifen. Ich weiß nur, solche Menschen muss man stoppen. Verhindern, dass Ähnliches je wieder passiert. Was will Er eigentlich später seiner Tochter erzählen? Wie erklären, dass sein Verhalten die Familie auseinandergerissen hat?
Heute kann Er ihr noch etwas vormachen. Heute glaubt sie noch, dass Er sie beschützt. Noch kann sie die wirklichen Motive seiner Handlungen nicht verstehen. Glaubt Er wirklich, sie wird so naiv bleiben? Auch wenn sie 15, 16 oder 17 Jahre ist?
Eigentlich schade! Ich hätte diese Gespräche gerne beobachtet. Wenn seine Tochter begreift, was da passiert ist. Von diesem Platz aus. Er hätte, wie heute, keine Ahnung, dass ich Ihn im Visier habe. Aber so viel Zeit kann ich Ihm nicht mehr geben. Ich muss schon vorher für Gerechtigkeit sorgen. Sonst gerät die Welt noch aus den Fugen. Das ist eine wichtige Aufgabe, der sich nur wenige widmen: Die Gerechtigkeit einigermaßen im Lot zu halten. Am liebsten würde ich sofort zur Tat schreiten. Aber das wäre unklug. Ich habe einen Plan ausgetüftelt. Der Plan ist perfekt. Bald ist der Zeitpunkt gekommen. Ich kann es kaum erwarten.
Sie wachte schweißgebadet auf. Automatisch griff sie nach rechts. Nichts. Da war keiner. Niemand lag neben ihr. Sie hatte sich am Abend zuvor in den Schlaf geflüchtet, um nicht mehr daran denken zu müssen. Und immer kam dieses morgendliche Entsetzen. Man wacht auf und für einen Moment scheint alles in Ordnung zu sein. Der Tag gönnt einem ein paar Minuten. Und dann jedes Mal wie beim ersten Mal: Der Schreck steht plötzlich im Raum, setzt sich wie ein Alp auf ihre Brust.
Es passierte ihr noch immer jeden einzelnen Morgen. Sie griff nach rechts. Nichts. Auch wenn sie es wiederholte, weiter nach rechts, nach oben oder unten griff. Nichts. Dabei hätte ihr Mann da liegen sollen. So wie er es dreißig Jahre lang getan hatte. Zuverlässig. Morgen für Morgen. Sie wusste nicht, warum sie überhaupt aufstehen sollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie da draußen machen sollte. Auch im Wohnzimmer war er nicht. Nicht im Bad, nicht in einem der Kinderzimmer. Sie würde ihn nicht finden. Und erst recht nicht im Garten.
Jenes kleine Paradies, das er für sie beide angelegt, gehegt und gepflegt hatte. Jede Pflanze trug seine Handschrift. Nicht die Pflanze selbst, aber wie er alles kombiniert hatte, farblich aufeinander abgestimmt. Die kleine Trauerweide im Eingangsbereich. Lavendel, Rosen und blauer Storchenschnabel begrenzten den Garten. Eine Hecke schützte sie vor den Blicken der anderen.
Er hatte einen Teich angelegt, das Schilf wuchs hoch, Frösche quakten, Seerosen mit großen weißen Blüten schwammen auf dem Wasser. Ein Graureiher kam regelmäßig, trank, stocherte und flog davon. "Wir brauchen nicht verreisen“, hatte sie oft gesagt, „mir reicht unser kleines Paradies.“
Sie hatten sich abends, wenn sie aus dem Geschäft gekommen waren, in den Garten gesetzt und bei einem Gläschen Rotwein bis in die Nacht hinein gesprochen. Oft gingen sie erst um zwei ins Bett, ausgefüllt, glücklich, voll der Sterne, der Nachtbläue, der Worte, die sie gewechselt hatten.
Was habt ihr denn so viel zu reden, hatten die Nachbarn wieder und wieder gefragt. Ihr seid wie ein jung verliebtes Paar. Da waren sie schon fünfundzwanzig Jahre verheiratet. Die Kinder bereits dabei, erwachsen zu werden. Sie hatte sich, wie so oft am Morgen, in ihre Erinnerungen geflüchtet. Aber es half nur für Momente. Sie weinte. Still. Ganz für sich. Sie hatte das Gefühl, dass sie nie wieder aus dem Weinen herauskommen könne. Aber auch das war nur eine Illusion, die kam und ging und ihr keine Ruhe schenkte. Nacht für Nacht hoffte sie, dass sie wenigstens von ihm träumen werde. Aber Nacht für Nacht wurde sie enttäuscht. Kein einziges Mal war er in ihren Träumen aufgetaucht. Selbst im Traum war er abwesend. So als wäre er niemals in ihrem Leben gewesen. Sie griff jeden Morgen nach der anderen Bettseite. Sie weinte jeden Morgen. Sie suchte jeden Morgen lange, lange nach einem Grund aufzustehen. Selten fand sie einen. Aber dann dachte sie, es muss ja weitergehen. Da sind noch die Kinder. Obwohl sie der Gedanke keineswegs überzeugte, raffte sie sich irgendwie auf, stand auf, tat so, als würde sie einem Tagewerk nachgehen. Sie wusch ihr Gesicht.
Wozu, dachte sie. Nie wieder würde jemand zu ihr sagen, du warst heute Abend mal wieder die Schönste auf dem ganzen Fest. Sie wusch ihre Brüste. Wozu, dachte sie. Kein Mann würde je wieder ihre Brüste berühren. Kein einziger. Und der Einzige, der sie je und oft berührt hatte, war nicht mehr da. Wieder rannen ihr die Tränen über das Gesicht und sie wusch ihr Gesicht erneut mit kühlem Wasser. Aber heute war alles anders. Als der Moment gekommen war, an dem sie sich sonst aufraffte, um dem Tag mit viel Mühe und großer Anstrengung überhaupt entgegentreten zu können, der Moment, in dem sie sich sagte, es muss ja weitergehen, wenn sie auch keine Ahnung hatte, was in ihrem Leben noch weitergehen könnte, da fiel es ihr ein.
Das Haus. Sie würde auch noch das Haus verlieren. Der Gedanke war unerträglich. Wieder flüchtete sie sich in Erinnerungen. Sie hatte mit ihrem Mann in diesem Haus alt werden wollen.
Wenn erst die Kinder ganz aus dem Haus wären, hatten sie gedacht und sich schon so gefreut auf die Zweisamkeit nach so vielen Jahren Sorgen und Mühe um die Kinder. Sie hatte sich mit ihm im Garten gesehen, in einer samtweichen Nacht, der Mond über der Trauerweide, der Duft der Rosen hergeweht von einem leichten Sommerwind, der Rotwein mundwarm, Gespräche wie schimmernde Perlen. Am nächsten Morgen hätte sie ihre Zeitung gelesen und er hätte gewusst, dass er sie jetzt nicht stören dürfe. Nach ausführlicher Lektüre wären sie zusammen losgezogen, in die Berge zum Wandern. Oder nach Edinburgh in eine wilde und zerklüftete Landschaft. Sie liebte Schottland, schon immer, aber mit drei Kindern waren sie nicht oft nach Schottland gekommen. Wie hatten sie sich gefreut auf diese Zeit, die sie von Pflichten befreit hätte und sie wären noch einmal zusammen losgestürmt in diese Welt, von der sie viel zu wenig gesehen hatten. Er und ich, hatte sie gedacht. Da kann nichts schiefgehen.
Das Haus. Wie ein scharfer Pfeil drang der Gedanke in ihr Bewusstsein. Das Haus, die Gegenwart, der drohende Verlust - selbst die Erinnerungen an ihren Mann konnten das Eindringen dieser Realität in ihr Leben nicht mehr abwehren.
Statt aufzustehen zog sie sich die Bettdecke vollständig über den Kopf. So wollte sie liegen bleiben. Christoph, dachte sie und ließ endlich die übermenschliche Aufgabe los, dem Leben irgendeinen Sinn abzugewinnen, Christoph, dachte sie, hilf mir!
Da klingelte es an der Tür. Laut und schrill. Noch etwas benommen flüchtete sich Martha in den Gedanken, sie habe sich geirrt. Da klingelte es ein zweites Mal. Lauter. Fordernder. Martha erschrak.
Wer wollte etwas von ihr? Sie warf die Bettdecke zurück. Sie schaute auf die Uhr. Oh Gott, hatte sich nicht für heute eine Maklerin angesagt mit einem Interessenten? Jetzt war es schon zehn Uhr. Sie sprang aus dem Bett. Hastig zog sie sich an.
„Kannst du die Kinder heute von der Krabbelstube abholen? Ich habe eine wichtige Sitzung“ Bente stand an der Theke ihrer großzügigen Küche und schmierte zügig die Brote für die Kinder. Ihr Mann Lars saß am Frühstückstisch und fütterte gerade ihren jüngsten Sohn.
„Heute ist doch dein Tag?“, antwortete Lars und ließ dabei seinen Jüngsten nicht aus den Augen.
„Ja, ich weiß. Aber ich habe gerade die Nachricht bekommen, dass ein wichtiges Meeting auf heute Abend vorverlegt wurde.“
„Ich kläre ab, ob ich heute früher gehen kann“, gab Lars zurück. „Ich rufe dich an! Oder schicke dir schnell eine WhatsApp.“
„Wir brauchen auf jeden Fall eine Lösung. Du weißt doch, wie wichtig mir dieser neue Fall ist.
Kein Meeting bedeutet, der Fall geht an jemand anderen.“
„Ach, es geht um den Fall, auf den du so scharf bist?"
„Ja.“
Verflixt, dachte Lars. Das hatten wir so gut geplant.
Und jetzt das. Verschieben die einfach den Zeitpunkt.
„Ja, wenn das so ist! Lass mich mal überlegen“, setzte Lars an. „Bei der Ausschreibung für den nächsten Wettbewerb läuft heute die Frist ab, die Bewerbung muss dringend raus. Ich halte die Präsentation unseres Projekts vor den Investoren, das will gut vorbereitet sein. Die Angebote für die Gewerke müssen durchgegangen werden...“
Lars redete mehr mit sich selbst als mit Bente. Er stoppte sich abrupt. Dann schaute er seine Frau entschlossen an.
„Aber ja“, sagte er. „Das werde ich schon hinkriegen. Mach dir keine Sorgen.“
Bente musterte ihren Mann kurz. Ja, auch er hatte Stress im Beruf. Aber zuverlässig war er. Sie konnte ihm die Organisation beruhigt überlassen.
Er hatte sie in puncto Kinder noch nie enttäuscht.
„Ich muss nachher noch mein Kostüm zur Reinigung bringen. Soll ich für dich etwas mitnehmen?“
„Oh super! Ja. Meine Kombi muss in die Reinigung. Sie hängt schon an der Garderobe.“
„Nehm ich mit."
„Aber jetzt musst du los, Schatz.“
Bente hastete zum Auto. Gerade noch hatte sie ihrer Tochter die Haare zu kleinen Zöpfen geflochten, sie trotz ihres Widerstandes angezogen und den Tisch gerichtet. Nun musste sie umschalten. Am besten von jetzt auf gleich. Sie konnte es immer besser, als ob es Übungssache wäre. Und geübt hatte sie es, weiß Gott. Seit die Kinder da waren jeden einzelnen Tag. Mit Lars hatte sie Glück gehabt. Das war ihr klar. Sie war nicht die einzige im Freundeskreis gewesen, die beschlossen hatte, jetzt, da ihre Ausbildung abgeschlossen und sie bereits zwei Jahre Berufserfahrung hatte, Kinder zu bekommen.
Auch einige ihrer Freundinnen hatten nahezu gleichzeitig Nachwuchs erwartet. Ihre früheren Diskussionen darüber, wann der richtige Zeitpunkt, um Kinder zu bekommen, wäre und wie man Kinder und Beruf unter einen Hut bringen sollte, wurden nun aktuell. Natürlich hatten die Männer aller ihrer Freundinnen gesagt „Ja, das mit dem Kind machen wir gemeinsam“. Aber wie sah es nur wenige Monate nach der Geburt des ersten Kindes aus? Viele der Männer aus ihrem Freundeskreis hatten sich in die alte Männerrolle geflüchtet. „Ich verdiene doch mehr als du“, hatten sie gesagt und
„Es ist doch besser, das Kind nicht in fremde Hände zu geben.“ „Wieso fremde Hände?", hatten die Freundinnen gekontert. "Du bist der Vater und ich die Mutter. Wir teilen uns doch die Arbeit“ „Ja, das war ein schöner Plan, aber die Praxis sieht eben doch anders aus. Wenn ich abends im Büro nicht greifbar bin, dann kann ich meine Karriere knicken. Eine Führungspersönlichkeit muss zu den letzten gehören, die das Büro verlassen. Hast du eine Ahnung, wie viele wichtige Entscheidungen am Abend bei einem Gläschen Wein getroffen werden?“ „Aber du wolltest doch die Kindererziehung mit mir teilen?“ „Ja, wollte ich, will ich auch immer noch, aber die Wirtschaft gibt das nicht her. Leider leben wir nicht in Skandinavien.
Du willst doch auch, dass wir unserem Kind etwas bieten können.“ Spätestens bei diesem Argument knickten die meisten Frauen ein. „Und was wird aus mir?“ Zumindestens ein kleines Aufbegehren musste noch sein. „Wie?“ „Was wird aus meiner Karriere?“ „Wenn du arbeiten gehen willst, dann tu das. Dann verdienst du gerade so viel, dass du die Krabbelstube und einen Babysitter bezahlen kannst. Wenn du das willst, bitte. Ich hindere dich nicht daran.“ So ließen sich viele Frauen auf die alte Rolle festnageln.
Bente wusste, wie viele Entscheidungen am Abend bei einem Gläschen Wein getroffen wurden. Da sie gerne bei allem, was ihren Beruf betraf, mitmischen wollte, wusste sie, dass sie ein Stück weit auf Lars angewiesen war. Sie hatten zwar einen guten Babysitter und das Geld spielte für sie überhaupt keine Rolle, aber ein Babysitter hatte neben dem Job auch noch ein anderes Leben und hie und da etwas vor, was unaufschiebbar war.
Wirklich ganz und gar zuverlässig und bereit, den entsprechenden Preis zu zahlen, wenn es darauf ankam, das hatte sie bisher nur in der Familie erlebt. Im Elternhaus und bei Lars. Sie war mit Glück geschlagen. Zufrieden stellte sie ihr Auto auf dem Parkplatz vor der Kanzlei ab. Auch das gehörte zu ihren Privilegien. Nie musste sie einen Parkplatz suchen, wenn sie zur Arbeit kam. Sie hatte einen eigenen, auf dem ein Schild mit ihrem Namen angebracht war. Bente Wellington. Ein Name, der für Erfolg stand. Ihren Erfolg. Ja, sie hatte eine Blitzkarriere hingelegt. Ja, sie hatte eine Familie. Zwei Kinder und einen Mann. Wer hatte schon so viel in jungen Jahren erreicht. Sie konnte stolz auf sich sein. Auf sich und Lars und die Kinder. Beschwingt eilte sie ins Haus. Und heute Abend, da konnte sie beim Meeting dabei sein.
Dank Lars. Da wurde der neue Fall in allen Einzelheiten besprochen und dann zugeordnet.
Sie war sicher, dass sie diesen Fall an Land ziehen würden. Alle Zeichen deuteten darauf hin. Fehler hatte sie sich keine geleistet. Also, es konnte nicht anders sein. Sie würde diesen Fall bekommen. Ein spannender Fall. Komplex. Einer, mit dem sie ihren Namen, der schon ordentlich glänzte, noch weiter aufpolieren konnte. Und diese neue Herausforderung suchte sie. Vorwärts kam man nur mit spektakulären oder riskanten Fällen. Und sie, sie würde sicher nicht auf die Nase fallen. Sie nicht. Da war sie sich ganz sicher. Sie hatte ihren eleganten, chromblitzenden Glasschreibtisch erreicht. Ein Stappel Akten lag darauf. Alles wohlsortiert. Der Schreibtisch strahlte eine Ruhe aus, die sie auch empfand, wenn sie daran ungestört arbeiten konnte. Bente nahm eine Akte, schlug sie auf, und mit dem Gefühl einer tiefen Zufriedenheit befasste sie sich mit den Fakten.
Gegen 16 Uhr holte sich Bente einen Kaffee am Automaten. Sie hatte beschwingt gearbeitet, den ganzen Tag. Sie hatte sich nur eine minikleine Mittagspause gegönnt, eine Kleinigkeit gegessen und gleich weitergemacht. Jetzt musste sie noch das abendliche Meeting vorbereiten. Sie gönnte sich eine kleine Verschnaufpause. Sie trank den Kaffee, den brauchte sie jetzt, um wieder munter zu werden. Sie brauchte auch das Durchatmen und ein paar Stretchübungen, um ihren Körper ein wenig zu dehnen. In einer Frauenzeitschrift hatte sie diese Workouts für das Büro entdeckt. Sie hatte sie ausprobiert und tatsächlich halfen sie ihr über ihren toten Punkt hinweg, der sie regelmäßig am Nachmittag überfiel. Früher hatte sie sich einfach gezwungen weiterzumachen, als ob diese tiefe Müdigkeit in ihr nicht existierte. Aber seitdem sie sich diese kleine Pause gönnte, tief durchatmete, wie sie es beim Yoga gelernt hatte, ihre Übungen absolvierte, sich ganz bewusst neu fokussierte, seitdem konnte sie am späten Nachmittag erfrischt weiter arbeiten. Sie freute sich auf die Vorbereitung des Meetings. Sie mochte es, gut vorbereitet zu sein. Auch unabhängig von beruflichen Treffen liebte sie die Materie und wenn ihre Gedanken klar und geordnet waren. Sie hatte wirklich den richtigen Beruf gewählt. Sie stellte den Kaffee beiseite. Der würde noch eine Weile ihre Arbeit begleiten. Sie würde lesen, Seite um Seite, und ab und an den Arm ausstrecken, ohne aufzusehen den Becher nehmen, trinken. Oh, der Kaffeegeschmack signalisierte Entspannung. Sie würde den Becher blind zurückstellen und mit einem wohligen Gefühl weiterarbeiten. Um diese Uhrzeit würde auch keiner mehr in ihr Zimmer treten. Sie könnte sich die ganze Zeit ungestört in die Materie vertiefen. Da schrillte das Telefon.
Bente griff zum Hörer:
„Gemeinschaftskanzlei Stark, Kuthe und Wellington. Sie sprechen mit Frau Wellington, was kann ich für Sie tun?"
„Frau Wellington, die Mutter von Annika und Björn?“, fragte eine erregte Stimme.
„Ja, das bin ich“, antwortete Bente irritiert. Noch nie war sie in ihrer Funktion als Mutter in ihrem Büro angerufen worden. Ich muss dafür sorgen, dass das auch so bleibt, dachte sie zielstrebig.
„Hören Sie, die Krabbelstube ist seit zehn Minuten geschlossen, aber die Kinder sind noch immer nicht abgeholt.“
„Das wollte mein Mann machen. Der ist heute zuständig,“ antwortete Bente. Sie musste unbedingt die Telefonnummer ihres Mannes in der Krabbelstube hinterlegen. Dann könnten sich die Erzieherinnen direkt an ihn wenden. Sie, Bente, wäre auch gerne bereit, einen Plan auszuarbeiten, wer wann für die Kinder zuständig war, so dass die Erzieherinnen sich jedes Mal an die richtige Person wenden konnten. Man musste nur gut organisiert sein.
„Hier ist weit und breit niemand. Können Sie sich bitte darum kümmern.“
„Ich sagte doch, heute holt mein Mann die Kinder.
Können Sie sich bitte mit ihm in Verbindung setzen? Haben Sie einen Stift? Ich gebe Ihnen seine Nummer.“
„Meine liebe Frau Wellington, ich habe den ganzen Tag hart gearbeitet. Ich habe seit 10 Minuten Feierabend und ich bin nicht zuständig für ihre familiäre Organisation. Können Sie sich bitte darum kümmern, dass die Kinder abgeholt werden?“
Bente seufzte. Genau das hatte sie verhindern wollen. Sie wollte an den Tagen. an denen Lars zuständig war, völlig unbehelligt von ihrem Leben als Mutter sein. Aber klar, die Erzieherin brauchte auch eine Lösung.
„Ja, klar. Mache ich. Danke für den Anruf. Ich melde mich gleich nochmal.“
Wütend fischte sie ihr Handy heraus. Ihr grünes WhatsApp - Zeichen zeigte keine neue Nachricht an. Lars hatte auch nicht versucht, sie telefonisch zu erreichen. Na ja, vielleicht war er nur ein wenig verspätet, jetzt schon da und nahm die Kinder gerade in Empfang. Sie musste sich vergewissern, was da los war. Sie wählte seine Nummer. Es tutete. Normalerweise war Lars spätestens nach dem dritten Tuten dran. Heute nicht. Es tutete und tutete. Immer länger. Nichts. Komm schon, geh ran! dachte sie. Mach schon. Ich will weiterarbeiten. Aber am Ende der Leitung tat sich nichts. Sie versuchte es erneut. Es tutete und tutete. Nichts geschah. Lars? dachte sie. Zum ersten Mal fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, es wird ihm doch nichts passiert sein? Es war so untypisch für Lars, nicht ranzugehen, wenn sie anrief. Ganz besonders an einem Tag, an dem er verantwortlich für die Kinder war. So langsam wurde die Wut von Sorge abgelöst. Lars, was war mit Lars los? Sie wählte seine Nummer erneut. Es tutete so lange, bis eine Stimme verkündete: “Der Gesprächsteilnehmer meldet sich nicht. Soll ein Verbindungsaufbau gestartet werden, sobald der Teilnehmer verfügbar ist?“ Nun machte sie sich echte Sorgen. Sie musste die Krankenhäuser durchtelefonieren. Aber die Kinder! Sie musste sich zuerst um die Kinder kümmern. Seufzend griff sie zum Hörer.
„Ist mein Mann in der Zwischenzeit aufgetaucht?“
„Nein, hier ist weit und breit niemand. Alle anderen Kinder sind längst abgeholt.“
Der leise Vorwurf in der beherrschten Stimme war nicht zu überhören.
Sie würde die Kinder selbst abholen. Dann erst nachforschen, was mit Lars passiert war. Kaum hatte sie der Kita Bescheid gesagt, sprang sie auf und hastete los. Die Kinder sollten es schließlich nicht ausbaden, wenn Lars etwas passiert war!
Als sie angehastet kam und hoffte, mit einem eilig dahingeworfenen: “Sorry. Ich weiß auch nicht, was mit meinem Mann los ist. Ich hoffe, ihm ist nichts passiert!“ davonzukommen, musterte die Erzieherin sie kritisch. Rabenmutter, dachte Bente automatisch unter diesem stechenden Blick. Sie hält dich für eine Rabenmutter. Deinem Mann, diesem erfolgreichen Architekten, könntest du auch mal den Rücken freihalten. Die Sätze erreichten sie, als könne sie Gedanken lesen. Bente schüttelte sich. Lass dich bloß nicht von dieser kleinen Erzieherin beeindrucken, dachte sie und doch hatte sie sofort das Bild im Kopf, wie anders Frau Reichen reagiert hätte, wenn ihr Mann in einer solchen Situation aufgetaucht wäre. Wenn sie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt vor Ort gewesen wäre. Meine Güte, was für ein sympathischer Mensch, hätte Frau Reichen sicher gedacht. Der kümmert sich um seine Kinder.
Liebevoll. Fürsorglich. Was hat doch Frau Wellington für ein Glück mit ihm gehabt. Das ist mal ein Vater. Bente schüttelte sich noch einmal.
Sie hatte jetzt keine Zeit für gesellschaftskritische Fragen. Sie nahm ihre Kinder in Empfang und eilte nach Hause. Sie musste sich um Lars und einen Babysitter kümmern. Irgendwie musste sie es zu ihrem Meeting schaffen. Sie musste es schaffen!
Sie musste einfach!
Als sie gerade die Nummer des dritten Krankenhauses gewählt hatte, hörte sie den Schlüssel in der Tür. Überrascht lauschte sie in den Flur hinaus. Tatsächlich öffnete sich die Tür.
Sie beendete das Telefonat, drehte sich um.
„Hallo, ihr Hübschen“.
Gutgelaunt betrat Lars den Raum. Sie war so perplex, dass sie im ersten Moment gar nichts sagen konnte. Sie starrte ihn nur unentwegt an.
„Sollen wir heute noch zum Italiener gehen? Sicher hat keiner Lust zu kochen.“
Er pfiff vor sich hin, schaute seine Frau und die Kinder erwartungsvoll an.
„Lars!“
„Ja oder wo willst du hin? Vielleicht doch lieber zum Thai?“
„Lars!“ So langsam hatte sich die Empörung, die in Bente aufgestiegen war, als sie ihren fröhlich pfeifenden Ehemann betrachtete, einen Weg in ihre Stimme gebahnt.
Lars schaute sie erstaunt an:
„Was ist, Bente?“
„Wo warst du?“
„Wie, wo war ich? Auf der Arbeit, wie immer.“
„Ich habe dich telefonisch nicht erreicht.“
„Das wird doch jetzt keine Du-hast-was-mit-deiner.Sekretärin-Nummer, oder?“
Lars feixte. Dann stürzte von einer Sekunde zur nächsten der Schreck in seine Züge.
„Mein Gott, die Kinder“, stöhnte er und schlug sich mit einer Hand an die Stirn.
„Die Kinder, ich habe sie ganz vergessen.“
Schuldbewusst sah er seine Frau an. Bente konnte es immer noch nicht fassen. Ihr zuverlässiger Ehemann hatte die Kinder vergessen. Einfach vergessen. Er lag in keinem Krankenhaus. Er hatte keinen Unfall. Er war auch in keinen Anschlag geraten. Mitten im Alltag hatte er die Kinder vergessen!
„Aber heute war wirklich ein außergewöhnlicher Stress auf der Arbeit. Ich hatte keine einzige ruhige Minute. Hetzte von Besprechung zu Besprechung.
Die Sekretärin trug mir die wichtigsten Telefonnotizen hinterher. Ich hatte so viele Entscheidungen zu treffen, Kunden zu beschwichtigen, unzufriedene Kunden zurückzugewinnen. Musste unser neues Projekt Investoren unterbreiten. Du kannst es dir ja vorstellen.“
Lars sah an seiner Frau vorbei, über ihre Schulter Richtung Fenster. Bente stand hochaufgerichtet wie ein Racheengel kurz vor der Tat. Lars sah nur einen Weg inmitten dieses Chaos, das er angerichtet hatte.
„Was ist mit deinem Meeting? Komm, lass uns das hier schnell beenden, dass du zu deinem Meeting kommst. Lass uns jetzt keine Zeit verschwenden“, schlug er vor. „Ich bin ja jetzt da“, fügte er kleinlaut hinzu.
Bente schluckte ihre Wut hinunter. Ja, sie musste los. Retten, was zu retten war. Sie fühlte sich abgehetzt. Ihre Frisur schien sich in einzelne Strähnen aufgelöst zu haben. Sie war von Kopf bis Fuß verschwitzt. Nichts, aber auch gar nichts war von der kühlen, souveränen Bente übrig geblieben, die Privilegien genoss, von denen andere Frauen nur träumen konnten.
Sie stieg in ihr Auto und dachte, ich muss mich sofort kümmern. Das darf gar nicht erst einreißen.
Sie musste Lars noch einmal zur Rede stellen und dann ihre Vereinbarung, die sie vor der Geburt der Kinder getroffen hatten, einfordern. Einhämmern in sein Gehirn, wenn es sein musste.
Einmal mehr mochte Martha nicht aufstehen.
Schon gar nicht, wenn sie an die Interessenten dachte, die vor zwei Tagen durch ihre Wohnung und ihren Garten getrampelt waren. Voller Lust besprachen sie, diese Pflanzen herauszureißen, jenen kleinen Fächerahorn zu fällen, um einen betonierten Parkplatz zu schaffen. Ihr geliebter Garten wurde entweiht und geschunden. Das Schmerzlichste war aber, ihr eigener Bruder wollte ihr das Haus streitig machen. Das Haus, das eigentlich ihr zustand. So war es seit Jahrzehnten ausgemacht. Sie hatte sich nicht aufraffen können, zum Anwalt zu gehen. Immerhin war Oliver ihr kleiner Bruder. Wie oft hatte sie ihm aus der Bredouille geholfen. Immer, wenn er zu feige gewesen war, den Eltern eine Schandtat zu gestehen, hatte sie hinter ihm gestanden und sich für ihn eingesetzt. Selbst als er sich hatte scheiden lassen, also bereits ein junger Mann war, der erste Erfahrungen in puncto Familie gesammelt hatte, wagte er sich nicht alleine in die Höhle des Löwen.
Sie hatte ihn begleiten müssen, um den Eltern vom Scheitern seiner Ehe zu berichten. Und jetzt das!
Sie konnte nicht glauben, dass er das mit dem Haus tatsächlich durchziehen würde. So fies konnte er einfach nicht sein. Ihr kleiner Bruder! Er hatte sich verändert. Legte plötzlich Seiten an den Tag, die sie nicht an ihm kannte. Aber am Ende würde er einlenken. Ganz bestimmt. Sicher hatte er die Geschichte mit dem Makler längst abgeblasen. Wahrscheinlich den Interessenten, die letztens so unsensibel durch ihr Haus getrampelt waren, bereits eine Absage erteilt.
Der Gedanke beruhigte sie ein wenig. Dennoch wollte sie sich noch ein paar Minuten im Bett gönnen. Nicht, dass es nicht genügend zu tun gegeben hätte. Im Gegenteil! Die Wohnung, der Garten schrien geradezu nach ihr. Oberflächlich sah das Wohnzimmer gut aus. Ihre eingefleischte Gewohnheit, alles sofort an Ort und Stelle zu räumen und regelmäßig Staub und Schmutz den Garaus zu machen, all das hatte weiterhin bei ihr funktioniert. Der Garten! Sie hatte ihn nicht mehr betreten. Dieser einst so liebevoll angelegte und gepflegte Garten, hätte schon längst jemanden gebraucht, der Hand an ihn legte. Aber sie konnte nicht. Wollte nicht. Wollte dieses Paradies nicht betreten ohne den Mann an der Seite. Wozu den Keller ausmisten? Wozu die abblätternden Küchenschränke streichen? Das Leben war geflohen aus diesem Haus. Das volle wunderbare Leben. Wieder ließ sie sich widerstandslos in die Erinnerungen sinken. Als hätte jemand ein Füllhorn über ihr ausgeschüttet. So war es gewesen, ihr Leben. Immer! Seitdem sie mit siebzehn Jahren ihren Mann kennengelernt hatte. Vorher war sie ein Feger gewesen. Auf jeder Party, in jeder Disco, bei jeder Aktion dabei. Aber irgendwie hatte ihr Leben erst richtig angefangen, als sie mit ihrem Mann zusammengekommen war. So war es ihr immer erschienen und auch heute kam es ihr so vor. Das war nun vorbei. Endgültig.
Die Realität traf sie mit voller Wucht. Ihr Bruder! Er wusste doch, wie schlecht es ihr ging. Wieso machte er ihr jetzt zusätzlich das Leben zur Hölle?
Sie verstand es einfach nicht. Dabei hatte sie ihn heiß geliebt. Ihren kleinen Bruder! Sie hatten viel zusammen unternommen. Er liebte ihre Kinder und ihr ging es mit Ruth nicht anders. Kino, Grillen, Feiern – immer war er dabei gewesen. Für ihre Älteste, sein Patenkind, hatte er sich regelmäßig tolle Events einfallen lassen. Ein Bruder gehört schlicht zur Familie. Da konnte man doch miteinander reden. Über alles. Man konnte doch über alles reden! Sie verstand ihn einfach nicht. Er war wie ein Alp auf ihrer Brust. Sie musste sich zwingen, an anderes zu denken. Allein wegen der Kinder. Das ewige Kreiseln um die Motive ihres Bruders würde sie noch zugrunde richten. Aber das war ihr egal. Erst als sie bemerkt hatte, dass es auch ihre Kinder runterzog, versuchte sie, die Schallplatte mit Sprung in ihrem Kopf zu stoppen.
Sie sollte ihren Fokus auf anderes richten.
Lisa, dachte sie. Ja, vielleicht würde der Gedanke an Lisa helfen, diesen düsteren Alp zu verscheuchen. Hoffentlich kommt Lisa heute noch.
Der Gedanke erleichterte sie ein wenig. Ja, Lisa.
Sie musste ihr alles erzählen. Lisa konnte zuhören.
Vielleicht hatte Lisa eine Idee, warum sich ihr Bruder so verhielt. Vielleicht verstand sie ja besser, was in dessen Gehirn ablief. Meine Güte, dachte Martha. Wie gut, dass ich mich doch noch auf Lisa eingelassen habe. Das hätte leicht schief gehen können. Dann stände ich jetzt viel schlechter da.
Als sie merkte, dass die Gedanken an Lisa sie erleichterten, ließ sie ihre Gedanken schweifen.
Sie hatte es wirklich versucht. Die Kinder hatten sie gedrängt. Sie sagten, du kannst mit uns nach Kroatien fahren. Aber Martha wusste sofort, das ging gar nicht. Sie wollte nicht nach Kroatien und auch sonst nirgends hin. Du kannst zu uns nach Erfurt kommen, hatte eine Jugendfreundin gesagt.
Aber vereisen kam nicht in Frage. Sie sollten eine Psychotherapeutin aufsuchen, hatte ihre Ärztin erwartet. Aber da war gleich klar, das war nichts für sie. Was sollte sie mit einer Therapeutin? Die konnte ihr den Mann auch nicht zurückbringen und zu schwätzen gab es nichts. Keine Silbe. Aber du musst doch etwas tun, hatten die Kinder gesagt, die ihre Mutter gänzlich in der Trauer versinken sahen. Sie hatten Vorschläge um Vorschläge angeschleppt. Und dann war es die Trauergruppe im Hospiz geworden. Nicht, dass sie geglaubt hätte, eine Trauergruppe könne ihr helfen. Trauern, da kannte sie sich aus. Dazu brauchte sie keine Gruppe. Aber es war der einzige Vorschlag ihrer Kinder gewesen, der ihr nicht völlig unerträglich erschien. Ihnen zuliebe hatte sie sich aufgerafft.
Ihnen zuliebe hatte sie dort alles mitgemacht.
Einmal war der Impuls, ein Bild zu malen. Das Werk sollte zeigen, wie es in ihrem Inneren aussah. Sie nahm nur einen einzigen Wachsstift in die Hand. Den schwarzen! Sie malte so lange, bis das großformatige, weiße Papier vollständig schwarz war. Kein einziger weißer Fleck übrig! Für einen winzigen Moment war sie befriedigt. Ja, genau so sah es in ihr aus. Sie hatte die blauen, roten, grünen und gelben Stifte achtlos auf der Tischplatte liegen lassen. Diese Farben hatten mit ihrem Leben nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun.
In dieser Gruppe war eine spezielle Frau dabei.
Lisa. Sie war ihr aufgefallen, weil sie immer mal wieder herzhaft lachte. Über was Lisa lachen konnte, das konnte Martha sich absolut nicht erklären. Sofort war ihr die Frau fremd. Fast unsympathisch. Wie kannst du nur lachen, hatte sie gedacht. Dein Mann liegt noch keine zwei Monate unter der Erde. Diese fremde Frau hatte sie gefragt: „Gibt es nicht wenigstens ein kleines bisschen Gelb in deinem Bild? Oder einen winzigen anderen Farbklecks?" „Nein", hatte Martha entschieden geantwortet. Fast empört, als zweifle man an ihrem Anstand. „Das passt schon!"
Erst langsam hatte sie Lisa näher kennengelernt.
Wenn sie mit der Gruppe nach der Sitzung auf einen Wein in Omas Küche gegangen waren, war auch Lisa immer dabei. Wenn sie noch lange vor dem Hospitz standen, um Aufwühlendes aus der Sitzung zu Ende zu bringen, dann lernte sie eine andere Lisa kennen. Wenn Lisa erzählte, wie sie all die Orte, an denen sie schöne Momente mit ihrem Mann verbracht hatte, wieder und wieder mit dem Fahrrad aufsuchte, um die Erinnerung zu zelebrieren und sich ihrem Mann nahe zu fühlen, da rückte sie ihr innerlich näher. Und so begannen die ersten Zweiergespräche, die ersten Telefonate.
Irgendwann kam Lisa immer, wenn es ihr schlecht ging. Manchmal schien sie es zu spüren. Sie tauchte plötzlich – in Marthas schlimmsten Momenten – auf. Manchmal rief sie Lisa an. Kurz darauf stand sie auf der Matte.
Lisa, der sie wieder und wieder erzählt hatte, wie ihr Mann gestorben war. Von den ersten Anzeichen, die sie ignoriert hatte, bis zum Tag des Sterbens. In allen Einzelheiten. Mit jedem Detail. In endlosen Schleifen. Lisa hatte jedes Mal zugehört, als hörte sie die Geschichte zum ersten Mal. Jedes Mal war sie, Martha, nach dem Erzählen erleichtert gewesen. Doch dann kam die Nacht. Dann kam der nächste erbarmungslose Morgen. Dann musste sie Lisa wieder die ganze, elende Geschichte erzählen. Wie die Krankheit in ihr Leben eingebrochen war und ihr das Liebste geraubt hatte.
Niemandem sonst konnte sie die immergleiche Geschichte zumuten. Nur Lisa. Niemandem sonst die Tränen zumuten, die beim Erzählen in Strömen flossen. Schon gar nicht den Kindern.
Aber sie wollte jetzt nicht an die Kinder denken.
Sie wollte daran denken, wie es ablief, wenn Lisa sie besuchte.
Sie umarmten sich lange. Sie setzten sich auf ihre Polstergruppe. Martha erzählte und weinte. Sie weinte und weinte und konnte vor Schluchzen nicht weiter erzählen.
„Blöd“, sagte Martha dann nach einer Weile. „Blöd, dass ich vor dir weine.“
„Es muss raus“, antwortete Lisa sanft. „Lass es fließen.“
Martha weinte und weinte. Unter Tränen stammelte sie wieder und wieder: „Blöd, vor dir zu weinen.“
Lisa betrachtete sie voller Mitgefühl. Manchmal traten auch ihr die Tränen in die Augen.
Wochenlang war es schon so gegangen. Es war nicht anders, wenn Lisa unter Tränen den Sterbeprozess ihres Mannes schilderte. Manchmal weinten sie zusammen. Aber dann passierte etwas, womit sie beide nicht gerechnet hatten.
Es war alles wie immer gewesen.
„Blöd“, setzte Martha ihren Satz an.
Lisa schaute sie schweigend an.
„Ist doch blöd, vor dir zu weinen.“
„Und immer bei der haarscharf gleichen Geschichte."
„Ja, ist doch wirklich blöd.“
„Wenn ich erzähle, ist es auch nicht besser. Dann weinen wir auch.“
„Und immer bei der gleichen Geschichte.“
„Ja, die immer gleiche Geschichte.“
Sie hatten sich unverwandt in die rotumränderten Augen geschaut. Lange, lange Zeit. Plötzlich prustete eine von ihnen los. Wer es gewesen war, daran konnte sich Martha nicht mehr erinnern. Das war auch nicht wichtig, denn die andere fiel nach kurzer Zeit in das Lachen ein. Sie lachten. Sie lachten und wussten nicht, lachten sie, um den Schmerz zu verscheuchen? Oder lachten sie in den Schmerz hinein? Sie sahen plötzlich das Komische an der Situation. Wie sie dasaßen und sich die immer gleichen Geschichten erzählten.
Lisas Lachen war so ansteckend, dass auch Martha gar nicht mehr aufhören konnte. Sie lachten, da war sich Martha plötzlich sicher, in den Schmerz hinein. Als ob er ihnen für Momente nichts mehr anhaben könne. Er würde wieder über sie hereinbrechen, das wussten sie bereits. Da gab es kein Entrinnen. Aber in dieser Gewissheit, der einzigen, die sie hatten, lachten sie in den Schmerz hinein. Für Augenblicke fast frech und wild. Mit einer unbändigen Kraft, die plötzlich aus ihnen herausbrach.
„Du hast mir jetzt doch einen winzigen Farbklecks in mein Bild gesetzt“, sagte Martha nach einer Weile.
„Echt?“
„Ja.“
„Für mich war das hier auch eine Premiere. Zum ersten Mal seit dem Tod meines Mannes konnte ich die Gegenwart aushalten, ohne in Erinnerungen oder andere Aktivitäten zu flüchten “, fügte Lisa hinzu.
„Du drückst das immer so toll aus, Lisa. Genauso fühlt es sich an. Verrückt, oder?“
Sie hatten sich beim Abschied still zugelächelt.
Seitdem hatte sich zwischen Lisa und ihr etwas Grundsätzliches verändert. Sie konnte jetzt Lisas lebhafteres Temperament zulassen, manchmal sogar genießen. Auch das Lachen von Lisa in der Trauergruppe, das ihr so lange blasphemisch erschienen war, konnte sie jetzt besser verstehen.
Es war ein Lachen über dem Abgrund gewesen.
Hoffentlich kommt Lisa noch, dachte Martha wieder. Sie wusste, sie sollte sich nicht auf den Zufall verlassen. Aber sie spürte, heute würde sie die Kraft nicht aufbringen, Lisa anzurufen.
Bente wusste, sie musste mit Lars reden. Nicht, dass sich dieser hoffentlich einmalige Ausreißer von Lars, der Tag, an dem er die Kinder vergessen hatte, im Alltag etablieren würde. Sie musste sofort einschreiten. Wie sollte sie es am besten anstellen? Wie eine gute Grundlage für ein konstruktives Gespräch schaffen? Sie musste für ein gutes Ambiente sorgen. Sie würde Lars mit einer Einladung zum Abendessen überraschen.
Bei seinem Lieblingsitaliener. Gott, waren sie lange nicht mehr zusammen ausgegangen. Just for fun.
Klar, wenn es berufliche Treffen gab, hatten sie sich schick gemacht und waren gemeinsam aufgetreten. Weihnachtsfeiern und Sommerfeste ihrer Bürogemeinschaften mit Partnern. Da musste man auftauchen. Aber nur so zum Spaß, schon lange nicht mehr. Der Italiener hatte nur noch eine Rolle in ihrem Leben gespielt, wenn Lars abends schnell zu ihm geeilt war, um für die gesamte Familie Essen zu besorgen. Sie dachte plötzlich an wunderbare Gespräche, an unbeschwertes Lachen. Klar, sie hatten früher auch für ihre Karriere wichtige Menschen durchgesprochen. Sie hatten Strategien erarbeitet und sich auf ihre Zukunft gefreut. Und doch geschah es jedes Mal:
Sie schwenkten ihren Wein unter der Nase. Sie zogen den köstlichen Duft ein. Sie sahen sich über ihren Weingläsern an. Und bei einem dieser Blicke geschah es: Plötzlich wussten sie wieder, wie verliebt sie waren. Bente genoss diesen inspirierenden Gesprächspartner. Wenn Lars dann erst mit seiner jungenhaften Unbekümmertheit daherkam, war Bente hin und weg. Kein Gedanke an Arbeit mehr! Sie lauschten einander bis tief in die Nacht. Sie lachten und kicherten. Ja wirklich, damals konnten sie noch herumalbern. Und wenn Lars dann ausholte, seine Geschichten mit großzügigen Gesten ausschmückte, dann wusste Bente nicht, wohin sie zuerst sehen sollte. Auf seine wunderschönen Hände, so ausdrucksstark und beredt oder auf seinen Mund. Manchmal hörte sie gar nicht mehr, was Lars sprach. Sie sah nur noch, wie Lars immer neue Laute formte mit diesem Mund, der am Ende auf ihren Lippen landen würde. Auch die Hände würden bald die liebgewonnen Wege auf ihrem Körper finden.
Als die Kinder noch nicht da waren, hatten diese Abende im Restaurant einen Teil ihres Alltages ausgemacht. Bente wurde mit einem Schlag bewusst, was aus ihrem Leben verschwunden war.
Aber darüber nachzudenken, das kam nicht in Frage. Sie musste sich dringend um ihre Zukunft kümmern!
Ja, es war eine gute Idee, an eine unbeschwerte Zeit anzuknüpfen. Sie würde auch im Restaurant nichts Kritisches ansprechen. Ein schöner Abend, entspannt und fern jeden Problems, sollte die Eröffnung für ein konstruktives Gespräch sein.
Aber war das Restaurant wirklich der geeignete Ort für vertrauliche Gespräche? Würde sich Lars dort öffnen können? Also lieber zu Hause? Der Gedanke an ein auftauchendes Kind, das etwa einen Satz sagte wie: „Mama, ich kann nicht schlafen“, oder „Ich habe etwas Schreckliches geträumt" - verhagelte ihr schon beim Gedanken daran die Laune. Sie musste etwas Besseres finden. Sie waren doch früher nach dem Essen auch gerne noch einen Cocktail trinken gegangen.
Eine Cocktailbar - das war es. Sie musste unbedingt eine finden mit lauschigen, intimen Ecken. In denen man den Eindruck hatte, kein anderer höre, was hier verhandelt wird. Man könne sich vollständig auf den anderen einlassen. Ja, Bente war guter Dinge. Jetzt, da der Plan stand, würde sie eine solche Bar schon finden. Sie musste sie nur googeln.
Nur Tage später setzten sich Lars und Bente in einer Cocktailbar einander gegenüber.
„Was möchtest du denn trinken?“ fragte Lars gutgelaunt.
„Sex on the Beach“, antwortete Bente wie aus der Pistole geschossen.
„Stehst du da immer noch drauf?", Lars lachte.
Seitdem sie einmal in Berlin am Prenzlauer Berg
„Sex on the beach“ getrunken hatten, war es für Wochen Bentes Lieblingsgetränk gewesen. Wie kam sie plötzlich darauf? Aber das war für Lars nicht die erste Überraschung des Abends. So entspannt hatte er seine Frau schon lange nicht mehr erlebt. Auch er lehnte sich innerlich zurück.
Wie gut, dass wir zwei endlich mal wieder etwas miteinander unternehmen. Als Paar. Und nicht als Vater oder Mutter, als Frau von oder als Mann von.
Nur wir zwei. Sollten wir öfter machen, dachte Lars.
Als die Cocktails kamen stießen sie an.
„Weißt du noch, wie wir in Berlin auf diesen hippen Stühlen vor der Bar saßen, unseren „Sex on the beach“ süffelten und Leute beobachteten?“
Für einen Moment war Bente verlockt, sich einfach auf Erinnerungen an früher einzulassen. Die Stimmung war so gut. Den ganzen Abend schon.