Schiller ist unschuldig - Janine Herrmann - E-Book

Schiller ist unschuldig E-Book

Janine Herrmann

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Aber wenn die Pest unter Engeln wütet, so rufe man Trauer aus durch die ganze Natur." - Nach dem Verschwinden einer Mutter und ihrer Tochter entdeckt Kommissar Mark Tortowski eine seltsame E-Mail, deren Zeilen offenbar aus einem Drama von Friedrich Schiller stammen. Zusammen mit seiner Kollegin, Lara Wiesner, versucht er fieberhaft der Botschaft auf die Schliche zu kommen. Da wird plötzlich die Leiche der Mutter im Wald gefunden. Von der neunjährigen Tochter fehlt jedoch jede Spur. Schnell wird klar, dass das nur der Auftakt zu einer Reihe grauenvoller Morde war. Ein packender Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Und: Sind die Kinder noch am Leben?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 555

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Für meinen Bruder Lukas

Impressum:

© 2016 by Janine Herrmann

Umschlaggrafik: © Janine Herrmann

Umschlaggestaltung, Korrektorat u. Satz:

Angelika Fleckenstein; spotsrock.de

Verlag: tredition GmbH Hamburg

ISBN:

978-3-7345-2140-9 (Paperback)

978-3-7345-2141-6 (Hardcover)

978-3-7345-2142-3 (eBook)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Janine Herrmann

Schiller ist unschuldig

Zeilen in den Tod

Ein Fall für die Kommissare

Lara Wiesner und Mark Tortowski

Handelnde Personen

Mark Tortowski – 41 Jahre, Kriminalhauptkommissar, unter den Kollegen bekannt als „Spießer“ und „Klugscheißer“, Spitzname „ Torte“

Lara Wiesner – 48 Jahre, Kriminalhauptkommissarin, hat von der KriPo Siegen nach Olpe gewechselt

Jannis Kernbetz – Marks Assistent, Computergenie, leidenschaftlicher Kappenträger und Diskogänger

Rudolf Linkmann – Chef und Leiter der Kriminalpolizei

Klaas Rittemeyer – Polizist, Marks Kumpel aus der Polizeischule

Thomas Wehl – Gerichtsmediziner

Simon Locke – Praktikant in der Gerichtsmedizin

Camilla Lorenz – Linkmanns Sekretärin

Chris Fallner – Marks Lebensgefährte

Manfred „Manni“ Wiesner – Laras Ehemann, arbeitslos und alkoholabhängig

Miriam Cabrenzi – Laras Tochter aus erster Ehe

Paolo Mingozzi – Laras neuer Nachbar, mit dem sie eine Affäre beginnt

Greta Viedenz – pensionierte Realschullehrerin, die bei einem Autounfall als Fußgängerin tödlich verletzt wurde und später im Krankenhaus starb

Bettina Eisenhof – arbeitete bei dem Kosmetikunternehmen Slitter, erstes Opfer

Bernd Eisenhof und Neele – Bettinas Ehemann und deren Tochter (9 J.)

Melanie Keppler – Ärztin im Krankenhaus Olpe, zweites Opfer

Martin Keppler, Vivien u. Bruno – Melanies Ehemann und die Kinder Vivien (6 J.), Bruno (3 J.)

Nicole Hausmann – Hausfrau, drittes Opfer

Richard Hausmann mit Felix u. Matz – Nicoles Ehemann, deren Söhne (8 und 4 J.)

Sascha Mert – Fahrer des Unfallautos, von dem Greta Viedenz angefahren wurde, angeklagt wegen unterlassener Hilfeleistung und Fahrerflucht

Vincent Meister – Anführer der Gruppe one-life, einer Tier- und Umweltschutzgruppe

Lutz Meinolf – Aktivist bei one-life

Kyra Nelson – Aktivistin bei one-life, Meisters Vertretung

Friedhelm Beckmann – Rentner, findet Bettina Eisenhofs Leiche

Lotte Kirchbühler – an Demenz erkrankte Schwester von F. Beckmanns verstorbener Ehefrau Elise

„Der Algerier“ – Flüchtling, der bei einem Bombenanschlag in seiner Heimatstadt beinahe seine ganze Familie verliert

Naima – Schwester des Algeriers, die den Bombenanschlag überlebt hat

Prolog

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem Bett. Sie wusste nicht genau, was passiert war, aber sie wusste, dass etwas passiert war – etwas, das ihr Leben auf einen Schlag veränderte. Sie fragte sich, wie lange sie wohl geschlafen hatte, denn sie verspürte nicht das geringste Zeitgefühl. Langsam richtete sie sich im Bett auf; es war dunkel um sie herum, doch durch ein kleines Fenster unter der Decke fiel etwas Licht in den Raum, was sie vermuten ließ, dass es bereits Tag war.

Sie hatte diesen Raum noch nie gesehen. Wie versteinert blieb sie sitzen; sie wagte kaum zu atmen, denn sie hatte Angst, dass sich da jemand versteckte – unter dem Bett, im Schrank, oder dass jemand an der Tür lauschte. So starrte sie einige Minuten in die Luft, ohne etwas um sich herum wahrzunehmen. Irgendwann sah sie ein, dass es sinnlos war, so zu tun, als ob sie nicht wäre und sie stand auf, sodass ihre von dünnen Socken umwebten Füße den kalten Steinboden berührten. Das Bett quietschte so furchtbar laut, dass es ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Auf einmal spürte sie einen leicht stechenden Schmerz an ihrem Unterarm und sie zog den Ärmel des dünnen Sweatshirts, das sie trug, ein wenig nach oben. Mit ihrem Finger fuhr sie über sie schmerzende Stelle, an der sie im Schein des Lichtes einen kleinen, roten Punkt erahnen konnte. So winzig er auch war, so gab er ihr doch zu verstehen; die Erinnerung leuchtete ganz kurz in ihr auf und gab ihrem Kopf einige, wenn auch sehr schleierhafte Bilder von dem, was passiert war.

Das Mädchen ging vorsichtig ein paar Schritte vom Bett weg. In der Mitte des Raumes lagen ein großer, runder Teppich und einige Spielsachen, darunter zwei Puppen. Das Licht vom Fenster traf genau dort auf den Boden, wo jener Teppich lag. Als sie innehielt und sich weiter im Raum umsah, bemerkte sie, dass dieser recht groß, auf jeden Fall größer als ihr Kinderzimmer zu Hause, war. Sie zuckte zusammen, als sie zwei weitere Betten an der linken Wand und ein Doppelbett an der rechten Wand entdeckte.

War sie nicht allein?

Ohne sich zu bewegen musterte sie die Betten; erst das Doppelbett rechts, dann die zwei Aufstellbetten links, doch sie konnte niemanden dort erkennen.

„Hallo, ist da jemand?“, flüsterte sie so leise, dass es niemand hätte hören können, nicht einmal, wenn er hinter ihr gestanden hätte. „Ist da jemand?“, wiederholte sie etwas lauter und mit zitternder Stimme. Doch keine Antwort.

Nach einer Weile schlich sie noch einen Schritt weiter, sodass sie eine der Puppen vom Boden aufheben konnte. Es war eine schöne Puppe: Sie hatte lange, blonde Haare, in denen eine Schleife befestigt war, und blaue Augen. Außerdem trug sie ein rot kariertes Kleid und hatte passend dazu kleine, rote Schühchen an. Zu Hause hatte sie auch mehrere Puppen, aber keine war annähernd so schön wie diese.

Das Mädchen schloss die Puppe in den Arm und drückte sie fest an sich. Für einen Moment vergaß sie die Angst, so wie sie dort stand – mitten im Raum, wo von hinten ein Lichtstrahl auf sie fiel, links neben ihr die zwei Aufstellbetten, rechts das Doppelbett und vor ihr eine große, dicke Stahltür.

Plötzlich hörte sie polternde Schritte über sich und kurz darauf eine knarrende Treppe. – Da kam jemand!

Schnell huschte sie, noch immer mit der Puppe im Arm, zurück ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Eine Weile hörte sie gar nichts und sie dachte fast, sie hätte sich die Geräusche nur eingebildet, bis sie plötzlich laute Schreie und Hilferufe vernahm – und das Mädchen wusste genau, wessen Stimme das war.

Verzweifelt sprang sie auf, sodass die Puppe aus dem Bett fiel und mit einem dumpfen Knall auf dem Boden landete. Mit großen Schritten lief sie zur Tür. Sie rüttelte und zog so fest daran, wie sie konnte, doch die Tür war verschlossen. Schließlich hämmerte sie mit aller Kraft dagegen und rief so laut es ging, doch niemand schien sie zu bemerken. Als sie versuchte gegen die Tür zu springen, prellte sie sich lediglich die Schulter. Die Schreie von draußen wurden immer lauter und qualvoller, und das Mädchen fing an zu weinen – erst leise, dann immer lauter, bis sie irgendwann vor lauter Schluchzen nach Luft ringen musste. Doch sie gab nicht auf und trat jetzt gegen die Tür und gegen die Türklinke, ein aussichtsloses Unterfangen.

Irgendwann hörte sie einen letzten Schrei und dann wurde es still, so furchtbar still. Noch eine Weile schlug sie mit nachlassender Kraft weiter gegen die Stahltür, dann sank sie erschöpft zu Boden. Vor der Tür hörte sie nur noch ein leises Poltern und klirrendes Metall – keine Schreie mehr. Sie wusste, dass der Tod gekommen war, um ihr einen geliebten Menschen wegzunehmen. Und es fühlte sich so kalt an, wenn der Tod kam.

Wie erstarrt saß sie vor der Stahltür auf dem kalten Steinboden und konnte sich nicht mehr bewegen. Noch immer hallten die Schreie in ihrem Kopf wider, und vor ihrem inneren Auge sah sie das gequälte Gesicht, das zu den Schreien gehörte. Sie schlang ihre Arme um ihren Körper, denn es fühlte sich an, als würde sie jeden Augenblick auseinanderfallen. Sie zitterte so sehr, dass sie erst gar nicht merkte, wie sich die Schritte nun ihrer Tür näherten. Erst als ein Schlüssel von der anderen Seite ins Schloss der Stahltür geschoben wurde, an der sie lehnte, merkte sie, dass sie jetzt wohl an der Reihe war.

Panisch sprang sie auf und drückte so fest sie konnte gegen die Tür, um sie zuzuhalten, doch was konnte sie, ein neunjähriges Mädchen schon ausrichten? Sie sah, wie die Klinke heruntergedrückt wurde und sich die Tür einen kleinen Spalt weit öffnete…

1

Es war 6:15 Uhr, als Mark Tortowskis Wecker an einem regnerischen Mittwochmorgen lauthals zu klingeln begann und damit seinen Besitzer so aufschrecken ließ, dass er beinahe aus seinem Bett gerollt wäre. In letzter Sekunde gelang es Mark, sich am Rand des Bettes abzustützen, um nicht mit dem Kopf gegen die Kante seines Nachttisches zu prallen. Er schnaufte tief durch und stellte dann den Wecker aus. So viel Action am frühen Morgen war wirklich nichts für ihn. Als er sich müde die Augen rieb, beschloss er, sich in naher Zukunft einen Wecker zu kaufen, der ihn etwas sanfter aus dem Schlaf holte.

„Brrmhh“, grunzte es neben ihm. Wie immer war auch Chris Fallner von dem Getöse wach geworden und rollte sich missmutig von der einen auf die andere Seite. „Morgen, Schatz“, sagte Mark enthusiastisch und küsste Chris auf die Stirn.

Seit neun Jahren schon waren die beiden Männer ein Paar. Zwar waren sie manchmal so verschieden, wie es eben nur ging, aber sie hatten sich noch nie wirklich gestritten. Naja, natürlich gab es Streit, wenn Chris meinte unbedingt gelbe Gardinen haben zu müssen, während Mark für die weinroten gewesen war – die passten im Übrigen viel besser zu der dunkelbraunen Eckbank -, aber am Ende fanden sie dann doch immer einen Kompromiss. In diesem Fall hatten sie sich für gelbe Gardinen mit roten Punkten entschieden.

Mark setzte sich auf und warf einen Blick in den Spiegel: Seine halblangen, braunen Haare standen in alle Richtungen ab, und rasieren sollte er sich auch mal wieder. Er schnappte sich ein paar frische Klamotten und begab sich in Richtung Dusche. Diese Bad-Hair-Days konnte er einfach nicht leiden. Als er noch einen Blick zu Chris warf, musste er schmunzeln; im Gegensatz zu ihm hatte Mark nämlich noch volles Haar, obwohl er mit seinen 41 Jahren drei Jahre älter war.

Nach der kurzen Dusche empfing ihn beim Öffnen der Badezimmertür der Duft von warmen Brötchen. Chris hatte bereits ein paar Aufbackbrötchen in den Ofen geschoben und war gerade dabei Eier zu kochen, als Mark in die Küche kam. Seine Tasse Kaffee stand schon vor ihm auf dem Tisch, und er nippte vorsichtig daran, während er einen ersten Blick in die Zeitung warf. Chris arbeitete als Koch in einem Vier-Sterne-Restaurant, und Mark konnte sich von den Kochkünsten seines Partners verwöhnen lassen. Er selbst war gerade so in der Lage sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben oder ein paar Nudeln zu kochen, wobei er diese Gerichte aufgrund ihres geringen Nährstoffgehalts nicht sehr schätzte. Er bevorzugte es, so gesund wie möglich zu leben: Viel Obst und Gemüse, nicht allzu viel Fleisch und nur wenige Süßigkeiten. Im Volksmund nannte man Leute wie ihn einen Spießer; vielleicht war er das auch.

Als er die Regionalnachrichten in der Zeitung aufschlug, sprang ihm ein großes Bild von Rudolf Linkmann entgegen, auf dem er stolz grinste. Neben ihm stand eine Frau mit dunkelblonden Haaren, die nicht ganz so glorreich dreinblickte. Rudolf Linkmann war Marks Chef; ein Mann, der sich und seinen Job viel zu ernst nahm und daher oft unter dem Alltagsstress erdrückt wurde. Er wirkte dann oft sehr streng und herablassend, doch Mark wusste, dass das eigentlich nicht seine Art war. Meistens hatte er daher Mitleid mit ihm und versuchte, ihn für seine Ausraster nicht zu verurteilen.

Rudolf Linkmann leitete das Dezernat der Kriminalpolizei, er war jedoch nicht, wie Mark selbst, als Kommissar tätig, sondern verfolgte die Ermittlungen, gab Befehle, kümmerte sich um den Bürokram und das Arbeitsklima. Die Frau, die auf dem Foto neben Linkmann abgebildet war, kannte Mark nicht, aber er konnte sich erinnern, dass der Chef eine neue Ermittlerin einstellen wolle. Er selbst bekam das nicht weiter mit, denn er hatte sich zweieinhalb Wochen Urlaub genommen, um endlich mal etwas auszuspannen, nachdem er die Wochen zuvor ziemlich hart arbeiten musste. Bei seinem letzten Fall hatte er es mit einer Entführung zu tun, die ihm Tage und Nächte geraubt hatte. Jetzt aber war er bereit, den Alltagskampf gegen das Unrecht auf dieser Welt wieder aufzunehmen.

Mark begann, den Artikel zu dem Bild zu lesen. Wie er erfuhr hieß sie Lara Wiesner, war 48 Jahre alt und hatte vorher bei der Kripo Siegen als Co-Ermittlerin gearbeitet. Im Folgenden wurde dann der Fall geschildert, an dem sie gerade arbeitete: Eine Frau war von einem Auto angefahren worden und im Krankenhaus infolge ihrer Verletzungen gestorben. Der Fahrer des Unfallwagens hatte Fahrerflucht begangen, und die Polizei suchte fieberhaft nach ihm. Wie es schien, war Lara Wiesner dabei ein Durchbruch gelungen. Ein Name wurde jedoch noch nicht genannt.

Als Chris vor ihm einen Teller mit zwei Brötchen hinstellte, legte Mark die Zeitung beiseite und machte sich eifrig über das Essen her. Später schmierte er sich noch zwei weitere Brötchen, die er in einer Butterbrotdose in seiner dunkelbraunen Aktentasche verstaute, um sie mit zur Arbeit zu nehmen. Wie jeden Morgen konnte Mark anschließend nicht widerstehen, Chris den „Spruch zum Tag“ vorzulesen, der ganz vorne auf der Zeitung abgedruckt war: „Nur der blickt heiter, der nach vorne schaut“, las er mit erhobenem Zeigefinger und betonter Stimme. Chris nickte desinteressiert und blätterte weiter in seinem Teil der Zeitung. „Sehr weise, nicht wahr? Das Zitat ist von Edward Burke.“

„Toll“, entgegnete Chris trocken, sodass Mark lächeln musste. Sein Lebensgefährte hatte leider nicht annähernd so viel Interesse an Lyrik und Philosophie, wie Mark, doch das störte ihn eigentlich nicht. Schließlich reichte es ja auch, wenn einer von ihnen ständig mit irgendwelchen weisen Sprüchen um sich warf. Nicht ganz zu Unrecht nannte Chris ihn manchmal einen Streber, wenn auch nur zum Spaß.

Mark schmunzelte nachdenklich und dachte über den Spruch nach, während er seinen Kaffee leer trank. Er zweifelte daran, was Burke sagte, denn wie konnte einzig der heiter sein, der nach vorne schaut. Nachdem er sich Schuhe und Jacke angezogen hatte, Chris einen schönen Tag gewünscht hatte und dann die Haustür der Wohnung hinter sich schloss, war er zu dem Schluss gekommen, dass es besser heißen sollte: „Nur der blickt heiter, der vorwiegend nach vorne schaut.“ Mit diesem Satz startete er in den Tag, der vor ihm lag wie ein ungeöffnetes Geschenk.

Lara Wiesner war bereits um fünf Uhr aufgestanden, hatte geduscht und sich einen Kaffee gemacht. Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen und dachte, mit einem schönen, schwarzen Kaffee würde sich das wieder legen… dachte sie. Ihrem Trugschluss entsprechend beschloss sie, noch eine Aspirintablette einzuwerfen und begann, sich ein paar Brote für das Frühstück zu schmieren. In der ganzen Wohnung hörte sie noch immer den Grund für ihre Kopfschmerzen: Ihr Ehemann Manfred Wiesner, sie nannte ihn nur Manni, schnarchte, als gebe es kein Morgen mehr. Es war nicht mehr auszuhalten; vergangene Nacht war es besonders schlimm gewesen. Lara hatte kein Auge zu machen können, und als sie schließlich mitsamt der Bettwäsche auf das Sofa auszog, was eigentlich Mannis Revier war, hatte sie das Schnarchen noch immer gehört. Zu allem Unglück hatte sie zu den Kopfschmerzen nun auch noch einen steifen Hals von der harten Sofalehne.

So schlimm lief das jetzt schon fast ein Jahr. Vor zwei Jahren war Manni arbeitslos geworden, weil die Firma, in der er gearbeitet hatte, pleitegegangen war. Beide waren sie sich sicher gewesen, dass sie das Problem schon in den Griff bekämen und Manni eine neue Arbeit finden würde. Manni war bei seiner Entlassung 48 Jahre alt gewesen – er hatte nun immerhin noch mindestens 15 Jahre bis zur Rente.

Er schickte eifrig Bewerbungen los und hatte daraufhin auch ein paar Vorstellungsgespräche. Eigentlich war es ganz gut gelaufen, aber im Endeffekt wurde er doch immer abgelehnt. Anfangs hatte er sich nicht davon unterkriegen lassen, aber irgendwann waren die Bewerbungen, die er versandte, immer weniger geworden. Er hatte die Hoffnung verloren. Lara versuchte zwar, ihn immer wieder neu zu ermutigen, aber irgendwann verfiel er ganz in den Glauben, dass es keinen Sinn mehr hatte. Er begann zu trinken. Erst nur an Wochenenden, dann fast jeden Abend zwei, drei Bier, bis er mittlerweile den ganzen Tag nur vor dem Fernseher saß und dabei eine Flasche nach der anderen hinunter kippte, während Lara das Geld verdiente.

Sie war es inzwischen so was von leid, ihn ganz alleine mitzuziehen und sich um ihn kümmern zu müssen wie um ein Kleinkind. Doch sie traute sich einfach nicht, ihn zu verlassen, viel zu groß war die Angst, den Rest ihres Lebens allein sein zu müssen. Lara war jetzt 48, wie sollte sie denn bitte jetzt noch mal etwas Neues beginnen? Manni und sie hatten vor elf Jahren geheiratet, damals war sie 37 und Manni 39 Jahre alt. Ihrer Meinung nach war das schon ziemlich spät gewesen und sie war froh, dass sie so jemanden wie Manni gefunden hatte. Sie hatten sich erst ein Jahr vor der Hochzeit kennengelernt und Lara glaubte, dass es passte. Zu der Zeit hatte sie bereits eine Tochter - Miriam. Ihr Vater hieß Leonard Cabrenzi, und sie war sechs Jahre mit ihm zusammen gewesen, bis er sie eines Tages einfach sitzen ließ. Er habe jemanden kennengelernt, hatte er nur gesagt, dann war er verschwunden und brach jeglichen Kontakt zu Lara und seiner Tochter Miriam ab. Ab diesem Zeitpunkt war Lara also alleinerziehende Mutter gewesen, hatte geschuftet bis zum Umfallen, um ihrer Tochter ein gutes Leben bieten zu können. Dann traf sie eines Tages Manni, der bald bei ihnen einzog und versuchte, für Miriam, so gut es ging, die Vaterrolle zu übernehmen. Mit ihrem neuen Stiefvater hatte sich Miriam trotzdem nie wirklich abgefunden; oft hatte es Streit zwischen den beiden gegeben.

Mittlerweile war Miriam 23, vor drei Jahren war sie ausgezogen. Sie studierte Wirtschaftsingenieurwesen in Münster. Lara war sehr stolz auf sie, sie war ein wirklich intelligentes Mädchen, und das hatte sie bestimmt nicht von ihrem Vater geerbt. Als Lara darüber nachdachte, musste sie lächeln – das erste Mal an diesem Morgen. So ein Studium war natürlich auch mit vielen Kosten verbunden und Lara musste zurzeit hart arbeiten, um dieses finanzieren zu können und zugleich Manni und sie über Wasser zu halten. Das war auch einer der Gründe, warum sie zur Kripo Olpe gewechselt hatte.

Mark Tortowski wohnte in Wenden, das etwa zehn Kilometer von Olpe und damit seiner Arbeitsstelle entfernt lag. Chris Fallner und er besaßen zusammen nur ein Auto, das Chris meist benutzte, um zur Arbeit zu kommen. Mark war der Meinung, dass ein Auto vollkommen genügte, weshalb er zum überzeugten Busfahrer geworden war. Zum einen war das viel billiger, als ein zweites Auto unterhalten zu müssen, und zum anderen schonte es maßgeblich die Umwelt, wenn er die öffentlichen Verkehrsmittel nutzte und nicht separat mit einem weiteren Auto Abgase in die Luft pustete. Er wünschte sich, mehr Menschen würden das verstehen, damit sie diese Welt nicht so unvernünftig ausnutzten. Es war die Pflicht der Menschen ihren blauen Planeten zu erhalten, damit er sie erhalten konnte, so dachte er überzeugt.

Mark zumindest stieg jeden Tag mit einem guten Gewissen in Olpe aus dem Bus aus und legte dann den Rest des Weges zum Präsidium zu Fuß zurück. Er hatte seinen Regenschirm geöffnet, um nicht triefnass im Büro anzukommen. Es war nicht sonderlich kalt, schließlich war es ja auch noch August, und so hatte Mark sich nur eine dünne Strickjacke übergezogen. In der linken Hand hielt er seine dunkelbraune Aktentasche. Chris meinte immer, er solle sich doch mal ein etwas moderneres Modell anschaffen, aber Mark hing an seiner alten Tasche. Er hatte sie von seinen Eltern geschenkt bekommen, als er zum Kriminalhauptkommissar befördert worden war, das lag inzwischen neun Jahre zurück.

Leise pfiff er vor sich hin und blickte beim Vorübergehen in ein paar Schaufenster. In dem Klamottenladen „Maiworm“ gingen gerade die Lichter an und er sah eine junge Verkäuferin, die ein paar T-Shirts auf Bügel hängte. Ein Geschäft weiter befand sich „Heller und Köster“, ein Sportladen, der jedoch noch geschlossen hatte. Wie er so die Welt um sich herum gedankenlos beobachtete, trat er geradewegs in eine Pfütze hinein. Leise fluchend stellte er fest, dass diese ganz schön tief war und er mit dem rechten Fuß bis zum Knöchel im Wasser stand. Das hatte zur Konsequenz, dass sein Schuh sich mit Wasser vollsog und seinen Fuß gefühlte zwei Kilogramm schwerer machte. Er fluchte erneut, als sich das unangenehme Gefühl von Kälte und Nässe breitmachte und setzte dann mit schnellem Schritt und etwas achtsamer als zuvor seinen Weg zum Präsidium fort. Bei jedem Schritt, den er tat, quietschte sein Schuh und sein nasser Hosensaum fühlte sich an, als würde ihm jemand ein Kühlpack an den Knöchel halten. Er merkte, dass er seinen nassen Fuß etwas hinterher schleifte, damit sein Hosenbein nicht so kalt gegen den Knöchel schlug, kam sich dann jedoch etwas blöd vor und versuchte, normal weiterzugehen. Als er an der Ampel angelangt war, drückte er den Schalter und wartete, dass sie auf Grün umschaltete. Auf der anderen Seite der Straße lag das Polizeipräsidium, und davor befanden sich einige Parkplätze. Er konnte das Auto seines Chefs, Rudolf Linkmann, schon von weitem erkennen: Ein dicker, schwarzer BMW, ausgestattet mit Ledersitzen, Navigationssystem und allem Drum und Dran, was seiner Ansicht nach eigentlich niemand brauchte.

Unbewusst hatte Mark sich auf sein linkes, trockenes Bein gestellt und bewegte den rechten Fuß in der Luft hin und her, wodurch er etwas wärmer wurde. Die Ampel leuchtete noch immer rot, als Mark einen grünen Opel von rechts in die Straße einbiegen sah. Das Auto war ihm deshalb aufgefallen, weil es bestimmt mit hundert Sachen um die Kurve driftete, was bei diesem Wetter ein gewaltiges Aquaplaning verursachte. Das Fahrzeug auf der anderen Straßenseite bekam einen ganzen Schwall Wasser gegen die linke Seite, und dessen Fahrer drückte wütend auf die Hupe. Als der grüne Opel auf den Parkplatz des Polizeipräsidiums abbog, schaltete die Ampel auf Grün und Mark überquerte, nachdem er sich vergewissert hatte, dass nicht noch so ein verrückter Fahrer um die Ecke bog, die Straße.

Als Lara Wiesner ihr Auto anspringen ließ, war es zwanzig nach sieben. Bis nach Olpe würde sie etwa zwanzig Minuten brauchen, was bedeutete, dass sie nicht pünktlich um halb acht im Präsidium sein würde.

Bevor Lara vor knapp zwei Wochen bei der Kripo Olpe ihren Dienst antrat, hatte sie bei der Polizei in Siegen gearbeitet. Das lag von Kreuztal, wo sie wohnte, etwa genauso weit entfernt wie Olpe. Ihren Job dort hatte sie gehasst; zum einen, weil sie dort nur die Co-Ermittlerin gewesen war und daher für ihren ehemaligen Kollegen nur die Drecksarbeit erledigen musste, und zum anderen, weil die Bezahlung miserabel war. Ihr ehemaliger Chef, Hans-Werner Sondermann, war ein richtiger Geizkragen. Er bezahlte seine Mitarbeiter schlecht und steckte das Geld stattdessen in seine eigene Tasche. Lara hatte er immer unfair behandelt, weil sie seiner Meinung nach in ihrer Eigenschaft als Frau nicht in der Lage war, mit Gefahrensituationen und Schusswechseln klarzukommen. Dass sie ihrem Kollegen bei einem solchen Schusswechsel einmal das Leben gerettet hatte, wurde vollkommen ignoriert.

Vor gut einem Monat sagte Lara ihrem ehemaligen Chef dann mal so richtig die Meinung und führte ihm seine arrogante Verhaltensweise vor Augen. Noch am selben Tag bewarb sie sich bei der Kripo Olpe, wo ihr wider Erwarten sofort eine Stelle als Kriminalhauptkommissarin angeboten wurde. Ohne zu zögern kündigte sie eine Woche später in Siegen, woraufhin Hans-Werner Sondermann so verdattert guckte, dass Lara sich nicht verkneifen konnte, mit erhobenem Mittelfinger sein Büro zu verlassen. Als sie dann frohen Mutes aus dem Siegener Polizeipräsidium stolzierte, hörte sie Herrn Sondermann durch das ganze Haus brüllen: „Was denkt sich diese Fotze? Marschiert einfach weg, ohne vorher was zu sagen. Ich werde Sie anzeigen, Frau Wiesner! Hören Sie das? Ich werde Sie anzeigen wegen Beamtenbeleidigung, Sie miese…!“

In diesem Moment hatte Lara die Tür zum Präsidium bereits zugeknallt und fuhr lachend nach Hause. Angezeigt hatte Herr Sondermann sie nicht. Vermutlich hatte er ihr nur gedroht, damit sie es sich anders überlegte, aber von so etwas ließ sich eine Lara Wiesner nicht kleinkriegen!

Mit ihrem neuen Arbeitsplatz war Lara sehr zufrieden: Sie wurde fair bezahlt, war jetzt nicht mehr nur Co-Ermittlerin, sondern Kriminalhauptkommissarin. Ihr neuer Chef, Rudolf Linkmann, war ihr auch etwas sympathischer als Hans-Werner Sondermann. Lara verstand sich recht gut mit ihren neuen Arbeitskollegen, die sie inzwischen schon kennengelernt hatte. Mit Camilla, der Sekretärin, verbrachte sie zumeist die Mittagspausen in der Kantine. Sie hatte ihr auch ein paar der anderen Kollegen vorgestellt. Von dem zweiten Kriminalhauptkommissar in Olpe hatte sie nur erzählt, ihn hatte Lara noch nicht kennen gelernt. Nach Camillas Angaben sei er sehr eigen und pflege seltsame Verhaltensweisen. Im Präsidium galt er als übergenau und besserwisserisch. Lara hatte seinen richtigen Namen vergessen, sie wusste nur, dass ihn seine Kollegen ihn oft „Torte“ nannten – das hing wohl irgendwie mit seinem Nachnamen zusammen.

Es war vier Minuten nach halb acht, als Lara in die Straße zum Präsidium einbog. Sie war mal wieder zu schnell unterwegs gewesen und merkte, wie ihr das Auto in der Kurve etwas ausbrach, sodass sie aufpassen musste, nicht auf die andere Fahrbahn zu rutschen. 14 Minuten statt der eigentlichen 20 Minuten hatte sie bis nach Olpe gebraucht – nicht schlecht, aber vorgestern hatte sie es in zwölf geschafft. Trotzdem war sie ganz zufrieden mit sich. Sie hörte das Auto auf der anderen Straßenseite hupen. Wahrscheinlich hatte es ein bisschen Wasser abbekommen. Als sie zu dem Auto hinüber sah, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Person wahr, die an der Ampel stand. Obwohl sie diese Person nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte, glaubte sie zu ahnen, um wen es sich handelte. Sie hatte einen Mann mittleren Alters erkannt, der auf einem Bein stand und den anderen Fuß in der Luft schüttelte. In der einen Hand trug er einen roten Regenschirm, in der anderen eine Tasche. Alles in allem sah er in diesem Moment aus wie ein Flamingo, die standen schließlich auch immer auf einem Bein.

Lara parkte ihren Opel zwei Parkplätze neben dem Auto von Rudolf Linkmann. Dann stieg sie aus und holte schnell ihre Tasche aus dem Kofferraum. Sie hielt sie über ihren Kopf, um nicht allzu nass zu werden, und rannte zum Eingang. Unter dem Vordach angekommen, schniefte sie erleichtert und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die trotz der Tasche nass geworden waren.

„Morgen!“, hörte sie eine Stimme hinter sich rufen und blickte sich um. Sie hatte also richtig geraten; der Flamingo (jetzt sah er natürlich nicht mehr aus wie ein Flamingo, weil er auf beiden Beinen ging) kam ihr grinsend entgegen.

„Guten Morgen“, entgegnete Lara etwas perplex.

„Wenn ich mich vorstellen darf, ich bin Mark Tortowski, der andere Kriminalhauptkommissar hier. Sie müssen Lara Wiesner sein. Ich habe Sie heute Morgen in der Zeitung gesehen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, die Lara daraufhin freundlich schüttelte.

„Genau, das stimmt. Schön, Sie kennenzulernen, Herr Tortowski.“

„Mark; Sie können mich Mark nennen, mein Nachname bereitet nur verknotete Zungen.“

Sie lachte und bot ihm ebenfalls das „Du“ an, bevor sie die Tür öffnete und gefolgt von Mark eintrat. ‚Das ging ja schnell’, dachte sie und wunderte sich über die offene Art ihres neuen Kollegen. Mark grüßte lauthals alle Mitarbeiter, die er sah, während sie den Flur entlang gingen.

„Wo ist denn dein Büro, Lara?“

„Im ersten Stock, ganz am Ende des Flurs.“

„Ah, ja, das hätte ich mir denken können. Das Zimmer wurde umgebaut, bevor ich mir Urlaub genommen habe. Da war vorher ein Abstellraum für Putzutensilien drin“, meinte er trocken.

„Schön zu wissen…“

„Mein Büro ist etwas weiter vorne auf der anderen Seite des Ganges.“

Sie gingen gemeinsam die Treppe hinauf. Mark pfiff heiter vor sich hin, bis sie im ersten Stock ankamen. Er kramte seinen Büroschlüssel aus der Tasche und blieb vor seiner Tür stehen.

„Man sieht sich“, verabschiedete sich Lara und ging alleine weiter den Gang entlang.

„Ganz bestimmt“, beteuerte Mark und drehte den Schlüssel im Schloss um.

Für Bernd Eisenhof war die Nacht von Dienstag auf Mittwoch lang und schlaflos gewesen. Er hatte keine einzige Minute lang die Augen zumachen können.

Alles hatte damit begonnen, dass er am Dienstagnachmittag um kurz nach vier von der Arbeit nach Hause gekommen war. Er dachte an nichts Besonderes, als er die Tür zum Haus aufschloss, in dem er seit sechs Jahren mit seiner kleinen Familie wohnte. Ein wohliges Gefühl verbreitete sich in seinem gesamten Körper, das er immer empfand, wenn er nach einem stressigen, langen Arbeitstag endlich nach Hause kam.

Nachdem er eingetreten war und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, rief er etwas wie: „Hallo, bin wieder da!“ Dann wartete er darauf, dass ihm jemand antwortete, wie es üblicherweise geschah. Doch es antwortete niemand. Also rief er nochmals, doch wieder antwortete niemand. Gleichgültig zog er die Schultern hoch und stellte die Schuhe unter die Garderobe. Er hoffte, in der Küche ein paar Reste vom Mittagessen zu finden, aber dort hatte man nichts für ihn übriggelassen. Seine Nahrungsaufnahme beschränkte sich also auf ein paar Kekse, die er hinten im Schrank fand. Er aß gemächlich und warf einen Blick in die Zeitung, die noch auf der Fensterbank lag, wo er sie Dienstagmorgen hingelegt hatte. Er hatte es lediglich geschafft, den Politikteil zu lesen, weshalb er dann nachmittags mit dem Sportteil fort fuhr.

Anschließend fuhr er den Computer hoch, um seine Mails zu lesen. Abgesehen von etwas Werbung und einer Bestellbestätigung war nichts Neues gekommen. Er surfte noch ein wenig im Internet und ehe er sich versah, war es auch schon sechs Uhr.

Noch immer war er allein im Haus und langsam begann er, sich zu fragen, wo seine Frau und seine Tochter so lange waren, obwohl sie ihm doch gesagt hatten, sie würden an diesem Nachmittag nicht fortgehen. Zudem stand ja auch das Auto seiner Frau in der Garage, sie mussten also zu Fuß unterwegs sein. Nach kurzem Überlegen griff er zum Telefon, wählte die Handynummer seiner Frau und hielt sich den Hörer ans Ohr. Keine fünf Sekunden später hörte er im Haus ein klingelndes Handy. Bernd Eisenhof seufzte leise. Sie hatte ihr Handy nicht einmal mitgenommen. Das sah ihr ähnlich. Wenn sie Stress hatte, vergaß sie es meist auf ihrem Schreibtisch, bevor sie das Haus verließ. Er legte also wieder auf und sah nach, ob seine Vermutung mit dem Schreibtisch stimmte. Tatsächlich fand er das Gerät auf einem Stapel von Blättern.

Er setzte sich anschließend auf ihren Schreibtischstuhl und dachte nach. Nach geraumer Zeit nahm er ihr Handy in die Hand und tippte darauf herum. Das tat er sonst nie, aber irgendwie keimte ein Gefühl in ihm, da wäre etwas, von dem er nicht wusste – finden konnte er aber nichts.

Es wurde dunkel, und als die Sonne untergegangen war, begann er sich ernsthafte Sorgen zu machen. Bernd Eisenhof wählte die Nummer seiner Schwiegereltern, dann die seiner Eltern, die seines Schwagers und irgendwann gegen Mitternacht hatte er sich durch den gesamten Bekanntenkreis gewählt, nur um zu dem ernüchternden Ergebnis zu kommen, dass niemand wusste, wo seine Frau und seine Tochter steckten.

Bis 5:30 Uhr am Mittwochmorgen sah und hörte er nichts. Viele Tassen schwarzer Kaffee hatten ihn die Nacht über wachgehalten, der ein oder andere Wodka hatte seine Nerven beruhigt. Schließlich sah er ein, dass es keinen Zweck hatte, an diesem Morgen zur Arbeit zu gehen und nachdem er sich dort krank gemeldet hatte, tätigte er einen weiteren Anruf und rief sich ein Taxi. Selbst fahren konnte er nämlich, das musste er doch einsehen, nun nicht mehr. Es dauerte keine 15 Minuten, dann stand das Taxi bei ihm vor der Tür. Eisenhof steckte seinen Ausweis und etwas Geld in die Seitentasche seiner Jacke und zog diese über. Dann verließ er das Haus, stieg auf der Beifahrerseite des Taxis ein und sagte nur mit starrem Blick nach vorne: „Bringen Sie mich ins Polizeipräsidium bitte.“

Das Erste, was Mark tat, nachdem er die Tür seines Büros hinter sich geschlossen hatte, war, sich auf seinen Bürostuhl fallen zu lassen und seinen nassen Schuh auszuziehen. Er stellte fest, dass seine Socke noch kein bisschen getrocknet war (wie sollte sie auch). Also zog er sie ebenfalls aus. Dann öffnete er das Fenster und wrang sie kräftig aus. Viel half das nicht, aber immerhin konnte er ein wenig Wasser herausdrücken. Nachdenklich lehnte er sich zurück und betrachtete den Strumpf und den Schuh, den er auf seinen Schreibtisch gestellt hatte. Weil es Sommer und nicht sonderlich kalt war, liefen die Heizungen im Gebäude nicht, sodass er die nassen Sachen nicht am Heizrohr trocknen konnte.

Also beschloss er, stattdessen den Schuh einfach auf den Boden zu stellen; den Socken befestigte er mit Tesafilm an der Kante seines Schreibtisches, sodass er frei herunterbaumelte. Mark begutachtete seine Konstruktion kritisch, kam aber zu dem Schluss, dass die Sachen so am schnellsten trocknen würden.

Mit diesem Wissen konnte er sich nun ganz dem Stapel aus Zetteln widmen, die sich über seinen Urlaub hinweg auf seinem Schreibtisch angehäuft hatten. Die meisten von ihnen waren so unwichtig, dass sie sofort im Papiermüll landeten.

Marks Büro bestand aus zwei kleineren Teilräumen, die durch eine Glaswand voneinander getrennt waren. Der Schreibtisch hinter der Glaswand gehörte dabei ganz ihm, der Schreibtisch auf der anderen Seite, der sich gegenüber der Tür zum Büro befand, gehörte seinem Kollegen Jannis Kernbetz. Dieser unterstützte Mark bei seinen Ermittlungsarbeiten vom Büro aus, indem er Fakten zum Fall recherchierte, Anrufe von Zeugen aufnahm und mithalf die Ermittlungsergebnisse gründlich auszuwerten. Zu Recht konnte man Jannis als ein Computergenie beschreiben. Er konnte sich schneller in irgendwelche Datenbanken einklinken und ermittlungsrelevanten Stoff herausfinden als irgendjemand anderes. Ob es dabei wirklich immer mit rechten Dingen zuging, war eine andere Frage. Um diese zu beantworten, hatte Mark wirklich viel zu wenig Ahnung von Computern.

Durch die Glastür hindurch sah Mark seinen jungen Kollegen ins Büro kommen. Jannis war 25 Jahre alt, recht muskulös und groß. Sein Markenzeichen waren seine bunten, komischen Kappen, von denen er jeden Tag eine andere trug. Heute hatte er eine neongrüne auf. Die Jugend heutzutage schien so etwas schön zu finden.

„Guten Morgen, Jannis“, rief Mark ihm zu und hob die Hand.

„Morgen“, antwortete Jannis muffelig. Seine Launen waren manchmal nicht auszuhalten, aber Mark gewöhnte sich langsam daran. Jannis schmiss missmutig seinen Rucksack auf den Schreibtisch und näherte sich dann Marks Quartier. Skeptisch blieb er vor der Glasscheibe stehen und betrachtete Marks Socken, der von dessen Schreibtisch herunterbaumelte. Verschlafen kratzte er sich sein Kinn, sodass seine unrasierten Bartstoppeln ein unangenehmes Geräusch verursachten. Dann zuckte er mit den Schultern, gähnte und trat in die leicht geöffnete Glastür.

Mark sah zu ihm auf und sagte: „Na, wie war dein Urlaub? Du scheinst dich nicht sonderlich erholt zu haben?“

Jannis zog erneut die Schultern hoch, sah zu der Socke und entgegnete abwesend: „Es reicht ja auch, wenn einer von uns beiden so hoch motiviert ist, wieder arbeiten zu müssen.“ Mark ließ dieses Statement unkommentiert.

„Torte“, meinte Jannis, nachdem er noch eine Weile schweigend in der Glastür gestanden hatte. Mark sah wieder zu ihm auf. Er fragte sich, warum er eigentlich auf diesen dämlichen Spitznamen hörte. Doch mittlerweile wurde er unter einigen Kollegen gar nicht mehr anders gerufen und Jannis nannte ihn inzwischen nur noch so.

„Ja, was ist?“

„Wir sollen zum Chef kommen.“

„Worum geht es denn?“, wollte Mark wissen.

„Vermisstenanzeige.“ Jannis Wortschatz war an diesem Morgen wieder mal kaum an Größe zu überbieten, stellte Mark fest.

„Das ist doch gar nicht unser Zuständigkeitsbereich.“

„Ach, was! Sehe ich aus wie Jesus? Keine Ahnung, was der Chef von uns will.“ Wie Jesus sah er nun wirklich nicht aus, da musste Mark ihm zustimmen.

„Ist ja gut, reg dich nicht auf. Du kannst schon mal vorgehen, ich komme sofort nach.“

Jannis nickte nur, drehte sich um und schlenderte ganz langsam aus dem Büro. ‚Wenn er in dem Tempo die Treppe bis zum Büro von Linkmann hochgeht, komme ich wahrscheinlich noch vor ihm an‘, dachte Mark. Er nahm seinen nassen Socken von der Schreibtischkante und schlüpfte widerwillig hinein. Die Nässe war noch nicht einmal das Schlimmste, fand Mark, viel unangenehmer war die eisige Kälte des Sockens. Seinen Schuh konnte er nur mit Gewalt anziehen, so sehr klebte alles von der Nässe. Schließlich hatte er es dann aber doch irgendwie geschafft und machte sich auf den Weg zu Linkmanns Büro, das im zweiten Stock lag.

Klaas Rittemeyer hatte in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch Nachtdienst im Polizeipräsidium gehabt. Es war eine ruhige, fast langweilig Nacht. Immer wieder schlief er vor Müdigkeit fast mit dem Kopf auf dem Tisch ein. Vielleicht war er tatsächlich mal kurz eingenickt, zumindest hörte er etwa um halb sechs Uhr morgens, kurz vor Dienstschluss, die Schelle der Eingangstür unangenehm summen. Er rieb sich verschlafen die Augen und betätigte den Schalter, der die Tür öffnete. Nur Sekunden später stand ein völlig zerzauster und ebenso übernächtigter Mann wie er vor seinem Schreibtisch. Als er nichts sagte und ihn nur erwartungsvoll anschwieg, begann Klaas:

„Hallo, was kann ich für Sie tun?“ Er stand auf und reichte ihm die Hand.

„Hallo“, entgegnete der Mann und schlug ein. Eine leichte Alkoholfahne wehte dem Polizisten entgegen. Dessen Hände waren kalt und feucht.

„Geht es Ihnen gut, möchten Sie etwas melden?“, fragte der Polizist weiter.

„Meine Frau und meine Tochter sind weg.“ Der Mann sprach abgehackt und klang verwirrt. Gespannt richtete sich Klaas Rittemeyer auf und musterte ihn.

„Was ist mit ihrer Frau und ihrer Tochter passiert?“

„Ich weiß es nicht.“

„Können Sie mir bitte Ihren Namen sagen?“

„Neele“, antwortete der Mann. Mit den Händen tastete der Polizist seinen Schreibtisch nach Blatt und Papier ab ohne den Blick von dem Mann vor ihm abzulassen.

„Wer ist Neele?“

„Meine Tochter“

„Und wie heißen Sie?“

„Ich? Ach so, ich heiße Bernd Eisenhof.“ Klaas Rittemeyer machte sich eifrig Notizen.

„Wo sind Ihre Frau und Ihre Tochter jetzt, Herr Eisenhof?“

„Weg“, sagte er nur.

„Sie meinen, Sie wissen nicht, wo sie sich befinden? Wollen Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben?“

„Ja.“ Bernd Eisenhofs Worte waren klar und deutlich, aber doch so schwach.

„Wie heißt Ihre Frau?“, fragte der Polizist weiter.

„Bettina“

„Sie vermissen also Ihre Frau Bettina Eisenhof und Ihre Tochter Neele Eisenhof, habe ich Sie richtig verstanden?“

„Ja.“ Mehr als ein Wort schien der verwirrte Mann nicht hervorbringen zu können.

„Wann haben Sie Ihre Frau und Ihre Tochter zuletzt gesehen?“

„Gestern Morgen.“

„Sie glauben nicht, dass Ihre Frau und Ihre Tochter jemanden besuchen? Oder sind sie vielleicht irgendwo anders hingefahren, wovon sie Ihnen nicht erzählt haben?“

„Nein.“ Das klang sehr bestimmt und überzeugt.

„Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“

„Ich habe überall angerufen: Bei Bekannten, der Verwandtschaft… nichts!“

„Besitzt Ihre Frau oder Ihre Tochter ein Handy?“

„Meine Frau hat ihr Handy nicht mit.“ Es kehrte eine kurze Stille ein, in der Klaas Rittemeyer alles aufschrieb, was der Mann gesagt hatte. Bernd Eisenhof war es, der schließlich wieder das Wort ergriff: „Herr Polizist…“, begann er vorsichtig. In seiner Stimme schwang beklemmende Angst aufgrund einer noch unbestimmten, aber düsteren Vorahnung.

„Ja?“, antwortete der Beamte gespannt und sah zu ihm auf.

„Sie wurden entführt“, flüsterte Eisenhof langsam, sodass Klaas kurz die Luft wegblieb.

„Wie kommen Sie darauf, Herr Eisenhof? Wurden Sie bedroht? Haben Sie eine Nachricht bekommen?“

„Nein“, sagte er wieder nur.

„Wieso glauben Sie dann, dass man Ihre Familie entführt hat?“

Bernd Eisenhof hatte kurz überlegt, sich geräuspert und geantwortet: „Als sie das Haus verließen, haben sie keine Schuhe angezogen.“

Mark stutzte ein wenig, als er das zweiseitige Protokoll durchlas, das Linkmann ihm vorlegte. Der Verfasser war Klaas Rittemeyer von der Streifenpolizei, ein guter Kumpel von Mark. Es handelte sich bei dem Protokoll um eine seltsame Vermisstenanzeige, die Klaas in den frühen Morgenstunden am Ende seiner Schicht im Präsidium entgegengenommen hatte. Bei der Begründung des Meldenden, weshalb es sich um eine Entführung handle, zog er erstaunt die Augenbrauen hoch. „Als sie das Haus verließen, haben sie keine Schuhe angezogen?“

Er blickte zu seinem Chef auf, der nur mit den Schultern zuckte. Das hörte sich ja an wie bei einem Detektivspiel für Kinder, fand Mark. Er sah wieder auf das Blatt Papier und las den Text erneut, bevor er es Jannis reichte, der mit verschränkten Armen neben ihm saß. Seine hässliche Kappe hatte er zum Ärgernis des Chefs bis tief in die Augen gezogen. Mark bemerkte, wie Linkmann Jannis immer wieder abwertende Blicke zuwarf. Der Chef konnte es nicht leiden, wenn in seinem Polizeiquartier solch schlechtes Benehmen an den Tag gelegt wurde. Trotzdem regte er sich schon seit langem nicht mehr darüber auf; seine Frau verbot ihm das, es war schlecht für seine Nerven.

„Herr Tortowski, ich beauftrage Sie mit dem vorliegenden Fall“, meinte Linkmann, als er seine Blicke von Jannis losgelöst hatte. Mark nickte nur.

„Sind Sie sich sicher, dass das ernst zu nehmen ist?“, schaltete sich Jannis von der Seite ein und warf das Protokoll schwungvoll über den Tisch, sodass es direkt vor Linkmanns Nase landete.

„Nein, bin ich nicht, aber ich kann auch nicht garantieren, dass es nicht ernst zu nehmen ist, Herr Kernbetz!“, keifte Linkmann ihn energisch an.

„Ruhig, Chef“, meinte Jannis gelassen und hob abwehrend die Hand. Linkmanns Gesicht hatte bereits eine leicht rötliche Färbung angenommen.

„Wir werden uns natürlich darum kümmern“, betonte Mark, um die Situation etwas zu entschärfen.

Linkmann atmete tief ein und aus. „Ja, danke“, meinte er, seinen Kopf wieder zu Mark gewandt. „Wenn Sie kompetente Hilfe benötigen, sagen Sie mir bitte Bescheid.“ Der Seitenhieb ging eindeutig gegen Jannis, doch der störte sich nicht daran.

„Danke, aber mit Jannis habe ich wirklich Hilfe genug. Der ist auch durch zwei andere Mitarbeiter nicht zu ersetzen“, erklärte Mark, um ein gutes Wort für seinen Kollegen einzulegen. Ganz nebenbei klopfte er Jannis wohlwollend auf die Schulter. Letzteres hatte zur Folge, dass ihm sein junger Kollege warnend einen eindringlichen Blick zuwarf. Er hatte es gar nicht gerne, wenn man ihn anfasste – zumindest nicht, wenn Mann ihn anfasste…

Als sie Linkmanns Büro wieder verlassen hatten, beschloss Mark zunächst, in das Dorf Rhode, das nicht weit von Olpe entfernt lag, zu fahren, um den Anrufer Bernd Eisenhof persönlich zu besuchen. Er schnappte sich die Wagenschlüssel, die zu dem Streifenwagen der Kripo gehörten. Ein normaler Streifenwagen war das natürlich nicht, sondern einen unauffällig wirkender schlichter, dunkelgrauer Ford. Die Kripo wollte schließlich nicht immer gleich erkannt werden.

Eilig spurtete Mark durch den Regen über den Hinterhof zu dem Parkplatz hinter dem Gebäude bis zum Auto. Seinen Regenschirm hatte er ärgerlicherweise oben im Büro liegen gelassen. Am Auto angelangt, sprang er auf den Fahrersitz und ließ die Tür zuknallen. Bevor er losfuhr richtete er kurz seine durchnässte Frisur im Rückspiegel und drehte die Heizung voll auf. Insgeheim hegte er die Hoffnung, sein triefend nasser Schuh würde dadurch trocken werden, was aufgrund der kurzen Fahrtdauer natürlich nicht möglich war. Aber hoffen konnte man ja trotzdem…

2

Laras Fall, bei dem eine 65-jährige Fußgängerin bei einem Autounfall angefahren worden war und schwere Verletzungen erlitt, stand kurz vor der Aufklärung. Zusammen mit zwei Kollegen hatte sie nach harter Arbeit den flüchtigen Fahrer des Unfallautos identifiziert. Er hieß Sascha Mert und war 23 Jahre alt. Ihre beiden Kollegen waren losgefahren, um ihn aufzusuchen und ins Präsidium zu bringen. Währenddessen saß Lara im Büro und dachte nach. Die verunglückte Frau hieß Greta Viedenz. Sie war pensionierte Realschullehrerin und wohnte in Olpe. Der Unfall lag jetzt sechs Tage zurück. Sie hatte einen Zebrastreifen überqueren wollen, als das Auto sie erfasste und anschließend in hohem Bogen durch die Luft schleuderte. Ihre Verletzungen waren dementsprechend schlimm gewesen, doch der Fahrer des Autos war, statt Erste Hilfe zu leisten, einfach davongefahren. Ein Passant war es dann gewesen, der den Notarzt gerufen hatte.

Im Krankenhaus hatte man sie operiert und auf die Intensivstation gebracht. Lara sprach am folgenden Tag persönlich mit dem Chefarzt, der ihr den kritischen Zustand der Patientin offenbarte. Greta Viedenz hatte trotz aller Zweifel dennoch die erste Nacht überlebt, dann die zweite und die dritte. Ihr Zustand hatte sich verbessert und nach drei Tagen teilte man Lara mit, die Patientin sei stabil. Was dann vor zwei Tagen passiert war, hielt Lara zunächst für einen schlechten Scherz: Greta Viedenz war um 15:12 Uhr im Krankenhaus infolge ihrer Verletzungen gestorben. Laut dem Arzt waren solche Rückfälle von eigentlich stabilen Patienten durchaus keine Seltenheit. Durch starke innere Blutungen habe sich der Zustand der Patientin dramatisch verschlechtert. Die Versuche der Notärzte, sie zu retten und wiederzubeleben, scheiterten.

Noch immer beschäftigte Lara, wie es auf einmal zu den inneren Blutungen hatte kommen können. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Vielleicht war es gar nicht so eingetreten, wie der Arzt es sagte. Konnte ihr Tod auch fremdverschuldet sein? Auf diese Spekulationen hatte der Arzt ihr im Gespräch vor zwei Tagen nur geantwortet: „Grundsätzlich ausschließen lässt sich Fremdverschulden durch Unachtsamkeit nicht. Falls Sie denken, dass irgendjemand absichtlich nachgeholfen hat, so kann ich Ihnen bestätigen, dass wir weder biologische Hinweise hierzu entdeckt haben, noch wurden seltsame Vorgänge im Zimmer oder auf der Station beobachtet.“

Lara blickte auf die Uhr; gleich halb zehn. Ihre Kollegen waren noch immer nicht mit Sascha Mert zurück. Seufzend legte Lara ihren Kopf in beide Hände und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch. Der Fall bereitete ihr Kummer. Selbst wenn sie den flüchtigen Fahrer schnappten und ihn der Fahrerflucht oder sogar des fahrlässigen Mordes anklagten, würde sie die Sache nicht einfach fallenlassen können. Die Tatsache, dass Greta Viedenz, nachdem sie angefahren worden war, überlebte und erst dann starb, als ihre Lage als stabil galt, ließ ihr keine Ruhe. Auch gab es bislang keine Erklärung dafür, weshalb der Fahrer des Unfallwagens, Sascha Mert, die Frau verletzt auf der Straße liegen ließ und geflohen war. Hatte er im Affekt gehandelt oder… hatte er vielleicht von Anfang an den Tod der ehemaligen Realschullehrerin beabsichtigt?

Lara wurde aus ihren Gedanken gerissen, als einer der Kollegen hereinplatzte und ihr mitteilte, dass sich Sascha Mert nun im Verhörraum befand.

Es war 9:45 Uhr, als Mark das Zivilfahrzeug vor dem Haus der Eisenhofs in der Vogelrute parkte. Die Straße war eine Sackgasse und das Haus befand sich ziemlich weit an deren Ende. Er registrierte ein recht großes Einfamilienhaus, das gepflegt und modern aussah. Vor dem Haus befand sich ein kleines Beet mit Stiefmütterchen und Narzissen. Ein etwa drei Meter langer, schmaler Weg aus Kopfsteinpflaster führte vom Bürgersteig zur Haustür. Rechts neben dem Haus befand sich eine geschlossene Garage.

Mark ging den kurzen Weg entlang zur Haustür und klingelte, als er dort angelangt war. Während er wartete, dass ihm geöffnet wurde, bewegte er unbehaglich die Zehen seines rechten Fußes im Schuh auf und ab. Trotz der warmen Heizung im Auto war sein Fuß kein bisschen trocken geworden. Im Gegenteil: Durch die Wärme im Auto fühlte sich sein Fuß jetzt draußen an der frischen Luft nur noch kälter an. ‚Blöde Pfütze aber auch’, dachte er, als ihm gerade die Tür geöffnet wurde. Der Mann, der vor ihm stand, sah blass und erschöpft aus.

„Guten Morgen, Herr Eisenhof. Ich bin Mark Tortowski von der Kripo Olpe.“ Mark kramte in der Brusttasche seines Hemdes nach seinem Polizeiausweis. Als er ihn gegriffen hatte und hervorzog, rutschte er ihm aus der Hand und fiel ihm vor die Füße. Gott sei Dank stand er unter dem Vordach des Hauses, der Ausweis blieb trocken und unversehrt.

„Hoppla“, meinte Mark und hob den Ausweis wieder auf, um ihn anschließend dem etwas perplex guckenden Bernd Eisenhof vor die Augen zu halten.

„Jaja, ist gut. Kommen Sie rein“, seufzte der nur und trat beiseite, um den Kriminalbeamten vorbei zu lassen.

Durch einen schmalen, aber einladend wirkenden Flur führte Eisenhof ihn ins Wohnzimmer des Hauses und bat ihn, auf einem der dunkelroten Sessel Platz zu nehmen.

„Kaffee?“, fragte er.

„Gerne“, antwortete Mark und wartete, bis Eisenhof in der Küche verschwunden war. Dann stand er auf und schaute sich ein bisschen in dem Raum um, in dem er sich befand. An der Wand gegenüber dem Sofa stand ein Flachbildfernseher mittlerer Größe auf einem kleinen Regal. Auf weiteren Regalen entdeckte er neben CDs und Büchern Bilder der Familie. Ein Hochzeitsfoto; da sah der Gute aber sportlicher aus als heute, stellte Mark still fest. Seine Frau, Bettina, trug auf dem Bild ein schlichtes, weißes Kleid und hatte die Haare aufwändig zusammengesteckt.

Ein anderes Foto zeigte das Porträt eines älteren Mannes. Vermutlich ein Verwandter. Weiter links im Regal entdeckte Mark das Foto eines kleinen Mädchens, das freudig in die Kamera grinste. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dieses Mädchen die Tochter des Ehepaars: Neele. Er schätzte ihr Alter auf dem Foto auf etwa sechs Jahre. Auf einem vierten Foto, waren alle drei Familienmitglieder gemeinsam zu sehen. Es war deutlich zu erkennen, dass dieses Bild etwas neuer war als das vorige, denn Neele war auf diesem Bild bestimmt zwei Jahre älter.

Bernd Eisenhof kehrte mit zwei Tassen Kaffee in der Hand zurück ins Wohnzimmer. Mark trat vom Regal zurück und nahm eine der Tassen an, die Eisenhof ihm entgegenhielt.

„Dankeschön.“ Er blieb stehen und nippte vorsichtig an dem heißen Kaffee. Mit seinen Händen umschloss er die Tasse, um sich zu wärmen. Trotz der angenehmen Luft im Wohnzimmer fror er nämlich aufgrund seines nassen Fußes noch immer.

„Sie sagen also, Ihre Frau und Ihre Tochter seien verschwunden“, begann er.

Eisenhof nickte. Mark drehte sich erneut zum Regal um und deutete auf das vierte Foto im Regal. „Sind das die beiden?“

„Ja. Das Foto ist aus dem Sommerurlaub von letztem Jahr.“

„Wie alt ist Neele jetzt? Ihre Tochter heißt doch Neele, nicht wahr?“

„Sie ist neun“, erwiderte Eisenhof nur. Sein Blick war starr auf das Urlaubsfoto gerichtet, er wirkte abwesend.

„Sie sagten am Telefon, Ihre Frau und Ihre Tochter seien entführt worden. Können Sie mir erklären, wie Sie zu dieser Annahme kommen?“

Eisenhof nickte wieder, ging dann einen Schritt zurück und setzte sich auf das Sofa. Mark tat es ihm gleich und setzte sich auf den Sessel neben ihm.

„Also, das war so…“, begann er und erzählte dem Kommissar dann detailliert, wie er von der Arbeit nach Hause gekommen war und bei Einbruch der Nacht mit Verwandten und Freunden telefoniert hatte in der Hoffnung herauszufinden, wo Bettina und Neele steckten.

„Okay, Sie kommen also zu der Annahme die beiden seien entführt worden, weil sie niemanden erreichen konnten, der Ihnen sagen konnte, wo sich die beiden befinden?“, vergewisserte sich Mark. Diese Argumentation erschien ihm etwas suspekt.

„Naja, nicht ganz“, meinte Eisenhof. „Eigentlich habe ich mehrere Anhaltspunkte dafür. Erstens:“, er hob seine Hand und streckte den Daumen in die Luft, „meine Frau wollte gestern von zu Hause arbeiten. Sie wollte am Computer ein paar Daten verarbeiten, hatte sie gesagt. Das macht sie öfter. Deswegen war sie also gestern Morgen nicht im Büro, sondern zu Hause. Meistens kocht sie dann mittags etwas. Ich habe auch ein paar Erbsen auf der Spüle gefunden. Auf dem Herd stand ein Kochtopf mit Wasser darin, daneben lagen ein paar geschälte Kartoffeln. Alles sah danach aus, als wurde sie während des Kochens plötzlich unterbrochen.“

„Das ist in der Tat sehr merkwürdig“, bestätigte Mark.

„Zweitens:“, er hob den Zeigefinger, „ich habe den Schuhschrank durchsucht und festgestellt, dass kein Paar Schuhe der beiden fehlt. Sie müssen also barfuß das Haus verlassen haben.“

Mark erinnerte sich, dass Eisenhof diese Aussage bereits am Morgen im Präsidium so gemacht hatte. Seltsame Art nach Vermissten zu suchen, fand er. Trotzdem, in sich schien es durchaus schlüssig, was ihm der Mann erzählte.

„Und Drittens:“, fuhr er fort und streckte zu Daumen und Zeigefinger auch noch den Mittelfinger, „ich habe die verpassten Anrufe des vergangenen Tages durchgesehen und festgestellt, dass eine Freundin von Neele, sie heißt Marieke Wintersohl, dreimal versucht hat Neele zu erreichen. Ich habe die Eltern abends zurückgerufen. Sie sagten Marieke hätte sich für nachmittags mit Neele zum Spielen verabredet, doch sie sei nicht gekommen.“

Mark hatte mittlerweile seinen Notizblock gezückt und eifrig mitgeschrieben. Er hoffte im Stillen, dass all diese Fakten eine Reihe von Zufällen gewesen sein mochten, aber seine Erfahrung und Vernunft sagte ihm klar und deutlich: Hier stimmt etwas nicht!

„Marieke Wintersohl, sagten Sie. Könnten Sie mir vielleicht eine Adresse oder Telefonnummer des Mädchens nennen?“ Bernd Eisenhof nickte und diktierte ihm beides.

Mark nahm noch einen Schluck Kaffee und fuhr fort: „Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie – falls es sich hier wirklich um eine Entführung handeln sollte, was wir in diesem Moment weder bestätigt sehen noch ausschließen wollen – noch kein Zeichen eines Täters bekommen haben? Etwa einen Brief oder Anruf?“

„Nein, habe ich nicht.“

„Also keine Drohungen“, murmelte Mark und trug dies ins Protokoll ein. „Hat Ihre Frau vielleicht mit irgendjemandem Probleme gehabt? Wurde sie bedroht?“

Eisenhof hielt kurz inne, dann stotterte er: „Nein… also doch… aber…“

„Aber?“, hakte Mark nach und hing gebannt an Eisenhofs Lippen.

„Meine Frau ist Chefin einer Abteilung der Kosmetikfirma ‚Slitter’. Vielleicht haben Sie schon mal etwas davon gehört?“ Mark schüttelte den Kopf. Mit Kosmetikartikeln hatte er als Mann glücklicherweise nicht viel am Hut.

„Zumindest hat meine Frau seit Wochen Drohbriefe in Form von E-Mails bekommen. Ich weiß nicht, wie viele Drohungen das waren, aber die letzte Mail kam vor drei Tagen.“

Mark zog die Augenbrauen hoch. „Aha, und was war der Anlass für diese Drohungen?“

Eisenhof zögerte: „Ich weiß nicht, ob es so klug ist, das auszuplaudern.“

„Nun sagen sie aber mal…! Wo nehmen Sie denn jetzt bitte noch die Ruhe her, darüber nachzudenken, was vielleicht richtig und falsch sein könnte der Polizei zu erzählen? Sie sind es doch, der behauptet, Ihre Frau und Ihre Tochter seien entführt worden, und da wollen Sie mir nicht verraten, von wem diese Drohung kam? So kann ich nicht arbeiten, Herr Eisenhof!“

Er zuckte kurz zusammen, von dem Polizisten war er sichtlich eingeschüchtert. Verlegen kratzte er sich am Kinn und erklärte: „Ja, okay, Sie haben Recht. Also, in der Firma meiner Frau werden Kosmetikprodukte hergestellt. Ich weiß nicht genau, was dran ist an den Gerüchten, aber man munkelt, dort würden Tierversuche durchgeführt werden. Ich glaube nicht, dass das stimmt, meine Frau ist schließlich kein Unmensch; aber einige Tierschützer scheinen das anders zu sehen.“

„Wer genau sind diese Tierschützer?“

„Es gibt da so eine Gruppe, die heißt ‚one-life’ oder so ähnlich. Der Anführer der Gruppe heißt glaube ich Meister, den Vornamen habe ich vergessen.“

„Und dieser Herr Meister hat Ihrer Frau Drohbriefe gesendet?“, folgerte Mark.

„Genau. Er beschuldigt meine Frau als Chefin der Abteilung dafür, solche angeblichen Tierversuche durchzuführen. Wenn Sie mich fragen, dann ist das alles Hirngespinst.“

Eisenhof versuchte fieberhaft kein schlechtes Bild seiner Frau entstehen zu lassen. Er schien ganz genau zu wissen, dass Gerüchte meist nicht aus dem Nichts entstanden.

„Existieren diese E-Mails noch, in denen Ihrer Frau gedroht worden ist?“, fragte Mark.

„Ich weiß nicht genau. Meine Frau hat mir von diesen Mails erzählt und mir auch zwei oder drei davon gezeigt. Sie war sehr erschüttert und hatte Angst vor dieser Gruppe.“

„Die Drohungen wurden an das E-Mailkonto Ihrer Frau gesendet?“, mutmaßte Mark und Eisenhof nickte. Nach weiterer Verständigung zwischen den beiden Männern, stand Eisenhof auf und holte den Laptop, der Bettina Eisenhof gehörte. Es dauerte eine Weile, bis Bernd Eisenhof das Passwort des E-Mailkontos seiner Frau erraten hatte. Nach etwa fünf Anläufen waren sie schließlich eingeloggt. Daraufhin durchforsteten die beiden das Postfach nach den E-Mails von diesem ominösen Herrn Meister. Unter den fast vierhundert E-Mails, die sie in dem Postfach angesammelt hatten, fanden sie jedoch keine einzige von ihm. Mark ließ sich von dieser Ernüchterung jedoch nicht unterkriegen – das war einfach nicht seine Art. Stattdessen kam er auf die clevere Idee, im Papierkorb nachzusehen. Tatsächlich wurden sie dort fündig. Zwar gab es dort nur noch eine E-Mail, die von einer Adresse namens <[email protected]> verschickt worden war, aber immerhin. Dass sie dort nicht, wie Eisenhof angedeutet hatte, mehrere E-Mails von ihm fanden, lag wahrscheinlich daran, dass sich die Mails im Papierkorb nach einigen Tagen selbst löschten. Mark forderte Eisenhof auf die E-Mail zurück ins Postfach zu kopieren und sie anschließend zu öffnen. Der Ton, in dem die E-Mail verfasst worden war, erstaunte Mark:

Hallo, Sie Satanistin,

glauben Sie nicht, dass niemand von all dem, was Sie dort in Ihrer dreckigen Firma tun, mitbekommt. Es erstaunt mich, dass Sie nach den E-Mails, die ich Ihnen bereits geschickt habe, noch immer kaltblütig weiter die Tiere schänden und morden. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, sind wir vor ein paar Tagen in Ihre Drecksfima eingebrochen und haben einen Großteil der Tiere befreit. Diese Tiere haben ein Recht zu leben! Die Tierversuche müssen gestoppt werden!

Ich weiß, dass sie seit unserem Eingriff erneut Tiere versklavt haben. Sollten Sie diese Tiere nicht bald wieder freilassen, dann schwöre ich Ihnen: Wir kommen wieder!

Wir werden für das Recht dieser Tiere kämpfen und nicht aufgeben, bis Sie und Ihre widerlichen Kollegen endlich zur Besinnung kommen.

V.M.

Mark blickte zu Eisenhof auf, der schockiert die Mail betrachtete. „Hat Ihre Frau das nicht angezeigt?“, fragte er. Eisenhof schüttelte den Kopf: „Sie meinte, sie hätte die Sache im Griff.“

„Dieser Vincent Meister legt es aber auch ganz schön drauf an. Ich an seiner Stelle hätte vielleicht wenigstens noch versucht das Ganze anonym zu machen.“

Eisenhof schreckte ein wenig zusammen und betrachtete Mark skeptisch.

„Also, ich meine natürlich, wenn ich so ein Gauner wäre. Aber das bin ich selbstverständlich nicht, sonst wäre ich ja nicht bei der Polizei.“

Eisenhof rümpfte die Nase und sah wieder zum Bildschirm.

„Ich habe folgenden Plan“, begann Mark und schaute Eisenhof ernst an. „Wenn Sie erlauben, würde ich den Laptop Ihrer Frau gerne mit auf das Präsidium nehmen, um die anderen E-Mails wiederherstellen zu lassen. In dem Fall, dass Sie eine Nachricht von Ihrer Frau, Ihrer Tochter oder dem vermeintlichen Entführer bekommen, rufen Sie mich bitte sofort an.“ Mark notierte seine Handynummer auf einer Fernsehzeitung, die auf dem Wohnzimmertisch lag.

„Irgendetwas auf eigene Faust zu unternehmen wäre idiotisch“, mahnte Mark zur Sicherheit noch. Er hatte schon genug von solchen Fällen erlebt, in denen die Angehörigen den Ermittlungen so sehr im Wege standen, dass es für die Polizei unmöglich gewesen war, den Opfern helfen zu können. Eisenhof schien jedoch zu verstehen.

„Ich werde alles Erdenkliche daran setzen, Ihre Frau und Ihre Tochter zu finden“, versicherte Mark, klemmte sich den Laptop unter den Arm und stand auf.

„Vielleicht ist alles auch nur ein Missverständnis und die beiden stehen gleich an der Tür.“

Aus ersichtlichen Gründen gelang es Mark nicht, Eisenhof damit aufzuheitern. Weder er noch Eisenhof glaubten zu diesem Zeitpunkt, dass es sich nach all den Indizien und den Drohbriefen lediglich um ein Missverständnis handeln konnte.

Zufälle nennt man die Ereignisse, deren Ursache man nicht kennt, wusste Mark. Er wollte die Ursachen herausfinden, deswegen war er schließlich Kommissar.

„Herr Mert, würden Sie jetzt bitte mal meine Fragen beantworten ohne mir ständig auszuweichen?“

Lara saß seit etwa einer halben Stunde im Verhör und so langsam platzte ihr der Kragen. Sascha Mert hatte zwar zugegeben, dass er Greta Viedenz mit dem Unfallwagen angefahren hatte, aber auf die Frage nach dem Grund für seine Fahrerflucht schwieg er vehement.

„Ich habe Zeit, Herr Mert, und ich werde Sie nicht gehen lassen, bis Sie mir diese Frage beantwortet haben: Warum sind Sie geflohen?“ Lara erhob sich vom Stuhl und beugte sich über den Tisch. Ihre Hände stützte sie auf die Tischplatte, während sie Mert eindringlich und zornig anstarrte. Er war 23, recht klein und wirkte zerbrechlich. Lara fand, er sah eher aus wie 16. „Geben Sie mir jetzt bitte eine Antwort“, drängte sie.

Sascha Mert zögerte, schien aber endlich bereit zu sein, etwas zu sagen. Vorsichtig öffnete er den Mund und murmelte eingeschüchtert: „Das war alles nur ein Versehen. Es ging so schnell und ich hatte Angst und dann bin ich gefahren.“

Lara seufzte. Was für ein Weichei, dachte sie. Aber was sollte sie tun? Vielleicht war er tatsächlich nur aus Angst geflohen. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und lehnte sich zurück. „Sie wissen aber schon, dass ein Unfall nicht strafbar ist?“

„Jaja, ich weiß, aber…“

„Aber Fahrerflucht schon“, unterbrach sie ihn. Er sah sie mit großen Augen an.

„Die Frau, die Sie angefahren haben, ist jetzt tot. Wissen Sie, was das bedeutet?“

Mert schüttelte vorsichtig den Kopf. Lara senkte die Stimme: „Das bedeutet, dass ich Sie bis hin zum fahrlässigen Mord oder Totschlag anklagen könnte.“

Der junge Mann vor ihr wurde noch blasser, als er sowieso schon war. Auf irgendeine Weise tat er ihr leid, so eingeschüchtert wie er da saß.