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Nachdem der Psychologiestudent Bernd von der Verlobung seiner heißgeliebten Ex-Freundin Ingrid erfährt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Seine Mitbewohner aus dem Studentenheim, Otto und Christian, sind dagegen frisch verliebt. Während sie mit ihren neuen Freundinnen eine Reise nach Thailand planen, stirbt Ingrids Verlobter unter mysteriösen Umständen bei einem Autounfall. War es wirklich nur ein Unfall? Kann Bernd seine Ingrid zurückgewinnen? Und welche Erlebnisse warten in Thailand auf die vier Freunde?
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Seitenzahl: 555
Veröffentlichungsjahr: 2020
Bernd schlitzte umständlich mit dem scharfen, gezackten Brotmesser den Brief auf, den er gerade unten im Parterre des Studentenwohnheims in seinem Briefkasten inmitten der überflüssigen Reklamesendungen entdeckt hatte. Er was ohne Absender in Schreibmaschinenschrift an ihn adressiert. Sein Inhalt fühlte sich steif an. Er zog neugierig eine gefaltete, mit einem aufgedruckten Blumendekor umrandete Karte heraus. Auf der Vorderseite waren zwei ineinander verschlungene, goldene Ringe zusammen mit einer dunkelroten Rose abgebildet. Er zögerte ein wenig und öffnete dann doch gespannt die Karte.
Wir haben uns verlobt,
Ingrid Knabl und Hans Sierwald.
Bruckmühl, den 30. Mai 1999.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, stieß er verstört aus. Seine Ingrid hatte sich mit einem Hans Sierwald verlobt. Er empfand ein dumpfes Gefühl ohnmächtiger Wut und tiefer Enttäuschung. Die Verlobungskarte entglitt seinen Händen. Er umfasste hart den Griff des Brotmessers. Regungslos stierte er durch das Fenster hinunter auf die belebte Einbahnstraße.
Geschäftiges Treiben, pulsierendes Leben rollte wie immer vor seinen Augen ab. Der Autostrom bahnte sich wieder mühsam seinen Weg zwischen parkenden Lieferantenfahrzeugen, die entladen und beladen wurden. Auf dem Trottoir vor den großen Auslagen der Geschäfte eilten Fußgänger oder standen und bestaunten die Fülle von zum Verkauf angebotenen Waren.
Bernd nahm weder den Straßenlärm noch sonst etwas wahr. Es war alles nicht mehr wirklich. Er blickte auf eine veränderte Welt. Sie war weit entfernt von ihm. Plötzlich hatte alles keinen Sinn mehr, sein Psychologiestudium, seine Hobbies, die Beziehungen zu seinen Freunden, zu seinen Eltern und zu seinem Bruder. Er spürte nur noch das Messer in seiner Hand.
Vor drei Wochen hatte er den letzten Kontakt mit seiner Ingrid gehabt.
„Du brauchst mich nicht mehr anzurufen! Ich will nichts mehr von dir wissen!“, hatte sie schrill und verärgert in das Telefon gerufen und dann abrupt den Telefonhörer aufgelegt.
Und er rief sie auch nicht mehr an. Er hatte ihr auch nicht mehr geschrieben und war auch nicht mehr zu ihr gefahren. So ging es dann drei erbärmliche Wochen lang. Jeden Tag hatte Bernd vergeblich auf einen Anruf von ihr gewartet, hatte gehofft, dass sie ihm ein paar versöhnliche Zeilen schreiben würde. Sie hätte ihn auch an den Wochenenden, wenn er daheim bei seinen Eltern war, besuchen können. Ihr Wohnort und seiner lagen nicht einmal zehn km auseinander.
„Diesmal bleibst du hart“, hatte er sich geschworen. „Lauf ihr nicht ständig wie ein Hündchen nach. Wenn ihr auch nur ein kleines Bisschen an deiner Person gelegen ist, wird sie auf dich zukommen!“
Und nun war das für ihn Unfassbare geschehen. Er spürte, wie sich seine Augen langsam mit Tränen füllten. Er schluchzte. War das das Ende?
Es klopfte aufdringlich an der Tür seiner Studentenbude.
„Bernd, bist du da?“
Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein schwarzhaariger Stiftenkopf, braungebrannt mit Nickelbrille, schielte neugierig ins Zimmer. Es war Christian. Er bewohnte das Zimmer nebenan. Bernd drehte sich nicht um.
„He, was ist los Bernd? Komme ich ungelegen? Bist wohl gerade beim Onanieren?“, spöttelte Christian.
Da erblickte er das Messer. „Oder störe ich dich beim Harakiri?“
Er ahmte das jämmerliche, letzte Quieken eines gerade abgestochenen Schweines nach.
Bernd drehte sich verlegen um. Er steckte das Messer zurück in die Schublade des grün lackieren Wandschrankes der kleinen Kochnische und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Tränen aus seinen dunklen Augen.
„Ingrid hat mit mir Schluss gemacht“, grinste er verstört.
Er ließ sich schwer auf das offene Klappbett mit der alten, quietschenden Matratze fallen und starrte auf die bunt bemalte Decke seines Ein-Zimmer-Studentenappartements.
Es war winzig, enthielt aber alles, um als Student überleben zu können: eine mit Geschirr vollgestopfte, enge Kochnische, eine Nasszelle mit Toilette und Dusche, einen geräumigen Einbauschrank, einen großen Schreibtisch voll mit Büchern und Skripten und einen kleinen Besuchertisch mit zwei wackeligen Stühlen. An der Wand über seinem Klappbett klebte ein Poster, das ein eng umschlungenes, nacktes Paar zeigte, das eine rot glühend ins Meer eintauchende Sonne unter südlichem Abendhimmel bestaunte. Man hörte aus dem Bild das leise Rauschen des Meeres und das Flüstern des warmen Windes, der behutsam über die ausladenden Palmblätter und über die entblößten Körper strich. Christian setzte sich auf einen der wackeligen Stühle verkehrt herum und stützte seine Arme auf die harte Rückenlehne.
Bernd war sein bester Freund. Er musste ihn wieder aufmöbeln.
„Das ist doch nicht das erste Mal, dass Ingrid mit dir Schluss macht. Mir ist überhaupt unerklärlich, was du an ihr findest. Sie spielt mit dir Katz und Maus, und du lässt dir alles gefallen.“
Natürlich wusste Christian, dass Ingrid etwas Besonderes war, mit ihrem blonden Lockenkopf, dem schönen Gesicht mit der zarten Nase und den großen, blauen Augen, mit der Figur eines Mannequins und ihrer bescheidenen, zurückhaltenden Art, wenn sie mit einem sprach. Bernd antwortete nicht.
„Du studierst doch Psychologie und nicht ich. Ich studiere nur Physik, da geht es lediglich um leblose Materie, um Beziehungen zwischen Kernteilchen und Elektronen.“
Christian war sehr betroffen. Sein Freund Bernd tat ihm wirklich leid. Da war der Bruch zwischen Bernd und Ingrid wohl nicht nur vorübergehend. Er verstand Ingrid nicht. Bernd war doch ein toller Kerl. Zu keinem fühlte er sich so hingezogen wie zu seinem Bernd. Bernd sah sportlich aus. Vielleicht war er ein bisschen zu ernst und zu sensibel und er psychologisierte zu viel. Bei anderen wusste er sofort warum und wieso, wenn etwas schief gegangen war, nur bei sich selbst nicht.
„Warum hat es denn zwischen dir und Ingrid nicht geklappt?“, fragte Christian vorsichtig.
Bernd atmete schwer. „Ich weiß es nicht“, wich er verlegen aus.
„Natürlich weißt du es. Ich bin doch dein bester Freund. Du musst dich mit jemanden aussprechen. Du darfst nicht alles in dich hineinfressen. Du selbst hast mir doch erzählt, wie wichtig es für einen Menschen in einer Krisensituation ist, jemanden zu haben, der einem geduldig zuhört, der einfühlsam ist, der Wärme und Verständnis ausstrahlt und der einem wirklich helfen will.“
„Ja doch“, wehrte Bernd ab. „Aber ich kann jetzt einfach nicht!“
Es klopfte. Der lange Otto, ebenfalls ein Bewohner des Studentenwohnheims, öffnete stürmisch die Tür.
„Hello, boys and girls, Puppen zum Poppen hupen beim Galoppen“, platzte er mit seinem üblichen, sinnigen Begrüßungsspruch ins Zimmer.
Er studierte Englisch und Französisch für das Lehramt am Gymnasium. „Bei euch ist es ja zappenduster. Habt ihr etwas zu verbergen?“
Er ahmte einen näselnden Oxford-Tonfall der High-Society nach. „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es bei heute Abend bleibt.“
„Natürlich“, antwortete Christian. „Du kommst doch auch mit, Bernd, oder?“
Bernd nickte gequält.
„Ja, Bernd kommt auch mit. Wir treffen uns dann um neun Uhr in der Scotch Bar.“
„Stimmt irgendetwas zwischen euch zwei nicht?“, fragte Otto.
„Nein, es ist schon alles in Ordnung“, beschwichtigte Christian. „Bernd hat nur Liebeskummer.“
„Liebeskummer?“, rief Otto erstaunt aus. „Verdammt, Liebeskummer habe ich den ganzen Tag. Liebeskummer aus Liebeshunger!“
Er ahmte einen gierigen Gesichtsausdruck nach und schleckte mit der Zunge über seine Lippen. Otto war kein Adonis. Seine Devise lautete: Entscheidend ist nicht dein Aussehen sondern deine Ausstrahlung. Du musst gegenüber dem schwachen Geschlecht überzeugend wirken und dies gelingt dir vor allem über dem gehobenen sprachlichen Ausdruck! Um seiner weltmännischen These Nachdruck zu verleihen, hatte er dann immer einen passenden, im reichenbergischen Dialekt formulierten ironischen Spruch auf Lager. Seine Großeltern stammten aus Reichenberg.
„Reden, reden müsst’ ma können, da möcht’ ma ok a jedes Madel um die Ecke bringen.“
Diesmal verkniff er sich aber seinen flotten Spruch. „Mensch Bernd“, meinte er, „echter Liebeskummer lohnt nicht! Ich erzähle Euch einen süffisanten Witz, aber auf französisch wegen der Pointe, sonst wirkt er nicht: Savez vous la difference entre une fillette de huit ans et de 18 ans. La fillette de huit ans aime le chocolat, la fillette de 18 ans aime le choc au lit.“ (Kennen Sie den Unterschied zwischen einem achtährigen und einem achtzenjährigen Mädchen? Das achtjährige Mädchen liebt die Schokolade und das achtzehnjährige Mädchen den Stoß im Bett).
Christian lachte schallend. „Superbe!“, rief er.
Bernd lächelte nur gequält.
„Mensch Bernd, Du hattest doch auch Französisch im Leistungskurs in der Kollegstufe des Gymnasiums. Du musst doch die Pointe verstanden haben“, ereiferte sich Otto.
„Hat er auch“, verteidigte ihn Christian. „Aber du musst eben noch an deiner Aussprache arbeiten!“
Otto war wieder verschwunden.
„Mir ist gar nicht nach Weggehen zu Mute“, murmelte Bernd.
„Doch, du musst unter Leute. Enttäuschungen in der Liebe sind in unserem Alter lebensgefährlich. Außerdem, wer sagt denn, dass du Ingrid für immer verloren hast?“
Die Augen von Bernd leuchteten. Christian wusste sofort, dass er mit dem letzten Satz etwas Falsches gesagt hatte. Es war bestimmt nicht richtig, bei Bernd falsche Hoffnungen auf eine Versöhnung mit Ingrid zu wecken. Und Bernd griff auch in seiner Verzweiflung sofort nach dem Strohhalm.
„Glaubst du wirklich, dass es noch nichts Endgültiges ist?“
„Ich glaube, dass es für dein Seelenheil besser wäre, wenn du dir Ingrid aus dem Kopf schlagen würdest.“
Bernd grinste plötzlich verbittert. „Ich sehe direkt, wie sie vor meinen Augen aus meinem Kopf purzelt. Aber sie ist nicht in meinem Kopf, sondern in meinem Herzen.“ Er seufzte. „Ich muss sie mir herausschneiden. Ich weiß aber nicht, ob ich das überleben werde.“
„Ein guter Herzspezialist wird das schon schaffen“, meinte Christian. „Sitzt sie in der linken oder rechten Herzkammer? Mit einem Katheter über eine Vene hindurch kann man das schnell herausfinden.“
Sie fingen beide schallend zu lachen an.
„Das tut gut“, stöhnte Bernd erleichtert.
Jetzt saß Bernd wieder allein in seiner Studentenbude. Vor ihm türmten sich die Psychologiemanuskripte und -bücher in einem wüsten Durcheinander auf. Sonderlich ordentlich war er wirklich nicht, aber entscheidend war doch die geistige Ordnung der Welt in seinem Kopf. So zumindest rechtfertigte er seine Bequemlichkeit, einmal in seiner Bude richtig aufzuräumen. Bernd war schon im neunten Semester und schrieb gerade an seiner Diplomarbeit, die eine wichtige Hürde für die Zulassung zur Diplomabschlussprüfung für Psychologen war. Als Thema seiner Arbeit hatte er sich eine empirische Untersuchung zur Aggression bei Schülern ausgewählt. Eigentlich war er ein sehr friedfertiger Typ und berichtete oder beobachtete Aggression von anderen löste bei ihm sehr leicht ein beklemmendes Unbehagen oder sogar Angstgefühle aus. Aber das Phänomen Aggression faszinierte ihn sehr.
Durch Zufall hatte er im amerikanischen Radiosender „Voice of America“, den er wegen seiner interessanten Informationssendungen sehr schätzte, von einem neuen Fragebogen „At risk for violence“ zur Gewalt bei Schülern erfahren, der in den USA in High Schools eingesetzt wurde, um gewaltbereite Schüler frühzeitig zu erkennen und ihnen präventiv Hilfe zu gewähren. Die Radiosendung hatte auf die unfassbaren Bluttaten in Springfield/Oregon und Littleton/Colodardo Bezug genommen, bei denen Schüler Schusswaffen in die Schulen mitgebracht und in einem Amoklauf Klassenkameraden und Lehrer getötet hatten.
In der Universitätsbibliothek hatte er schnell über das Internet die Adresse des Testinstituts herausgefunden, das den Fragebogen entwickelt hatte. Schon nach zwei Wochen war der angeforderte Fragebogen und ein Manual mit den Erläuterungen zur Handhabung und Auswertung des Tests in seinen Händen. Dr. Berghammer, der als Dozent am Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik arbeitete, war sofort an der Entwicklung und Erprobung einer deutschen Version des amerikanischen Fragebogens interessiert und willigte ein, die wissenschaftliche Betreuung seiner Facharbeit zu übernehmen. Bernd hatte sich vorgenommen, heute mit der genauen schriftlichen Übersetzung des Fragebogens zu beginnen. Das Manual und die Testfragen hatte er schon einmal gründlich gelesen. Seine Englischkenntnisse waren nicht schlecht. Im Abitur hatte er Englisch mit sehr gut abgeschlossen. Natürlich hatte er im Lexikon öfters die deutsche Bedeutung von aufgetretenen Fachbegriffen nachlesen müssen, aber er hatte alles verstanden. Er wusste jetzt, worum es bei den Fragen ging. Es faszinierte ihn, wie der Autor „Anfälligkeit für Gewalt“ – so übersetzte Bernd den amerikanischen Titel des Tests „At risk for violence“ – mit seinen 68 Fragen erfasste.
Das Phänomen Aggression bei Schülern hatte der Autor nach zwölf Kategorien geordnet und dazu entsprechend Fragen, eigentlich waren es Statements, gestellt. Zur Beantwortung dieser Statements standen den Testpersonen immer vier Antwortmöglichkeiten zum Ankreuzen zur Verfügung. Sie liefen von „ich lehne sehr ab“ bis „ich stimme sehr zu“. Den Antwortmöglichkeiten waren Zahlen von eins bis vier zugeordnet. Die Psychologen nannten das Codierung. Bei jeder Frage bekam eine Testperson mit ihrer Antwort einen bestimmten Zahlenwert. Ein hoher, addierter Gesamtwert über alle Fragen signalisierte dann hohe Gewaltbereitschaft der betreffenden Person.
Die brisanteste Kategorie lautete „Befürwortung von Mord und Totschlag“. Die Statements dazu gingen einem unter die Haut, und Bernd konnte sich gar nicht vorstellen, dass Schüler bereit waren, ihre innersten Gefühle und Einstellungen durch ihr Ankreuzen zu offenbaren. Das Statement Nr. 40 lautete „Ich denke, es würde mir Spaß machen, jemanden, auf den ich wütend bin, zu erschießen.“ Das Statement Nr. 44 besagte: „Es würde mir Spaß machen, einen Plan zu erstellen, wie ich jemanden umbringen könnte.“
Als Bernd die acht Statements dieser Kategorie das erste Mal gelesen hatte, hatte er nur ungläubig und innerlich aufgewühlt den Kopf geschüttelt. Wie konnte man Schüler nur mit solchen menschenverachtenden Aussagen konfrontieren und ihre Zustimmung dazu überprüfen. Er hatte sich gefragt, ob es ethisch zu rechtfertigen war, dass sich Schüler im Alter zwischen 10 und 18 Jahren mit solchen gemeinen Aussagen auseinandersetzen sollten. So hatte er sich auch überlegt, ob er sich nicht ein anderes Thema für seine Diplomarbeit suchen sollte. Und nun saß er da am Schreibtisch und stierte verloren auf den Fragebogen, den er in gutes Deutsch übersetzen sollte, und war nicht mehr in der Lage, angemessen verständliche, deutsche Aussagen zu formulieren.
Immer wieder fiel sein Blick auf die Verlobungskarte mit dem unheilvollen Text „Wir haben uns verlobt, Ingrid Knabl und Hans Sierwald. Bruckmühl, den 30. Mai 1999“. Ein Gefühl von Verzweiflung und Wut erfasste ihn aufs Neue. Seine Hände fingen leicht zu zittern an. Wer war sein Nebenbuhler, dieser Hans Sierwald? Warum hatte er Erfolg bei seiner geliebten Ingrid? Wie hatten sie sich kennengelernt?
„The winner takes it all, the looser standing small.“
Die Melodie eines bekannten Songs drängte sich ihm auf. Diese dumpfen Hassgefühle auf jemanden hatte er noch nie verspürt. Der Frust saß tief.
„Ich bring ihn um“, murmelte er.
Und plötzlich sah er das Phänomen Aggression mit ganz anderen Augen. Diese unkontrollierten, zerstörerischen Gefühle, die er empfand, machten ihm Angst. Er schrie seine Verzweiflung halblaut heraus: „Ich liebe dich doch, Ingrid!“
Auf das leere Blatt Papier, das er vor sich liegen hatte, zeichnete er mit dem Kuli grob die Umrisse eines unbekannten Männergesichtes mit grinsendem Gesichtsausdruck. Er stand ruckartig auf, heftete das Papier mit einem Reißzwecken an seine Dartscheibe an der Wand und schleuderte mit großer Wucht seine drei Dartpfeile auf das Gesicht.
„Du Hund!“, schrie er und riss das Papier wieder herunter. „Ich liebe dich doch, Ingrid!“, rief er noch einmal laut und ließ sich dann sichtlich verstört und beunruhigt über sein ungewöhnliches Verhalten auf sein Bett fallen.
Am Abend saßen die drei Freunde Bernd, Christian und Otto wie verabredet in der Scotch Bar, einer rauchigen Studentenkneipe mit schummrigem Licht und leiser Instrumentalmusik im Hintergrund. Die Barhocker an der langen Theke und die Tischgruppen waren schon alle gut besetzt. Der vierte Stuhl an ihrem Tisch blieb nicht lange leer. Eine hübsche Brünette mit langen Haaren, eng anliegender, violetter Bluse und schwarzer glänzender Lackhose hatte, als sie aus der Toilette an ihrem Tisch vorbeikam, Christian mit „Hallöchen“ begrüßt. Es war eine Kommilitonin aus seinem Semester, die ebenfalls wie er Physik studierte.
Otto schnalzte mit. der Zunge. „Toujour a votre service“, baggerte er Manuela an.
„Qui vivra, verra“, antwortete sie gekonnt.
„Hast du dir auch den Leistungskurs Französisch am Gymnasium reingezogen?“, fragte Otto.
„So ist es, mon amour“, lächelte sie Otto freundlich an.
„Das sind meine Freunde Bernd und Otto aus meinem Studentenwohnheim“, stellte Christian Manuela seine Wohnheimmitbewohner vor. „Otto studiert Englisch und Französisch im sechsten und Bernd Psychologie im neunten Semester. Er ist schon kurz vor dem Abschluss und Manuela studiert mit mir die spezielle Relativitätstheorie von Einstein.“
„Relativitätstheorie kenne ich“, bemerkte Otto. „Zwei Sekunden mit dem nackten Po auf einer heißen Ofenplatte dauern länger als zwei Stunden mit einem hübschen Mädchen auf einer lauschigen Parkbank!“
„Sehr witzig“, bemerkte Manuela belustigt und strich sich mit der Hand geziert über ihr glänzendes Haar. „Das hat wohl eher etwas mit Psychologie und Sinnesphysiologie zu tun als mit Physik, oder?“, wandte sie sich an Bernd.
Bernd wirkte noch immer sehr niedergeschlagen. Die Frage berührte aber unmittelbar seine psychologische Fachkompetenz und ließ ihn seine treulose Ingrid vergessen. „Du hast Recht, Manuela“, erwiderte er. „Und hier werden auch zwei unterschiedliche Phänomenkategorien angesprochen. Zum einen geht es um Schmerzwahrnehmung und zum anderen um das sog. Flow-Erleben. Bei der Schmerzwahrnehmung von Hitze, d.h. Temperaturreizen von extrem hoher Intensität, gibt es über die Zeit hinweg keine Adaptation, das bedeutet Gewöhnung, an das Schmerzgefühl. Der Schmerz ist unerträglich und Sekunden werden daher zur Ewigkeit. Beim Flow-Erleben geht man in einer Sache völlig auf. Man vergisst alles um einen herum, und die Zeit scheint still zu stehen.“
„So stelle ich mir die wahre Liebe vor“, seufzte Manuela.
Otto war bewegt von Manuelas schmachtender Äußerung. „Auf Manuela würde ich voll abfahren“, dachte er.
„Bei uns in der Physik bedeutet aber Relativität etwas ganz anderes“, bemerkte Manuela wieder ganz trocken.
„Was denn genau?“, fragte Bernd.
„Wie soll man denn das einem Laien erklären, das ist schwer, nicht wahr, Christian?“
Christian nickte. „Weißt du, die spezielle Relativitätstheorie von Einstein baut auf dem Prinzip von der Konstanz der Vakuumgeschwindigkeit des Lichtes auf. Das hat ein Physiker namens Michelson im Jahre 1881 in Potsdam in ausgeklügelten Experimenten festgestellt. Normalerweise überlagern sich die Geschwindigkeiten von Körpern. Wenn du in einem Fluss mit einer bestimmten Strömungsgeschwindigkeit schwimmst, dann addiert sich deine Geschwindigkeit zu der Geschwindigkeit des Wassers und du bewegst dich für einen Beobachter am Ufer schneller und langsamer, wenn du gegen die Strömung schwimmst. Beim Michelsonversuch wird die Geschwindigkeit eines Lichtsignals gemessen und zwar zum einen in Richtung der Bahnbewegung der Erde um die Sonne und zum anderen entgegengesetzt dazu. In Richtung der Erdbewegung müsste die Geschwindigkeit des Lichtsignals größer sein als entgegengesetzt dazu, da sich die Geschwindigkeit der Erde zu der des Lichtsignals addiert. Ist sie aber nicht!“
Bis jetzt hatten Bernd und Otto alles verstanden. „Und wie geht es weiter?“, fragte Bernd.
„Jetzt wird es kompliziert“, sagte Christian.
„Leider“, nickte Manuela zustimmend. „Jetzt kommt ein komplizierter mathematischer Formelapparat ins Spiel. Er nennt sich Lorentz-Transformation. Interessant sind aber die Folgerungen aus dieser Lorentz-Transformation.“
„Und die wären?“, fragte Otto interessiert.
„Einmal, es gibt überhaupt keine größere Geschwindigkeit als die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit.“
„Ist ja überwältigend!“, grinste Otto frech.
„Okay“, sagte Manuela, „aber das Zwillingsparadoxon wird euch interessieren. Von zwei Zwillingsbrüdern namens Anton und Bruno startet der Anton auf einer Rakete zu einem Stern, der 40 Lichtjahre entfernt sein soll, während Bruno auf der Erde zurück bleibt. Sagen wir, die Rakete fliegt mit 80 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Nehmen wir jetzt mal an, für den Zwilling Bruno auf der Erde sind 100 Jahre vergangen, bis die Rakete mit dem Anton wieder landet. Dann zeigt die Uhr von Anton nur 60 Jahre an, d.h. er ist 40 Jahre jünger geblieben.“
„Und das ergibt sich aus der speziellen Relativitätstheorie von Einstein?“, fragte Bernd ungläubig.
„Klar doch“, meinte Manuela triumphierend.
„Wahnsinn!“, rief Otto und schüttelte den Kopf. „Ich baue mir eine Rakete und haue ab zum nächsten Fixstern, zur Venus. Und wenn ich zurück komme, seid ihr schon so alt wie Methusalem, Grufties.“
„Die Venus ist kein Fixstern sondern ein Planet unseres Sonnensystems“, unterbrach ihn Manuela.
„Egal“, erwiderte Otto. „Und wie lauten die anderen interessanten Folgerungen aus der Einsteinschen Relativitätstheorie?“
„Das würde jetzt zu weit gehen. Ich würde sagen, das ist hier nicht der richtige Rahmen. Aber komm doch mal zu mir nach Hause.“
Otto war sofort Feuer und Flamme. In der Kollegstufe am Gymnasium hatte Otto aber Physik abgelegt. Alles was nach Mathematik roch, hasste er wie die Pest. Er war ein Sprachen-Fan. Darum studierte er auch Englisch und Französisch für das Lehramt am Gymnasium und das machte ihm auch großen Spaß. Aber die Gelegenheit konnte er sich nicht entgehen lassen. Ein Date bei Manuela zu Hause, das war vielversprechend. Sie vereinbarten einen Termin. Bernd und Christian sahen sich vielsagend an.
Am Wochenende war Christian wie immer nach Hause zu seinen Eltern nach Ebersberg gefahren. Ebersberg war eine kleine Stadt, eher ein Marktflecken, mit großer Tradition, mit einem alten Rathaus und einer wunderschönen Schlosskirche. Seine Eltern hatten sich vor zwei Jahren am Rande der Stadt in einem Neubaugebiet ein schmuckes Einfamilienhaus gebaut. Einen der Kellerräume hatte Christian mit schalldichten Dämmplatten verkleidet. Und dort übte er jeden Freitagabend mit seiner Band. Christian spielte Schlagzeug, Jochen bediente virtuos das Keyboard, Hans zupfte gefühlvoll die Hawaiigitarre und Vera trällerte die amerikanischen Songs mit kräftiger, leicht rauchiger Stimme in das Mikrofon. Sie wirkte mondän und wand sich profimäßig wie eine Schlange zu den Rhythmen der Musik.
Am Samstagabend fanden die Auftritte der Band in irgendeiner der vielen Diskos in der Umgebung, meist in einem der Kuhdörfer rund um die kleine Stadt, statt. Wenn sie die Verstärker voll aufgedreht hatten und die Lichtorgel ihr Feuerwerk aufblitzen ließ und sie in ihren schwarzen Jeans und roten Hemden die schummrigen Diskoräume zum Zittern brachten, dann war schon der Teufel los. Vera präsentierte sich meist in einem schwarzen langen Abendkleid mit offenherzigem Dekolleté und ihre langen blonden Haare schlugen bei den rasanten Rhythmen wie der Schweif eines Pferdes um ihren hübschen Kopf. Die Band nannte sich „Die Unersättlichen“ und sie kam bei ihrem ländlichen Publikum, jungen Leuten ab 16 Jahren, sehr gut an.
Christian fungierte als Bandleader, war aber nicht nur für die finanziellen Angelegenheiten der Gruppe zuständig, sondern auch der technische Direktor der Band. Die Wartung und der Auf- und Abbau der elektronischen Verstärker und Lautsprecher wurde von ihm fachmännisch gemanagt. Sein Vater besaß eine kleine Elektronikentwicklungsfirma und schon als Kind wurde Christian mit technischen Geräten vertraut gemacht. Mit acht Jahren hatte er ein Radio selbst gebastelt und mit 14 Jahren aus einem Elektronikbaukasten für Fortgeschrittene einen Fernsehapparat, natürlich mit der Hilfe seines Vaters, zusammengebaut. Für ihn war es deshalb ganz klar gewesen, nach dem Abitur Physik oder Elektrotechnik zu studieren. Aber Musik war ihm auch sehr wichtig. Manchmal schob die Band als Einlage auch ein Heavy-Metal-Stück ein, dann schlug Christian voll unbändiger Lebenslust auf seine Trommeln und Metallteller ein und Tische und Stühle im Saal fingen zum Wackeln an. Zu oft durfte man aber sein ländliches Publikum nicht mit dieser krätzigen, lauten Musik überfordern.
Christian liebte diese Disko-Atmosphäre. Auf der Bühne hatte man Ansehen. Man wurde als Bandmitglied von allen respektiert und von vielen Mädchen angehimmelt. Unter diesen Landpomeranzen gab es schon hübsche Dinger. Mit Vera konnten sich die meisten zwar nicht messen, aber Vera und Hans waren schon seit vielen Jahren ein festes Paar. Vera hätte er gerne zur Freundin, aber er war nicht der Typ, in eine feste Beziehung einzubrechen. Das hätte die Band auch zerrissen. In den Pausen setzte man sich an die Theke und rauchte schnell eine Zigarette. Getränke waren meist frei. Er trank sowieso nur Mineralwasser, zum Schluss einer Veranstaltung dann vielleicht ein Bierchen. Christian war kein Frauenheld, aber auch kein Kostverächter.
Es war jetzt fast ein Uhr früh und die Band machte ihre letzte Pause. Heute spielten sie in der Hawaii-Disko in einem kleinen Kaff, fünf Kilometer von Ebersberg entfernt. Das Haus war eine umgebaute Bauerngaststätte. Im Erdgeschoss hatte sich eine Pizzeria breit gemacht, die gut florierte. Ihr Pächter, Roberto, war ein freundlicher, etwas beleibter, aber agiler Italiener, der nicht nur ausgezeichnete Pizzen backen konnte, sondern alle möglichen exquisiten Fischgerichte seinen Gästen schmackhaft zubereitete. Der erste Stock war zu einer Disko umgebaut worden. Die Fenster waren alle mit dunkelroten, lichtundurchlässigen Samttüchern verhängt. Das Innere der Diskothek bestand aus einem nicht allzu großen Tanzraum mit Bühne, kleinen Nischen mit Tischen und einer langen Theke mit vielen Spirituosen. Die schummrig beleuchtete Disko war gerammelt voll mit jungen Leuten. Um die Theke herum war ein dichtes Gedränge. Beißender Zigarettenqualm schwängerte die verbrauchte Luft. Christian ergatterte sich noch einen Stehplatz an der Theke und gönnte sich einen tiefen, kühlen Schluck aus dem hochstieligen Bierglas. Das tat gut.
„Ihr spielt wirklich toll“, flüsterte ihm eine rothaarige Schöne ins Ohr, die sich dicht an ihn herandrängte.
„Danke für das Kompliment“, lachte Christian.
„Kommst du mit an die frische Luft?“, fragte sie verführerisch. Christian nickte. Er trank sein Glas in einem Zug aus. Sie nahm seine Hand und zog ihn durch das Gedränge, die Treppe hinunter, ins Freie. Es war eine laue Sommernacht. Hinter einem großen Kastanienbaum des alten Biergartens blieb sie stehen und zog Christian fest an sich. Sie küsste ihn leidenschaftlich. Christian blieb der Atem weg. Es war ein herrliches Gefühl.
„Wie heißt du denn?“, flüsterte Christian schwer atmend.
„Tina“, hauchte sie geheimnisvoll. „Und du?“
„Christian.“
„Wollen wir?“, fragte sie ihn herausfordernd.
„Hier, auf die Schnelle?“, antwortete er verblüfft.
„Natürlich.“ Sie kramte in ihrem Täschchen und zog zwei bräunliche Zigaretten und ein golden glitzerndes Feuerzeug heraus.
„Ah, einen Joint“, antwortete er erleichtert. Eigentlich mochte er das Zeug gar nicht. Sie inhalierte den Rauch genüsslich.
„Schmeckt er dir nicht?“
„Doch, ist schon okay“, antwortete er hastig.
„Wo spielt ihr nächste Woche?“, fragte sie nach einer Weile neugierig.
„Wieder hier. Ich muss jetzt aber zurück zu meiner Band“, antwortete er. An der Eingangstür zur Disko standen zwei Typen mit langen Haaren in schwarzen Lederjacken und Lederhosen. Der kleinere von ihnen händigte dem anderen gerade hastig etwas etwas aus.
„Ist vom Feinsten, du wirst schon sehen“, flüsterte er und beim Anblick von Tina. „He Puppe, soll ich dich bedienen?“
Tina blieb stehen und Christian bahnte sich durch das Gedränge einen Weg zu den Musikinstrumenten.
Auch Bernd war an diesem Wochenende von München, seinem Studienort, nach Hause gefahren. Sein Elternhaus stand in Bad Aibling, einem malerischen Kurort etwa zehn Kilometer nördlich der Alpenkette. An Föhntagen waren die Berge zum Greifen nahe. Direkt südlich von Bad Aibling aus gesehen, erstreckte sich die Höhenkette der sogenannten „Schlafenden Jungfrau“. Die sich gegen den Himmel abgrenzenden Konturen von drei nebeneinander stehenden Bergen vermittelten den spontanen Eindruck einer liegenden Frau. Nur hundert Meter vom Einfamilienhaus seiner Eltern entfernt schlängelte sich die Mangfall, ein breiter Fluss, durch ein wunderschönes Auengebiet. Wie oft war Bernd hier mit seiner Ingrid auf dem Dammweg mit den dichten Büschen eng umschlungen spazieren gegangen. Wie oft hatten sie sich hier hinter den Büschen versteckt, verstohlen geküsst und sich zärtliche Dinge ins Ohr geflüstert.
Bernd war Mitglied im Tennisclub von Bad Aibling, dessen Plätze direkt neben dem Kurpark lagen. Auch Marion, eine gute Freundin von Ingrid, war hier Mitglied. Sie müsste doch wissen, wer dieser Hans Sierwald war. Nein, anrufen und sie fragen wollte er nicht. Dazu war er zu stolz.
„Ich könnte sie zu einem Tennisspiel einladen“, murmelte er. Er hatte zwar bisher nur einmal mit ihr gespielt, und dies war schon mindestens ein Jahr her, aber egal. Marion spielte miserabel Tennis und er, Bernd, war ein sehr guter Spieler. Sie würde sicher zusagen. Die Frage war nur, ob sie überhaupt zu erreichen war. Es war jetzt Samstagmorgen und zehn Minuten nach acht Uhr. Vielleicht war sie ein Morgenmuffel.
„Egal, ich versuche es einfach“, redete er laut.
„Hast du etwas gesagt, Bernd?“
Seine Mutter hatte gute Ohren. Die waren als Lehrerin in einer siebten Hauptschulklasse auch wichtig, um Störenfriede in der Klasse frühzeitig aufzuspüren und zurechtzuweisen.
„Ein guter Lehrer hat Augen im Hinterkopf und verliert nicht die Kontrolle über die Klasse bei sich überlappenden Ereignissen. Während er an der Tafel mit einem Schüler arbeitet, weiß er genau, was in der letzten Bankreihe passiert.“ Das war ihre Devise.
„Mutter hört alles, sieht alles und weiß alles“, charakterisierte Bernd seine Mutter.
„Ich habe nichts gesagt“, antwortete Bernd in Richtung Küche. Durch die offene Tür sah er seine Mutter, die gerade das Frühstücksgeschirr aus dem Schrank holte.
„Das Frühstück ist gleich fertig“, rief sie, während Bernd mit dem schnurlosen Telefon hastig in sein Zimmer verschwand.
„Hallo Marion, hier ist Bernd. Bist du schon auf?“
„Schon lange“, antwortete sie verwundert über seinen Anruf. „Aber was willst du denn so zeitig in der Früh?“
„Hast Du heute schon einen Tennistermin?“
„Nein“, antwortete Marion spontan.
„Hättest du um zehn Uhr Zeit?“
Sie hatte Zeit.
Bernd setzte sich zu seiner Mutter und zu seinem kleinen Bruder Klaus an den Frühstückstisch im Esszimmer.
„Papa schläft noch“, entschuldigte seine Mutter die Abwesenheit seines Vaters. „Gestern war seine Skatrunde und da ist es ein bisschen spät geworden. Aber erzähl doch einmal, wie geht es eigentlich Ingrid? Sie war schon lange nicht mehr bei uns.“
Bernd errötete leicht.
„Ingrid geht es gut“, stotterte er und hätte sich fast an dem Bissen im Mund verschluckt.
„Sag Ihr, ich lade sie morgen am Sonntag zum Mittagessen ein.“
„Das wird nicht gehen“, wandte Bernd schnell ein, „sie hat morgen schon einen Termin“, log er.
„Schade, und was gibt es Neues in München?“
Bernd war froh, dass seine Mutter das Thema Ingrid so schnell gewechselt hatte. Er schämte sich, ihr zu sagen, dass Ingrid sich von ihm getrennt hatte. Seine Mutter mochte Ingrid sehr, auch sein Vater. Er spürte, dass seine Eltern stolz waren, dass er ein so hübsches und nettes Mädchen zur Freundin hatte.
Bernd erzählte von seiner Diplomarbeit. Das Thema Aggression bei Schülern war natürlich für seine Mutter als Lehrerin besonders interessant.
„Du bist ja jetzt ein Spezialist für das Phänomen Aggression“, meinte sie. „Was sagen denn die Psychologen dazu? Was ist denn die Hauptursache für aggressives Verhalten?“
Bernd hatte die psychologische Literatur zum Thema Aggression wirklich gründlich studiert.
„Eine Forschergruppe sieht das so“, psychologisierte er, „wenn ein Organismus über positive Verstärker verfügt bzw. freien Zugang zu ihnen hat, z.B. zu Nahrungsquellen oder Wasser usw. und ihm diese weggenommen werden oder ihr Zugang blockiert wird, kommt es zu Aggressionen. Schon vor 60 Jahren formulierte eine Forschergruppe um den Amerikaner Dollard diesen Zusammenhang als sogenannte Frustrations-Aggressions-Hypothese. In Tierexperimenten attackierten Ratten, die durch elektrische Stimulation ihres Lustzentrums im Gehirn für das Drücken eines Hebels belohnt wurden, den Experimentator, wenn die zu belohnenden Reize ausblieben.“
„Das ist ja sehr interessant“, meinte seine Mutter.
„Auch bei Experimenten mit Menschen führt der Ausfall von Belohnungen, der frustrierend erlebt wird, zu aggressiven Reaktionen.“
„Ja, bei meinen Schülern habe ich so etwas auch schon erlebt“, meinte seine Mutter nachdenklich. „Bei einem Schüler ist dieses Verhalten besonders ausgeprägt. Wenn ich ihn vor der Klasse für irgendeine Lappalie nicht gleich lobe, wird er plötzlich aufsässig oder attackiert seine Mitschüler.“
„Bei Menschen, so wird vermutet, gilt dieser Zusammenhang nicht nur für kurzzeitige Interaktionen sondern auch für sog. Longterm-Situationen, z.B. bei langanhaltender Arbeitslosigkeit und erhöhter Aggressivität. So lassen sich auch Aufstände und Revolutionen im politischen Geschehen verstehen, wo unterprivilegierten Gruppen der Zugang zu besseren Lebensbedingungen versperrt wurde und damit zum Ausbruch aggressiver Gewalthandlungen führte.“
„Das klingt einleuchtend“, erwiderte seine Mutter. „So habe ich die Dinge noch gar nicht gesehen.“
Während Bernd mit seiner Mutter fachsimpelte, löffelte der keine Klaus genüsslich seine Crispies mit der übergossenen heißen Milch und dem Löffel Honig aus einer großen Schale. Er fand das Gespräch von seiner Mutter und seinem Bruder ätzend langweilig.
„Quak, quak, quak“, ahmte er das Geschnatter einer Ente nach und entfernte sich watschelnd aus der Küche.
„Blödmann“, zischte ihm Bernd böse nach.
„Aber Bernd“, entrüstete sich seine Mutter, „du lässt dich doch sonst von unserem Klaus nicht provozieren!“
Auch Bernd verließ das Esszimmer.
Warum reagierte ihr friedlicher Bernd so aggressiv auf seinen kleinen Bruder, fragte sie sich, während sie den Frühstückstisch wieder abräumte. Da mussten aber schon mächtig frustrierende Dinge passiert sein. Hatte dies vielleicht mit seiner Freundin Ingrid zu tun?
Als Bernd bei der Tennisanlage am Kurpark kurz vor zehn Uhr eintraf, stand Marion schon vor dem Clubhaus. In ihrem weißen Tennisdress mit dem kurzen Faltenrock sah sie richtig sexy aus. Um ihren Kopf vor der Sonne zu schützen, trug sie eine schicke weiße Tenniskappe mit langem Sonnenschild, aus der ihre schwarzen Locken lustig hervorquollen. Sie hatte ihr Namensschild und das von Bernd schon auf der magnetischen Reservierungstafel für den Platz gehängt.
„Wir spielen auf Platz drei“, empfing sie Bernd.
Um diese Zeit war auf der großen Tennisanlage mit den zehn Plätzen noch nicht so viel los. Platz eins und zwei waren aber schon belegt. Nach ungefähr einer halben Stunde intensiven Übens legten Bernd und Marion eine kleine Pause ein. Auf jedem Tennisplatz stand eine Bank. Dort stellte man seine Tennistasche ab und nutzte sie auch für die kurzen Erholungspausen zwischen dem Spiel. Marion hatte einen knallroten Kopf.
„Du hetzt mich aber ganz schön“, lachte sie außer Atem. Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Wasserflasche und setzte sich neben Bernd auf die Bank. Bernd wusste, das war jetzt die beste Gelegenheit für ihn herauszufinden, wer dieser Hans Sierwald war. Er hatte Glück, denn Marion fing selbst an, über seine Beziehung zu Ingrid zu reden.
„Warum hat es denn zwischen dir und Ingrid nicht mehr geklappt?“, fragte sie Bernd.
Er spürte, wie ihn diese Frage psychisch stark belastete.
„Schwer zu sagen“, antwortete Bernd niedergeschlagen. „Jeder hat eben bestimmte Vorstellungen von seinem zukünftigen Lebenspartner. Offensichtlich habe ich in das Partnerschema von Ingrid nicht so hundertprozentig hinein gepasst. Und dann trifft sie jemanden, der das Schema besser ausfüllt und schon ist man nur noch auf Rangplatz zwei.“
„Wie beim Tennis“, schmunzelte Marion, „the winner takes it all, the looser standing small. Und weißt du überhaupt, wer dir den Rangplatz eins streitig gemacht hat?“
„Nein.“
„Es ist Jacky.“
„Was heißt Jacky?“
„Ja, unser Jacky aus unserem Tennisclub!“
Das war doch nicht möglich. Hans Sierwald war Jacky. Er war schon über vierzig, Single und Lehrer an der hiesigen Realschule für Sport und Englisch. Okay, er hatte das Gesicht eines Dreijährigen, große Kulleraugen, Hamsterbacken, dicke fleischige Lippen und den Kopf glatt rasiert, dass man seine Glatze nicht sehen konnte. Er spielte exzellent Tennis in der Jungseniorenmannschaft des Clubs. Bei den Vereinsmeisterschaften des Tennisclubs hatte Bernd schon zweimal gegen ihn antreten müssen und hatte jedes mal hoch gegen ihn verloren.
„Und wo hat Ingrid Jacky kennen gelernt?“
„Hier im Club, tut mir leid Bernd.“ Sie sah ihn mitleidig an. „Ich habe Ingrid zum Tennisspielen hierher mitgenommen. Ich fühle mich direkt schuldig. Für mich kam diese plötzliche Verlobung auch völlig überraschend.“
Bernd war sprachlos. Es entstand eine peinliche Stille. Nur das Schlagen der Bälle auf den anderen Plätzen war zu hören.
„Bist du mir jetzt böse?“, fragte Marion nach einer Weile vorsichtig.
„Blödsinn“, erwiderte Bernd und stand ruckartig auf. „Komm, wir spielen weiter!“
„Diese blöde Kuh, ihr verdanke ich es also, dass Ingrid mit einem anderen geht“, dachte er.
Am liebsten hätte er sofort das Tennismatch abgebrochen. Aber das wäre auch völlig falsch gewesen. Marion war schließlich sein letzter Strohhalm um mit Ingrid noch einmal Kontakt aufzunehmen. Außerdem war Marion ein hübsches Mädchen. Vielleicht nicht sein Typ, aber trotzdem, was er gar nicht wollte, war, dass die anderen ihn wegen Ingrid bemitleiden oder Schadenfreude empfinden würden. Er schämte sich, dass Ingrid mit ihm Schluss gemacht hatte. Auch wenn er es sich nicht zugab, er hatte es doch genossen, dass ihn die anderen wegen Ingrid beneideten. Nein, er brauchte Marion. Als Single hatte man sowieso schlechtere Karten. Es war immer für Parties und Diskobesuche besser, wenn man nicht allein auftreten musste. Und seine Mutter würde dann auch nicht so viele unangenehm bohrende Fragen wegen Ingrid stellen, wenn er mit einer neuen auftauchen würde.
Marion war ihm von der Spielstärke her völlig unterlegen. Unbewusst fing er an, sie auf dem Platz wie ein Jäger seine Beute hin und her zu hetzen. Er genoss es sichtlich, mit ihr machen zu können, was er wollte. Es war die gerechte Strafe für ihr unglaubliches Vergehen.
„Bitte, Bernd, ich kann nicht mehr!“, keuchte sie am Schluss der Tennisstunde.
Sie war puterrot angelaufen und völlig erschöpft. „Jetzt hilft nur noch eine heiße Dusche und dann eine kühle Limonade“, japste sie.
Bernd fühlte sich wieder wohler. Nach dem Duschen genehmigte sich Bernd ein leichtes Weißbier. Er spendierte Marion eine Limonade. Sie setzten sich an einen noch leeren Tisch auf der Terrasse des Clubhauses. Von dort überblickte man alle Tennisplätze. Es war ein schöner Sommertag und Samstag. Die Tennisplätze waren nun alle belegt und auch im Clubhaus standen oder saßen schon Mitglieder, die auf ihr Spiel warteten.
„Sag mal Bernd“, richtete Marion wieder das Gespräch auf seine Beziehung zu Ingrid, „habt ihr euch eigentlich ausgesprochen, bevor ihr miteinander Schluss gemacht habt?“
„Nein, wir hatten wegen irgendeiner Bagatelle Zoff miteinander. Ingrid hat dann drei Wochen nichts von sich hören lassen. Und dann kam diese verfluchte Verlobungskarte.“
Marion spürte seine große Erregung. Irgendwie fühlte sie sich mitschuldig.
Für Bernd hätte sie alles getan. Bernd sah gut aus, war sportlich und intelligent. Er studierte Psychologie. Für Psychologie begeisterte sie sich sehr. Sie hatte kein Abitur. Arzthelferin war auch keine schlechte Sache. Sie war im dritten Lehrjahr. Menschen interessierten sie eben. Aber nicht so sehr der Körper und seine Gebrechen, sondern was sie taten, warum sie etwas taten, was sie fühlten, welche Ziele sie sich setzten und wie sie Probleme und Konflikte bewältigten. Partnerprobleme waren besonders interessant. In den Frauenzeitschriften, die im Wartezimmer ihrer Arztpraxis lagen, las sie verstohlen am liebsten die Ratschläge, die Psychologen den Hilfesuchenden gaben. Wenn sie jetzt Bernd in seiner Konfliktsituation half und das Ventil fand, um seinen Leidensdruck zu verringern, könnte sie ihn vielleicht an sich binden.
„Ich werde Ingrid dazu veranlassen, dass sie sich mit dir noch einmal trifft. Du weißt doch als Psychologe, wie wichtig es ist, sich in Ruhe auszusprechen.“
Bernd war happy.
„Ich rufe dich heute noch an“, erklärte sie, als sie sich voneinander verabschiedeten.
Otto war an diesem Wochenende in München geblieben. Er fieberte aufgeregt seiner Begegnung mit Manuela entgegen. Sie hatten telefonisch vereinbart, dass er am Samstag um vier Uhr nachmittags zum „Five-o’clock-tea“ bei ihr erscheinen würde. Sie würde den Tee zubereiten und er hatte im Supermarkt gleich um die Ecke einen Sandkuchen besorgt.
Schon um drei Uhr fuhr er mit der U-Bahn zum Olympiazentrum. Manuela wohnte dort im Studentenwohnheim. Die Fahrt dauerte 15 Minuten. Von dort waren es nur noch zehn Minuten zu Fuß.
„Verdammt, jetzt bin ich eine halbe Stunde zu früh dran“, murmelte er, als er auf seine Uhr sah und am Hauseingang des Wohnheims stand.
Da war auch ihr Namensschild: Manuela Gruber. Er traute sich doch nicht auf den Klingelknopf zu drücken.
„Was soll ich ihr sagen, dass ich zu früh dran bin? Ich bin zu früh gekommen, weil meine Uhr falsch geht? Blödsinn! Oder, ich konnte diese Ungewissheit nicht mehr ertragen. Welche Ungewissheit? Ich konnte diesen Zustand der Unwissenheit nicht mehr ertragen.“
Das war besser. Schließlich wollte sie ihn über die weiteren Konsequenzen der Einsteinschen Relativitätstheorie aufklären. Das war überhaupt die Idee.
„Ich erkläre ihr, dass die Uhren in meinem Bezugssystem schneller gehen als in ihrem.“
Er verlagerte sein Körpergewicht von einem Fuß auf den anderen. Er wagte es doch nicht, sofort zu klingeln. Er sah Manuela schon im Geiste vor sich. Sie öffnete ihm verführerisch in einem durchsichtigen, schwarzen Negligee die Tür. Er hörte sie flüstern:
„Coffee, tea or me?“ und er rief: „me!“
„Und was reimt sich auf me?“, dachte er. Natürlich „nie“.
Und seine Befürchtungen sollten sich auch bewahrheiten. Als er es dann nach zehn Minuten doch nicht mehr aushielt und die Klingel drückte, öffnete sich automatisch die Haustür und er stürmte nach oben. Im zweiten Stock stand eine Wohnungstür einen Spalt offen und ein junger Mann rief:
„Komm nur herein Otto, der Tee ist schon fertig!“
Und dann kam auch schon seine verführerische Manuela. Sie trug enge Blue Jeans und ein bauchfreies schwarzes Top.
„Hallo Otto, schön, dass du pünktlich bist“, lächelte sie ihn freundlich an. „Und das ist Pit, er studiert wie du Anglistik für das Lehramt. Ihr müsst euch eigentlich schon einmal in den Veranstaltungen an der Uni gesehen haben, oder?“
Irgendwie kam ihm dieser zu kurz geratene Pit mit seinen langen, fettigen blonden Strähnen und dem Ziegenbart am Kinn bekannt vor. Oder kam ihm nur die Situation bekannt vor? Er, Otto, freute sich auf ein intimes Date in der Wohnung seiner Angebeteten und wie beim Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel war der stachelige Igel mit seinem „Ich bin schon da“ schneller am Ziel seiner Wünsche als er. Aber Otto machte gute Miene zum bösen Spiel.
„Hey, Pit!“, wandte er sich seinem Nebenbuhler zu, „how are you?“
„Fine“, grinste der. „The tea has been served.“
Sie setzten sich an den kleinen Tisch neben der Einbauküche. Der Tee duftete aromatisch. Manuela schnitt den Sandkuchen auf und jeder griff nach einem Stück.
Manuelas Studentenbude bestand ebenfalls nur aus einem Wohnraum mit Kochnische und Nasszelle. Sie war aber sauber aufgeräumt und geschmackvoll eingerichtet. Auf einem großen, mit schwarzem Seidentuch überspannten französischen Bett mit Bettkasten für die Plumeaus waren drei weiße Samtpolster und zwei große Kuscheltiere, ein Tiger und ein Pandabär, liebevoll arrangiert. An den Wänden hatte sie mehrere Blumenbilder in leuchtenden bunten Farben aufgehängt. Der Schreibtisch war ein schönes, antikes, verschnörkeltes Möbelstück und auf dem grauen, abgetretenen Teppichboden lagen zwei kunstvoll geknüpfte, echte Perserteppiche.
„Schön hast du es hier“, bewunderte Otto ihr kleines Appartement.
„Den Schreibtisch und die Teppiche haben mir meine Eltern mitgegeben.“
„Und das Poster auch?“, fragte Otto und schaute belustigt zu ihrer Wohnungseingangstür. Dort hing ein Riesenposter von Einstein, der den Betrachter mit listigen Augen ausbleckte, indem er seine große Zunge herausstreckte.
„Das habe ich mir natürlich selber gekauft“, lachte Manuela.
„Dein großes Vorbild!“, schmunzelte Pit.
„Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für ein Genie war“, fuhr Manuela mit leicht erregter Stimme fort. „1921 bekam er für seine Forschungen den Physik-Nobelpreis. Er hat das physikalische Weltbild seiner Zeit revolutioniert. Aber er war auch sonst eine großartige Persönlichkeit. Von den Nazis bedroht, emigrierte er, weil er Jude war, 1933 in die USA. Er lehrte dort in Princeton und verhalf dann vielen anderen, von Hitler verfolgten, Juden zur Aufnahme in die Vereinigten Staaten.“
„Er war also kein Forscher mit Scheuklappen, der nur in seinem Elfenbeinturm verrückte Ideen ausbrütete?“, kommentierte Otto.
„Ganz und gar nicht“, ereiferte sich Manuela. „Als im Hitler-Deutschland die Kernspaltung gelang und das NS-Regime damit begann, Uran zu horten, schrieb Einstein an den US-Präsidenten Roosevelt und warnte ihn vor der unheilvollen Gefahr einer Atombombe in den Händen der Nazis, die alles vernichten konnte. Diese Warnung eines Nobelpreisträgers gab dann den Anstoß zum Bau der amerikanischen Atombomben.“
„Und die lieben Amis haben dann mit ihren Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki Hunderttausende von Menschen brutal gekillt, oder vielleicht nicht?“, warf Pit empört ein.
„An der Entwicklung der Atombombe war Einstein aber nicht beteiligt“, verteidigte Manuela ihr geniales Vorbild. „Nach den Einsätzen zeigte er sich entsetzt von dieser Perspektive einer allgemeinen Vernichtung der Menschheit und trat zu Beginn des kalten Krieges mit anderen berühmten Persönlichkeiten wie z.B. Thomas Mann und Bertrand Russel für Frieden und Bürgerrechte ein.“
Otto wagte es nicht, irgendetwas zu äußern, was Manuela verstimmt hätte. Sie war ihm zu wichtig. Natürlich ärgerte er sich, dass sie diesen Pit zu ihrem Tête-à-Tête mit eingeladen hatte. Vielleicht hatte sie ihn gar nicht eingeladen. Vielleicht war er nur zufällig aufgekreuzt, und sie hatte ihn aus Höflichkeit hereingelassen. Sie plauderten nun über belanglose Dinge. Die Teekanne war leer und der Kuchen aufgegessen. Manuela erhob sich und hantierte an der Spüle ihrer Einbauküche.
„Soll ich noch einen neuen Tee aufsetzen?“, fragte sie zögernd.
„Für mich nicht, ich habe noch einen wichtigen Termin“, erwiderte Pit. „Ich muss wieder abdampfen.“
Otto war mit Manuela allein.
„Und was jetzt?“, lächelte sie Otto verführerisch an.
Otto lächelte verlegen zurück.
„Jetzt werde ich dir in Ruhe die weiteren Konsequenzen aus der Einsteinschen Relativitätstheorie erklären.“
„Das muss aber nicht sein“, wehrte Otto ihre tolle Idee verzweifelt ab.
„Dummerchen“, hauchte sie und zog ihn auf ihr französisches Bett.
Sie küssten sich hingebungsvoll. Otto schwebte im siebten Himmel. Als er Manuela mit seiner Hand in der Nähe ihrer Schamgegend streicheln wollte, löste sie die zärtliche Umarmung und erhob sich ruckartig. In diesem Moment klingelte ihr Handy, das auf ihrem Schreibtisch versteckt unter Manuskripten lag.
„Manuela Gruber am Apparat. Ach Mama, du bist es.“
„Oh weh“, dachte Otto, „jetzt bin ich abgeschrieben. Aber macht nichts, dann genieße ich eben ihren herrlichen Anblick.“
Manuela sah wirklich hinreißend aus. Sie erinnerte ihn an Julia Roberts. Genau, Manuela hatte ebenfalls die Ausstrahlung seines Filmidols, das mit seinem bezaubernden Breitbild-Lächeln die Kinokassen klingeln ließ. Ein Poster mit ihrem Konterfei hatte Otto direkt an der Wand vor seinem Bett aufgehängt. Von Julia Roberts hatte er alle Filme gesehen. „Der Feind in meinem Bett“ hatte ihm nicht so gut gefallen, aber ihre Liebeskomödien waren einmalig. „Pretty Woman“ hatte er sich in einer Woche drei Mal hintereinander angesehen und „Notting Hill“ war ebenfalls klasse. Otto fand, dass der Mund seiner Manuela nicht so groß war und auch nicht der von Julia Roberts. Den Ausspruch ihres Filmpartners Hugh Grant bei den Dreharbeiten von „Notting Hill“, er habe Angst, bei den Kuss-Szenen in ihrem riesigen Mund zu verschwinden, fand Otto gar nicht komisch, und die Küsse von Manuela, die er eben noch verspürt hatte, waren der nackte Wahnsinn. Es dauerte wirklich eine Ewigkeit, bis Manuela ihr Telefonat beendete. Die ganze Romantik war natürlich im Eimer.
„Sag mal, Otto“, redete ihn Manuela mit ihrem Kleiderbügel-Lächeln an, „hast du heute Abend und morgen schon etwas vor?“
„Nein“, antwortete er spontan, „nicht dass ich wüsste.“
„Meine Eltern machen morgen früh eine Bergtour auf den Wendelstein. Ich würde sehr gerne mitmachen. Es wäre schön, wenn du mich begleiten könntest.“
„Ob das deine Eltern überhaupt wollen?“, wandte er fragend ein.
Bergsteigen war so nicht sein Ding. Vielleicht war er auch nur zu bequem. Im öffentlichen Stadtschwimmbad faul in der Sonne liegen, wäre ihm eigentlich lieber gewesen. Aber mit Manuela den ganzen Tag zusammen zu sein, war natürlich verlockend.
„Okay, ich komme mit. Aber ich habe keine Bergschuhe, nur Turnschuhe.“
„Das klappt schon. Wir hatten doch jetzt schon die ganze Zeit strahlenden Sonnenschein, da ist der Weg nicht rutschig. Morgen soll es noch schön bleiben. Vielleicht kann dir auch mein Vater ein Paar alte Bergschuhe leihen.“
Sie musterte seine großen Füße. „Welche Schuhgröße hast du denn?“
Er hatte Schuhgröße 45. Otto war lang und ziemlich dürr. Die dunkelblonden Haare hingen ihm ein wenig zerzaust, halblang herunter. Er wusste, dass er kein Adonis war mit seiner großen Adlernase. Aber er hatte immer einen flotten Spruch auf den Lippen, wenn es darauf ankam und war stets gut gelaunt. Der prüfende Blick auf seinen Adoniskörper machte ihn nervös.
„Ich bin doch nicht etwa ungeeignet als Werbestar für Alpenmilchschokolade, oder?“
Er trippelte wie eine Balletteuse mit angewinkelten Armen auf sie zu und säuselte mit vorgebeugtem schräg geneigtem Oberkörper: „Otto, die zarteste Versuchung!“
Manuela lachte über seinen komischen Auftritt.
„Aber die blau-weiß bemalte Milchkuh spiele ich für dich bestimmt nicht.“
Manuela kramte schnell ein paar Sachen zusammen, die sie dann in ihrem Wagen, den sie direkt vor dem Studentenwohnheim geparkt hatte, verstaute. Sie hatte zum bestandenen Abitur von ihren Eltern einen kleinen, knallroten Sportwagen, einen Mazda, geschenkt bekommen. Jetzt in der warmen Sommerzeit konnte sie ihn an regenfreien Tagen mit offenem Verdeck fahren.
Otto staunte über den schicken Wagen. Da konnte er mit seinem alten, klapprigen Fahrrad nicht mithalten. Seine Eltern waren nur einfache Leute. Sie wohnten in einer alten Mietskaserne, gleich neben dem Bahnhofsgelände in Rosenheim. Die Außenfassaden der Mietshäuser wurden zwar alle zehn Jahre frisch gestrichen, und das in freundlichen, bunten Pastellfarben, man sah aber doch, dass die gesamte Mietanlage schon sehr abgewohnt war.
Ottos Vater war Frührentner und eine Seele von Mann. Er hatte als Lagerist in einer Firma, die Faltboote und Sportartikel herstellte, gleich in der Nähe ihrer Wohnung gearbeitet. Seine Mutter war eine energische Frau. Sie war nicht berufstätig und führte ihren kleinen Haushalt mit großer Sorgfalt. Seine Eltern machten auf Otto einen zufriedenen Eindruck, obwohl sie sich nicht viel leisten konnten. Seine Mutter las gerne dicke Schmöker aus der Stadtbibliothek, am liebsten romantische Liebesromane aus dem Adeligen- und Ärztemilieu, und sein Vater konnte stundenlang in der Küche am großen Esstisch sitzen und lernte, so schien es jedenfalls Otto, den Inhalt der Tageszeitung auswendig. Aber ab und zu hatte er auch kreative Anwandlungen. Dann schrieb er Gedichte über „Herz und Schmerz“, die Otto verdammt kitschig fand.
Manuela fuhr in flottem Tempo vom Olympiazentrum in die Türkenstraße zu Ottos Studentenbude. Otto musste noch ein paar Sachen für die Übernachtung bei Manuelas Eltern und für den Bergausflug abholen, vor allem seine Zahnbürste und seinen Schlafanzug. Für ihn überschlugen sich die Ereignisse. Vor zwei Stunden war er noch unbeweibt und ungeküsst und jetzt saß er an der Seite dieses wunderschönen Geschöpfs in einem rasanten Sportwagen. Und das war vielleicht erst der Anfang seines Glücks. Einstein hatte Recht.
„Alles im Leben ist relativ, heute so und morgen gestern“, sinnierte er. „Qui vivra, verra!“
Manuelas Eltern wohnten in Bad Feilnbach, circa 60 Kilometer von München entfernt, in einem wunderschönen, idyllischen Kurort direkt am Fuße der „Schlafenden Jungfrau“. Der schnellste Weg von München nach Manuelas Zuhause führte über die Salzburger Autobahn. Manuela legte den fünften Gang ein und gab Vollgas. Der Fahrtwind ließ ihre langen, braunen Haare lustig wehen. Sie hatte den Bayern-3-Sender auf volle Lautstärke eingestellt. Ein Heavy-Metal-Song erreichte gerade noch, vom lauten Motorengeräusch unterscheidbar, ihre Ohren.
„Du hast doch einen Führerschein?“ Manuela richtete nach einer halben Stunde Fahrt ihren Blick von der Fahrtrichtung weg auf Otto.
„Klar, aber kein Auto“, grinste er.
Vor der nächsten, mit grünen Hecken eingesäumten Parkbucht bremste sie den Wagen quietschend ab und stieg aus.
„Komm, jetzt gehst du ans Steuer. Ich sag dir dann schon, wo wir die Autobahn in Richtung Bad Feilnbach verlassen müssen.“
In einem Sportwagen war Otto noch nie am Steuer gesessen. Das war schon ein geiles Gefühl.
„Drück nur voll auf das Gaspedal. Er macht spielend 5000 Umdrehungen in der Minute“, fachsimpelte Manuela.
Sie hatte sich jetzt ein Kopftuch umgebunden und mit ihrer großen schwarzen Sonnenbrille wirkte sie sehr mondän.
„Ich bin der Anton von Tirol, und die Manuela, die ist toll“, trällerte er Manuela überschwänglich ins Ohr.
„Aber pass trotzdem auf die anderen Autos auf!“, dämpfte sie seine Hochstimmung, als sie auf der Überholspur sehr knapp an einem kleinen Lastwagen vorbeischossen.
Dass Manuela aus keinem Armenhaus stammte, hatte Otto schon vermutet. Aber über dieses prunkvolle Anwesen war er doch überrascht. Eine hohe, steinerne Mauer mit einigen runden, eisernen Gitterfenstern umgab einen schönen Landbesitz. Manuela betätigte vor dem großen, stilvollen Eingangstor eine Fernbedienung, die sie aus ihrem Handschuhfach heraus genommen hatte und schon öffnete sich automatisch das Tor.
„Fahr doch den Kiesweg entlang nach links zur Garage, da hinten“, bat sie Otto.
Links und rechts von der mit sauber zugeschnittenen Büschen umrahmten Hauszufahrt standen in dem kleinen Park ein paar große, alte Eichen mit weit ausladenden grünen Baumkronen und einige knorrige Kiefern, die herrlich nach Waldluft dufteten. Vor dem völlig modernisiertem Landhaus im alten Gutsherrenstil mit viel Efeugewächs an den Hauswänden fuhr er an einem kleinen, malerischen Seerosenteich vorbei zum Garagenhaus.
„Gefällt es dir bei mir?“, fragte sie den verdutzten Otto.
„My home is my castle“, plapperte Otto, der sich hier wie ein Schlossbesitzer vorkam. „Alter Landadel?“, fragte er vorsichtig.
„Quatsch“, lachte sie. „Du weißt doch, dass ich nur Gruber heiße. Mein Vater ist eben ein erfolgreicher Immobilienmakler.“
Ihre Augen leuchteten. „Das Anwesen stand vor drei Jahren urplötzlich zum Verkauf und mein Vater war eben an der Quelle. Er hat es für sich und seine zwei Frauen erworben.“
Otto war platt. „Ist dein Vater Mohammedaner?“, fragte er überrascht.
„Blödmann“, lachte sie. „Mensch Otto, schalte mal deinen Computer ein!“
„Und du hast auch keine Schwester!“
„Jetzt hast du es gecheckt“, antwortete sie schnippisch.
Otto holte aus dem Kofferraum seinen alten Seesack und die Reisetasche von Manuela und sie schritten auf dem mit weißen Marmorplatten belegten Weg zum Haus. Vor der Haustür drehte sich Otto noch einmal um und bewunderte alles, vor allem die Gartenpracht mit den vielen bunten Blumenbeeten.
„Einen Gärtner habt ihr sicher auch, oder?“, meinte er irgendwie eingeschüchtert.
„Nein“, meinte Manuela, „nur eine Haushaltshilfe und die hat am Wochenende immer frei. Um den Garten kümmern sich meine Eltern selbst, vor allem meine Mutter. Der Garten ist ihre ganze Liebe.“
„Garten ist gut“, erwiderte Otto, „das ist ja ein Park! Braucht ihr auch einen Parkwächter? In den Semesterferien stehe ich jederzeit zur Verfügung. Ich muss so und so jobben. Und wenn ihr noch ein paar Mark drauflegt spüle ich auch das Geschirr und mache die Schmutzwäsche. Spricht deine Mutter französisch? Ich könnte ihr auch Französischunterricht geben.“
„Okay“, meinte Manuela, „ich stelle dich jetzt zuerst meiner Mutter vor und dann zeige ich dir dein Zimmer.“
Manuelas Mutter sah wie Manuela aus. Sie sah gut aus. Nur eben ein paar Jahre älter als Manuela. Sie trug auch enge Jeans und ein hellblaues Top. Den Unterschied machte nur der Goldschmuck aus. Manuelas Mutter trug große, goldene Ohrringe, eine goldene Panzerkette um den Hals und viele goldene Armreifen.
„Hallo Otto, ich freue mich, Sie kennen zu lernen“, empfing sie Otto freundlich. „Sie fungieren also morgen als unser Bergführer? Gehen Sie oft in die Berge?“
„Eigentlich nur, wenn man mich raufträgt oder raufschiebt“, antwortete Otto trocken.
„Es wird Ihnen gefallen“, lächelte sie. „Der Wendelstein ist ein Kleinod der Alpenwelt. Das letzte Stück Weg besteht nur aus nacktem Felsen und ganz oben sind ein Observatorium und ein Fernsehturm.“
Otto konnte den Wendelstein auch von Rosenheim aus sehen, hatte den Berg aber, wie auch seine Nachbarn, noch nie bestiegen.
„Übrigens ist der Wendelstein der Kopf unserer schlafenden Jungfrau“, fuhr Frau Gruber fort. Lieber mit einer Jungfrau schlafen, als auf die schlafende Jungfrau mühsam klettern, dachte Otto.
„Ich freue mich schon auf die Bergtour morgen“, log Otto.
„Ihr wollt euch doch sicher noch vor dem Abendessen frisch machen?“ Zu Otto gerichtet sagte sie: „Hinter dem Haus haben wir einen einladenden Pool mit angenehmer Wassertemperatur.“ „Übrigens, Papa ist noch geschäftlich unterwegs, will aber zum Abendessen pünktlich da sein“, wandte sie sich an ihre Tochter, die sie herzlich umarmte und küsste. Es war für Otto wie Weihnachten und Ostern zugleich.
Das Wasser im zwei Meter tiefen Swimmingpool war wirklich angenehm erfrischend, aber nicht kalt. Otto planschte übermütig mit Händen und Füßen und spritzte Manuela durch ruckartige Stöße seiner Beine mit einer Wasserfontäne an. Die alte Badehose ihres Vaters war zwar ein wenig weit, aber das Gummi um seinen Bauch herum war noch elastisch und fest genug, so dass er sie beim Schwimmen nicht verlor.
„Warte nur, du Feigling!“, lachte Manuela und schon war sie vor ihm untergetaucht. Er spürte, wie jemand unter Wasser seine Badehose gewaltsam nach unten zog. Mit beiden Händen versuchte er die Hose fest zu halten, aber Manuela zerrte übermütig weiter. Er strampelte verzweifelt und schon war er mit dem Kopf unter der Wasseroberfläche und schluckte Wasser. Als er wieder, wie wild prustend, mit dem Kopf an der Luft auftauchte, spürte er, dass die Badehose nur noch an seinen Füßen hing.
Manuela lachte ihn übermütig aus. „Ätsch!“, rief sie, kraulte mit ein paar eleganten Stößen zum Beckenrand und zog ihren nass glänzenden, braungebrannten Körper langsam an der Leiter empor. Sie hatte tolle, schlanke Beine, wie eine Barbiepuppe und in ihrem schwarzen Minibikini sah sie wirklich sexy aus. Das Gummi an Ottos Badehose war natürlich gerissen. Otto hielt mit einer Hand verzweifelt die Badehose um seine Hüften fest und mit der anderen Hand machte er rettende Schwimmbewegungen zur chromglänzenden Einstiegsleiter hin.
„Du Hexe!“, schimpfte er auf Manuela und lachte: „Wenn ich dich erwische, bist du aber dran!“
Sie trocknete ihren nassen Körper mit dem flauschigen Badetuch ab und setzte sich mit angezogenen Beinen an den Beckenrand.
„Otto, wenn du mit dem Abtrocknen fertig bist, zeige ich dir noch mein Labor“, sagte Manuela geheimnisvoll.
„Also doch Hexe“, antwortete Otto überrascht. „Ich seh’ dich schon in einer alten Alchemisten-Hexenküche mit brodelnden und dampfenden Flüssigkeiten in Retorten und dickbauchigen Glaskolben. Du hast einen riesigen schwarzen Hexenhut auf dem Kopf, eine schwarze Hexenkutte umgehängt und ein schwarzer Kater buckelt auf deiner Schulter.“
„Und was stelle ich her?“, fragte Manuela neugierig.
„Natürlich das Lebenselixier, um unsterblich zu werden. Ewige Jugend! Das ist doch das Ziel aller Frauen.“
„Blödmann!“, lachte Manuela.
In diesem Moment sprang eine dicke, schwarze Katze mit einem großen Satz auf Manuela zu und schmiegte sich schmusend an ihre Beine.
„Hallo, Morle, ist deine Mani wieder da!“
Manuela zog die Katze zu sich hoch und drückte ihren Kopf in ihr weiches, samtenes Fell.
„Ein Er oder eine Sie?“, fragte Otto.
„Ein Nebenbuhler, Otto. Pass auf seine Krallen auf, wenn du ihn streichelst.“
Manuela hatte im ersten Stock zwei Räume für sich. Das eine war ihr Mädchenzimmer. Es war hübsch eingerichtet, mit stilvollen Möbeln. Überall saßen oder standen pelzige Plüschtiere, Affen, Bären, Giraffen und viele süße Puppen, mit Dirndlkleidern bzw. langen Abendkleidern, mit schwarzem Anzug und Zylinderhut, usw. Das Blumenmuster der Tapete an den Wänden wirkte ein wenig kitschig. Aber so mögen es Mädchen halt, dachte Otto.
„Gefällt dir mein Zimmer?“
„Schön hast du es hier“, erwiderte Otto. Wenn er da an sein mickriges Zuhause dachte.
„Und jetzt kommt die Überraschung, mein Labor, mein ganzer Stolz!“
Das war ja wirklich unglaublich. Ein Raum, voll mit physikalischen Geräten in Regalen an der Wand, ein Bunsenbrenner mit roter Gasflasche, ein Computer mit Drucker, sogar ein Abzug, wenn man mit giftigen Gasen hantierte, war vorhanden. Auf einem großen Experimentiertisch lag ein zerlegtes Gerät ohne Gehäuse, daneben ein Lötkolben und viele, mit elektronischen Bauteilen bestückte Platinen.
„Was machst du denn da?“
„Ich baue an einem Gerät mit einem komplexen Sensor, der automatisch die Wasserqualität von Seen und Flüssen überprüft. Hier siehst du die Kabel, die zum Computer führen. Mit den Daten füttere ich dann den PC. Ich habe dazu ein kleines Programm geschrieben, und über den Bildschirm oder den Drucker kann ich die Ergebnisse direkt ablesen.“
„Wann hast du denn deine Liebe zu den Naturwissenschaften entdeckt?“, fragte Otto ganz kleinlaut. „Für ein Mädchen ist das eigentlich ungewöhnlich.“
„Ich glaube, das war der Einfluss meines Vaters. Er interessiert sich sehr für Biologie, Chemie und Physik. Er hat kein Abitur und konnte nicht studieren. Vielleicht bin ich auch sein Ersatzsohn, der stellvertretend für ihn ein zweiter Einstein werden soll. Ich habe als Kind nicht nur Mädchenspielzeug an meinen Geburtstagen und zu Weihnachten bekommen. Schon als Fünfjährige hat er mir einen Kosmos-Chemieexperimentierkasten geschenkt und mit mir zusammen die Versuche durchgeführt. Die Freude und das Interesse an den Naturwissenschaften habe ich ganz sicher von ihm mitbekommen.“
Irgendwie hatte Otto vor ihrem Vater einen Bammel. Er war nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch noch ein Universalgenie.
„Meine Eltern interessieren sich aber auch sehr für fremde Länder und ihre Kulturen. Sie haben schon die ganze Welt bereist. Vor allem über Asien weiß mein Vater sehr gut Bescheid.“
„Und du warst immer bei den Reisen dabei?“
„Sehr oft. Letztes Jahr waren wir sogar in Kambodscha und haben die alte Khmerkultur bestaunt.“
Da konnte Otto nicht mithalten. Immerhin, einmal war er schon drei Monate in England gewesen und einen Schüleraustausch mit Frankreich hatte er auch schon mitgemacht. Er studierte schließlich Englisch und Französisch. Da war es schon wegen der Aussprache sehr wichtig, mit „native speakers“ live zu palavern.
„Manuela, Herr Otto, kommt ihr? Das Abendessen ist fertig. Manuela, hilfst du mir beim Aufdecken?“
„Wir kommen sofort, Mama!“
Otto hatte schon mächtig Kohldampf. Heute am Samstag war die Mensa der Universität geschlossen, und seit dem bisschen Frühstück hatte er nichts als die zwei Stücke Sandkuchen bei Manuela gegessen. Das Esszimmer war feudal eingerichtet. Ein riesiger, kristallener Luster hing über dem großen, dunklen Esszimmertisch aus Eiche. Die passenden Stühle dazu waren kunstvoll verziert. An den Wänden hingen golden eingerahmte, wunderschöne Landschaftsgemälde. An einer Wandseite stand eine mächtige Glasvitrine, voll gefüllt mit erlesenen Tassen, Tellern und Gläsern. Ein großer Rundbogen gab den Blick frei auf ein Herrenzimmer mit einem mit Marmor verkleideten Kamin im klassizistischen Stil, und einer weinrot genoppten, englischen Lederpolstergarnitur, bestehend aus einer großen Sitzcouch und zwei wuchtigen Sesseln.
„Kann ich beim Aufdecken helfen?“, fragte Otto die Hausherrin devot.
„Sie sind doch unser Gast. Nehmen Sie hier Platz.“
Manuelas Mutter wies ihm einen der Plätze zu. „Mein Mann sitzt immer hier, dieser Platz gehört mir, er ist der nächste zur Küchentür, und dort sitzt Manuela, wenn sie da ist.“
Die Tür zur Küche stand weit offen und ein duftender Bratengeruch strömte in das Esszimmer.
„Gut, dass ich wenigstens gelernt habe, mit Gabel und Messer zu essen“, dachte Otto.