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An einem heißen Juli-Wochenende kämpfen in Bob's Boxing Palace in Reno, Nevada, USA, acht junge Boxerinnen einen Boxkampf. Alle von ihnen sind noch Teenager, haben Träume und Sehnsüchte und werfen sich mit vollem Einsatz in den Ring. Runde um Runde beleuchtet Bullwinkel das Leben der Mädchen, die gegeneinander antreten: Eine wird von einem unheimlichen Erlebnis als Rettungsschwimmerin verfolgt; eine beruhigt sich selbst, indem sie die Nachkommastellen von Pi aufsagt. Eine hat ein lilafarbenes Muttermal auf der Lippe, das ihre Erfahrungen seit der Kindheit prägt. In starker, muskulöser Sprache entsteht das Porträt von acht jungen Frauen, die in direkter Körperlichkeit alles geben, um gesehen zu werden und den Kampf ihres Lebens für sich zu entscheiden.
»Mit einer Sprache, die wie ein Schmetterling schwebt, und Enthüllungen, die wie eine Biene stechen, zieht Bullwinkel die Handschuhe der boxenden Mädchen und der Zeit ihres Aufwachsens aus und breitet sie in all ihrem Wunder, ihrem Humor, ihrer Gewalt und ihrer Herrlichkeit vor uns aus.« Oprah Daily.
»Ein so fulminanter Roman, wie ich ihn seit Langem nicht gelesen habe.« Jonathan Lethem.
»So frisch und stark. Mach Platz, amerikanische Gegenwartsliteratur, für eine tolle neue Stimme.« The New York Times.
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Seitenzahl: 213
Veröffentlichungsjahr: 2024
An einem heißen Juli-Wochenende kämpfen in Bob's Boxpalast in Reno, Nevada, acht junge Boxerinnen einen Boxkampf: Artemis, Andy, Rachel, Kate, Iggy, Izzy, Rose und Tanya. Alle von ihnen sind noch Teenager, haben Träume und Sehnsüchte und werfen sich mit vollem Einsatz in den Ring. Runde um Runde beleuchtet Bullwinkel das Leben der Mädchen, die gegeneinander antreten: Eine wird von einem unheimlichen Erlebnis als Rettungsschwimmerin verfolgt; eine beruhigt sich beim Kämpfen selbst, indem sie die Nachkommastellen von Pi aufsagt. Eine hat ein lilafarbenes Muttermal auf der Lippe, das ihre Erfahrungen seit der Kindheit prägt. In starker, muskulöser Sprache entsteht das Porträt von acht jungen Frauen, die in direkter Körperlichkeit alles geben, um gesehen zu werden und den Kampf ihres Lebens für sich zu entscheiden. Ein herausragend lebendiger Roman von einer der interessantesten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur.
Rita Bullwinkel gilt als eine der interessantesten Stimmen der jungen amerikanischen Gegenwartsliteratur. Sie lebt in San Francisco, ist die Herausgeberin des Literaturmagazins Mc-Sweeney's und unterrichtet am California College of the Arts. 2022 wurde sie für ihr Schreiben mit einem Whiting Award ausgezeichnet. Im Sommer 2024 hat sie die Picador-Professur in Leipzig inne. »Schlaglicht« ist ihr erster Roman.
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Rita Bullwinkel
Schlaglicht
Roman
Aus dem Amerikanischen von Christiane Neudecker
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Aus »Games for Girls« des Historikers Thomas F. Scanlon:
Der 12. jährliche DAUGHTERS OF AMERICA CUP für Frauen U19 in Bobs Boxpalast in Reno, Nevada 14. Juli – 15. Juli 20XX
14. Juli
Artemis Victor vs. Andi Taylor
Rachel Doricko vs. Kate Heffer
Izzy Lang vs. Iggy Lang
Rose Mueller vs. Tanya Maw
NACHT
TIEFE NACHT
15. Juli
Artemis Victor vs. Rachel Doricko
Iggy Lang vs. Rose Mueller
15. Juli
Rachel Doricko vs. Rose Mueller
EIN ZEITUNGSAUSSCHNITT
DIE ZUKUNFT
DANKE
Impressum
Für meine Schwester Audrey, die bei allem dabei war
Erst nach der Antike konnten junge Griechinnen an den Sportwettkämpfen der Männer teilnehmen. Es gibt nur spärliche, spät auftauchende Hinweise darauf, die besondere soziale Umstände andeuten … Eine in Delphi gefundene Inschrift aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. erwähnt junge Frauen, die in Wagenrennen und an Wettrennen teilnahmen … Jedoch traten diese Mädchen mutmaßlich nur gegen andere Mädchen an, so wie bei einem Wettlauf der Töchter …
Andi Taylor ballt ihre Hände, schlägt auf ihren flachen Bauch und denkt dabei nicht an ihre Mutter, die mit ihrem kleinen Bruder zu Hause hockt, nicht an ihr Auto, das sie gerade mal so hierhergebracht hat, nicht an ihren Sommerjob als Bademeisterin im überfüllten Stadtbad, nicht an den Vierjährigen, den sie hat sterben sehen, den Vierjährigen, den sie quasi umgebracht hat, nicht an seine blau angelaufenen Wangen. Man sollte Teenager keine Kinder retten lassen. Es ist völlig egal, wie viele Erste-Hilfe-Kurse man belegt hat. Sie hat den Jungen mit ihrem abschweifenden Blick getötet. Auf seiner Badehose waren kleine rote Lastwagen. Er sah aus, als wäre er aus Plastik. Sie denkt nicht darüber nach, wie sich sein Oberschenkel anfühlte, als sie ihn, schon tot, vom Grund des Pools nach oben zog. Und wie leicht er sich greifen ließ, weil er so klein war. Sie sieht zur Dachluke hinauf, zu dem Licht, das von dort oben in dieses beschissene Gym fällt und sie denkt an die Fehler, die sie beim Kämpfen immer macht: ihre nachlässige Deckung, die faule Linke, die ihr wegsackt, wenn sie nicht daran denkt und ihr Gesicht nicht richtig schützt. Sie denkt darüber nach, wie Artemis Victor sie kriegen wird. Wenn Andi Taylor darüber nicht nachdenkt, ist der Kampf blitzschnell vorbei. Andi Taylor muss auf ihre Distanz achten und auf ihr Zentrum. Andi Taylor muss auf ihre Haltung achten.
Noch sitzen sie hier herum und beäugen sich. Sie kennen sich, sind aber nie gegeneinander angetreten. Sobald man der Jugendliga fürs Frauenboxen beitritt, zwingt einen dieser Pseudo-Sportverband 200 Dollar zu zahlen, für die man dann ein »kostenloses« Abo seines Magazins bekommt. Darin werden die Mitgliederinnen porträtiert, junge Boxerinnen, eine nach der anderen. Da sieht man dann, wer alles so herumschwirrt, selbst wenn sie aus dem hintersten Winkel des Landes stammen, und man kann sich ausrechnen, gegen wen man als Nächstes antritt und gegen wen diejenigen vorher angetreten sind und gegen wen die dann als Nächstes kämpfen und was ihre Hobbies sind, weil der Möchtegern-Journalist, der diese Artikel schreibt, der Meinung ist, dass das wichtige Infos sind, die man in einem athletischen Steckbrief dringend braucht. Weswegen in jeder Ausgabe Zeug aufgelistet wird wie: Name, Wohnsitz, Lieblingsfarbe, Hobbies, Siege und Niederlagen, und ein Foto des Mädchens in Boxhandschuhen. Diese Fotos sind so eine Art Wildcard, denn manche der Kämpferinnen lassen sich in Trainingsklamotten ablichten, während sich andere in Träger-Hemdchen in Szene setzen, mit offenen Haaren, schief gelegtem Kopf und auf die Hüfte gestemmten Handschuhen.
Andi Taylor würde Artemis Victor im Schlaf erkennen, denn Artemis Victor ist die jüngste der drei Victor-Schwestern, einer Familie von Boxerinnen. Ihre Eltern kommen zu jedem Turnier von Artemis in T‑Shirts, auf denen »Victor« steht. Lächerlich, wie sie da die Siegesbilanzen ihrer Töchter auf der Brust herumtragen.
Jeder kennt die Victor-Schwestern und weiß, wo sie gewonnen und wo sie verloren haben. Die Punktrichter behandeln Artemis’ Familie wie gute alte Kumpel, was im Boxen besonders ärgerlich ist, weil die Grauzonen bei Schiedssprüchen oft so offensichtlich sind. Und wenn du weißt, dass der Judge eine besondere Beziehung zu den Teilnehmern hat, kommst du nicht umhin zu denken: Ich werde übergangen, ich bin am Ende, hätte ich doch Eltern, die bereit wären, sich mit meinen Trainern anzufreunden, hätte ich doch Eltern, die sich von der Arbeit freinähmen oder gar nicht erst arbeiteten, die herkämen, um mich siegen zu sehen.
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Mr. und Mrs. Victor sitzen auf Klappstühlen neben dem Ring. Es gibt kaum mehr als zwei Dutzend andere Zuschauer: die Judges, andere Kämpferinnen, einen Redakteur der Lokalzeitung, einen Redakteur des Magazins der Women’s Youth Boxing Association, Eltern, eine Großmutter, die Trainer und Bob, den Besitzer dieses Gyms.
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Bob ist auch Trainer, aber er coacht grundsätzlich keine Frauen. Ihm ist egal, wer hier gewinnt. Sein Studio hatte für dieses Turnier einfach die perfekte Lage. Alle Trainer sind Männer und alle haben eigene Gyms und streichen Geld von den Mädchen ein, um es der Jugendliga fürs Frauenboxen rüberzuschieben, die es dann wieder zurückschiebt, damit die Trainer Regionalturniere in ihren Gyms ausrichten. Manche der Trainer waren Amateurboxer, aber kaum einer von ihnen schaffte es auf das Niveau, auf dem diese Mädchen hier antreten. Die Trainer reisen mit den Mädchen zu den Turnieren, um ihre Schecks einzustreichen. Zwischen den Runden reden die Trainer auf Artemis und Andi ein, aber sie geben nur Klischees von sich. Alles, was diese Trainer ihnen beigebracht haben, ist längst Geschichte. Ihr Gefasel klingt wie das Rauschen des Ventilators in Bobs Boxpalast. Artemis und Andi wünschten, sie könnten mit weniger Lärmbelästigung kämpfen. Jedes Geräusch, das nicht der satte Aufprall eines Treffers ist, ist pure Ablenkung.
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Artemis Victor lässt ihre Schultern kreisen. Sie sieht zu Andi Taylor hinüber und denkt: Du bist hässlich. Ich bin hübscher als du und schlagen werde ich dich auch.
Artemis bewertet immer die Körper anderer Frauen, egal wo. Ich bin die Hübscheste im ganzen Raum, denkt sie. Da drüben ist eine, die vielleicht noch hübscher ist – wenn man auf Drogensüchtige steht. Es gibt Männer, die das mögen. Wenn Artemis Victor sich ihre Zukunft ausmalt, dann sieht sie sich selbst in einem großen Haus, vielleicht in Miami, irre erfolgreich und nicht drogenabhängig. Artemis Victor hat einen Teddy, der ein Puppen‑T-Shirt mit der Aufschrift »Victor« trägt.
»Das ist mein Mädchen!«, schreit Mrs. Victor.
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Artemis Victor glaubt immer daran, dass sie gewinnen wird. Das ist keine schlechte Angewohnheit. Wenn man Selbstzweifel aus dem Fenster werfen kann, ist das, als hätte man eine Waffe im Anschlag. Artemis Victor hasst ihre älteste Schwester. Ihre älteste Schwester hat vor vier Jahren den Daughters of America Cup gewonnen. Ihre mittlere Schwester erreichte Silber. Selbst wenn Artemis Victor das Ding gewinnt, im Turnier siegt und die Beste des Landes wird, die beste U‑19 Boxerin in den gesamten Vereinigten Staaten, selbst dann wird sie nur Zweite nach ihrer älteren Schwester Star Victor sein. Weil Star vor ihr die Landesbeste war und jetzt verheiratet ist und Mann und Kind hat und gerade knapp davor steht, ein eigenes Haus zu besitzen, wenn nicht sogar reich zu werden.
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Artemis Victor hat keine Ahnung, was es braucht, um ein Haus zu besitzen, aber sie weiß, was es braucht, um andere Leute zu schlagen. Denn genau das scheint Grundbesitz zu sein: dass du andere Leute darin schlägst, ein Stück Land zu besitzen, sodass du es nicht mit ihnen teilen musst. Weil Besitz ein Ergebnis deines Siegs über andere Menschen ist. Du hast mehr Geld gewonnen als sie – also gehört dieses Fleckchen Erde jetzt für immer dir.
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Artemis Victor ist nicht dumm. Sie wäre eine glänzende Bankangestellte, auch wenn sie später Weinhändlerin werden wird. Es ist nur so, dass ihr Wertesystem ziemlich eng gestrickt ist. Sie hat eine wahnsinnig gute Menschenkenntnis, sie weiß, was Leute wirklich denken und nicht sagen, sie kann an der Körperhaltung von Gesprächspartnern ablesen, ob sie an ihr interessiert sind oder nicht. Sie weiß, welche ihrer Lehrer in der Schule sie bemitleiden muss: die, die verzweifelt auf jemanden hoffen, der ihnen zuhört. Sie weiß, was sie sagen muss, damit Leute denken, sie hörte ihnen zu.
Veganerin ist Artemis Victor auch. Die Tiere tun ihr leid. Das stand sogar in ihrem Porträt im Magazin der Women’s Youth Boxing Association, kurz: WYBA. Artemis Victor liebt Tiere. Sie hat eine Doku über Wale gesehen, die in Freizeitparks gequält werden, und findet, man sollte sie alle freilassen.
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Der Referee steht in der Ringmitte und erzählt den Kämpferinnen Dinge über die Regeln, die sie schon hundert Mal gehört haben. Sie nicken, stehen von ihren Hockern auf und beginnen, auf- und abzufedern. Andi hüpft hektischer als Artemis. Artemis bewegt sich ruhig. Sie tragen beide Shorts aus Ballonseide und Sport-BHs und Tanktops. Der Gummizug schneidet so sehr ein, dass der Abdruck noch Stunden nach dem Umziehen zu sehen sein wird.
Vor einer Woche kam Andi heim, zog ihre Shorts aus und betrachtete den roten Ring aus Rillen, den die Shorts auf ihrem Bauch hinterlassen hatten. Sie fingerte an den Einkerbungen herum. Als die Abdrücke eine Stunde später verschwunden waren, war sie darüber fast traurig. Sie waren ein Beweis für ihre Leistung. Sie wünschte, sie könnte ein blaues Auge als Siegestrophäe herumtragen, um Leuten zu zeigen, dass sie eine Kämpferin ist, dass sie etwas tut, was schwer ist.
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Andis Knie ist zu weit vorn und Artemis drängt sich an Andi heran, um sie zu zwingen, es unter ihre Hüften zurückzuziehen. Das sind die Sekunden des Auscheckens – die Augenblicke, in denen eine Kämpferin prüft, ob und wo ihre Gegnerin Schwachstellen hat.
Wenn Artemis eine Schwachstelle hat, dann ist es ihre Familie. Die Siege ihrer Schwestern sitzen ihr im Nacken. Sie wird ständig daran erinnert. Das hier ist das Turnier, in dem sie sich als ebenbürtig erweisen kann – oder als die schlechteste Boxerin der Familie. Eine Dynastie wie die der Victors ist im Boxen seltener als in anderen Sportarten, aber nicht komplett ungewöhnlich. Frauenboxen für Jugendliche ist eine so kleine Welt, dass die Victors sie erobern konnten.
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Andi Taylors Knie ist noch immer im Weg. Artemis stülpt ihre Oberlippe auf und fletscht ihre vom roten Mundschutz bedeckten Zähne.
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Artemis’ Muskeln sind Pakete. Sie kann mit mehr Wucht zuschlagen, als andere Leute Bälle werfen. Ihre Muskeln wölben sich zu zwei kleinen Hügeln links und rechts neben ihrem Nacken. Artemis beginnt eine Schwäche in Andis Bewegungsablauf zu erkennen und weiß, wo sie einen Treffer landen kann. Artemis Victor denkt, dass sie zu Andi Taylor durchkommen wird. Gerade als Artemis das denkt, trifft Andi Artemis Victors linke Rippe.
Es ist ein harter Schlag, den die Judges sofort werten. Die Wertung wird so laut gerufen, dass jeder sie hören kann. Das hier ist schließlich ein Punktekampf. Deswegen tragen die Kämpferinnen den gepolsterten Kopfschutz, der Ohren, Wangen und Stirn umrahmt und der unter dem Kinn zugeschnallt wird. Die Treffer sollen Schaden machen.
Andi hat die Leere, die sich zwischen ihrer geballten Rechten und Artemis’ linkem Rippenbogen auftat, wie einen Tunnel gesehen. Einen hell beleuchteten Tunnel, der nur darauf wartete, von Andis Faust gefüllt zu werden. Andi führte ihre Hand durch den leeren Tunnel auf Artemis’ Körper zu, wieder und wieder, bis der Referee dazwischenging.
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Der Referee hat Andis Handschuhe von innen überprüft, bevor er sie mit Tape an ihre Handgelenke festband. Er wollte prüfen, ob sie Blei hineingesteckt hatte. Das machen sie immer vor Kämpfen. Es ist eine der Grundregeln des Sportverbands.
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Andi mag es, wenn die Referees ihre Handschuhe von innen befühlen. Sie mag es, wenn sie ihre Hände in eine Höhle schieben, in die gleich ihre eigenen Hände schlüpfen werden. Dass sie sie vor jedem einzelnen Kampf überprüfen, gibt Andi das Gefühl, zu einem Mord fähig zu sein. Es gefällt ihr, dass Erwachsene ihre Fäuste als Waffen einstufen. Sie könnte da ja einen Stein reintun. Sie könnte ja das Mädchen umbringen, gegen das sie kämpft. Jedes Mal, wenn die Referees ihre Handschuhe inspizieren, zeigen sie, dass sie ihr einen Mord zutrauen. Das fühlt sich für Andi gut an. Die meisten Leute in ihrem Leben trauen ihr gar nichts zu, schon gar nicht einen vorsätzlichen Mord. Und nachdem sie den kleinen Jungen mit ihrem abschweifenden Blick getötet hat, fragt sie sich, ob sie so etwas auch mit ihren Fäusten kann.
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Der Junge mit den roten Lastwagen auf der Badehose – Andi dachte nicht an ihn – ist nicht einmal das Schlimmste, was Andi je passiert ist oder der erste Tote, den sie je gesehen hat. Aber er war der kleinste (der andere war ihr Vater). Die Winzigkeit des toten Jungen war besonders abstoßend. Der Tag war so trocken und klar. Sie hat nicht geweint. Als sicher war, dass der Lastwagen-Junge nicht reanimiert werden konnte, hat sie gekotzt. Das Kotzen gab ihr das Gefühl, selbst noch ein kleines Kind zu sein. Sie war überrascht von der heftigen Reaktion ihres Körpers. Es war der Anblick seines kleinen, bratwurstdicken Schenkels, der sie kotzen ließ. Andis Schlag trifft Artemis wieder, diesmal an Artemis’ Schulter. Wie lange kann sie damit davonkommen, Artemis Victor zu schlagen?
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Bobs Boxpalast wurde für die Austragung dieses Turniers ausgewählt, weil er so zentral liegt, weil er sich ungefähr im Zentrum von Amerikas Heartland befindet oder zumindest nicht in der Nähe eines Ozeans und weil Bob der Bruder des Vorstands der Jugendliga fürs Frauenboxen, der Women’s Youth Boxing Association, ist, die von jeder Teilnehmerin 100 Dollar einnimmt, um die Referees, die Judges, die Hallengebühren und die Verbandsfunktionäre für ihre Zeit zu bezahlen.
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Andi hat ihr Rettungsschwimmer-Geld genutzt, um die Startgebühr zu entrichten. Es fühlt sich jetzt an wie Blutgeld.
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Vor der nationalen Austragung des Daughters of America Cup gab es ständig Qualifizierungskämpfe auf regionaler Ebene, sodass die WYBA Gebühren von Tausenden jungen Frauen einsammelte. Sie machten durchschnittlich fünfzig- oder sechzigtausend Dollar Profit und Bob bekommt dafür, dass er sein Gym zur Verfügung stellt, einiges ab.
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Artemis Victor ist kräftiger als Andi Taylor. Die Muskeln ragen aus ihren Armen und ihrem Rücken hervor, als hätte sie Seile unter ihrer Haut. An ihren Unterarmen spannen sich die Sehnen in klaren Linien von ihren Handgelenken bis zu den Ellenbogen. Ihre Schultern sind breit und sehen besonders riesig aus, wenn sie sie in trägerlose Kleider presst. Während der Kämpfe ist sie immer geschminkt. Artemis trägt wasserfeste Wimperntusche und knalliges Rot auf den Lippen.
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Andi ist groß und schlaksig. Sie hat die Figur einer Langstreckenläuferin. Ständig sagen ihr Leute, dass sie das mal probieren sollte. Sie interessiert das nicht.
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Artemis Victors Pferdeschwanz sitzt perfekt. Sie hat so viel braunes Haar, dass es kaum durch ein Haargummi passt. Wenn sie nicht kämpft, trägt sie es entweder seitlich oder als Dutt auf ihrem Scheitel. Sogar hochgebunden berührt der Pferdeschwanz noch ihre Schultern. Sie erzählt immer, dass sie ihre Haare wachsen lässt, um sie irgendwann einem krebskranken Mädchen zu spenden, aber sie schneidet sie nie, höchstens die Spitzen.
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Die Frisöre in dem Salon, in den Artemis geht, hören nie richtig zu. Schneidet nicht so viel ab, ich will es lang, sagt sie ihnen. Sie verlässt den Salon immer mit dem Gefühl, dass sie um einen Teil ihres Ichs beraubt worden ist.
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Andi Taylors Haar ist so fein, dass es zusammengeflochten nur einen Finger breit ist. Wenn ihr Haar nass wird, fühlt es sich schleimig an. Sobald es draußen richtig kalt wird, hat Andi Taylor Angst, ihre Haare könnten abbrechen. Ihr ist das schon einmal passiert. Zwar nur mit ein paar Strähnen, aber sie hat so wenige Haare, dass es sich sehr dramatisch anfühlte. Als hätte sie etwas, wovon sie ohnehin zu wenig besaß, verloren und würde es nie wieder zurückbekommen.
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Weder Artemis Victor, noch Andi Taylor, noch den anderen Teilnehmerinnen des Turniers entgehen die Unterschiede in ihrem Körperbau. Ihre Körper sind das einzige Werkzeug, das sie haben. Das hier ist nicht Lacrosse oder Tennis. Es gibt keine Schläger. Sie haben nur ihre Arme und ihre Beine und ihre gepolsterten Köpfe und ihre behandschuhten Fäuste. Die Ausrüstung soll sie nur davor schützen, einander umzubringen. Sie brauchen sie nicht, um ihre Fähigkeiten auszuüben, auch wenn sie in ihren unterschiedlichen Regionen und ihren unterschiedlichen Gyms alle mit Handschuhen und Kopfschutz trainieren. Handschuhe und Kopfschutz sind nichts anderes als Klamotten. Man kann in ihnen oder ohne sie trainieren, so wie man theoretisch im Badeanzug schwimmen kann oder nackt.
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Andi Taylor und Artemis Victor taxieren einander unter dem Dach von Bobs Boxpalast und versuchen herauszufinden, wie sie mit ihren Fäusten ans Gesicht der anderen herankommen. Das hier ist der erste Kampf des Turniers, die Runde, in der entschieden wird, wer von den Kämpferinnen ins Halbfinale weiterkommt. Wer verliert, ist draußen. Beim Daughters of America Cup gibt es keine zweite Chance.
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Andi nähert sich Artemis, indem sie ihren rechten Fuß voranschiebt und das linke Bein hinter sich herzieht. Es ist ein ungelenkes Staksen, das sie, wenn auch nicht besonders elegant, ans Ziel bringt. Andi hat sich noch nie Gedanken über ihre Haltung gemacht. Sie weiß gar nicht, wie viele Probleme es verursacht, wenn man den Schwerpunkt so instabil hält. Dadurch öffnet Andi ihre komplette rechte Seite für ihre Gegnerin. Sie läuft wie eine Krabbe. Es ist eine unkluge Art zu boxen. Es ist seltsam. Das heißt, für Artemis sieht es seltsam aus. Keine von ihren Schwestern boxt so. Andi steht völlig wacklig, also zieht Artemis durch. Ihr Schlag kracht auf Andis Brustkorb. Der Referee wertet den Treffer.
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Die Art und Weise, wie Andi sich von dem Schlag erholt, ist noch merkwürdiger als ihr schiefer Angriff. Sie hat sich, was eigentlich unmöglich ist, in ihn hineingestreckt. Aber Andi hat den Schlag tatsächlich kommen sehen. Auch wenn es zu spät war, um völlig auszuweichen, so hat sie sich doch so weit zurückziehen können, dass sie nicht die volle Wucht von Artemis Faust abbekam.
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Andi sah den Schlag gegen ihren Brustkorb eher, als dass sie ihn fühlte. Sie sah das rote Leder des Handschuhs unter ihren Augen und zwischen ihren Schultern. Es war, als würde sie über einem roten Stofffetzen hinwegfliegen. Andi ist hoch über dem roten Ozean. Sie zieht sich zurück und greift wieder an.
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Sie sind als Kämpferinnen unterschiedlicher als als Personen. Artemis’ Technik ist geschliffen und durchkalkuliert. Andi schlägt achtlos. Ihre Hände bewegen sich langsam, aber unberechenbar.
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Außerhalb der Boxwelt werden Verzweiflung und Wildheit im Kampf oft hochgejubelt. Man will glauben, dass Rauflust und Unerschrockenheit über Erfahrung siegen können und werden. Aber kein echter Boxtrainer würde je von seinem Schützling mehr Verzweiflung verlangen. Kontrolle und Zurückhaltung sind viel wertvoller als wildes Drauflosprügeln.
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Andi ist sich nicht sicher, warum der Anblick der Leiche ihres Vaters sie so viel weniger mitgenommen hat als der Anblick des toten Lastwagen-Jungen. Vielleicht, weil die Leiche des Jungen Beweis für ein ungelebtes Leben war. Vielleicht auch, weil Andi glaubt, den Jungen getötet zu haben. Hat sie den Jungen getötet? Beide Leichen haben sie überrascht. Ihr Vater ist auf der Couch beim Fernsehgucken gestorben. Er hat allein gelebt und war von Andis Mutter geschieden. Als Andi ihren Vater in seiner Wohnung fand, waren da, als sie eintrat, nur sie und diese tote Version von ihm gewesen, nur sie und der Leichnam. Sie denkt an sie beide, an sich selbst beim Eintreten und an ihn, der seine Lieblingssendung im Fernsehen verpasst hatte, weil er schon tot war, bevor die Folge überhaupt hatte anfangen können.
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Dass Andi schon zwei Leichen angefasst hat (und Artemis noch keine) spielt im Kampf keine Rolle. Sie sind junge Mädchen, die schon früh als junge Frauen behandelt wurden. Das schweißt sie mehr zusammen als jede familiäre (oder miterlebte) Tragödie. Frauenboxen wurde und wird nie als etwas respektiert, in das man seine ganze Energie reinsteckt. Das Training fordert von Andis und von Artemis’ Körper seinen Tribut. Der Schweiß, der zwischen Andis Stirn und dem Kopfschutz klebt, verpasst ihr Akne, die sie überschminken muss. Sie sieht mit Pony furchtbar aus, aber um die tiefen Pickelkrater zu verdecken, die das Plastik des Kopfschutzes ihr beschert, trägt sie trotzdem einen. Sie hat sich mal in einem der Pickel eine Staphylokokken-Infektion eingefangen, weil sie nach dem Gewichtestemmen im Fitnessstudio ihr Gesicht berührt hat. Die Bakterien fraßen ein erbsengroßes Loch in ihre Stirn, bis ihre Mutter darauf bestand, dass sie zum Arzt ging. Der Arzt musste Andi extra starkes Penicillin spritzen, und dann verkrustete die Infektion, so dass es fast sechs Wochen lang aussah, als trüge Andi einen toten Käfer auf der Stirn.
Ganz zu schweigen von den gebrochenen Knochen, die sie beide haben, hauptsächlich in ihren Fingern. Sowohl Artemis als auch Andi haben sich die Fäuste mehrfach gebrochen, aber Artemis zirka ein Dutzend Mal öfter. Auch wenn Artemis es jetzt noch nicht weiß: die zusätzlichen Fingerbrüche haben ihre feingliedrigen Hände schon für immer geschädigt. Wenn Artemis sechzig ist, wird sie keine Teetasse mehr halten können.
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Artemis wird allein wohnen, ihr Mann schon lange verstorben sein, und ihre Hände so kaputt, dass sie kaum noch die Kühlschranktür öffnen können. Zu diesem Zeitpunkt wird niemand in ihrem Leben, auch nicht ihre Tochter, mehr verstehen, was es bedeutet, eine Boxerin gewesen zu sein. Die Boxerin in ihr wird sich längst in Luft aufgelöst haben. Artemis wird seit den Daughters of America vier weitere Leben gelebt haben, die mit dem Boxen überhaupt nichts mehr zu tun haben. Und so werden diese Fäuste, die sich nicht ballen lassen, keine Kampftrophäe sein, sondern eine bedauernswerte, jämmerliche Behinderung.
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Im Daughters of America Cup geht eine Runde über zwei Minuten. Pro Kampf gibt es acht Runden. Artemis Victor holt auf, als sie Andi Taylor hart an der linken Seite ihres Kopfes trifft. Es ist der bisher beste Treffer. Die Glocke erklingt und die Judges stehen auf, geben die Runde an Artemis Victor und die beiden Mädchen setzen sich in ihre zugewiesenen Ecken.
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Während sie rotgesichtig und mit gespreizten Beinen auf ihren Hockern sitzen, wirbeln die Gedanken in Artemis und Andi herum wie Windturbinen. Ihre Köpfe fühlen sich an, als würde Wasser in ihnen herumschwappen. Ihre Verarbeitungsmechanismen arbeiten auf Hochtouren. Ihre Sinnesreize sind gedämpft. Verben sind die einzigen Worte, die sie noch klar hören.
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Andi Taylors Gedanken wandern in Neuronenkörbchen über ihre Wirbelsäule bis hoch zu den Ohren. In einem der Körbe sieht sie ihren toten Vater beim Fernsehen. Seine Leiche saugt das bläuliche Licht vom Bildschirm an. Es ist, als würde ihr Vater an der Leere hinter dem Bildschirm schlürfen. Das Blau strömt aus dem Gerät heraus und sendet in seinen Körper hinein.
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Artemis Victors Geist ist blassrosa, während sie dasitzt und über ihre nächsten Schritte nachdenkt. Artemis Victor lädt sich auf wie eine Batterie. Ihr Talent und das Training und die Victor-Gene regenerieren sich, während sie sich ausruht. Sie wird erfrischt in die nächste Runde gehen, stärker als sie begonnen hat. Artemis Victor wird auf Andi Taylor einschlagen, bis sie gewinnt.
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Hol sie dir, sagt der Trainer zu Artemis Victor. Schlag sie, sagt Andi Taylors Trainer. Artemis und Andi und alle Kämpferinnen des Turniers wünschen sich, sie wären ohne Trainer hier und dürften ohne diese peinlichen, nichtswissenden Anhängsel gegeneinander antreten. Die Trainer sind völlig nutzlos, wie bekiffte ältere Brüder, die zum Abschlussball von den Eltern als Anstandswauwaus mitgeschickt werden.
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Außerhalb des Rings stehen die beiden Redakteure und die anderen Trainer und Bob und Mr. und Mrs. Victor und die Mädchen, die später boxen werden. Die anderen Mädchen sind in der riesigen Trainingshalle verstreut. Sie stehen versetzt und sehen sich nicht an. Sie reden nicht miteinander. Sie sehen aus wie voneinander abgeschirmte Zeuginnen. Alle haben sie die Arme verschränkt. Sie werden noch früh genug in den Ring steigen, später am Tag. Heute finden vier Kämpfe statt. Die Mädchen müssen sich langsam darüber Gedanken machen, wie ihre eigenen ersten Runden beginnen und enden.
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