Schlamassel mit Seeblick - Barbara Smrzka - E-Book
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Schlamassel mit Seeblick E-Book

Barbara Smrzka

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Beschreibung

Gärtnerin Toni Schubert macht Familienurlaub im schönen Lunz am See: Wandern, Schwimmen und Karten spielen - so sehen ihre Pläne für zwei arbeitsfreie Sommerwochen aus. Aber dann hört sie von rätselhaften Vorgängen an der Biologischen Station am See, ein Todesfall in der Nachbarschaft sorgt für Unruhe, gefolgt von merkwürdigen Unfällen. Zu allem Überfluss taucht auch noch Franka, die nervige Journalistin, in Lunz auf … Sommer, See und Sonnenschein? Schön wär’s! Erholsame Tage hat sich Toni anders vorgestellt.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Barbara Smrzka

Schlamassel mit Seeblick

Gartenkrimi

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © kristina rütten / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3292-2

Zitate

»There is only one kind of wisdom that has any social value, and that is the knowledge of one’s own limitations.«

Dorothy L. Sayers in Gaudy Night

*

»Wer nichts weiß, muss alles glauben.«

Science Busters

VORBEMERKUNGEN

Wie meinen?

Falls Ihnen das eine oder andere Wort dieser Geschichte seltsam vorkommt: Im Anhang findet sich ein Glossar österreichischer Mundart-Ausdrücke.

*

Zur Gewässerforschung

Im Jahr 1905 wurde die Biologische Station Lunz von Doktor Carl Kupelwieser gegründet, im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich diese zu einem international anerkannten Zentrum aquatischer Forschung.

Im Jahr 1998 gab der langjährige Träger dieser Einrichtung, die Österreichische Akademie der Wissenschaften, die geplante Schließung bekannt, im Jahr 2003 wurde der Betrieb eingestellt. Demnach war die Forschungsstation im Sommer 2004 – anders als in diesem Krimi – tatsächlich geschlossen.

Wieder eröffnet wurde der Forschungsbetrieb im Jahr 2007 unter dem neuen Namen WasserCluster Lunz – Biologische Station GmbH, als interuniversitäres Zentrum zur Erforschung aquatischer Ökosysteme. Beteiligt sind die Universität für Bodenkultur Wien, die Universität Wien und die Universität für Weiterbildung Krems, gefördert wird der WasserCluster von den Bundesländern Niederösterreich und Wien.

Sommerfrischler, Einheimische und andere Leut’

Die Schuberts

Toni Schubert, Chefin einer Wiener Gärtnerei

Annemarie Schubert, genannt Ama, Tonis Großmutter und Vorgängerin

Christl Schubert, Tonis Großtante, pensionierte Englischlehrerin

Franz Stieglitz, genannt Flo, Tonis bester Freund und Wahlbruder

Gitti Schreckenfuchs, Tonis Tante

Beppo Schreckenfuchs, Tonis Onkel, Chefinspektor der Wiener Kriminalpolizei

Lux, wohlerzogener Brackenrüde mit Talent zum Therapiehund

*

Die Nachbarschaft

Erna und Hans Gamsjäger, ein betagtes Lunzer Ehepaar, langjährig mit Ama befreundet

Elfi Gamsjäger, deren Tochter, wohnt ebenfalls in Lunz, Lebensberaterin mit Hang zur Kompetenzüberschreitung

Samira Babić, Untermieterin von Erna und Hans, arbeitet als Dissertantin an der Biologischen Station

*

Die Wissenschaft

Anke Moosbichler-Schulz, Professorin und Gruppenleiterin, Samiras Chefin

Clemens Höger, Post-Doc – das heißt Forscher mit abgeschlossenem Doktorat

Sisipho Mbeki, ebenfalls Post-Doc

Marisol Flores Reed, Dissertantin wie Samira – das heißt beide haben das Doktorat noch vor sich

Max Weinmayr, Diplomand und Samiras Freund für gewisse Stunden

*

Sonst noch mit dabei

Willi Ferschl, Sportartikelhändler

Rudolf Killinger, Abteilungsinspektor und Leiter der Lunzer Gendarmerie-Dienststelle

Franka Kowalski, Journalistin, neuerdings auch Webdesignerin

Hubert Moosbichler, Lunzer Gemeindearzt und Ankes Ehemann

PROLOG

Aus dem Nachrichtenblatt der Marktgemeinde Lunz am See, Juli 2004:

Zum 55. Hochzeitstag

Die Gemeindevertretung gratuliert dem Ehepaar Erna und Johann Gamsjäger aufs Allerherzlichste zur Platinhochzeit! Dieses seltene Jubiläum wurde am 3. Juli 2004 mit einem Festgottesdienst in der Pfarrkirche gebührend gefeiert. Pfarrer Markus Steinbacher, Bürgermeisterin Herlinde Trutz und zahlreiche Festgäste wünschten dem Jubelpaar zu diesem Anlass noch viele gesunde gemeinsame Jahre.

Gesunde gemeinsame Jahre. Samira Babić seufzte.

Sie stand in der Küche ihrer Vermieter vorm Kühlschrank, an dem dieser Artikel klebte. Vermutlich hatte ihn Hans Gamsjäger selbst aus den Lunzer Gemeindenachrichten ausgeschnitten und voller Stolz angeheftet. 55. Hochzeitstag! Alles andere als selbstverständlich, besonders unter diesen Umständen.

Samira öffnete den Kühlschrank. Wie immer waren die für sie reservierten Ablagen gut gefüllt, alle anderen spärlich bestückt. Erna und Hans Gamsjäger bekamen seit einer Weile Essen auf Rädern geliefert. Mehr als Milch, Butter und ein wenig Aufschnitt brauchten die beiden nicht für Frühstück und Nachtmahl. Wenn Samira Lust hatte zu kochen, durfte sie in der Küche schalten und walten, wie sie wollte. Jetzt angelte sie Brokkoli, Obers und Blauschimmelkäse aus dem Kühlschrank und machte sich daran, ihr Abendessen vorzubereiten.

Sie wohnte zur Untermiete beim Ehepaar Gamsjäger und liebte ihr Quartier sehr. Samira hatte den Oberstock des Hauses für sich allein, zwei Mansardenzimmer und ein winziges Duschbad – mehr Platz war nicht unterm Dach. Im nordseitigen Raum, Richtung Berghang, standen Bett und Kleiderkasten, dort blieb es selbst an Sonnentagen finster. Was Samira nicht störte, beim Schlafen hatte sie ohnehin die Augen zu.

Dafür genoss sie die Aussicht aus dem vorderen Zimmer umso mehr. Gleich neben der Glastür, die auf einen schmalen Balkon hinausführte, stand ihr Schreibtisch. Wenn sie stundenlang auf den Bildschirm ihres Laptops oder in das Journal of Limnology starrte, brauchte sie nur den Kopf zu heben und wurde mit einem grandiosen Blick auf die Bergwelt und den Lunzer See belohnt. Zur Linken zeigten sich Hetzkogel und Scheiblingstein, wandte sie den Blick nach rechts, schimmerte vorm Seekopf die Wasseroberfläche in allen Schattierungen von Blau und Grün, je nach Jahreszeit und Wetter.

Die Gamsjägers vermieteten seit Jahren das Obergeschoß ihres Einfamilienhauses an eine Wissenschaftlerin der Biologischen Station von Lunz am See. Als Samiras Vormieterin ihre Tätigkeit in Lunz beendet hatte, war diese traumhafte Unterkunft frei geworden. Samira hatte nicht lange überlegen müssen und prompt zugegriffen.

Ihre Kolleginnen und Kollegen beneideten sie, und das nicht nur der Aussicht wegen: Sie hatte mit Abstand den kürzesten Arbeitsweg von allen. Keine zehn Minuten brauchte es, um vom Haus der Gamsjägers zur Limnologischen Station zu gelangen – und das zu Fuß!

Niemand sonst aus ihrer Arbeitsgruppe wohnte im Seehof, diesem Ortsteil von Lunz, der den Zusatz »am See« mehr verdiente als der Rest der Gemeinde. Wohnraum war hier rar. Zum Seehof gehörten einige Einfamilienhäuser, zwei Gaststätten, das altehrwürdige Schloss der Familie Kupelwieser und die Limnologische Station, Samiras Arbeitsplatz.

Sie warf die Brokkoli-Röschen in kochendes Salzwasser und den Käse ins heiße Obers. Während sie in der Sauce rührte, dachte sie, wie so oft, an ihr Forschungsprojekt. An die Proben im Labor, an ihre Kolleginnen und Kollegen … vor allem aber an dieses elende Paper.

Für den Abschluss ihrer Dissertation fehlte Samira noch eine dritte Publikation, ein dritter Artikel – Paper genannt – in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift. Gemäß ursprünglichem Zeitplan hatte sie diesen Artikel noch im Frühjahr zur Publikation einreichen wollen, leider war sie noch immer nicht zufrieden mit ihren Ergebnissen. Dabei war bereits Ende Juli!

Samira war so in Gedanken versunken, dass sie das Öffnen der Küchentür überhörte und auch, dass jemand leise, leise hinter sie trat …

Als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte, schrie Samira auf und wandte sich blitzartig um.

»Frau Gamsjäger! Haben Sie mich erschreckt!«

Gorgonzolasauce tropfte vom Kochlöffel auf den Küchenboden. Erna Gamsjäger blinzelte und sah Samira erstaunt an. Erstaunt und ein wenig enttäuscht.

Sie hat mich wahrscheinlich für ihre Schwester gehalten – wie so oft, dachte Samira und rang sich ein Lächeln ab. »Suchen Sie etwas, Frau Gamsjäger? Kann ich Ihnen helfen?«

Die alte Frau schüttelte langsam den Kopf und zog die Stirn in Falten, als müsse sie sich ganz besonders konzentrieren.

Samira hatte Erna Gamsjäger noch als lebenslustige alte Frau kennengelernt, oft zu einem Plausch aufgelegt, nie um einen Scherz verlegen. Erste Anzeichen ihrer Erkrankung, erste Aussetzer hatte ihre Vermieterin mit Humor quittiert, hatte gelacht, wenn sie ihre Geldbörse im Kühlschrank wiederfand oder den Haustorschlüssel unterm Kopfkissen. Leider mehrten sich die heiteren Anekdoten, die Heiterkeit fand ein Ende und die Krankheit einen Namen: Demenz.

Frau Gamsjäger hatte weiterhin klare Momente, besonders am Vormittag war sie häufig gut ansprechbar. Je später am Tage, umso wahrscheinlicher, dass Erna die Orientierung verlor. Dann konnte sie weder Wochentag noch Jahreszeit angeben, fand vom Bad nicht zurück ins Wohnzimmer und hielt Samira neuerdings für eine lang verstorbene Schwester.

Nur Hans, ihren lieben Hans erkannte Erna stets zweifelsfrei. Auf ihn war sie zunehmend angewiesen, und er kümmerte sich rührend um seine Frau. Im Lauf der letzten Monate war es mit Erna Gamsjäger rapide bergab gegangen, und so hatte ihr Mann auf dringendes Anraten seines Hausarztes eine Heimhilfe akzeptiert und Essen auf Rädern bestellt. Rechtzeitig, bevor ihm selbst alles über den Kopf gewachsen war.

Samira wusste, dass Herr Gamsjäger froh war, sie im Haus zu haben. Wenn er etwas erledigen musste, dann bat er gelegentlich Samira, bei Erna zu bleiben, und falls es sich irgendwie einrichten ließ, sprang sie gerne ein. Andernfalls fand sich oft jemand aus der Nachbarschaft, der Erna Gesellschaft leistete. Aber wenige, auch nicht die einzige Tochter der Gamsjägers, die ebenfalls in Lunz wohnte, hatten einen so beruhigenden Einfluss auf die alte Frau wie ihre Untermieterin. Was vielleicht daran lag, dass Samira sich ohne sinnlose Debatten in die Rolle von Ernas Schwester fügte.

Hans stand an der Küchentür. »Erna, stör doch das Fräulein Samira nicht beim Kochen! Die hat den ganzen Tag gearbeitet und will ihre Ruh haben.«

»Das passt schon so, Herr Gamsjäger«, sagte Samira und sah auf die Uhr. »Wollen Sie nicht in Ruhe die Nachrichten anschauen? Und Ihre Frau leistet mir inzwischen Gesellschaft?«

Erna Gamsjäger lächelte und setzte sich zufrieden an den Küchentisch.

»Ja, wenn das so ist, lass ich euch Weiberleut allein.« Er warf Samira einen dankbaren Blick zu und verschwand.

»Ich mache mir gerade mein Abendessen zurecht – möchten Sie vielleicht kosten?« Samira tauchte einen Löffel in den Topf und bot ihn Erna Gamsjäger an.

Doch die schüttelte den Kopf. »Den Käs kannst dir g’halten, aber …«, Erna sah Samira verschwörerisch an, »hast ein Guatsl für mich? Ich hätt so einen Gusto auf was Siaß’!«

1 – Wiener Brut

Phlox – Flammenblume

Der Hochsommer plagte die Stadt wie ein Fieberschub – quälend heiß und lähmend. Toni Schubert, Chefin einer Gärtnerei im Wiener Stadtteil Baumgarten, sperrte das Zufahrtstor ab. Es war 18 Uhr, aber von abendlicher Kühle war nichts zu spüren. Selbst hier, am westlichen Stadtrand, fühlte sich Wien wie ein Backofen an.

Die letzte Kundin des Tages – des letzten Freitags im Juli 2004 – hatte sich soeben verabschiedet. Sie war zugleich die letzte Kundin für die kommenden zwei Wochen gewesen, denn die Gärtnerei Schubert blieb während der ersten Augusthälfte wie jedes Jahr geschlossen. Wien war um diese Jahreszeit zwar gut besucht von internationalen Gästen, die Einheimischen jedoch verließen die Stadt in Scharen, zogen ans Meer oder in die Berge.

In der Gärtnerei Schubert hatte man daraus Konsequenzen gezogen und machte Betriebsurlaub. Schon Tonis Vorgängerin, ihre Großmutter, hatte es so gehalten – und das wollte etwas heißen, denn Ama, wie die alte Dame von ihrer Familie genannt wurde, mangelte es wahrlich nicht an Arbeitsethos. Auch sie hatte einsehen müssen, dass Anfang August nicht viel zu verdienen war. Selbst jene Kundschaft, die den Urlaub im eigenen Garten verbrachte, hatte Besseres zu tun, als im Hochsommer Beete neu zu gestalten. Abgesehen davon, dass ein Ortswechsel im Frühjahr oder Herbst für Pflanzen weniger anstrengend war als bei 30 Grad im Schatten.

Die Pflanzen. Toni sah sich am Freigelände der Gärtnerei um, viele Pflanztische waren leer. Sie hatten den Warenbestand im Laufe des Julis sukzessive reduziert, um den Pflegeaufwand während des Betriebsurlaubes gering zu halten. Die übrigen großen Containerpflanzen wurden zusammen mit den Glashäusern von einer Bewässerungsanlage versorgt, die allerdings regelmäßig kontrolliert werden musste. Dazu der Friedhofsdienst – die betreuten Gräber mussten gegossen werden.

Die Tür der Blumenhandlung öffnete sich. Eine Floristin trat aus dem Laden und kippte Wasser in die Grünfläche neben dem Geschäft. Ihr Name war Doris März.

Toni seufzte. Sie musste sich eingestehen, dass sie Lea vermisste, obwohl es bereits drei Monate her war, dass Doris’ Vorgängerin den Betrieb verlassen hatte.

Dabei war Doris tüchtig, keine Frage. Mit ihren 40 Jahren hatte sie einige Erfahrung gesammelt und war jetzt interessiert daran, sich selbstständig zu machen. Deshalb hatte sie auf Tonis Anzeige reagiert: »Floristin gesucht, Vollzeitkraft, mit Option auf Geschäftsführung.« Sie waren sich schnell einig gewesen: Doris würde ein Jahr lang Tonis Mitarbeiterin sein, und wenn alles lief wie geplant, würde sie danach die Blumenhandlung übernehmen, getrennt vom Gärtnereibetrieb.

Doris freute sich darauf, ihr eigenes Geschäft zu haben, und Toni freute sich auf mehr Zeit und Energie für den Gartenbau. Und für ihr inexistentes Privatleben.

Sie musste zugeben, dass die Zusammenarbeit bisher gut funktioniert hatte. Trotzdem fand Toni, dass Doris weder in punkto Kreativität noch im Kundenkontakt Lea das Wasser reichen konnte. Die Arrangements der Neuen waren auf traditionelle Art gefällig, und ihr Umgang mit der Kundschaft war stets höflich, aber im Vergleich zu Lea … Toni schüttelte den Kopf. Sie war sich ihrer Voreingenommenheit bewusst.

Immerhin zeigte Doris großen organisatorischen Einsatz. Sie hatte den Dienstplan der Floristinnen umgestellt, saß nach Geschäftsschluss über den Büchern und studierte die Verkaufszahlen des letzten Jahres. Sie kümmerte sich vorbildlich um den Einkauf und die Lagerhaltung.

Doris war vermutlich die einzige Mitarbeiterin der Gärtnerei Schubert, die keinerlei Scheu hatte, den Kühlraum zu betreten, jene eisige Kammer, in der Lea vor wenigen Wochen fast ihren Verstand und ihr Leben verloren hätte. Erst während Leas langsamer Rekonvaleszenz hatte sich gezeigt, wie einschneidend dieser Vorfall für sie gewesen war.

Doris wusste mittlerweile Bescheid darüber, was passiert war, das tat ihrem Arbeitseifer keinen Abbruch. Sie hatte sich sofort bereit erklärt, den Betrieb während der Schließzeit zu betreuen, die Bewässerungsanlage zu kontrollieren und Schlawiner, den Gärtnereikater, zu versorgen.

Denn eine Reise war dem Tiger nicht zuzumuten. Toni hatte ein einziges Mal gewagt, ihn mit in den Urlaub zu nehmen – keine gute Idee. Schlawiner hatte während der ganzen Autofahrt abwechselnd gejammert und gekotzt. Nach der Ankunft war er tagelang beleidigt gewesen, hatte seinen Korb äußerst unwillig verlassen und Toni mit Verachtung gestraft. Erst nach der Rückkehr zur Gärtnerei hatte er sich wieder beruhigt. Ein Griff zum Transportkorb führte bis heute dazu, dass der Kater stundenlang unauffindbar war, was jeden Tierarztbesuch zur Herausforderung machte.

Doris wohnte in der Nähe und mochte Katzen. Schlawiner ließ sich willig von ihr streicheln, also sollte das diesjährige Arrangement seinen Ansprüchen genügen. Sonst wäre dem Kater ein Ortswechsel nicht erspart geblieben, denn die Gartenvilla würde während der nächsten beiden Wochen leer stehen.

Toni ging quer über den Parkplatz zu Doris. »Na, wie schaut’s aus? Soll ich dir helfen, die übrige Ware auf den Kompost zu kippen?«

»Na ja, ich hätt einen besseren Vorschlag.«

»Schieß los«, sagte Toni.

»Ich könnt die restlichen Schnittblumen morgen früh in den Lieferwagen packen, damit zum Baumgartner Friedhof fahren und aus dem Auto verkaufen. Verbilligt, natürlich.«

Toni runzelte die Stirn. »Dafür haben wir keine Genehmigung. Die Standler beim Friedhofseingang würden sich aufregen – und das völlig zu Recht. Also nein, das ist keine gute Idee.«

»Glaubst du wirklich, wir kriegen Probleme, wenn wir ein einziges Mal vorm Friedhof verkaufen? Ich hab beileibe nicht vor, mich jeden Samstag hinzustellen, aber es wär doch Sünd und Schand, gute Ware auf den Kompost zu schmeißen, also …«

»Nix also«, unterbrach Toni, »kommt nicht infrage. Wir halten uns an Vorschriften – basta.«

Doris zuckte die Achseln und schwieg. Sehr überzeugt sah sie nicht aus.

»Außerdem brauch ich den Lieferwagen, der ist unser Urlaubsauto«, setzte Toni hinzu. »Karel hat ihn schon gewaschen, ich wollt grad die zweite Sitzreihe montieren.«

»Na gut, dann halt nicht. Ich entsorg die Blumen morgen, wenn ich den Strizzi füttern komm, jetzt muss ich schnell weg.«

»Den Schlawiner«, korrigierte Toni.

Während Doris das Geschäft abschloss, ging Toni zum grünen Kastenwagen mit Gärtnerei-Logo, öffnete die Schiebetür – und war freudig überrascht: Das Wageninnere wirkte ebenso blitzblank wie die Karosserie, die zweite Sitzreihe war bereits montiert.

»Dreimal darfst du raten, wer den Burschen gesagt hat, wie sie den Kobel herrichten sollen«, meldete sich eine Stimme hinter Toni.

Sie drehte sich um.

Ama, ihre Großmutter, ließ einen beeindruckend großen Koffer auf den Asphalt plumpsen, während sie weitersprach: »Damit wir heut Abend das Auto einräumen können. Sonst kommen wir morgen ewig nicht weg.«

Toni staunte. »Du hast fix und fertig gepackt?«

»Natürlich! Was denn sonst?«

Toni wuchtete den Koffer, der alles andere als ein Leichtgewicht war, ins Auto, und staunte wieder einmal darüber, welche Kräfte Ama mit ihren bald 84 Jahren mobilisieren konnte.

»Jetzt fehlt nur mehr meine Handtasche. Dazu der Phlox, den sich deine Mutter gewünscht hat, ein Steigerl mit Klaräpfeln und eins mit Zwetschken – fertig«, sagte Ama. »Wenn wir trotzdem erst zu Mittag wegkommen, dann wird’s nicht an uns beiden liegen, Tonerle!«

Sie würden dieses Jahr zu viert verreisen, gemeinsam mit Tonis Großtante Christl und mit Flo, einem ehemaligen Lehrling der Gärtnerei, den die Schuberts quasi adoptiert hatten.

»Du spinnst komplett«, hatte Kathi, Tonis beste Freundin, dazu gesagt. »32 Jahre alt, Single – und dann verreist du mit deiner Oma? Warum machst du nicht irgendeine Gruppenreise, fährst in ein Klubhotel? Unternimm irgendwas, wo ein Funken von Chance auf einen Urlaubsflirt besteht – und nicht einen Ausflug in die Vergangenheit!«

Aber Toni hatte sich nicht umstimmen lassen. Obwohl Kathi selbstverständlich recht hatte. Mit der Familie Urlaub in Lunz am See zu machen, war für Toni eine Zeitreise in ihre Kindheit, denn diese kleine Gemeinde in den niederösterreichischen Kalkalpen war der traditionelle Urlaubsort der Schuberts.

In den 1960er-Jahren hatte die damals jung verwitwete Annemarie Schubert begonnen, mit ihren drei Kindern zwei Sommerwochen in Lunz zu verbringen, logiert wurde in einer Pension im Seehof.

Während Tonis Kindheit blieb die Familie dieser Tradition treu. Toni erinnerte sich gut an jenen Sommer, in dem Ida, ihre damals noch unverheiratete Mutter, mit Heinz Kaibl­hofer, einem Einheimischen, angebandelt hatte. Zwei Jahre später wurde geheiratet, seither lebte Ida in Lunz am See.

Toni war bei Ama in Wien geblieben. Offizieller Grund dafür war, dass die damals Zehnjährige von der Gärtnerei aus zu Fuß ins Gymnasium marschieren konnte, anstatt von Lunz in die Bezirkshauptstadt Scheibbs pendeln zu müssen. Die unausgesprochene Wahrheit lautete jedoch: Ama war die weitaus wichtigere Bezugsperson für Toni. Das war damals so gewesen und heute nicht anders.

Nach Idas Heirat waren Tonis Aufenthalte in Lunz am See länger und häufiger geworden, sie hatte ab diesem Zeitpunkt einen Großteil ihrer Schulferien dort verbracht. Die Seepension war passé, denn Ida wohnte mit ihrer neuen Familie – ein Jahr nach der Hochzeit kam Tonis Halbbruder Martin auf die Welt – in einem Einfamilienhaus, das groß genug für zwei Familien gewesen wäre. Urlaub in Lunz war seither für die Schuberts gleichbedeutend mit Besuch im Hause Kaiblhofer.

In der Oberstufe hatte Toni begonnen, sich gegen die obligaten Lunz-Aufenthalte zu sträuben, sich geweigert, weiterhin die kompletten Sommerferien bei ihrer Mutter zu verbringen. Während ihrer Studienzeit waren ihre Besuche in Lunz noch seltener geworden, und seitdem sie die Gärtnerei übernommen hatte, erst recht.

Aber in diesem Jahr war alles anders.

Zum einen waren Ida und Heinz während der ersten drei Augustwochen in Skandinavien unterwegs, auf einer Rundreise, von der Tonis Mutter lange geträumt hatte. Ama und Christl waren mit dem größten Vergnügen bereit, in dieser Zeit Haus und Garten zu betreuen.

Zum anderen hatte der Tod von Gerd Dehmann, einem alten Freund der Familie, im vergangenen Frühling Toni bewusst gemacht, wie vergänglich die gemeinsame Zeit mit Ama und Christl war – und wie kostbar. Also hatte sie angeboten, die beiden alten Damen nach Lunz zu chauffieren und für die ersten 14 Tage bei ihnen zu bleiben.

Dass Flo ebenfalls mitkommen wollte, hatte Toni in ihrer Entscheidung bestärkt. Sie freute sich sehr darauf, endlich wieder mehr Zeit mit ihm zu verbringen, denn Flo war vor einigen Wochen aus der Gartenvilla, dem Schubert’schen Wohnhaus, ausgezogen und auf den Rosenhügel übersiedelt, wo er sich um Gerd Dehmanns verwaisten Prachtgarten kümmerte. Bis zum Abschluss der Verlassenschaft wollte Flo dort wohnen bleiben, so war es mit Gerds Erben ausgemacht.

Toni vermisste Flo und befürchtete insgeheim, dass er nicht mehr in die Gartenvilla zurückkehren würde. Vermisste seine Lebensfreude, seinen Schmäh, seine – um Ama zu zitieren – Spompanadeln. Wenn sie auch zugeben musste, dass Flo seit Gerds Tod ein anderer war. Ob ihm das Leben am Rosenhügel gut tat? Das viele Alleinsein? Toni hegte ihre Zweifel.

Umso mehr freute sie sich auf zwei gemeinsame Wochen in Lunz am See.

2 – Sommerfrische

Doronicum austriacum – Österreichische Gämswurz

»Simma bald daaa?«, quengelte Flo mit verstellter Stimme von der Rückbank, sie waren etwas mehr als eine Stunde unterwegs. »Im Ernst – wie lang dauert’s noch? Von der Kurverei wird mir schlecht.«

»Kein Wunder, wenn du die ganze Zeit auf dein blödes mobile phone starrst. Schau lieber zum Fenster raus«, sagte Christl, die neben ihm saß.

Ama thronte am Beifahrersitz und schüttelte den Kopf. Mit ihrer gestrigen Prognose, dass sich die Abfahrt verzögern würde, hatte sie recht behalten. Allerdings war die Verspätung weder Christl noch Flo zuzuschreiben, sondern dem Kater der Gärtnerei Schubert.

Schlawiner hatte aus den Reisevorbereitungen seine Schlüsse gezogen und war untergetaucht. Weil Toni den Tigerkater nicht versehentlich einsperren wollte, hatte sie alle Innenräume abklappern müssen. Mit Leckerlis bewaffnet und laut »Schlawiner!« rufend war sie durch die Gartenvilla gezogen, durchs Betriebsgebäude und sämtliche Glashäuser. Ohne Erfolg. Schlussendlich war ihr nichts anderes übrig geblieben, als darauf zu vertrauen, dass sich der Kater im Freien versteckt hielt.

Die ganze Prozedur hatte dazu geführt, dass sie erst am späten Vormittag loskamen.

»Nicht streiten auf den billigen Plätzen«, sagte Toni jetzt. »Wir sind schon in Gaming, es dauert nur mehr 20 Minuten.«

»Wieso kann sich der Herr Florist nicht an die Strecke erinnern? In deinem Alter sollte das Gedächtnis noch einwandfrei funktionieren«, stichelte Christl.

»Ich war erstens nicht oft in Lunz, und zweitens ist das Jahre her.«

Toni bremste vorm Ortsschild und schaltete einen Gang tiefer. Im Gegensatz zu allen anderen Schuberts hatte ihre Mutter nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie Flo nicht als Familienmitglied akzeptierte. Toni war früher regelmäßig wütend darüber geworden, woraufhin Ida ein leidendes Gesicht und ihrer Tochter Vorwürfe gemacht hatte. Darüber, dass Toni ihrem leiblichen Bruder Martin nicht so nahe stünde wie Flo, dass sie ihre Großmutter mehr liebe als ihre Mutter – was beides durchaus den Tatsachen entsprochen hatte.

Selbst wenn derartige Debatten lang zurücklagen: Es war Toni nicht unrecht, dass sie Ida beim diesjährigen Lunz-Urlaub nicht zu Gesicht bekommen würden.

Christl räusperte sich. »Well, well, dann bin ich wenigstens nicht die Einzige, die sich in der Gegend hier nicht auskennt. In einer Stadt, egal in welcher, finde ich mich prompt zurecht, aber in diesem verflixten Grünzeug namens Provinz ist mein Orientierungssinn quasi inexistent. Der einzige Spazierweg in Lunz, auf dem ich mich garantiert nicht verlaufe, ist die Seerunde. Immer am Ufer entlang, das schaff ich grade noch.«

»Ach ja, die Seerunde … ich freu mich vor allem auf die Ruhe im Seehof … und auf die kühle Luft«, sagte Ama, dann drehte sie sich zu Flo um. »Ab sofort schaust wirklich besser durch die Windschutzscheibe, junger Mann, steck dein Handy ein, nach Gaming kommen die Serpentinen vom Grubberg – sonst brauchst womöglich noch ein Speibsackerl!«

*

Flo hielt die letzten Kilometer durch, ohne sich zu übergeben, sah allerdings ein wenig blass um die Nase aus, als er zuerst Ama und dann Christl beim Aussteigen half.

Toni lächelte, während sie aus dem Wagen sprang und sich ausgiebig streckte. Dieser Autositz hatte seine besten Zeiten hinter sich. Mit ihren 32 Jahren spürte sie ihren Rücken immer öfter. Ob das an der Gartenarbeit lag oder am Sitzen im Büro?

»Jetzt freu ich mich auf einen Kaffee«, sagte Ama, während sie in ihrer Handtasche nach dem Haustorschlüssel kramte. Sie war bereits im Juli für ein paar Tage in Lunz gewesen, weil Ida darauf bestanden hatte, ihr alles zu erklären – eine zwingende Bedingung für den Erhalt der Schlüssel. Toni wusste, wie lächerlich ihre Großmutter das fand. Ama war schließlich oft genug in Lunz und kannte den Hausbrauch.

»Bitte sehr!«, sagte Ama, öffnete die Tür und ließ Christl den Vortritt. Die beiden alten Damen verschwanden nach drinnen, während Toni und Flo das Gepäck ausluden.

»Wie schaut die Zimmereinteilung aus?«, fragte Flo und schnappte sich zwei Rucksäcke, »ich schlaf hoffentlich allein – oder müssen wir uns ein Zimmer teilen?«

Toni drückte ihm noch eine Reisetasche in die Hand, bevor sie selbst Amas Monsterkoffer aus dem Auto wuchtete. »Keine Sorge, das ist nicht nötig, wir haben das ganze Haus für uns. Christl nimmt das Arbeitszimmer im Erdgeschoß, damit sie nicht über die Stiege muss, wir anderen ziehen in den Oberstock. Ama schläft im ehelichen Doppelbett, ich hab sowieso mein altes Zimmer, und du kannst in Martins Bude schlafen.«

»Klingt gut, aber was ist mit Christl, seit wann kann sie keine Stiegen steigen?«

»Sie hat’s mit der Hüfte«, erklärte Toni. »Vielleicht braucht sie ein künstliches Hüftgelenk, aber sie war noch nicht beim Orthopäden. Martin meint, es ist besser, so einen Eingriff im Winter machen zu lassen und nicht im Hochsommer.«

Tonis Halbbruder war in Lunz aufgewachsen und studierte seit ein paar Semestern in Wien Medizin. Diesen Sommer verbrachte er erstmals in der Stadt, offiziell um in einem Wiener Krankenhaus zu famulieren. In Wahrheit wollte er bei seiner neuen Freundin bleiben, vermutete Toni.

Sie stellten das Gepäck im Vorhaus ab und marschierten zum Auto zurück.

Unglaublich, was wir alles mitschleppen, dachte Toni. Sie waren für jede Wetterlage gerüstet, von Hitze bis Frost, wie es sich für einen Österreichurlaub in den Bergen geziemte.

»Die arme Christl«, sagte Flo, »das mit ihrer Hüfte hab ich noch nicht gewusst!«

»Seitdem du ausgezogen bist, kriegst du eben nicht mehr alles mit«, sagte Toni – und bereute ihre Bemerkung, als sie sein zerknirschtes Gesicht sah. »Tut mir leid.«

»Schon okay.«

Sie trugen das restliche Gepäck hinein und betraten Idas bevorzugtes Revier, ihr Prachtstück von einer Küche. Edelstahl-Fronten, Profi-Geräte und jede Menge Stauraum wie in einem Gastronomiebetrieb.

Ama stellte einen Espressokocher auf den Herd, Idas chromblitzenden Kaffee-Automaten zu benützen, verweigerte sie standhaft. Christl saß auf der Eckbank am steirischen Jogltisch, einem großen quadratischen Bauerntisch, Idas Zugeständnis an Gemütlichkeit. In der Tischmitte standen ein Blumenstrauß und ein Guglhupf.

Toni zeigte auf den Kuchen. »Wo kommt der denn her?«

Christl schob ihr ein Billett zu, und Toni las:

»An die Haus-Sitter: Herzlich willkommen in Lunz! Wir wünschen euch eine schöne Zeit im Seehof. Ein Topf Gemüsesuppe steht im Kühlschrank, dazu der Kuchen, damit ihr nach der Ankunft versorgt seid. Liebe Grüße, Ida und Heinz«

»Quite a surprise.« Christl zwinkerte Toni zu.

»Sei nicht garstig! Ist doch sehr aufmerksam von meiner Tochter«, sagte Ama. »Ich schlag vor, wir heben uns die Suppe fürs Nachtmahl auf. Danach gibt’s Kaiserschmarrn.«

»Kaiserschmarrn!« Flo strahlte.

Christl zog die Mundwinkel nach unten. »Ein weit überschätztes Gericht.«

»Dabei wollt ich euch heut Abend in die Schlosstaverne einladen, zum Urlaubsauftakt«, sagte Toni.

»Vergiss es«, sagte Ama, »wo wir endlich angekommen sind, beweg ich mich nicht gleich wieder fort. Ich bin viel zu müde.«

»Und warum willst du dann kochen?«, fragte Toni.

»Ein Kaiserschmarrn macht überhaupt keine Arbeit, den dreh ich im Schlaf zusammen«, argumentierte Ama.

»Schmarrn oder nicht Schmarrn: Mich bringen heute keine zehn Pferde mehr aus dem Haus«, sagte Christl.

»Na gut«, gab Toni nach, »wenn ihr so müde seid, dann macht nach dem Kaffee eine Siesta, und ich fahr inzwischen zum Supermarkt. Flo, du verteilst derweil das Gepäck auf die richtigen Zimmer.«

»Jawohl, Frau Chefin! Wobei du ruhig auch vom Anschaffen Urlaub machen könntest – ich hätt mich sowieso drum gekümmert.«

»Whatever«, sagte Christl, »erst brauch ich einen Kaffee.«

»Und zwar dringend«, Ama nickte, »danach machen wir alle eine Pause – du auch, Toni, der Kühlschrank ist voll.«

»Was? Wieso?«

»Weil ich deiner Mutter eine Einkaufsliste dagelassen hab, sie hat vor ihrer Abreise alles besorgt.« Ama lächelte. »Nur Suppe und Guglhupf waren ihre Idee, die hab ich nicht bestellt.«

»Na so was!« Toni ließ sich neben Christl auf die Eckbank fallen.

Der Kuchen entpuppte sich als Patzerlguglhupf – Germteig gefüllt mit Mohn, Topfen und Powidl. Tonis Lieblingsmehlspeise, die sie sich als Kind regelmäßig zum Geburtstag gewünscht hatte. Entsprechend begeistert griff sie zu, genau wie die anderen auch, und bald war der Guglhupf erheblich geschrumpft.

Christl zupfte Flo am Ärmel. »Hallo, Dienstmann! Come on! Koffer schleppen!«

Flo lachte, und die beiden verschwanden Richtung Vorzimmer.

Toni gähnte. »Na gut, wenn mir der Einkauf erspart bleibt, bin ich auch nicht bös. Ich muss sowieso noch den Lux abholen.«

»Jössas! Der Hund!« Ama schlug die Hand vor den Mund. Sie hatte offenbar völlig darauf vergessen, dass es nicht nur Haus und Garten zu betreuen galt, sondern auch ein Haustier.

Der vierbeinige Mitbewohner im Hause Kaiblhofer war ein Brackenrüde. Toni wusste, dass weder Ama noch Christl und schon gar nicht Flo viel für Hunde übrig hatten, daher würde es ihre Aufgabe sein, sich um Lux zu kümmern. Das war ihr ganz recht, sie mochte Hunde. Dass der Mann ihrer Mutter – als Stiefvater hatte Toni ihn nie gesehen – ein Hundefreund war, hielt sie ihm zugute. Abgesehen davon konnte sie mit Heinz wenig anfangen, ebenso wenig wie er mit dem ersten Kind seiner Ehefrau hatte anfangen können, als die damals Zehnjährige in sein Leben getreten war.

Heinz Kaiblhofer war Jäger. Zumindest behauptete er von sich selbst, Jäger zu sein – Toni sah das etwas anders. Stimmt, Heinz verfügte über einen Jagdschein, und irgendwo im Keller gab es einen Waffenschrank. Aber soweit Toni wusste, ging er nur sporadisch auf die Pirsch, und sie bezweifelte, dass er große Begeisterung dafür empfand. Die Jagd schien für ihn vor allem eine Prestigefrage zu sein, vermutete sie. Ein Anlass, mit anderen olivgrün gekleideten Männern geschäftliche und politische Dinge zu besprechen.

Zu diesem Image passend hielt Heinz stets einen Jagdhund, früher hatten hier im Haus Kleine Münsterländer gewedelt, vor zwei Jahren war Lux eingezogen. Toni hatte den Hund noch nicht oft gesehen. Sie wusste lediglich, dass er gut erzogen war, darauf legte Heinz Wert. Er kaufte seine Hunde stets fertig abgerichtet, wenn sie etwa ein Jahr alt waren. Lux war seit der Abreise seines Besitzers bei einer von Idas Freundinnen untergebracht, von dort würde Toni ihn abholen, so war es ausgemacht.

*

Als sie aus der Tür trat, verschwand die Sonne gerade hinter dichten Wolken. Toni blieb stehen und nahm einen tiefen Atemzug – die Luft war frisch. Was für eine Wohltat nach den letzten Hitzewochen in Wien! Ihrer Nase nach wurden irgendwo in der Nachbarschaft Thujen geschnitten. Tonis Begeisterung für die grünen Hecken hielt sich in Grenzen, aber der Geruch, den sie beim Schneiden verströmten, war reinste Aromatherapie.

Toni sah aufs Wasser. Nur die Seestraße und eine feuchte Wiese trennten das Haus der Kaiblhofers vom Ufer. Eine bessere Lage gab es im ganzen Ort nicht.

Wie kalt das Wasser wohl sein mochte? Ob die Hitzewelle den See auf mehr als 20 Grad erwärmt hatte? Egal, kaltes Wasser schreckte Toni nicht ab. Sie war hier schon bei 16 Grad geschwommen – zugegebenermaßen nicht sehr weit hinaus.

Am gegenüberliegenden Südufer stieg der Wald steil auf, dahinter ragten felsige Gipfel empor. Toni spürte plötzlich ein Kribbeln im Bauch, eine Sehnsucht danach loszumarschieren, einzutauchen in diese Landschaft, die ihr vertraut war und dabei so anders als ihr heimatlicher Wienerwald. Sie freute sich aufs Wandern. Spürte eine Zuversicht, die ihr im vergangenen Frühling abhandengekommen war.

Kathi irrt sich, dachte Toni, Urlaub in Lunz – das passt genau! Wann war ich zum letzten Mal zwei Wochen am Stück hier? Das muss Jahre her sein …

»Griaß di!«, meldete sich von nebenan eine freundliche Stimme.

Zwischen den hohen Blütenständen einer Garten-Gämswurz, die Ida am Zaun wachsen ließ, war eine alte Frau zu sehen, das freundliche Gesicht voller Runzeln.

»Grüß Gott!« Lunz war eine Grüß-Gott-Gemeinde, keine Guten-Tag-Gemeinde, das hatte Toni schon als Kind gelernt.

Die Nachbarin – wie war schnell ihr Name? – schien Toni zu erkennen, sie sagte: »Schön, dass’d dich wieder amal anschauen lasst bei uns in Lunz!«

»Stimmt, genau dasselbe hab ich mir auch grad gedacht.«

»Hast Zeit auf ein Plauscherl? Magst rüberkommen?«

»Ein andermal gern, aber jetzt muss ich den Hund abholen.«

»Ja, wo is’ er denn, der Rexi?«

»Lux heißt er«, korrigierte Toni, »er ist seit gestern bei Ihrer Tochter.«

Denn obwohl ihr der Familienname der Nachbarin nicht einfallen wollte, wusste sie doch, dass deren Tochter Elfi hieß, mit Ida befreundet war und den Hund gestern übernommen hatte. Von Elfi sollte Toni ihn abholen.

Die Nachbarin schüttelte den Kopf und lächelte. »Ah geh, was d’ ned sagst!«

»Elfi wird froh sein, wenn sie den Hund wieder los ist, ich will sie nicht warten lassen.«

»Freilich, freilich … Richt ihr einen schönen Gruß aus, der Elfi!«

»Mach ich«, sagte Toni. »Schönen Nachmittag noch! Wir sehen uns sicher öfter in den nächsten zwei Wochen.«

Die alte Frau winkte zum Abschied, und Toni stieg ins Auto. Elfis Wohnung lag nicht im Seehof, sondern im Ortszentrum. Während Toni losfuhr, suchte sie in ihrem Gedächtnis nach dem Namen der Nachbarsfamilie … als Kind hatte sie ihn lustig gefunden hatte, zumindest daran erinnerte sie sich.

Im Vorbeifahren fiel ihr auf, dass einige der Häuser im Seehof in den letzten Jahren renoviert oder umgebaut worden waren, insgesamt hatte sich die Siedlung zum Glück nicht vergrößert. Das Grünland rund um den See musste erhalten bleiben, da waren sich Naturschutz und Gemeinde einig, mochte die Begehrlichkeit nach Baugründen im Seehof noch so groß sein.

Einen Moment lang blinzelte die Sonne zwischen den Wolken hervor. Toni warf einen Blick in den Rückspiegel – der glitzernde See, die waldigen Berghänge hinter ihr – und plötzlich erinnerte sie sich: Gamsjäger, so hießen die Nachbarn.

3 – Morgenrunde

Radula complanata – Gewöhnliches Kratzmoos

»Stopp! Lux, steh!«, rief Toni und versuchte, das Gleichgewicht zu halten – vergeblich. »Geh, so ein Sch… Schmarrn.«

Sie war auf einer bemoosten Wurzel ausgerutscht und saß am Hosenboden auf dem Waldweg, der an der Südseite des Sees entlangführte. Ihre Laufschuhe waren offensichtlich für diesen Untergrund ungeeignet. Toni bewegte vorsichtig ihr Sprunggelenk – zum Glück hatte sie sich nicht den Fuß verstaucht.

Lux wedelte zaghaft und sah sie mitleidig an, während er ihren Schuh beschnüffelte.

»Da schaust du, gell? Dir mit deinen vier Pfoten kann das nicht passieren, aber wenn die patscherten Zweibeiner laufen, tja, dann …«

Lux machte unaufgefordert »Sitz«, als wollte er Toni am Waldboden Gesellschaft leisten. Sie lachte, strich ihm über den schwarz glänzenden Kopf und rappelte sich auf, die Leine immer noch fest in der Hand. Wahrscheinlich wäre Lux selbst ohne Leine an ihrer Seite geblieben, aber Toni wollte auf Nummer sicher gehen. Falls ihnen ein Reh über den Weg laufen sollte, wer weiß, ob er dann nicht seine gute Erziehung vergessen und in den Wald hetzen würde? Zumal er keine engere Bindung an Toni hatte. Er schien sie zwar als Hundeführerin zu akzeptieren, doch wie weit sein Gehorsam ihr gegenüber reichte, wollte sie lieber nicht austesten.

Sie klopfte sich ein paar Fichtennadeln vom Hosenboden und lief probeweise am Stand. Glück gehabt, der Fuß tat wirklich nicht weh. Trotzdem beschloss sie, das Laufen vorerst zu lassen, um nicht noch einmal am Hinterteil zu landen. Sie hatte ohnehin vorgehabt, sich im hiesigen Sportgeschäft neue Wanderschuhe zu kaufen. Am besten gleich morgen früh, um auch für feuchte Morgenspaziergänge passend ausrüstet zu sein. Toni marschierte weiter.

So früh an einem Sonntag war kaum jemand unterwegs auf der Seerunde, bisher hatten sie einen einzigen Spaziergänger in Dackelbegleitung getroffen. Und einen Feuersalamander, für den sich Lux mehr begeistert hatte als für den Dackel.

Toni war früh aufgewacht, viel zu früh für den Urlaub. Ihr Körper brauchte erfahrungsgemäß ein paar arbeitsfreie Tage, um die Morgendämmerung zu verschlafen. Für künftige Wanderungen mochte ein früher Start vernünftig sein, aber sie hatte nicht vor, gleich am ersten Urlaubstag Richtung Gipfel loszuziehen. Ganz abgesehen davon, dass ihr noch das passende Schuhwerk fehlte und außerdem für heute Regen angesagt war.

In den nächsten zwei Wochen würde noch genug Zeit für schöne Touren sein, den heutigen Sonntag wollte Toni lieber mit ihren Mitreisenden verbringen. Beim Wandern würde sie sich vermutlich mit Lux als Begleitung begnügen müssen: Die beiden alten Damen waren definitiv nicht mehr fit genug für ausgedehnte Bergpartien, Christl mit ihrer kaputten Hüfte schon gar nicht, und Flo verweigerte üblicherweise, Höhenmeter zurückzulegen, es sei denn mit Gondel oder Sessellift.

Ein Grund mehr, sich mit dem Hund vertraut zu machen. Lux nahm Tonis reduziertes Tempo zur Kenntnis und trabte gemächlich neben ihr her.

»Du bist wirklich ein ganz ein Braver, gell?« Toni fischte ein Hundekeks aus ihrer Jackentasche und hielt es ihm entgegen. Lux sah sie einen Moment lang an, ohne das Maul zu öffnen, dann drehte er den Kopf zur Seite.

Komisch. Diese Kekse buk ihre Mutter extra für den Hund, weil die fertig zu kaufenden Leckerlis angeblich nichts taugten. Warum wollte er das Ding nicht?

Wahrscheinlich frisst er das Zeug nur, um Ida eine Freude zu machen, dachte Toni. Lux war ihrer Meinung nach mehr Therapiehund als Jagdhund. Immerhin verbrachte er sehr viel mehr Zeit mit seinem nicht unkomplizierten Frauerl als mit dem offiziellen Hundehalter.

Statt das bröselige Hundekeks wieder einzustecken, warf Toni es ins Gebüsch – sollte sich ein Dachs darüber freuen. Lux sah dem Gebäck ohne Bedauern nach.

»Ida meint es sicher gut«, sagte Toni zum Hund.

Genau dasselbe hatte sie sich als Kind oft gesagt … wenn Ida für ihre Tochter wieder mal ein Kleidchen ausgesucht hatte, das Toni furchtbar fand.

Aber jetzt hatte Ida unaufgefordert einen Patzerlguglhupf gebacken. Beim Gedanken an die Mehlspeise knurrte Tonis Magen. Sie hatte vorm Aufbruch lediglich einen Tee getrunken und freute sich allmählich aufs Frühstück.

Sie warf einen Blick auf die gegenüberliegende Talseite. Die Seehof-Siedlung samt Kaiblhofer-Haus war von hier aus gut zu erkennen. Sie hatte den See gegen den Uhrzeigersinn umrundet, sozusagen in Tarockrichtung, um den Abschnitt entlang der Straße zuerst hinter sich zu bringen. Nach dem idyllischen Waldpfad, der mittlerweile das Ufer verlassen hatte, trennten sie nur mehr der Seebach, die Seewiese und ein Stück Straße von ihrem Frühstück.

Toni beschleunigte ihr Tempo, und Lux gab ein erfreut klingendes Bellen von sich. Der Spaziergang machte ihm sichtlich Spaß.

Umso erstaunter war Toni, als der Hund wenig später – sie hatten soeben den Steg über den Seebach passiert – plötzlich stehen blieb und sich gegen den Zug der Leine stemmte, als wäre er selbst ein Dackel.

»Na, komm schon, Lux! Was hast du denn?«

Der Hund schien regelrecht auf ihre Aufmerksamkeit gewartet zu haben, er zog vehement an der Leine, weg vom Weg, hinunter Richtung Bachbett. Toni war verblüfft.

»Nein! Lux, bei Fuß!«

Daraufhin nahm Lux eine korrekte Vorsteh-Haltung ein. Eine Vorderpfote angewinkelt in der Luft, stand er mit gespanntem Körper da und fixierte einen schmalen Trampelpfad, der vom Weg zum Bach hinunterführte.

Als Toni nicht nachgab, winselte er leise.

Vielleicht hat er Durst?, dachte Toni und zögerte dennoch, ihn zum Wasser zu lassen. War Lux eine Wasserratte? Wenn ja, dann würde er sich erst in den Bach stürzen, danach ausschütteln – und Toni mit seinem Hundearoma parfümieren. Darauf konnte sie verzichten.

»Sei nicht bockig, wir sind sowieso gleich daheim! Da steht dein Wassernapf, und ein Hundefrühstück kriegst du auch, ein bisserl musst noch durchhalten«, beschwor Toni den Hund und versuchte weiterzugehen.

Aber Lux blieb stur. Toni zog und zog – er stemmte sich dagegen. Das verhieß nichts Gutes für künftige Wanderungen. Ein Hund, der sich nicht führen ließ, war kein angenehmer Begleiter. Toni seufzte.

»Du hast einen ordentlichen Dickschädel, weißt du das?«, murmelte sie, und dann tat sie etwas, was man als Hundeführerin – soweit sie wusste – eigentlich nicht tun sollte: Sie gab nach.

Lux warf ihr einen dankbaren Blick zu, dann führte er Toni durchs Gebüsch hinunter zum Wasser.

Auf einer Schotterbank am Ufer lag ein Baumstamm, und auf diesem Baumstamm saß eine Frau. Eine offensichtlich sehr unglückliche Frau. Mit bebenden Schultern, Gesicht in den Händen vergraben, saß sie da und heulte.

Lux zog heftig an der Leine, er drängte zu ihr hin und winselte. Die Frau hob den Kopf und wandte sich um.

Sie mochte in Tonis Alter sein, trug Jeans und einen grauen Kapuzenpulli, bedruckt mit einem großen runden Logo.

»Entschuldigung! Wir wollten nicht stören, aber der Hund … «, sagte Toni.

»Ach, der Lux«, sagte die Unbekannte und wischte sich über die Augen.

»Sie kennen ihn?«

»Ja freilich.« Sie streckte dem Hund eine Hand entgegen.

Toni ging näher und ließ die Leine locker, bis Lux in Reichweite der Frau war. Er wedelte begeistert mit dem Schwanz und ließ sich tätscheln.

Toni räusperte sich. »Kann ich irgendwas für Sie tun? Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein, danke, es geht mir gut.« Sie nahm eine Brille aus der Tasche ihres Pullis und setzte sie auf, dann sah sie Toni ins Gesicht. »Ich glaube sogar, wir kennen uns? Antonia Schubert, stimmt’s?«

Toni nickte verblüfft. »Stimmt, aber woher … ?«

»Von der BOKU. Du hast vorher ein paar Semester Biologie studiert, richtig?«

»Genau. Tut mir leid, ich kann mich wirklich nicht erinnern … ?«

Die Frau nahm die Brille wieder ab, löste ihr Haarband und schüttelte ihre fast schwarze Mähne aus.

»Ah! Mira! Ein Ass in Statistik, stimmt’s? Tut mir leid, dass ich dich nicht sofort erkannt hab.«

»Samira, um genau zu sein«, sie lächelte, »damals war mir mein Vorname noch peinlich, heute kürze ich ihn nicht mehr ab.«

Lux kehrte an Tonis Seite zurück, steckte seinen Kopf zwischen ihre Knie und wedelte mit dem Schwanz, als wollte er sich für ihr Nachgeben bedanken. Sie klopfte seine Flanke.

»Bist du auch auf Urlaub in Lunz?«, fragte Toni, um ihre Verlegenheit darüber, dass sie Samira erstens in diesem aufgelösten Zustand überrascht und zweitens nicht erkannt hatte, zu überspielen.

Die putzte sich die Nase, bevor sie antwortete. »Nein, ich arbeite an der Biologischen Station.« Sie deutete Richtung Seestraße.

»Du bist in der Forschung geblieben? Ist ja toll!«

»Geht so«, sagte Samira und verzog den Mund. »Und du? Machst Urlaub?«

»Ja, im Haus meiner Mutter, daher der Hund.«

»Was?« Samira riss die Augen auf. »Du bist die Tochter von Ida und Heinz?«

»Idas Tochter. Heinz ist mein … mein Stiefvater.«

»Dann sind wir ja Nachbarinnen! Ich wohne nämlich zur Untermiete beim Ehepaar Gamsjäger! Ida hat zwar angekündigt, dass ihre Mutter und ihre Tochter das Haus hüten, während sie mit Heinz Urlaub macht – allerdings hatte ich keine Ahnung, dass diese Tochter eine ehemalige Studienkollegin ist!«

Toni lachte. »Ich bin genauso überrascht! Jetzt versteh ich auch, warum der Hund unbedingt runter zum Bach wollt – weil er dich kennt!« Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Die Frage, ob ich dir irgendwie helfen kann, war übrigens ernst gemeint.«

Samira seufzte. »Meine Antwort ebenso: danke, aber nein, danke. Stress in der Arbeit. Das Übliche in meinem Job.«

»Kommt mir bekannt vor.«

»Was machst du beruflich?«

»Hab den Familienbetrieb übernommen und versuche, ihn nicht in die Pleite zu steuern.« Toni grinste.

»So schlimm?«

»Nein, nein … die Gärtnerei läuft nicht schlecht.« Toni fröstelte und begann am Stand zu laufen. »Sag, magst du am Nachmittag zu uns rüberkommen, natürlich nur, wenn du Zeit hast? Es interessiert mich, was du so treibst und woran du forschst, aber leider muss ich jetzt weiter – bin zu verschwitzt, um bei dieser Temperatur lang herumzustehen. Würd mich freuen, wenn du uns besuchst.«

»Sehr gerne«, sagte Samira.

*

»Servus! Hast du gut hergefunden?«, fragte Toni, als sie am frühen Nachmittag die Tür für Samira geöffnet hielt.

Ihre Besucherin aus dem Nachbarhaus wirkte ob dieser Frage leicht verwirrt.

»Schmäh«, murmelte Toni. Ein Scherz, den man erklären musste, war ein schlechter Scherz.

Samira lächelte nun doch und strich Lux über den Kopf, der sich beim Eingang postiert hatte, dann folgte sie Toni in die Küche.

Ama und Christl saßen am Jogltisch und tranken Kaffee. Sie schienen auf Tonis Besucherin neugierig zu sein, denn sie hatten ihre Siesta hinausgezögert. Flo hingegen hatte beim Mittagessen ausgiebig übers Wetter gemault – seit dem späten Vormittag regnete es – und war danach auf sein Zimmer verschwunden.

Toni konnte seine Enttäuschung nur bedingt nachvollziehen: Einerseits freute sie sich als Gärtnerin über den Regen, der für die ausgedörrte Flora nach der Julihitze ein Segen war – andererseits wünschte sie sich als Urlauberin Sonnenschein. Immerhin sorgte ein erster verregneter Sonntag zumindest für einen gemütlichen Urlaubseinstieg, das war vielleicht gar nicht schlecht.

Der Himmel zeigte sich durchs Küchenfenster distelgrau, die Berggipfel versteckten sich in den Wolken, Regen schraffierte die Seeoberfläche. So düster war es drinnen, dass Toni das Licht aufdrehte, bevor sie ihre Besucherin vorstellte.

»Das ist Samira, wir kennen uns, wie gesagt, von der Uni – und das sind meine Großmutter und meine Großtante.«

Nach dem Händeschütteln verzogen sich die beiden alten Damen auf ihre Zimmer. Samira nahm Platz, Lux setzte sich neben sie, den Kopf auf ihrem Knie.

»Der Hund mag dich eindeutig lieber als mich. Kein Wunder, er kennt mich kaum. Ich muss froh sein, wenn er mir überhaupt gehorcht … Tee oder Kaffee? Ist beides fertig, nimm dir einfach.« Sie wies auf zwei Thermoskannen, die am Tisch standen, und schob ihrem Gast einen Teller mit Guglhupf zu.

Samira schenkte sich Kaffee ein. »Du bist nicht oft in Lunz, oder? Sonst wären wir uns schon über den Weg gelaufen, seitdem ich bei den Gamsjägers wohne.«

»Stimmt.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass du aus Lunz stammst und Idas Tochter bist.«

Toni schüttelte den Kopf. »Ich bin in Wien aufgewachsen. Meine Mutter ist erst nach ihrer Heirat mit Heinz nach Lunz gezogen. Da war ich zehn Jahre alt und bin bei meiner Großmutter geblieben, wegen der Schule.«

»Ach so. Das heißt, da warst immer nur zu Besuch hier?«

»Früher regelmäßig, aber seitdem ich die Gärtnerei übernommen hab, nicht mehr so oft. Rund um Weihnachten bin ich meistens ein paar Tage in Lunz.«

»Und genau dann bin ich bei meinen Eltern in Wien, darum sind wir uns nie begegnet.«

Toni nahm einen Schluck Tee. »Seit wann arbeitest du an der Biologischen Station?«

»Ich bin seit fünf Semestern fix in Lunz stationiert. Anfangs habe ich in einem Gästezimmer der Forschungsstation übernachtet, auf der anderen Seite vom See.«

»Neben dem Bootsverleih.« Toni nickte und biss von ihrem Guglhupf ab.

»Genau, nur logiert man dort in Mehrbettzimmern, auf Dauer ist das ungemütlich. Bei euren Nachbarn unterzukommen, war ein Glücksfall für mich. In meinem Team beneiden mich alle, weil ich als Einzige im Seehof wohne und mit Abstand den kürzesten Arbeitsweg habe.« Samira lächelte.

»Kann ich mir vorstellen, die Lage ist genial. Geht dein Zimmer nach vorn hinaus?«

»Es sind sogar zwei Zimmer, eines davon mit Seeblick und Balkon! Leider bekomme ich von der schönen Aussicht meistens nicht viel mit, weil ich drinnen am Schreibtisch sitze und arbeite.«

»Woran genau forschst du eigentlich?«

Samira seufzte. »Willst du das wirklich wissen?«

»Klar, warum nicht?«

»Also gut. Wie wirkt sich die landwirtschaftliche Nutzung in der Umgebung auf die Nährstoffkonzentration in Fließgewässern aus, und welche Rolle spielt dabei die Ufervegetation? Anders formuliert: Welchen Unterschied macht der Abstand zwischen einem Gewässer und nahen Feldern oder Weideflächen? Halten die Pflanzen am Ufer Nährstoffeintrag zurück? Solchen Fragen gehen wir nach.«

»Klingt spannend!«

»Dachte ich früher auch«, murmelte Samira.

»Und jetzt findest du es nicht mehr interessant?«

»Doch, aber … ich habe aktuell gravierende Probleme mit meinem Projekt. Mir läuft die Zeit davon und …«, Samira schluckte, dann sprach sie hastig und mit belegter Stimme weiter, »meine Chefin hat mir eine Zwangspause verordnet, dabei sollte ich besser Tag und Nacht arbeiten, um mein Projekt noch irgendwie fertig zu bekommen! Mein Vertrag läuft nur mehr bis Jahresende – und ausgerechnet jetzt spießt sich alles!«

Sie sah aus, als würde sie jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen. Lux leckte ihre Hand.

»Warst du deshalb so verzweifelt, heut früh am See?«

Samira nickte. »Mein Projekt wird nicht rechtzeitig fertig – dafür bin ich selbst komplett fertig. In den letzten Wochen ist alles schiefgegangen, was schiefgehen kann. Eine Zeit lang hatte ich sogar den Verdacht, dass mich jemand sabotiert. Dabei bin ich vermutlich nur total durch den Wind.«

»Das tut mir leid«, sagte Toni, »wirklich. Vielleicht läuft’s nach einer Pause wieder besser?«

»Du hörst dich an wie Anke«, Samira verzog den Mund, »meine Chefin, Professor Anke Moosbichler-Schulz. Sie hat mich zu einem Zwangsurlaub verdonnert. Laut Plan hätte ich letzte Woche mit ihr nach Lausanne fahren sollen, um dort unsere Ergebnisse zu präsentieren. Weil ich mit meinem Projekt in Rückstand bin, war ich sehr nervös und dann habe ich mir zu allem Überfluss eine Darmgrippe eingefangen. Oder es war eine Stressgastritis, was weiß ich.« Samira schob ihr Häferl von sich weg. »Ich sollte besser keinen Kaffee trinken. Sagt zumindest Doktor Moosbichler.«

»Was? Du lässt dir von deiner Chefin den Kaffee verbieten?«

»Mit Sicherheit nicht, das würde Anke niemals wagen.« Samira lächelte einen Moment lang. »Ich habe ihren Ehemann gemeint, Hubert Moosbichler, er ist Gemeindearzt von Lunz und als solcher mein Hausarzt. Seine Frau sieht das völlig anders, sie hält Kaffee für ein Grundnahrungsmittel.«

Samira seufzte wieder. »Mir war hundeelend … Anke musste allein nach Lausanne fahren, ich war beim besten Willen nicht reisefähig. Sie wollte, dass ich mich währenddessen auskuriere, aber ich habe selbstverständlich weitergearbeitet. Daraufhin hat sie mir vorgestern, nach ihrer Rückkehr, den Schlüssel zur Biologischen Station abgenommen! Ich soll mindestens eine Woche ausspannen, hat sie gesagt, und dass wir erst wieder über meine Arbeit sprechen, wenn sie selbst von ihrem Kurzurlaub zurück ist. Sie fährt nämlich kommende Woche mit ihrem Mann für ein paar Tage weg.«

»Na, dann mach doch wirklich Urlaub!«

»Es bleibt mir sowieso nichts anderes übrig … dabei ist das der absolute Wahnsinn! Ich bin so was von in Verzug! Außerdem kann ich nicht auf Knopfdruck abschalten. Wenn ich den ganzen Tag arbeite, dann bin ich am Abend wenigstens so erschöpft, dass ich schlafen kann. Letzte Nacht habe ich mich nur sinnlos im Bett herumgewälzt und im Kopf Proben ausgewertet – da kann ich genauso gut ins Labor gehen!«

»Na ja, viele Leute brauchen ein paar Tage zum Runterkommen, mich eingeschlossen. Was glaubst du, warum ich heut so früh laufen war? Weil mein innerer Wecker noch nicht kapiert hat, dass ich auf Urlaub bin. Gib dir einfach ein paar Tage Zeit.«