Schlüsselgewalt - Norbert Klugmann - E-Book

Schlüsselgewalt E-Book

Norbert Klugmann

3,0

Beschreibung

Zwei Rätsel, ein Motiv: Felix von Oldenburg, der Sohn eines bekannten Reeders aus Lübeck, wird ermordet in einem Keller gefunden. Der Keller gehört einem stadtbekannten Weinhändler, bei dem zum Zeitpunkt des Verbrechens der Marchese zu Gast ist, Weinkenner, Frauenschwarm und Hochstapler. Am Morgen nach der Tat findet der Marchese eine Weinflasche, in ihr steckt ein alter Schlüssel. Ein Mord und ein Schlüssel - wie passt das zusammen? Der zweite Fall für den Marchese: Mit Charme und Scharfsinn nimmt die lebende Legende aus der Welt des Weins das Duell mit der Lübecker Kripo auf. Eine heiße Spur führt in die Geschichte der Hanse zurück.

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Norbert Klugmann

Schlüsselgewalt

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.gmeiner-verlag.de

© 2004 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

1

Heute stieß er sich nicht den Kopf. Daran erkannte er, dass er im Begriff war, sich im Keller wie zu Hause zu fühlen. Ein Keller ohne elektrisches Licht – man konnte das Loblied auf die goldene Vergangenheit auch übertreiben. Vier Wochen hatten sie das altmodische Spiel gehorsam mitgespielt und dann für 5,99 Euro eine Stablampe aus dem Baumarkt geholt. Seitdem mussten sie mit den Flaschen nicht jedes Mal zum nächsten Kerzenleuchter pilgern. Verblasste Tintenschrift, abgeblätterte Kreide, alles in den Schriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zuerst war Grünfeldt mitgekommen, um die jungen Helfer einzuweisen. Aber wer 70 Jahre seines Lebens dem Wein und dem Handel mit Wein gewidmet hat, ist nicht fähig, sich vorzustellen, was man alles nicht wissen kann. Unter der Wucht der Persönlichkeit des Patriarchen waren sie in die Knie gegangen, hatten sich klüger gegeben, als sie waren. Seitdem stiegen sie zweimal pro Woche in die Katakomben hinab. Sie standen nicht unter Zeitdruck, bis zum Jubeltag würde es noch ein halbes Jahr dauern. Alles, was jünger war als 1950, lagerte in Holzkisten oder Regalen und gehorchte einem Ordnungsprinzip, das sich auch dem begriffsstutzigsten Archivar erschloss.

Eine Wissenschaft für sich waren nur die Kostbarkeiten. Weine, die älter als 80 Jahre waren. Ein Lafite, der den Geschützdonner des Ersten Weltkriegs gehört hatte; ein Yquem, der schon das Pensionsalter erreicht hatte, als sich Deutsche und Franzosen 1870 die Kugeln um die Ohren schossen; feinste Rieslinge vom Rhein, man hätte mit ihnen auf die Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests anstoßen können.

Die älteste Kostbarkeit stammte aus dem Jahr 1834, und sie waren mit der Inventur erst halb fertig. Mittlerweile hatte ihn der Ehrgeiz gepackt. Was zuerst nur wie ein Job ausgesehen hatte – mit acht Euro pro Stunde nicht gerade fürstlich entlohnt – wuchs sich zu einer Beschäftigung aus, der er gerne nachging – und Philipp auch. Manch ein Weinfex hätte eine Kiste seiner besten Vorräte hergegeben, um sich eine Stunde in diesen Räumen aufhalten zu dürfen. Schade, dass sich keine Flasche aus dem Jahr 1804 finden würde. Aber der alte Weinhändler hatte betont, dass der Gründer des ehrwürdigen Lübecker Weinhauses in den ersten Jahren von der Hand in den Mund gelebt hatte. Kein Gedanke daran, einzulagern und dem Wein beim Altwerden zuzusehen.

Heute war der neue Raum dran. Niedrig wie alle anderen Keller, aber noch verstaubter. Spinnennetze so dick, dass die Faust nach halbherzigen Schlägen wie von einer elastischen Wand zurückprallte. An den Wänden die obligatorischen Kerzenleuchter. Schwarzes Eisen mit oberschenkeldicken Kerzenstumpen. In der Ecke eine uralte Maschine zum Verkorken. Die Regalbretter ausgetrocknet und durchgebogen, die Flaschen fast unsichtbar unter dem Staub. Lampe aufgestellt, Laptop auf einem Holzfass aufgeklappt, Hemdkragen gegen zwölf Grad Celsius hochgeklappt. Dann begann er zu arbeiten.

Mendel Grünfeldt musste 86 Jahre alt werden, bevor er seinen ersten obszönen Anruf erlebte. Dieser war doppelt kurios, denn der Weinhändler selbst war es gewesen, der die Nummern gedrückt hatte. Am anderen Ende wurde geschnauft und gestöhnt. Grünfeldt blickte auf das Display und sagte: »Kann ich unter dieser Nummer den Marchese erreichen?«

Stöhnen.

»Sie wissen, wer der Marchese ist?«

Dann verstand er die ersten Worte: »Zahnarzt. Gerade zurück. Wünschte, ich wäre tot.«

»Ein verständlicher, aber vorschneller Wunsch, mein Lieber. Komm sofort her. Dann reden wir weiter über das Thema.«

Der Körper lag zwischen zwei Fässern. Ein drittes Fass lag auf seinem Oberkörper, bis vor kurzem hatte es auf seinem Kopf gelegen.

»Was wiegt so ein Koloss«, sagte der Marchese.

»Ein paar Zentner werden es schon sein.«

»Und wie hast du das Fass bewegt?«

»Ich habe mir vorgestellt, es liegt auf einer meiner guten Flaschen. Das verleiht mir Bärenkräfte.«

Sie hatten Felix einen Kerzenleuchter ins Gesicht gestoßen. Alle anderen Leuchter befanden sich an den Wänden, alle Kerzen brannten. Der Schädelknochen war geborsten, aus der Wunde war nicht nur Blut ausgetreten.

»Warum das Fass«?, fragte der Marchese, um selbst fortzufahren: »Vielleicht hat er den Anblick nicht ertragen.«

»Wie geht es deinen Zähnen?«

»Lass uns über etwas Schöneres reden, ja?«

»Ich sollte bei Gelegenheit die Polizei benachrichtigen.«

»Heißt das etwa, du hast noch nicht …?«

»Siehst du hier irgendetwas, das Eile nötig macht?«

Der Marchese blickte den Freund an, so lange, bis Grünfeldt sagte: »Sie werden nichts finden, weil sie nicht danach suchen werden.«

Der Marchese ging, die Polizei kam. An ihrer Spitze Kommissar Waldmeister, seine ersten Worte lauteten: »Mach mal einer Licht an!«

»Das ist wegen dem Wein«, gab ein Kollege zu bedenken.

»Geiz ist das«, murmelte der Kommissar. »Wo steckt unser orientalischer Freund? Zählt wahrscheinlich gerade seine Goldstücke. Was ist«, bellte er den Kollegen an, dessen Gesichtsausdruck er nicht zu deuten verstand.

»Er will Ihnen mitteilen, dass der Orientale hinter dem Krabbenfresser steht«, sagte eine Stimme hinter Waldmeister.

Der Kommissar drehte sich zu Grünfeldt um.

»Humor muss sein«, sagte er und reichte dem alten Mann die Hand.

»Ich habe bei 666 Goldstücken eine Pause gemacht«, sagte Grünfeldt. »Wenn ich nachher weiterzähle, muss ich nur an Sie denken und mir fällt die Zahl 666 wieder ein. Raffiniert, nicht wahr?«

Waldmeister lächelte matt und nahm sich vor, in einem Lexikon nachzuschlagen.

»Wo haben Sie Ihren Lichtschalter versteckt?«, fragte Waldmeister.

»Ich spare, wo ich kann«, sagte Grünfeldt.

»Verstehe«, sagte Waldmeister, »von nichts kommt nichts.«

»Es gibt Ausnahmen. Sehen Sie sich an.«

Waldmeister wurde das Gefühl nicht los, dass ihm die Sache aus den Händen zu gleiten drohte. Erneut forderte er Licht, als Grünfeldt versicherte, dass in diesem Keller kein elektrisches Licht zur Verfügung stehen würde, rief der Kommissar nach Scheinwerfern und Verlängerungskabeln.

Als der Raum in gleißendem Licht schwamm, gab es niemand, der sich der Atmosphäre entziehen konnte.

Kommissar Waldmeister schritt die Regale ab und sagte: »Gibt es irgendeine geheime Regel, die es verbietet, in einem Weinkeller Staub zu wischen?«

»Ja, eine einzige, die Liebe zum Wein«, sagte Grünfeldt.

Der Kommissar musterte den Hausmantel des alten Mannes.

Grünfeldt teilte den Beamten mit, was sie wissen mussten – und kein Wort mehr.

»Mal sehen, ob ich alles verstanden habe«, sagte Waldmeister und übersah, wie die Kollegen die Augen verdrehten. Er fasste nun mal für sein Leben gern zusammen.

»Ihre Firma feiert bald den Zweihundertsten. Zur Feier des Tages wollen Sie endlich mal aufräumen und heuern zwei Knaben an, um hier unten Staub zu wischen und alles auf Vordermann zu bringen. Korrigieren Sie mich, falls ich etwas falsch verstanden habe, was ich allerdings für kaum möglich halte.«

Grünfeldt hob den Arm.

»Das Weinhaus Grünfeldt besteht 200 Jahre. Wir werden feiern, da werdet ihr steifen Nordlichter euch die Augen reiben. Meine Weinvorräte sind in der Stadt an zwei Orten untergebracht. In einer banalen Lagerhalle steht das Gesöff für alle Tage …«

»Beispielsweise für welchen Anlass?«

»Beispielsweise für Ihre Beerdigung. Darf ich fortfahren? Danke. Die andere Hälfte liegt in diesen Kellern, sie sind das Älteste und Beste, was die Stadt zu bieten hat. Sagt Ihnen die Jahreszahl 1452 etwas?«

»Kam die nicht ziemlich bald nach 1451?«

»Acht Gewölbe. Sieben habe ich leidlich im Kopf. Ins achte wurde jahrelang alles geschoben, was zu gut war, zu alt, zu selten, auch zu bizarr.«

»Verstehe«, sagte Waldmeister. »Wäre ich eine Flasche, würde ich hier gelandet sein.«

Er las die Entgegnung im Gesicht des alten Mannes. Sag es, geiferte Waldmeister. Sag es endlich. Es wird dir sonst die Kehle zuschnüren.

Aber Grünfeldt sagte: »Ich habe diesen Raum im Verdacht, dass hier einige Schätzchen lagern. Deshalb waren die Jungen mit der Inventur in den vorderen Gewölben schnell fertig. Letzte Woche ging es hier los.«

»Ohne Licht.«

»Kerzenlicht schont den Wein. Es ist das Licht, das ihm angemessen ist. Seit tausend Jahren.«

»Tausend! Mann! So alt wird kein Polizist.«

»Und wer weiß, wofür das gut ist.«

»Also hat der Killer Wein geklaut«, sagte der Kommissar. »Wo ist die Inventarliste?«

»Im Computer.«

»Computer! Guter Mann, ist das nicht zu modern für Ihren Wein?«

»Mir würde Papier reichen. Aber die Jungen hielten es für eine gute Idee.«

»Okay, das erleichtert die Sache.«

Der Laptop fand sich auf dem Fußboden. Er war zerkratzt, aber funktionsfähig.

Der Arzt lieferte ein Zwischenergebnis: Tod durch mehrfachen Schädelbruch. Tatinstrument vermutlich der Kerzenleuchter oder ein anderer schwerer Gegenstand. Tatzeitpunkt: vor etwa vier Stunden. Keine Spuren eines Kampfes. Keine Gegenstände, die nicht dem Opfer zuzurechnen wären. Alles weitere nach Obduktion und Spurensicherung am Tatort.

»Der viele Staub ist ein Glücksfall«, sagte der Spurensicherer.

»Wenigstens einer, der glücklich ist«, knurrte Waldmeister. »Wo steckt der Zweite?«

Grünfeldt sagte: »Ich verstehe nicht.«

»Der zweite Staublecker. Sie sagten doch, dass Sie zwei …«

»Ich habe Philipp heute nicht gesehen. Felix auch nicht. Die beiden arbeiten selbstständig. Meine Frau lässt sie nur ins Haus.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Kinder ohne Kontrolle an Ihre Superflaschen lassen?«

»Ich verbürge mich für die beiden.«

»Würde ich nie machen. Wenn ich dann mal um Namen und Adressen bitten dürfte.«

»Philipp Bernstorff und Felix von Oldenburg.«

»Witzig. Bernstorff heißt unser Vize-Bürgermeister. Oldenburg heißt der Reeder. Und wo kommen Ihre Kandidaten her?«

»Der eine aus einer Bürgermeisterfamilie. Der andere aus einer Reederfamilie.«

Der Kommissar ließ sein Notizbuch sinken. »Auf Wiedersehen, Durchschnittsfall«, sagte er leidend.

»Arbeiterleichen gehen besser«, sagte Grünfeldt vollkommen ernst.

»Klar. Zur Not tut es auch ein Türke. Da weißt du gleich: Familien-Rache oder Rauschgift und das war’s dann. Und wer ist nun das Opfer?«

Eine halbe Stunde später brach eine Mutter zusammen. Kommissar Waldmeister wollte zwar noch zupacken, aber Ann-Kathrin von Oldenburg fiel schneller.

Um 19 Uhr ließ die Wirkung der Tablette nach. Eine Minute später war er wach. Er schwankte ins Badezimmer. Was er im Spiegel sah, deprimierte ihn zutiefst. Vier Tabletten hatten sie ihm mitgegeben, die Notfallration bis zum nächsten Termin. Er nahm sich vor, den Schmerz auszuhalten. Aber er besaß nicht das Talent, sich abzulenken. Fernsehen kam nicht in Frage. Das Angebot an Büchern war atemberaubend, aber es erforderte einen Geist, der bereit war, auf Entdeckungsreisen zu gehen.

Vor dem Haus parkten keine Polizeiwagen mehr. Trotzdem wartete er noch eine weitere Stunde, bevor er hinunterging. Er wollte in den Wohnraum, aber aus der Küche wehten Düfte, die ihn anzogen wie das Licht die Motte. Jadwiga buk Teigspezialitäten aus der Heimat.

»Du musst essen, Junge«, sagte sie, »Essen ist Leben. Alles weich, nur schlucken. Dazu ein Glas.«

Schon stand alles auf dem Tisch. Die kleine Frau war in einer Wahnsinnsgeschwindigkeit unterwegs. Wenn man nur ihren Oberkörper sah, konnte man denken, sie würde auf Rollen fahren.

Der Marchese gratulierte ihr zu ihrer Fitness.

Sie sagte: »Das ist doch nichts. Wenn du alte Männer pflegst, musst du stark sein.«

Sie war zwei Jahre jünger als der Mann, mit dem sie seit kurzem verheiratet war, nachdem sie sich vier Jahrzehnte wie Kampfhähne umschlichen hatten.

»Wie nimmt er es auf«, fragte der Marchese.

»Ist ruppig. Es geht ihm nahe. Ich kriege alles ab.«

Grünfeldt war schon ins Bett gegangen. Das war kein gutes Zeichen bei einem Mann, den man zu buchstäblich jeder Tageszeit stören durfte.

Jadwiga sagte: »Ist alt. Wird nicht mehr lange machen. Ich Witwe, werde ihm schnell folgen. Muss auf ihn aufpassen. Soll viel los sein in der Hölle.«

Um null Uhr 38 machte er sich auf den Weg. Er wusste, wie man aus dem Haus in der Glockengießerstraße durch dessen Keller den Weg zum Wein fand.

Am Eingang versorgte er sich mit einer Lampe und wechselte seine Schuhe gegen die eleganten Slipper, Größe 42. Der Tatort war mit Polizeibändern abgesperrt, naturgemäß auch der schmale Gang zwischen Wand und äußerster Regalreihe. Er lag so weit vom Tatort entfernt, dass er nicht zögerte. Der Strahl der Lampe bewies, dass hier seit langem niemand gegangen war. Es gab auch keinen Grund, dies zu tun, am Ende des Ganges lag nichts als die rückwärtige Wand des Gewölbes. Hier stand das älteste von allen Regalen, windschief, nachlässig gestapelte Bretter, Reste, die übrig geblieben waren. Verstaubt wie alles andere in diesem Teil des Kellers.

Lange stand der Marchese vor dem Regal, dann legte er die Lampe auf das nächststehende Regal mit Flaschen und machte sich an die Arbeit. Der Abbau dauerte weniger als fünf Minuten. Seine Hände erinnerten sich an die Tricks und Griffe, die die Prozedur abkürzten.

Der Durchgang war mannshoch und schmal, nur zu durchqueren, wenn man sich seitlich hindurch schob. Er vergaß die Lampe nicht.

500 Flaschen, die Hälfte Magnums, drei Viertel rot. Für die schlechteste von ihnen hätte er jeden Weinkenner mitten in der Nacht aus dem Schlaf klingeln dürfen. 500 Flaschen, die in der Superliga des Weins mitspielten. Von einem 1812er-Lafite bis zu legendären Kaliforniern, von denen bis heute offiziell nicht bekannt war, ob sie jemals erzeugt worden waren. Dieser Schatz stellte einen immateriellen Wert dar. Natürlich besaß jede einzelne Flasche ihren Preis, den man in die Höhe steigern oder gleich einem der 20 Sammler anbieten konnte, die für Angebote in solchen Dimensionen in Frage kamen. Ein einziges Mal hatte der Marchese die definitive Zahl hören wollen. Der Trip nach Japan, das winterliche Bad in den heißen Quellen, um zwischen den Gelagen Kopf und Körper wieder klar zu bekommen. Unvermittelt hatte er angefangen, aufzuzählen, und der Gastgeber hatte in Sekundenfrist erkannt, woher der Wind wehte. Lebendigere Augen hatte der Marchese in diesem Gesicht vorher und hinterher nie wieder gesehen. Während er schon 150 Flaschen aufgezählt hatte, redete er sich immer noch ein, dass alles ein Spiel sei, dass er jederzeit schweigen könne. Aber da waren die Augen seines Gastgebers und das Wissen des Marchese um die Sammlung dieses Magnaten, der sich als junger Mann vorgenommen hatte, die größten europäischen Lagen zu besitzen; als er erkennen musste, dass ihm dies nicht gelingen würde, hatte er die Lagen in Flaschen füllen lassen und palettenweise in seinen Stammsitz in den südlichen Bergen schaffen lassen.

500 Namen, der Marchese hatte beim Aufzählen nicht häufiger als viermal gezögert. Nach dem letzten Namen sagte er: »Wir spielen nur ein Spiel. Wir nennen eine Zahl, dann vergessen wir das Spiel. Wir haben es nie gespielt.«

Der Gastgeber nannte die Zahl. Er erhöhte sie, die letzte Zahl, die er nannte, war doppelt so hoch wie die erste.

Der Marchese verneigte sich, so gut man dies in einer heißen Quelle sitzend tun kann. »Ich danke Ihnen«, sagte er. »Ich fühle mich tief geehrt.«

Der Gastgeber sagte: »Sie kennen die Wege, auf denen ich zu erreichen bin. Bevor Sie mich verlassen, wird Sie mein Sekretär den Weg wissen lassen, den Sie noch nicht kennen, weil ihn nur zwei Menschen kennen. Zwei lebende Menschen. Zögern Sie nicht, diesen Weg zu beschreiten, mag er Ihnen auch seltsam erscheinen. Sie erreichen mich, dann sprechen wir über die Zahl. Vielleicht fallen uns neue Zahlen ein. Größere.«

Dann mussten sie sich gegen Affen verteidigen, die sich lautlos angeschlichen hatten. Für sie war die Nachbarquelle reserviert, meistens hielten sich die Tiere an die Aufteilung. Manchmal nicht, vor allem dann nicht, wenn auf dem Rand der Menschen-Quelle hohe Saftgläser standen, auf deren Rand Orangenscheiben steckten.

500 Flaschen, Ernte und Bilanz eines Sammlerlebens. Die Zahl war seit vielen Jahren konstant. Für jede Flasche, die neu dazukam, musste eine andere weichen. Auf diese Weise stieg der Wert ständig an.

Der Marchese schritt durch die beiden Regalreihen, mehr Platz nahm der Schatz nicht in Anspruch. Alles war unverändert, auch am Durchgang hatte sich niemand zu schaffen gemacht. Aber vielleicht würde es eines Tages jemand gelingen, sich auf einem anderen Weg Zugang zu verschaffen. Er legte die Hand auf eine Flasche, er genoss die Berührung, las andächtig das Etikett.

Er löschte das Licht. Es wurde schwarz und blieb schwarz, auch als sich die Augen auf die neue Lage eingestellt hatten. Es war absolut still, es gab keinen Wind, überhaupt kein Wetter, und obwohl jede einzelne Flasche lebendig war, war er von Bewegungslosigkeit umgeben. Ein Keller voller Ewigkeit. Konnte man sich in besserer Gesellschaft befinden? So stellte er sich das Paradies vor. Ohne Angst. Ohne Schmerz. Im Schwarzen lächelte der Marchese ein schmerzerfülltes Lächeln.

2

Die zweite Tablette fällte ihn. Einmal torkelte er noch auf die Toilette, es war dunkel, und er war nicht wach. Vielleicht stand sie da schon auf dem Tisch. Sicher war er erst, als er gegen acht Uhr die Augen aufschlug. Schlanker Weißweinleib, braunes Glas, kein Etikett. Seit wann betrat Grünfeldt nachts Schlafräume, um seine jüngste Entdeckung zu präsentieren? Er genoss es doch, das Mienenspiel des anderen zu beobachten, den ewig gleichen und ewig reizvollen Schritt von Interesse über die Neugier und das Studieren bis zum Blick in Grünfeldts Gesicht, um herauszufinden, ob der Schatz in den Keller wandern würde oder eine spontane Weinprobe bevorstand.

Als er die Flasche anhob, gab es ein Geräusch. Er hielt den Flaschenleib gegen das Fenster und sah den Schlüssel. Er wusste sofort, dass es sich um einen Schlüssel handelte, obwohl es keinen Grund gab, so einen Gegenstand in einer gefüllten Flasche zu erwarten. Der Schlüssel war lang, bestimmt 15 Zentimeter, sein Bart war klein.

Der Marchese stellte die Flasche auf den Tisch und entfernte sich von ihr. Er glaubte nicht, dass es sich um eine Bombe handelte. Aber er hatte den Gedanken gedacht und erschrak darüber mehr als über die Vorstellung einer realen Bombe.

Zehn Minuten später saß er mit Grünfeldt am Küchentisch, zwischen ihnen stand die Flasche. Jadwiga überwachte am Herd die Herstellung ihres legendären Kaffees. Handgefiltert, weiches Wasser, eine Prise Salz, eine Prise Kakao.

»Ein Schlüssel«, sagte der Marchese.

»Es könnte auch ein Nagel sein.«

»Warum stecken sie den Schlüssel in eine Flasche?«

»Wenn es nun doch ein Nagel ist? Oder einfach ein Stück Eisen, das ein Teil von etwas Größerem ist?«

»Dann müsste es weitere Flaschen geben.«

»Und du sagst, die Flasche hat auf dem Tisch gestanden?«

»Und du hast sie dort wirklich nicht hingestellt?«

Zwei Tassen Kaffee, zwei Pfannkuchen, süß gefüllt und schon gerollt.

Die Männer aßen. Erst als der Korken ploppte, erkannten sie, was hier ablief. Jadwiga roch an der Flasche und wollte sie nicht hergeben, auch wenn Grünfeldt immer ärgerlicher agierte.

»Lass los, du dumme Frau. Du weißt nicht, was das ist.«

»Riesling, nichts besonderes. Wässrig. Wie aufgefüllt.«

Sie ließ Grünfeldt riechen, ohne die Flasche herzugeben. Vorsichtig gossen sie den Wein dann in den Ausguss.

»Nicht alles«, sagte der Marchese.

»Warum nicht?«

»Sage ich dir, wenn ich den Grund weiß.«

Der Schlüssel rutschte aus der Flasche in die Hand des Marchese.

»Sehr gut«, sagte Grünfeldt. »Nun müssen wir nur noch herausfinden, wozu der Schlüssel gut ist.«

Aber vorher unterzogen sie das Haus einer peniblen Untersuchung. Wie hatte jemand unbemerkt hereinkommen können? Grünfeldt und Jadwiga übertrieben es nicht mit der Sicherheit. Dennoch waren alle Schlösser von guter Qualität.

Sie suchten eine Stunde lang, bevor sie aufgaben.

3

Der Mann stieg aus dem Sessel empor, mit beiden Händen stützte er sich auf dem Tisch ab, wurde größer und größer.

»Hören Sie mir gut zu«, knurrte Otto Bernstorff, »ich sage es nämlich nur einmal.«

»Das geht völlig in Ordnung. Ich kann sehr konzentriert zuhören.«

»Ich kenne Sie«, knurrte Bernstorff. »Ich weiß, dass es Ihre Taktik ist, die Menschen bis zur Weißglut zu reizen. Ich gebe zu, dass ich für diese Art, so ekelhaft sie ist, ein gewisses Verständnis mitbringe.«

»Sie meinen, weil sie der Wahrheitsfindung dient.«

»Wahrheitsfindung, nett gesagt. Aber bevor hier einiges in Vergessenheit gerät: Wir reden über Philipp, meinen Sohn. Sie behaupten, er ist ein Mörder.«

»Das habe ich nicht …«

»Sie behaupten, er hat seinen besten Freund getötet. Und all dies werfen Sie einem Jungen vor, der zufällig mein Sohn ist. Stellvertretender Bürgermeister, Arbeitgeber für 80 Menschen, Mitglied in 19 Vereinen, davon viermal Erster Vorsitzender, Präsidiumsmitglied einer großen Volkspartei, nicht ganz ohne Aussicht auf höhere politische Weihen in unserem schönen Heimatland …«

»Vergessen Sie nicht den Ostseerat.«

»Wie bitte?«

»Na, wo Sie doch jetzt im Ostseerat ein großes Rad drehen. Mit 15 Nationen an einem Tisch, Wodka bis zum Abwinken und ein Fässchen saure Heringe, um wieder nüchtern zu werden.«

»Herr Kommissar Waldmeister, ich werde mich über Sie beschweren.«

»Davon würde ich abraten. Das sieht aus, als ob Sie einknicken, wenn es hart auf hart kommt.«

Bernstorff stemmte sich endgültig in die Höhe. Nicht dass er dadurch beängstigend groß wirkte, aber der Mann stand dermaßen unter Dampf, dass seine Wut gut und gerne 20 Zentimeter Körpergröße ersetzte.

»Ich wiederhole mich, Herr Wahrheitsfinder. Ich habe meinen Sohn seit gestern Morgen nicht mehr gesehen. Das bestätigt auch meine Frau. Und unsere Haushälterin ebenso. Philipp ist zur Schule gefahren, mit dem Fahrrad, Mountainbike, ein 2.000-Euro-Rad, das im Übrigen auch verschwunden ist. Er war in der Schule. Die letzte Stunde ist um 13 Uhr zu Ende. Zehn oder elf Schüler bestätigen, dass Philipp mit dem Rad vom Schulgelände fuhr. Grobe Richtung: unser Haus. Aber hier kam er nie an.«

»Weil er vielleicht gleich zu dem … zum Weinhändler gefahren ist. Sie wussten, dass er dort Flaschen zählt?«

»Stellen Sie sich vor, ja, das war mir bekannt. Ich habe ihm den Job nämlich vermittelt. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das Weinhaus Grünfeldt Lieferant meiner Firma und meiner Familie ist. In der vierten Generation.«

»Sie haben ihm den Job vermittelt?«

»Mendel hat mich gefragt, ob ich jemand kennen würde, dem man so eine Aufgabe anvertrauen kann. Natürlich ging es nicht darum, Flaschen zu zählen. Dafür könnten sie ja jeden … jeden …«

» … jeden Polizisten einstellen.«

»Es handelte sich um eine Art Dechiffrierarbeit. Jahrhundertealte Weinflaschen entziffern, zuordnen. Natürlich stand ihnen Mendel jederzeit zur Verfügung. Aber er hat die Jungen selbstständig arbeiten lassen. Das schmeichelt ihnen, auch wenn sie das nie zugeben würden.«

»Ihr Sohn hat seinen Freund mitgebracht.«

»Korrekt.«

»Wie gut sind die beiden befreundet?«

»Gut. Seit der Grundschule. Unsere Familien verkehren miteinander.«

»Wer hätte das gedacht?«

»Bitte was?«

»Ich meine, das ist schön. Aufwachsen im Schoß solider Bürgerlichkeit. Wie gern hätte ich das selbst erlebt.«

»Wo sind Sie denn groß geworden? Im Tierheim?«

»Bitte was?«

»Vergessen Sie’s. Ich bin in Sorge um Philipp.«

»Sie haben aber Verständnis dafür, dass wir zurzeit Fragen stellen.«

»Verständnis? Ja, so wie ich Verständnis dafür habe, dass meine Frau halb verrückt ist vor Sorge um Philipp. Und an die armen Oldenburgs darf ich gar nicht denken.«

»Haben Sie schon miteinander gesprochen?«

»Was denken Sie denn, was wir getan haben? Natürlich bin ich sofort losgefahren und habe der armen Ann-Kathrin meine aufrichtigste …«

»Ich meine ja nur … solange nicht feststeht, ob es nicht Ihr Sohn war, der den anderen Sohn …«

»Die Unterredung ist beendet. Verlassen Sie sofort mein Büro.«

»Dass wir uns endlich wieder treffen! Oh, das freut mich aufrichtig!« Edgar Hoppenstedt eilte aus den Tiefen seiner edel möblierten Welt auf den Marchese zu. Schwungvoll warf er seine Krücken um den Besucher herum, und der dachte einen Moment: Jetzt schlägt er dir die Dinger ins Kreuz. Aber Hoppenstedt umarmte ihn, blickte dem anderen verschämt ins Gesicht und sagte: »Das war ein Überfall, pardon. Aber ich freue mich wirklich. Sie wissen, warum.«

Es war die bekannte Geschichte: Man lernt sich kennen, man mag sich, man macht Geschäfte miteinander, man nimmt sich vor, die Beziehung zu intensivieren. Eine Verabredung zum Essen, die ausfallen muss, weil der eine erkrankt. Eine zweite Verabredung, die schon auf sich warten lässt, und als der andere daran denkt, ist der Termin seit 72 Stunden verstrichen, weil man nicht an Lübecker Verabredungen denkt, wenn man in argentinischen Weinbergen unterwegs ist.

Der Marchese war gerührt, wie freundlich der Händler ihm begegnete. Dabei hatten sie nicht viel gemeinsam. Er hatte Hoppenstedt geholfen, als der Hilfe nötig gehabt hatte. Als er ihm jetzt demonstrierte, wie virtuos er seine Krücken zu gebrauchen imstande war, stieg der Vorfall in ihm auf wie bitterer Geschmack. Sie hatten ihn praktisch totgeschlagen, den Antiquitätenhändler hatten die beiden Junkies willkürlich ausgesucht, er sollte ihnen den nächsten Schuss finanzieren, mit einem Säbel von seiner Wand hatten sie ihn bedroht, und Hoppenstedt hatte sich nicht gewehrt. Aber er war zu langsam gewesen, wie einer der Banditen später aussagte: »Er ging so demonstrativ, so provozierend. Als wäre er etwas Besseres als wir. Na, jetzt hat er ein Andenken an uns und kann darüber nachdenken, ob er wirklich so ein toller Herr ist.«

Genau das war Edgar Hoppenstedt, ein Herr, 14 Knochenbrüche hatten nicht gereicht, ihm die Eleganz aus Körper und Charakter zu treiben. »Die Dinger hier«, sagte er und präsentierte eine Krücke, »die sind das Feinste vom Feinen. Wiegen soviel wie ein halbes Pfund Federn, wenn ich Platz zum Ausholen habe, kann ich damit zuschlagen wie ein Junkie.«

Hoppenstedt bestand darauf, mit dem Marchese vor das enge Geschäft zu treten. Auf der Gasse handhabte er vor dem verdutzten Besucher seine Krücken wie ein Lanzen-Kämpfer. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis aus einem Fenster im ersten Stock gegenüber eine Frauenstimme rief: »Edgar macht wieder auf Bruce Lee.«

Die Männer grüßten zu dem Oberkörper auf der Fensterbank hinauf, die Frau rief dem Marchese zu: »Ich habe meinen Hund abgeschafft. Seitdem Edgar trainiert, sind wir hier sicher.«

Aus dem Laden nebenan trat der Buchbinder und brachte noch vor einem Gruß die Einladung auf einen Espresso aus. »Dauert nur zehn Minuten«, sagte er.

Hoppenstedt flüchtete mit dem Marchese ins Geschäft zurück. »Seitdem Jasper seine neue Espresso-Maschine von den Römern mitgebracht hat, ist es endgültig mit ihm durchgegangen. Er zwingt uns, den Kaffee selbst zu mahlen. Er sagt, dadurch würden wir vertraut mit ihm werden. Handmahlen natürlich und nur die Menge für eine Tasse. Haben Sie schon mal versucht, drei Bohnen zu zermahlen? Das ist kein Kaffeeklatsch mehr, was der Mann veranstaltet. Das ist Gottesdienst.«

Endlich fand der Marchese eine Gelegenheit, den Schlüssel zu ziehen. Hoppenstedt nahm ihn in die Hand, wog ihn. »Eisen, ein wenig Bronze darin, 17. Jahrhundert, wahrscheinlich älter. Fand im Haushalt Verwendung oder im Handel. Mit solchen Schlüsseln haben unsere Großeltern ihre Wäschetruhen verschlossen. Das waren ja seinerzeit die wirklichen Schatztruhen. Schönes Leinen aus Flandern gegen poplige Heringe aus der Ostsee. Kein Wunder, dass Fässer nie ein Schloss hatten. Aber das darfst du in dieser Stadt ja nicht laut sagen.«

Er schnüffelte am Schlüssel. »Täusche ich mich oder riecht er nach Wein?«

Der Marchese berichtete.

Hoppenstedt war amüsiert. »Zwei Rätsel auf einmal. Wer hat Ihnen die Flasche ans Bett gestellt? Und wer hat den Schlüssel in den Wein gesteckt? Vor allem: warum? Nicht zu vergessen: wann? Und vor allem: wie oft? Der Schlüssel ist weitgehend unversehrt. Hätte er 200 Jahre im Wein gelegen, wäre er stärker angegriffen. Vielleicht hätte er das gar nicht ausgehalten. Die Säure …«

»Es ist ein Rätsel«, sagte der Marchese, »eine Herausforderung an den Geist.«

»Sport«, sagte Hoppenstedt. »Sie müssen das sportlich sehen.«

»Sport ist freundlich. Hier kommt etwas anderes ins Spiel. Wir wissen nicht, wer ins Haus eingedrungen ist und warum. Hat er gezielt Grünfeldt ausgesucht? Oder war das Zufall?«

»Kein Zufall«, sagte Hoppenstedt. »Es wäre einfach … billig, wenn es Zufall wäre.«

»Er hat die Flasche aber nicht bei Grünfeldt abgestellt, sondern bei mir. Ist das auch kein Zufall? Immerhin wohnt Grünfeldt im Erdgeschoss. Das ist weniger Risiko, als eine knarrende Treppe emporzusteigen. Und wer weiß, dass ich zurzeit Gast in seinem Haus bin? Ich würde sagen: drei Menschen.«

»Jetzt einer mehr.«

Der Marchese empfand den Enthusiasmus seines Gegenübers als irritierend. Die Verve, mit der sich Hoppenstedt zum Partner in der Affäre erklärte, sollte zügig beendet werden. Die Aussicht, mit einem anderen zusammenarbeiten zu müssen, hielt der Marchese nicht für verlockend. Menschen neigen dazu, privat zu werden und dann kein Ende zu finden. Sie geben viel von sich preis und erwarten, dass der andere ihnen die intime Münze in Form eigener Geheimnisse zurückzahlt. Der Marchese mochte dieses Tausch-Prinzip nicht. Aber Hoppenstedt war ein scharfsichtiger Mann. Alles, was er sagte, hatte Hand und Fuß. Bisher war der Marchese zu stark auf den Schlüssel fixiert gewesen. Aber auch die Flasche war ein Pfad. Und natürlich die Person des nächtlichen Überbringers. Jemand hatte sich im selben Zimmer wie der schlafende Marchese aufgehalten. Er wusste, wie lange es her war, dass so etwas zum letzten Mal passiert war. Im Grunde war es genau diese Tatsache, die ihn an der gesamten Affäre am meisten störte.

4

Zu Beginn hatte Kommissar Waldmeister sein Sprüchlein aufgesagt und aufgepasst, dass er dabei nicht versehentlich die Hände faltete. In jüngeren Jahren war ihm das wiederholt unterlaufen, die Geste war von den Bürgern nicht in jedem Fall gleich gut aufgenommen worden.

»Meine Frau lässt sich entschuldigen«, sagte Joost von Oldenburg. »Dafür werden Sie Verständnis haben.«

»Pfundweise. Dennoch wäre es natürlich schön, wenn Sie Ihre bessere Hälfte dazu bringen könnten …«

»Wie ich schon sagte: Sie haben Verständnis. Ich habe nichts anderes erwartet.«

Waldmeister bekam Lust, eins der hässlichen Porzellan-ungetüme von der Anrichte zu fegen. Doch ihm war klar, dass er nach der harten Nuss Bernstorff schon wieder einem Lübecker Kotzbrocken gegenübersaß. Hätte es in der Stadt das Amt des Ostsee-Ministers gegeben, Joost von Oldenburg wäre der Mann gewesen, es auszufüllen. Sein Vater, der legendäre Jaak von, hatte die kleine Reederei in einen Konzern umgewandelt, unter dessen Flagge heute Ostsee-Fähren, Tanker und Container-Riesen die Weltmeere durchpflügten. 22 Mann Besatzung für 6.000 Container – »Besser als umgekehrt«, Standardscherz von Jaak, aus dem nach dem 60. Geburtstag so viele Johannistriebe hervorschossen, dass die Scheidungsrichter mit dem Beschneiden gar nicht mehr nachkamen. Von einem örtlichen Blatt als Hugh Hefner vom Holstentor mehr definiert als denunziert, trieb der virile Greis zwischen Karibik und Schären sein Unwesen, um zuletzt mit seiner siebten Gattin – einer rothaarigen Kosmetikerin von 20 Lebensjahren – an Bord eines 20-Meter-Boots das Baltische Meer zu durchpflügen. Jaak von zog sich auf die schwedische Insel Gotland zurück, wo er in einer Silvesternacht im Kreis von 120 feiernden Jugendlichen am Strand verschied, was keine Minute früher als elf Uhr am Neujahrsmorgen auffiel, weil ein verkaterter Junge über den im Weg liegenden Körper stolperte und mit dem Zechbruder Brüderschaft trinken wollte.

»Bringen wir’s hinter uns«, sagte der Reeder und starrte am Kommissar vorbei, als der begann, den vermutlichen Tathergang zu schildern. Vor weniger als 24 Stunden hatte der Reeder der Polizei im Gerichtsmedizinischen bestätigt, dass es sich bei dem Ermordeten um seinen Sohn handelte. Ein gnädiger Geist hatte das Menschenmögliche versucht, um dem Jungen sein Gesicht zurückzugeben. Joost von Oldenburg hatte die traumatische Situation wie ein Mann durchgestanden. Außer ihm und seiner Frau wusste niemand, unter dem Schutz von wie vielen Valium er momentan stand. Ann-Kathrin von Oldenburg hatte seit 24 Stunden ihr Schlafzimmer nicht mehr verlassen.

Die ersten Fragen nach Kindheit und Gegenwart seines Sohns beantwortete der Reeder noch, dann sagte er: »Was soll das werden? Wollen Sie unterstellen, dass es ein Bekannter meines Jungen war, der ihn umgebracht hat?«

»Können wir das ausschließen?«

»Es ist so unwahrscheinlich, dass ich mich wundere, wie viel Kraft Sie darauf verwenden, im Trüben zu fischen.«

»Da leben die fettesten Fische.«

»Ich hoffe für Sie, dass Sie das nicht so unverschämt meinen, wie man es verstehen könnte.«

»Würden Sie Philipp Bernstorff Ihre Tochter anvertrauen?«

»Bitte?! Ich höre ja wohl nicht richtig. Noch so eine Frage, und wir sprechen uns vor dem Beamten wieder, der meine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Sie verhandelt.«

Und wieder das Lied, das dem Kommissar bereits von Bernstorff gesungen worden war. Blutsbrüder seit dem Kindergarten, erstes Segelboot, erste Zigarette, erstes Wett-Onanieren, offensichtlich hatten die Jungen das Leben von siamesischen Zwillingen geführt.

»Vielleicht ein Mädchen«, gab Waldmeister zu bedenken. »Das hat schon viele Freundschaften zerstört.«

»Man kann nicht ausschließen, dass so etwas zu Belastungen führt. Aber mir ist davon nichts bekannt.«

»Jetzt sagen Sie nicht, die Kerle waren auch noch schwul.«

Schön, mit anzusehen, wie gelenkig die Nasenflügel des Reeders waren. Nach diesem Prinzip funktionierten die Schotte seiner Roll-on-roll-off-Fährschiffe.

Felix von Oldenburg hatte eine Freundin gehabt. Das war gut. Philipp Bernstorff hatte auch eine Freundin gehabt. Das war schlecht. Es handelte sich um zwei verschiedene Mädchen. Das war ganz schlecht. Waldmeister hatte gute Lust, vorzeitig Feierabend zu machen. Lustlos notierte er die Namen. Bianca und Beheshta. Die eine hörte sich an wie eine Maus, die andere wie eine scharfe Maus. Angeblich eine Perserin. Waldmeister mochte den Typ.

»Herr Oldenburg, warum ist Philipp verschwunden?«

»Was weiß ich? Der Schock. Vielleicht hat er alles mit ansehen müssen. Vielleicht ist er vorher geflohen. Vielleicht … Wenn Sie noch weitere Fragen haben …«

»Ich müsste unbedingt mit Ihrer Frau …«

»Ich werde es ihr ausrichten. Jetzt bin ich verabredet. Wenn Sie mich entschuldigen wollen.«

Kommissar Waldmeister hatte den Mann noch nie gesehen, aber er kannte ihn. Man kannte auch den Papst und Michael Schumacher. Er war älter als er gedacht hatte und sah noch besser aus, graumelierte Klasse, die selbst aus Zeichen des Verfalls attraktive Funken zu schlagen versteht; das Kinn trug er einen Zentimeter höher als üblich, wodurch eine Aura hergestellt wurde, die Abstand schuf, aber keinen Dünkel signalisierte; Jackett und Hose, grau und blau mit braunen Schuhen, grünes T-Shirt. Waldmeister hätte darin wie ein Papagei ausgesehen, der andere sah aus wie ein Herr. Er war größer als eins achtzig. Auch besaß er noch genügend Haare, um auf trickreiche Aktionen verzichten zu können. Wenn er nur nicht so verdammt gut ausgesehen hätte; wenn es Waldmeister nur gelungen wäre, den Trick zu erkennen, der hinter allem stand, das Zauberkunststück, das die Distanz zwischen Mann und Weltmann überbrückte.

»Den Marchese kennen Sie sicher«, sagte der Reeder.

»Wir hatten noch nicht das Vergnügen«, sagte der Kommissar. Innerlich tobte er. Wann hatte er sich zuletzt so geschraubt ausgedrückt. Auf kürzestem Weg zwischen die Augen des Gegenübers – so hielt er es und hatte schöne Erfolge damit erzielt.

Der Marchese streckte als Erster die Hand aus. Immerhin ein kleiner Erfolg. Man musste die Punkte kassieren, wo man sie kriegen konnte. Allerdings sah er nicht so aus, als habe er soeben eine Unterlegenheitsgeste gezeigt. Die Hand warm und trocken, was auch sonst, die Fingernägel gepflegt, aber nicht tuntenhaft. Außerdem roch der Mann, ein leiser Hauch, wie von weit her, als dürfe Waldmeisters Nase nicht zu sicher sein, ob sie das roch, was sie zu riechen glaubte. Einen Namen dafür kannte sie sowieso nicht. Ein Wunder, dass der Bursche nicht noch leise Geräusche verströmte – ein Windspiel, verhallende Töne von Harfe oder Cello. Dann wäre jedes Sinnesorgan mit der Wirkung dieses Mannes beschäftigt gewesen. Wahrscheinlich fuhr er Auto wie ein Weltmeister, schwamm wie ein Delphin, beherrschte den Salto aus dem Stand, durchschnitt mit seinem Segler die Ostsee in zwei Tagen, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, seine Cessna nach Cannes zu überführen. Was für Frauen musste dieser Kerl an seiner Seite haben, über sich, unter sich, vor sich, wo man Frauen eben traf, nachdem man ihnen begegnet war.

Ingolf Waldmeister kochte vor Neid. Er hatte einen Gegner mehr, so schnell ging das.

Der Kommissar hatte den Raum noch nicht verlassen, da befanden sich Reeder und Marchese bereits im trauten Gespräch. Ihre Nähe machte den Kommissar unsichtbar, er existierte nicht, hatte keine Wirkung hinterlassen. Waldmeister verlor nicht gern, schon gar nicht, wenn er sich im Dienst befand. Wer ihn in diesem Aggregatzustand missachtete, trieb Scherze mit dem Staat an sich. Das konnte nicht hingenommen werden. In der geöffneten Tür stehend, betrachtete er das Paar. Im Handumdrehen hatte sich der Reeder – bis eben kühl wie Hundeschnauze – dem Neuankömmling an die Brust geworfen und seinen Kopf an dessen schlanken Hals gedrückt. Aus den Augen rannen Tränen, Waldmeister sah das genau, denn das Gesicht des Reeders war ihm zugewandt.

Gierig wartete er darauf, dass man ihn hinauswerfen würde. »Auf Wiedersehen« – zwei Worte hätte der Marchese sagen müssen, zwei poplige Wörter. Sie hätten das Duell besiegelt, es wäre damit offiziell gewesen.

Aber der Marchese schwieg. Vielleicht lag es daran, dass er im Rücken keine Augen besaß. Das verzieh ihm der Kommissar nicht. Nie.

»Traust du dir es wirklich zu? Ich kann warten, kein Problem.«

»Lass uns reden«, sagte Joost von Oldenburg. »Es wird mir gut tun.«

»Wie geht es Ann-Kathrin?«

»Sie steht unter Medikamenten. Ich fürchte mich vor dem Moment, wo sie wieder so klar ist, dass sie Fragen stellen wird. Ich bin ein Feigling, ich verachte mich.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt. Wie sollen Eltern begreifen, dass sie ein Kind verloren haben? Was gibt es denn, was schrecklicher wäre? Und Antonia, wie verkraftet sie es?«

»Sie ist in der Pubertät. Da ist cool sein Pflicht. Da bist du darauf trainiert, keine Gefühle zu zeigen. Außer Wut und Verachtung. Sie musste also nur einen Gang hoch schalten. Sie leidet furchtbar. Sorgenonkel hat sie ihn genannt. Weil er so vernünftig war und sie so flippig. Dabei sind sie nur zwei Jahre auseinander.«

»Lass mich die böse Frage stellen: Habt ihr einen Verdacht?«

Der Reeder blickte am Marchese vorbei auf die Anrichte. Dort stand unter Glas das erste Schiff, das auf der familien-eigenen Werft gebaut worden war. 1924, in einer Zeit, wo die Zukunft goldfarben aussah, wo alles Aufbau war, neuer Handel mit den Nachbarstaaten, Hoffnung auf immerwährenden Frieden. Auf der Werft hatten die Kommunisten gerade die beiden Kollegen krankenhausreif geschlagen, die eine Zelle der Faschisten gründen wollten.

»Nein, nein«, sagte Oldenburg. »Man darf solche Gedanken nicht an sich herankommen lassen.«

»Philipp könnte uns helfen, wenn er wieder auftaucht. Was sagen seine Eltern?«

»Sind wütend auf ihn. Bei Bernstorff richtet sich für meinen Geschmack etwas viel nach dem Kalender. In zwei Wochen ist Landesparteitag von Bernstorffs Verein. Er möchte gern Minister werden, das Ressort Wirtschaft traut er sich zu. Und es sieht ja nun so aus, als ob uns ein Machtwechsel ins Haus steht. Die Roten können es wirklich nicht.«

»Und die Schwarzen?«

»Solange viele Leute sie für die geborenen Regierer halten und die anderen für die geborenen Oppositionellen … Jedenfalls ist er sauer, dass Philipp seine Wahlchancen mindern könnte.«

»Und sonst? Irgendwelche Gefühle, die nicht peinlich sind?«

»Sie trauern aufrichtig um Felix, das nehme ich ihnen ab. Aber eine Hilfe … das können sie nicht sein. Sie haben es nicht einmal ernsthaft versucht. In gewisser Weise spricht das für sie. Sie schätzen sich und ihre emotionale Seite realistisch ein.«

Dann kam die Flasche ins Spiel. Der Marchese berichtete, Oldenburg wunderte sich. »Davon hat der Polizist nichts gesagt.«

»Weil er nichts davon weiß.«

»Aber es muss doch mit dem … dem … ich kann es nicht sagen. Es hat damit zu tun. Dieselbe Zeit, derselbe Ort.«

»Was kann ein Schlüssel in der Flasche damit zu tun haben, dass man einen jungen Menschen aus dem Leben reißt?«

»Weil es ein Versehen war, der Tod. Sie wollten das nicht. Oder er. Der Mörder ist immer ein Mann, nicht wahr?«

»Du weißt, es ist nicht so.«

»Der Schlüssel ist wertvoll. Er schließt etwas Wertvolles auf.«

»Er ist uralt. Jetzt tut es mir leid, dass ich ihn nicht mitgebracht habe. Er ist 300 Jahre alt oder noch älter. Es gibt nichts, was man damit aufschließen kann. Und wenn es etwas geben sollte, eine Truhe mit Geld, dann kriegst du die auch auf andere Weise geöffnet. Zur Not mit einem Stemmeisen. Oder Sprengstoff. Aber das ist Unsinn. Es ist ein altmodischer Schlüssel, also ist es ein altmodisches Schloss. Das öffnest du mit einer Büroklammer oder Haarnadel. Was soll Felix damit zu tun haben?«

Sie wussten es beide. Felix hatte die Flasche gefunden. In Grünfeldts Keller, wo sie zwischen tausenden anderer Flaschen versteckt gewesen war.

»Vielleicht ist es nicht die einzige Flasche«, sagte Oldenburg. »Vielleicht gibt es eine zweite Flasche. Wenn nicht bei Grünfeldt, dann bei einem anderen Händler.«

»Wo? In Lübeck? In Deutschland? In Europa?«

Aber Oldenburg ließ sich nicht entmutigen. Er entwickelte seine Vision: die Flasche im Keller, eine zweite Flasche ebenfalls, nach der man nur suchen müsse. Beide Schlüssel zusammen wären der Schlüssel zum Erfolg, der Schlüssel zum …

»Der Schlüssel ist vollständig«, sagte der Marchese. »Es ist kein Puzzle. Denn was sollten wir mit zwei Schlüsseln?«

»Zwei Schlüssel, zwei Schlösser. Hat es das früher nicht gegeben?«

»Ich werde mich erkundigen. Also Felix findet die Flasche. Wenn Felix, dann auch Philipp. Die beiden haben immer zusammen gearbeitet?«

»In den ersten beiden Wochen mit Sicherheit. Dann hat Philipp die kleine … mir fällt ihr Name nicht ein. Er hat ein Mädchen kennen gelernt. Das hat sich auf seine Arbeitsmoral nicht belebend ausgewirkt.«