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Dirk Reetz

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Beschreibung

Die Verbindungen zwischen einem bitterarmen Mädchen aus den Favelas von Sucre, Bolivien, einem verzweifelten Familienvater, einer frustrierten Krankenschwester, einem trauernden Kriminalkommissar und einem geldgierigen Chefarzt erschließen sich erst auf den zweiten Blick. Was passiert hinter den Kulissen der Privatklinik 'Am Wald' im Kölner Süden?

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Seitenzahl: 311

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Die Verbindungen zwischen einem bitterarmen Mädchen aus den Favelas von Sucre, Bolivien, einem verzweifelten Familienvater, einer frustrierten Krankenschwester, einem trauernden Kriminalkommissar und einem geldgierigen Chefarzt erschließen sich erst auf den zweiten Blick. Was passiert hinter den Kulissen der Privatklinik ‚Am Wald‘ im Kölner Süden?

*

Das Autoren-Trio Christiane Hartmann, Dirk Reetz und Claudia Schnitzler aus Köln haben sich auf ein einmaliges Projekt eingelassen:

Sie verfolgen aus fünf verschiedenen Blickwinkeln die ungeheuren Auswirkungen der internationalen Organmafia in einer kleinen Privatklinik in Köln, Deutschland. Dabei nimmt jeder Autor ein bis zwei Protagonisten unter die Lupe und verfolgt ihre Entwicklung bis hinter das tragische Ende.

Schlussverkauf

Risiken und Nebenwirkungen

Dirk Reetz

Claudia Schnitzler

Christiane Hartmann

© 2019 Christiane Hartmann, Dirk Reetz, Claudia Schnitzler

Cover: Andrea Reetz – www.reetz-schmuckdesign.de

Lektorat: Mediaagentur Gaby Hoffmann

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-2279-2

e-Book:

978-3-7497-2280-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

Kölner Generalanzeiger, 10. Februar

Leiche im Rhein wurde identifiziert

Die vor zwei Tagen in Köln-Flittard ans Rheinufer angeschwemmte Leiche konnte inzwischen anhand von DNA-Untersuchungen identifiziert werden. Es handelt sich um den 18-jährigen Frederic B. Die Polizei schließt eine Fremdeinwirkung mit hoher Wahrscheinlichkeit aus und geht davon aus, dass B. von einer Kölner Rheinbrücke gesprungen ist. B. wohnte zusammen mit seinen Eltern Senta und Paul B. in einer kleinen Wohnung in Köln-Niehl. Die Familie lebte von Sozialleistungen.

Die besondere Tragik an dieser Nachricht ist jedoch, dass die Eltern sich in der Nacht nach Erhalt der Nachricht vom Tod ihres Sohnes ebenfalls das Leben nahmen.

Ein Nachbar hatte die Polizei gerufen, nachdem er meinte, Schüsse gehört zu haben. Die Eltern wurden tot in ihrem Schlafzimmer aufgefunden. Paul B. war vor Kurzem aus einer mehrjährigen Haftstrafe entlassen worden. (dr)

Freddi

„Hier stinkt’s wie in einer Bärenhöhle nach dem Winterschlaf!“ hätte sein Vater gesagt und missbilligend die Nase gerümpft.

Frederic Broscheid warf seine Sporttasche schwungvoll auf die Pritsche in der Umkleide. Tatsächlich köchelte hier penetranter unparfümierter Jung-Männer-Schweiß vor sich hin. „Freddi“, wie ihn seine Freunde und Eltern nannten, begann, sich für das Handballtraining umzuziehen. Schon mit seinen fast zehn Jahren liebte er diesen Sport. Es ging ruppig zur Sache und kaum ein Gegner kannte Gnade auf dem Platz. Obwohl der Sport auch schon in diesem Alter ein gewisses Verletzungspotenzial barg, unterstütze sein Vater ihn dabei nach Kräften und fuhr die Mannschaft nicht selten mit seinem Kleintransporter zu Auswärtsspielen. Anfang des Jahres war Freddi von den ‚Minis‘ in die E-Jugend aufgestiegen und er war mächtig stolz darauf.

„Hi Bro, alles klar?“ Nils, Klassenkamerad und Freddis bester Freund, schob seinen schmalen Körper betont lässig zur Tür herein. Hätte es da nicht diesen ernsthaften Gesichtszug gegeben, hätte man sich über die Mimik amüsieren können, wie der Junge versuchte, mit dem linken Auge sein Handy und mit dem rechten Freddi zu fixieren. Sie versuchten eine Fünf zur Begrüßung, die Hände verfehlten sich um mehrere Zentimeter, weil Nils unkonzentriert war und beide mussten albern loskichern.

Der durchdringende Pfiff einer Trillerpfeife durchschnitt unerbittlich die dicke Luft. Die massige Gestalt von Hartmut, ihrem Trainer, verdunkelte den Durchgang zur Sporthalle.

„Los, Männer, raus zum Aufwärmen! Ihr seid schließlich nicht zum Spaß hier! Los, los, los! Etwas zügig, wenn ich die älteren Herren bitten dürfte!“

Hartmut hatte jetzt schon Schweißperlen auf der Stirn.

„Du, du und du – Ihr holt die Tore! Du und du – Matten auslegen an der inneren Grenze zum Sieben-Meter-Raum! Damit ihr euch nicht die zarten Knielein aufscheuert und Mami nachher schimpft!“

Manchmal war der Kerl echt nicht zu ertragen. Nils und Freddi sahen sich an und verdrehten die Augen. Norman, ihr Torwart, grunzte unwillig und klopfte sich wie meistens in solchen Situationen heftig vorn auf seine Sporthose. Pock, Pock, Pock. Es klang hohl und die ganze Mannschaft prustete los vor Lachen. Als Torwart trug Norman als Einziger ein Suspensorium, das ihn vor ungezielten Würfen schützte und er gab damit an wie nur was.

„Ruhe, Ihr Schw …!“ Der Trainer konnte sich gerade noch so einbremsen. Zehn- bis Zwölfjährige halt, was soll man da machen? Er schüttelte resigniert den Kopf und schlurfte in seinen abgelatschten Sportschuhen zurück in die Halle.

Seltsamerweise fiel Freddi das Auswärmtraining und auch das Spiel in den letzten drei Monaten immer schwerer. Natürlich war Handball ein schweißtreibender Sport, aber es konnte doch nicht sein, dass er nach zehn Minuten schon lahme Beine bekam und sein Herz wie verrückt hämmerte.

Endlich ging es los. Die beiden Torwarte wählten abwechselnd ihre Wunschspieler. Wie immer war Freddi einer der Ersten, die einen Platz in einer der Mannschaften ergatterten. Wenn er am Kreis den Ball bekam, war es ein nahezu sicheres Tor. Das wollte sich natürlich keiner entgehen lassen.

Dann ging es los. Die gegnerische Mannschaft warf an. Freddi erholte sich ein wenig am Anwurfkreis und wartete auf einen Pass, aber nichts lief heute rund. Nach einer Viertelstunde stand es fünf zu fünf und Freddis Mannschaft baute einen Angriff auf.

Jetzt aber! Freddi musste unbedingt ein Tor machen. Er wollte danach ausgewechselt werden und ein paar Minuten auf der Bank Luft holen. Er tänzelte am Kreis von einer Seite auf die andere, wurde vom Gegner aber immer wieder effektiv gestört.

Da! Nils hatte erkannt, dass Freddi mit einer blitzschnellen Körpertäuschung in die entgegengesetzte Richtung lief, als der Gegner vermutet hatte. Mit einem scharfen Pass spielte er ihm den Ball in die linke Hand.

Freddi drehte sich und … rutschte auf dem schweißnassen Boden aus. Er schlug mit beiden Knien hart auf dem Hallenboden auf. Wieder einmal.

Natürlich ungeschützt genau zwischen zwei der ausgelegten Matten. Beide Kniegelenke schwollen sofort an. Wieder einmal. Der Trainer rannte los und besorgte Coolpacks aus dem Kühlschrank. Sie nutzten fast nichts. Wieder einmal.

Freddi versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die ihm aus den Augen quollen. Was war nur los mit ihm? Was war los mit seinem Körper?

Das Mädchen

Paola saß am Straßenrand und kaute auf ihrem Stück Brot herum. Fabio hatte heute Morgen einen Laib von seinem täglichen Streifzug mitgebracht. Wie immer hatte er seine Beute mit den hungrigen Kindern geteilt. Er war der geschickteste von der kleinen Gruppe und es gelang ihm mehr als sonst jemandem, unbemerkt auf dem Markt etwas Essbares mitgehen zu lassen. Wenn die Bauern in einigen Stunden ihre restlichen Waren wieder zusammenpackten, war auch die Stunde der anderen Kinder gekommen. Sie würden in den Müllbergen, die die Straßenhändler hinterließen, nach Lebensmitteln suchen. Immer wieder fanden sie Obst und Gemüse, das achtlos zur Seite geworfen worden war. Auch der ein oder andere Fisch stand manchmal auf ihrem Speiseplan. Ein paar von ihnen hielten die Hunde fern, sodass ihnen die hungrigen Tiere nicht ihre Beute streitig machen konnten.

Doch bis dahin würden noch einige Stunden vergehen und so versuchten die Kinder, sich die Zeit zu vertreiben.

Emilia lag schlafend auf ein paar dreckigen Decken neben einer Hauswand. Der kleine Körper wurde von den Strahlen der Sonne gewärmt. Paola war sehr erstaunt gewesen, als das kleine Mädchen vor ein paar Wochen vor ihr gestanden hatte. Sie schätzte die Kleine auf vielleicht fünf Jahre. Nur ihren Namen hatte sie gesagt und seitdem kein Wort mehr gesprochen. Aus welchem Grund auch immer hatte das kleine Mädchen Vertrauen zu Paola gefasst und folgte ihr seitdem auf Schritt und Tritt. Jedes Kind, das auf den Straßen von Sucre, Boliviens Hauptstadt, zu überleben versuchte, trug seine Geschichte mit sich herum.

Ein paar Meter weiter wurden Julian und Pedro nicht müde, einen kleinen runden Stein hin und her zu kicken. Fast schon im Takt klackte der Stein auf dem Asphalt. Hin und zurück. Das Lachen der Zwillinge klang zu Paola hinüber. Die beiden wussten nicht, wie alt sie waren. Im Centro Medical hatte man sie auf vielleicht elf Jahre geschätzt, doch sie selbst machten sich gerne älter. Sie konnte sich nicht erinnern, einmal einen der Jungen alleine oder schlecht gelaunt angetroffen zu haben. War das Leben auf der Straße auch noch so hart, ständig hörte man die Zwillinge herumalbern und kichern. Ganz anders dagegen verhielt sich Manuel. Von der Gruppe abgewandt schaute der Zwölfjähre in die Ferne. Eine immerwährende Traurigkeit ging von ihm aus. Er sprach selten und lachte nie. Schon oft hatte sich Paola gefragt, was das Leben ihm angetan hatte.

*

Paola war bei ihrer Mutter aufgewachsen, die für Izan, einen Bordellbesitzer, der ein „Hotel“ am Markplatz Sucres führte, arbeitete. Eng beieinander standen dort die Herbergen und Hotels in den schmutzigen Straßen mitten in Sucre.

Wenn sich die Dunkelheit über die Stadt legte, erwachte das Viertel zum Leben. Gruppen von Männern strömten in die Straßen. Die jungen Frauen warteten vor den Hoteleingängen auf ihre Kundschaft. Tagsüber, wenn die Frauen unter sich waren, kümmerte sich ihre Mutter rührend um ihre Tochter und versuchte, sie vor Izan zu verstecken, wenn dieser wieder einmal raste und den Frust über sein Leben an den Frauen ausließ. Waren die Frauen alleine, konnten sie lachen, reden und das nächtliche Leben für wenige Stunden vergessen.

Brach die Nacht herein, kauerte das Mädchen unter der Treppe des Hotels und hielt sich die Ohren zu. Sie wollte die Geräusche der Lust und die Schreie der Frauen nicht hören, wenn ein Freier handgreiflich wurde. Immer wieder hoffte sie, dass die schweren Schritte auf der Treppe nicht zu ihrer Mutter führen würden. Doch genauso wusste sie, dass Izan ihre Mutter schlagen würde, wenn diese nicht genug Kunden bediente. Sofern Paola Glück hatte, fiel sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf und sie erwachte erst wieder, wenn sich die Stille über das Haus senkte.

Paolas Leben spielte sich jeden Tag nach dem gleichen Rhythmus ab. Sie kannte es nicht anders.

Dann, eines Tages, änderte sich alles von einem Moment zum anderen.

Izan trat gegen Mittag in das Zimmer ihrer Mutter. Ihre Mutter sprang auf, doch der massige Mann beachtete die zierliche Frau nicht. Er blickte sie, Paola, an – so, als ob er sie zum ersten Mal sehen würde. Die Zeit schien still zu stehen.

„Nein!“, dieses eine Wort ihrer Mutter unterbrach schließlich das Schweigen. Sie schmiss sich zu Izans Füßen auf den Boden und umklammerte seine Beine.

„Bitte, Izan, nicht, sie ist gerade mal sieben Jahre alt.“ Ihre Stimme klang schrill und unnatürlich. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Ich werde noch mehr arbeiten“, mit diesem Vorschlag wollte die junge Frau ihre Tochter retten. „Ich kann auch tagsüber anschaffen. Nur bitte nicht Paola!“

Dem Kind kam die Szene unwirklich vor. Sie hatte Angst. Angst um ihre Mutter, Angst vor der Situation, Angst vor Izan.

„Bade sie und richte sie her!“ Izan schien weder die junge Frau, die sich an seine Hose klammerte, noch deren Verzweiflung wahrzunehmen. „Ich hole sie nachher ab“, waren seine Worte, bevor er das Zimmer verließ.

Ihre Mutter weinte hysterisch und hämmerte mit den Fäusten auf den Boden ein.

„Mama?“ Dieses kleine Wort schien die verzweifelte Frau aus ihrem Schmerz zu reißen und in die Wirklichkeit zurückzuholen.

Gehetzt schaute sie ihre Tochter an.

„Komm, mach schnell!“ Ehe sich Paola versah, hatte ihre Mutter mit ihr das „Hotel“ verlassen.

Die beiden rannten durch die schmutzigen Straßen. Immer wieder schaute sich die junge Frau furchtsam um und zog das Kind an ihrem Arm hinter sich her. Nach kurzer Zeit waren beide außer Atem.

Paola weinte. Sie hatte Seitenstiche, ihr Arm schmerzte und ihre Welt war ganz und gar nicht mehr in Ordnung. Sie wusste nicht, wo sie waren, doch ihre Mutter schien ein Ziel zu haben.

„Bitte, ich kann nicht mehr“, jammerte sie immer wieder, aber ihre Mutter lief unbeirrt weiter.

Irgendwann riss ihre Mutter die Tür eines Hauses auf und zerrte Paola hinter sich her. Das Kind bekam keine Luft und seine Seitenstiche waren unerträglich. Erleichtert blieb das Mädchen in der Eingangshalle des Gebäudes stehen und hielt seine Hände auf die schmerzenden Leisten.

Während Paola noch nach Luft schnappte und zu keinem Wort fähig war, beugte sich ihre Mutter kurz zu ihr herunter. Sie nahm ihre kleine Tochter in den Arm. „Hier bist du in Sicherheit.“

Tränen liefen der Frau über das Gesicht, doch sie schien es nicht zu bemerken. Noch einmal drückte sie Paola an sich, ehe sie sich umdrehte, die Tür erneut öffnete und verschwand.

Paola erinnerte sich genau an diesen Moment, an dem sie ihre Mutter zum letzten Mal sah. Sprachlos und alleine hatte sie in der Halle gestanden.

Alles kam ihr unwirklich vor.

Als sich ihre Mutter umdrehte und für immer aus ihrem Leben verschwand, nahm sie das Geschehen unwirklich wie durch einen Nebel wahr. Die Seitenstiche ließen nach, doch dafür machte sich ein neuer Schmerz in ihrem kindlichen Herzen breit. Sie schaute zur Tür, wartete darauf, dass sie sich erneut öffnete und ihre Mutter zurückkam.

Doch die Tür blieb geschlossen. Ihre Mutter hatte Paola hier in diesem Haus zurückgelassen.

Unbeweglich stand das Kind da und schaute weiterhin zum Eingang. Paola merkte nicht, dass auch ihr irgendwann die Tränen über die Wangen liefen.

Jemand berührte ihre Schultern und sprach zu ihr, doch die Worte drangen nicht bis zu dem Mädchen durch. Sie rührte sich nicht vom Fleck und wartete.

Nur dunkel erinnerte sich Paola an die nächste Zeit. Eine nette junge Frau hatte sich des Mädchens angenommen. Sie nahm das verlassene Kind in den Arm und versuchte, ihr etwas Trost zu spenden. Sie kannte das Drama, das dem Kind widerfahren war, nur zu gut. Auch wenn für Paola gerade ihre Welt zerbrochen war, wusste die junge Frau, dass das Schicksal des kleinen Mädchens zum Alltag in Sucre gehörte.

Paolas Mutter hatte ihre Tochter in der Sozialstation Sucres und damit in staatlicher Obhut zurückgelassen. Was weiter mit dem Kind geschah, würde sich in der nächsten Zeit herausstellen. Es gab Waisenhäuser in Sucre, die jedoch hoffnungslos überfüllt waren. Manche Familien nahmen Kinder zur Unterstützung im Haushalt bei sich auf. Von all dem ahnte das Paola nichts. Die nächsten Tage lebte sie in einem schützenden Kokon des Nebels und der Traurigkeit. Sie wurde im Centro Medical untersucht und geimpft. Die Schmerzen, die die Spritzen ihr verursachten, ließen sie einen winzigen Augenblick den inneren Schmerz, der in ihr tobte, nicht mehr spüren.

Wie viel Zeit sie in der Sozialstation verbrachte, vermochte sie nicht zu sagen. Sie war dort mit einer Gruppe von Kindern zusammen, die ebenfalls darauf warteten, dass über ihren weiteren Verbleib und ihr Schicksal entschieden wurde.

Wenige Tage später wurde sie in einen Raum geführt. Ein Mann und eine Frau standen dort und betrachteten sie wie eine Ware am Marktstand von Sucre, während die junge Frau, die Paola in der Sozialstation betreut hatte, das Mädchen anlächelte.

„Sie ist sehr jung“, waren die ersten Worte der fremden Frau. Kalt musterte sie das Mädchen. „Sie wird mir keine große Hilfe sein.“

„Wenn sie älter sind, ist es oft schwieriger, sie im Haushalt zu integrieren“, erwiderte die Frau der Sozialstation. „Sie ist robust und stark und wird Sie sicher rasch unterstützen können.“

Der Mann betrachtete Paola eingehend von Kopf bis Fuß und lächelte leicht. „Lass es uns probieren. Sie wird schon lernen zu gehorchen.“ Als er sich bei den Worten über die Lippen leckte, sah sich Paola wieder in das Zimmer ihrer Mutter zurückversetzt. Der Mann starrte sie an wie Izar, als er ihrer Mutter befohlen hatte, sie herzurichten.

Verängstigt schaute das Kind zu Boden. Sie wusste von den anderen Kindern der Sozialstation, dass es ein großes Glück bedeutete, in einer Familie als Haushaltshilfe aufgenommen zu werden. Gleichzeitig spürte sie, dass sie bei diesem Paar kein Glück finden würde.

Die drei Erwachsenen sprachen über sie, ohne auch nur ein Wort an das verängstigte Kind zu richten, bis der Mann sie schließlich am Arm packte und nach draußen führte. Zeit, um sich von den anderen Kindern zu verabschieden, ließ man ihr nicht.

Erneut veränderte sich ihr Leben von einer Sekunde zur anderen. Und wieder spürte das Kind, dass irgendwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Das Paar brachte Paola zu einem Auto, das vor der Sozialstation stand. Die Panik, die in ihr aufstieg, kam nicht daher, dass sie noch nie vorher mit einem Auto gefahren war. Alles in ihr schrie danach, dass sie nicht mit dem Mann und der Frau gehen durfte. Etwas in ihrem Inneren sagte dem Kind, dass ihr Leben keine gute Wendung nehmen würde, wenn sie erst einmal in dem Auto des fremden Mannes und der kalten Frau sitzen würde.

Als der Mann die Autotür öffnete und für einen kurzen Augenblick Paolas Arm losließ, wusste sie instinktiv, dass dies vielleicht der einzige Augenblick war, um dieser Situation zu entkommen.

Ohne weiter nachzudenken, rannte sie los. Sie hörte den Aufschrei der Frau, die ihren Mann aufforderte, sie aufzuhalten. Die schweren Schritte des Mannes und sein keuchender Atem schienen immer näher zu kommen. Als sie schon fast meinte, die Finger ihres Verfolgers auf ihrem Arm zu spüren, hörte sie, wie der hastige Atem des Mannes leiser wurde.

Sie war schneller.

Mit letzter Kraft holte sie alles aus sich heraus. Immer wieder rannte sie in ihr unbekannte Gassen hinein. Ihre Lungen glühten vor Schmerz, als sie sich einen kurzen Blick zurück erlaubte. Von ihrem Verfolger war nichts mehr zu sehen. Paola wusste nicht, wie lange sie gelaufen war. Doch anscheinend hatte sie den Mann abgeschüttelt.

Nach Atem ringend ließ sich das Mädchen an der Hauswand auf den Boden gleiten. Ihre Beine dicht an den Körper gezogen schluchzte sie drauflos. Sie vermisste ihre Mutter, wusste nicht, wo sie war und wo sie nun hin sollte. Ihr Körper schien nur aus Schmerz zu bestehen.

Als schließlich ein Schatten auf ihren kleinen Körper fiel, versteifte sie sich, ohne aufzuschauen. Nun hatten der Mann und die Frau sie doch noch gefunden. Aber niemand sprach sie an. Niemand riss sie in die Höhe. Nichts geschah.

Erstaunt merkte sie, wie sich jemand neben sie auf die Erde hockte. Paola blickte nach rechts und sah einen Jungen neben sich sitzen. Der Junge sagte lange kein Wort. Er war einfach nur da. Paola wusste nicht, wie lange sie schweigend nebeneinander gesessen hatten. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und redete. Sie erzählte von ihrer Mutter, die sie zurückgelassen hatte, von den Tagen in der Sozialstation und davon, dass sie vor dem schrecklichen Mann mit der unsympathischen Frau geflüchtet war.

Dies war der Beginn ihrer Freundschaft zu Fabio und ihr erster Tag auf den Straßen von Sucre. Sie war zu einem der unzähligen Straßenkinder Boliviens geworden.

*

Die Hitze, die noch nicht ihren Höhenpunkt für den Tag erreicht hatte, und das gleichmäßige Klackern des Steines machten sie schläfrig. Emilia rührte sich nicht. Gerne hätte sich Paola noch etwas an ihre kleine Freundin geschmiegt und ein wenig die trägen Stunden bis zum Marktende verschlafen.

Doch irgendetwas war anders als sonst. Seitdem Fabio heute Morgen mit dem Laib Brot zu seinen Freunden zurückgekehrt war, wirkte er angespannt. Etwas beschäftigte ihn. Er ließ sie und die anderen Kinder nicht aus den Augen.

Vor irgendwas schien er auf der Hut zu sein. Dass er nicht sagte, was los war, verunsicherte Paola. Die kleine Gruppe war wie eine Familie füreinander da. Sie überlebten gemeinsam auf den Straßen von Sucre, passten aufeinander auf, versorgten und unterstützten sich gegenseitig. Geheimnisse gab es zwischen ihnen nicht. Immer wenn einen von ihnen etwas beschäftigte, sprachen sie miteinander. Dieses Vertrauen und die Offenheit, die in ihrer Clique herrschten, boten ihnen Sicherheit auf den Straßen von Sucre. Zwölf Ohren hörten mehr als zwei und sechs Köpfe brachten bessere Einfälle hervor, als es ein Einzelner tun würde. Ihr unangefochtener Anführer war Fabio. Mit seiner ruhigen und bedachten Art vermittelte er ihnen ein Gefühl von Schutz.

Die anderen schienen Fabios angespannte Atmosphäre nicht zu bemerken. Vielleicht bildete sie sich die ungewohnte Stimmung auch nur ein.

Paola beobachtete ihn. Fabio stand im Schatten an die Hauswand gelehnt. Er hatte sie alle im Blick. Gleichzeitig schien er alle Bewegungen auf der Straße und sämtliche Menschen genau zu registrieren. Fast wirkte es so, als ob er auf etwas warten würde.

Nein, Paola war sich sicher, dass sie sich die eigenartige Stimmung nicht nur einbildete und dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Heute Morgen bei seinem Streifzug über den Markt hatte er etwas gesehen oder gehört, was ihn beunruhigte.

Vielleicht hing es mit den Gerüchten zusammen, die die Straßenkinder von Sucre aufgeschreckt hatten. Vor ein paar Tagen sollte ein Junge von ein paar Männern entführt worden sein. Immer wieder geschah es, dass Kinder verschleppt wurden, doch meistens tauchten sie nach wenigen Tagen missbraucht oder misshandelt wieder auf. Dieser Junge war wie vom Erdboden verschluckt. Warum, konnten sich die Straßenkinder nicht erklären. Wer hatte Interesse an ihnen? Sie waren der Abschaum der Stadt, ernährten sich von Müll und der Beute ihrer Diebstähle.

Sie waren wie streunende Hunde. Niemand wollte sie.

Wenn sie krank waren, konnten sie sich im Centro Medical behandeln lassen. Doch wirklich geholfen wurde ihnen auch dort nicht. Sie wurden versorgt, registriert und geimpft. Kurz danach wurden sie erneut hungrig den Straßen von Sucre überlassen.

Doch immer wieder kursierten diese Gerüchte. Manchmal wurde gemunkelt, dass die Straßenkinder als Versuchskaninchen von Pharmaunternehmen oder Kliniken verschleppt würden werden. Dann hieß es, dass das Centro Medical und die Sozialstationen unlautere Geschäfte mit den Straßenkindern betrieben. Es wurde erzählt, dass schon so manches Kind von den Hilfsstationen als Haushaltssklaven verkauft worden sein sollte.

Mit Schaudern dachte Paola an den Tag zurück, als sie dem schrecklichen Mann und seiner Frau entkommen war. Das Ganze schien schon eine Ewigkeit zurückzuliegen.

Paola wusste nicht, was sie von den Gerüchten halten sollte. Immer wieder verschwanden Mädchen und Jungen einfach von den Straßen. Systematisch schien man sie ausfindig zu machen.

Doch sie als Straßenkinder kannten die Kanalisation, alle Verstecke der Stadt. Überleben hieß für sie, sich unsichtbar machen zu können.

Paola fühlte sich sicher in ihrer kleinen Gemeinschaft. Sie würden sich gegenseitig beschützen und aufeinander aufpassen.

Irgendwann schlenderte Paola zu Fabio hinüber.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie und versuchte, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu geben.

„Klar“, antwortete Fabio, ohne sie anzuschauen.

„Heiß heute“, mühte sie sich, weiter ein Gespräch mit ihrem älteren Freund zu beginnen.

Fabio schien in Gedanken versunken zu sein und antwortete nicht.

Paola kannte Fabio lange genug, um zu wissen, dass sie ihn nun besser in Ruhe lassen sollte. Vielleicht war er heute einfach auch nur schlecht gelaunt.

Später am Abend, sie hatten gerade ihr Abendessen, das aus Obst und Brot bestand, beendet, erzählte Fabio dann doch, was ihn bewegte: „Es laufen Männer durch Sucre, die nach einem Mädchen suchen, das Paola heißt.“ Er war sehr bemüht, seiner Stimme einen beiläufigen, fast schon gelangweilten Klang zu verleihen. Als er sich am Morgen auf dem Markt herumgedrückt hatte, um ein Brot zu klauen, war er gleich von mehreren Straßenkindern angesprochen worden, die ihn von den Männern erzählten, die sich nach Paola erkundigten.

Ihre Freunde warfen ihr verstohlene Blicke zu.

„Hast du was angestellt?“, wurde Paola von Manuel gefragt. Der stille Junge mochte keinen Ärger und ging am liebsten jedem Streit aus dem Weg. Prüfend blickte er das Mädchen an.

Paola bekam gleich ein schlechtes Gewissen, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst war. Trotzig schob sie ihr Kinn vor. „Nein, was soll ich schon angestellt haben?“, fragte sie die anderen.

Dass selbst von Pedro und Julia keine scherzhafte Bemerkung in die Runde geworfen wurde, machte die Situation noch bedrückender.

Paola fühlte sich plötzlich klein und alleine im Kreis ihrer Freunde.

Fabio hob beschwichtigend seine Hand und brachte die Kinder augenblicklich zum Schweigen. „Die Männer haben den Kindern gesagt, sie kämen vom Centro Medical.“

Paola schaute Fabio fragend an. Auch die anderen Kinder warfen ihm einen erstaunten Blick zu und warteten gespannt darauf, dass Fabio weitersprach.

Paola war nur selten im Centro Medical gewesen und nur ungern erinnerte sie sich an ihren schmerzenden Oberarm, in den ihr die Ärzte gleich mehrere Impfungen verpasst hatten. Unbewusst rieb sie sich die Stelle, als ob sie den Schmerz immer noch spüren könnte.

„Angeblich soll bei deinen Impfungen etwas schiefgelaufen sein und nun suchen sie dich.“

Die Kinder schauten Fabio ungläubig an.

„Du sollst dich dort melden, damit du noch einmal nachgeimpft werden kannst“, schloss Fabio seinen Bericht.

Manuel schüttelte den Kopf. „Das ist ja komisch. Die ganze Sache ist doch schon eine ganze Weile her und jetzt fällt ihnen auf, dass sie Mist gebaut haben?“

„Selbst, wenn“, mischte sich Pedro ein. „Die würden sich doch niemals die Mühe machen, nach einem einzelnen Mädchen von der Straße zu suchen. Das macht keinen Sinn.“

Paola konnte sich nicht erinnern, einen der Zwillinge jemals so ernst erlebt zu haben.

Nur die kleine Emilia schien von der angespannten Stimmung ihrer Freunde nichts mitzubekommen. Sie kauerte nahe bei Paola und spielte mit mehreren kleinen Steinen, die sie immer wieder in andere Muster und Bilder legte.

„Was wollen die von mir?“, fragte Paola. Als Straßenkind war man kaum existent. Solange man nicht auffiel, interessierte sich niemand für die Vielzahl der Kinder. Sie galten wie die vielen Hunde als lästiges Übel der Straße. Oft kam es vor, dass sie von den öffentlichen Plätzen der Stadt vertrieben wurden, doch Hilfe bot man ihnen keine an. Das jetzt nach ihr wegen einer falschen Impfung gesucht werden würde, glaubte keines der Kinder.

Die nächsten beiden Tage hörten sich ihre Freunde in den Straßen von Sucre nach den Männern um, während sich Paola mit Emilia versteckt hielt. Normalerweise schlief die Gruppe abends in einem abgelegenen Winkel des Bahnhofs, doch nun mieden sie die Öffentlichkeit und die vertrauten Orte. Es gab einige leerstehende Häuser und Hütten in Sucre, die auf den Abriss warteten. In solch einer Hütte versteckten sich die Mädchen.

Während Paola angespannt auf die Rückkehr der Jungs wartete, langweilte sich Emilia. Als Straßenkind war man tagsüber in Bewegung, suchte nach Essbarem, erledigte kleine Jobs oder erbettelte von Touristen einige wenige Bolivianos. Im Erbetteln von ein wenig Kleingeld waren die beiden Mädchen sehr gut, während die Jungs oft ein paar Münzen bei den Markthändlern verdienen konnten. Untätig zu sein, hieß abends mit leerem Magen schlafen gehen zu müssen. Paola und Emilia wussten, dass ihnen die Jungs etwas Essbares mitbringen würden, doch trotzdem fiel ihnen die aufgezwungene Untätigkeit schwer.

Paola saß da und spähte durch einen Fensterschlitz nach draußen. Sie war froh, wenn sie einen der Jungen erblickte. Gleichzeitig hatte sie Angst, dass die fremden Männer sie finden könnten, bevor sie mehr Informationen gesammelt hatten.

Am dritten Abend war es dann soweit. Die Zwillinge trafen mit ernster Miene als Letzte in ihrem Versteck ein. Sie hatten Gespräche aufgeschnappt, dass immer mal wieder Kinder, die zuvor von Leuten des Centro Medicals untersucht worden waren, gesucht und danach verschwunden seien.

„Aber warum?“ Paola war ängstlich und verwirrt. Was hatte das Centro Medical mit dem Verschwinden von Kindern zu tun? Es war bekannt, dass Straßenkinder oftmals zur Prostitution gezwungen wurden oder als Haussklaven rund um die Uhr schuften mussten, doch warum das Centro Medical ausgerechnet nach ihr suchte, konnte sie sich nicht vorstellen. Wenn sie einen Kunden für eines der Straßenkinder hätten, könnten sie aus der Vielzahl der Kinder irgendeines entführen. Warum suchte man ausgerechnet nach ihr?

Es kam ihr der Gedanke, dass der Hotelbesitzer, für den ihre Mutter anschaffte, nach ihr suchen lassen könnte. Niemals würde sie den abschätzenden Blick des groben Mannes vergessen.

„Nein, das ist zu lange her“, verwarf Manuel ihren Gedanken. „Zum einen würde er wohl kaum Leute des Centro Medicals schicken und zum anderen hat er dich längst vergessen.“

„Angeblich soll es den Männern vom Centro Medical immer gelingen, die entsprechenden Jungs oder Mädchen zu finden“, wusste Pedro weiter zu berichten. „Es wird gemunkelt, dass sie den Kindern im Centro Medical irgendwas geben, mit dem sie sie dann später aufspüren können.“

Ungläubig schauten sich die Kinder an. Konnte das möglich sein?

„Hast du damals irgendwas von denen bekommen?“, fragte Fabio und blickte Paola mit einem durchdringenden Blick ein.

„Nein“, stammelte das verunsicherte Mädchen. Sie besaß nur das was sie auf dem Leib trug und da war kein Kleidungsstück dabei, das sie damals schon getragen hätte. „Ich habe nichts von denen erhalten.“ Ängstlich schaute sie in Gesichter ihrer Freunde. Alle Blicke ruhten auf Paola.

„Lass uns noch mal genau überlegen, was sie damals mit dir gemacht haben“, forderte Fabio Paola auf.

„Nichts.“ Paola war aufgebracht. Die ganze Geschichte war so unsinnig. Doch sie wusste, dass sich ihre Freunde um sie sorgten und ihr helfen wollten. Sie war es ihnen schuldig, mitzuhelfen und die Sache aufzuklären. Das Mädchen atmete tief ein, bevor sie möglichst genau versuchte, sich an die ersten Tage ohne ihre Mutter zu erinnern.

„Meine Mutter hat mich in die Sozialstation gebracht“, die ersten Worte kamen leise aus ihrem Mund. Es war nicht üblich, dass sie über ihre Vergangenheit sprachen. Keines der Straßenkinder tat das. Man lebte im Jetzt und bisher hatte sie sich nur Fabio gegenüber geöffnet. Doch bereits nach wenigen Sätzen merkte sie, wie gut es ihr tat, über diese Zeit zu sprechen. Sie erzählte von der Einsamkeit, die sie in der Sozialstation verspürt hatte, von der Wut auf ihre Mutter, die Selbstzweifel und von dem Paar, das sie mitnehmen wollte und vor dem sie geflüchtet war, womit sie ihr Leben als Straßenkind eingeleitet hatte.

Sie redete und ihre Freunde hörten zu. Als sie schließlich endete, fühlte sie sich erschöpft. Ängstlich schaute sie in die Runde und war erleichtert, als Manuel ihre Hand in die seine nahm und leicht drückte. So deutlich wie nie spürte sie, was ihre Freunde ihr bedeuteten.

„Wie war das denn in dem Centro Medical?“, fragte Fabio nach. Das Centro Medical schien eine wichtige Rolle zu spielen. Somit wollte Fabio jede Sekunde von Paolas Aufenthalt dort nachvollziehen können.

„Die Frau von der Sozialstation ist mit mir dorthin gegangen“, ergänzte Paola umgehend ihren Bericht. „Ich wurde gemessen und gewogen und eine Schwester hat mir einiges an Blut abgenommen. Irgendwer hat mich dann abgehört und in Mund und Ohren geschaut. Zum Schluss bin ich noch gegen alles Mögliche geimpft worden und das war es dann auch schon.“

Ratlos schauten sich die Kinder an. Das alles hörte sich normal an.

Julian kam schließlich ein Gedanke: „Kann es sein, dass sie dir mit den Impfungen etwas eingespritzt haben, mit dem sie dich jetzt finden können?“

Fabio schüttelte ungläubig seinen Kopf. „Warum sollten sie so etwas tun?“

Auch die anderen Kinder hatten hierauf keine Antwort.

„Das würde ja heißen, dass sie damals schon geplant haben, mit Paola irgendetwas anzufangen“, meinte Fabio.

„Selbst, wenn sie irgendwas mit ihr vorgehabt hätten“, setzte Manuel Fabios Überlegungen fort, „warum haben sie dann so viel Zeit verstreichen lassen? Sie wissen doch gar nicht, was aus Paola geworden ist und ob sie überhaupt noch lebt.“

Noch lange saßen die Kinder beieinander und sprachen über die ungewöhnliche Situation.

Bevor sie schlafen gingen, beschlossen sie, dass Paola und Emilia auch in den nächsten Tagen die Hütte nicht verlassen sollten. Bei diesem Gedanken seufzte Paola auf. Doch sie wusste, dass sie hier, in der Hütte, ein gutes Versteck gefunden hatten. Die Gegend war einsam und verwahrlost. Nur selten ließen sich hier noch Menschen blicken. Selbst die Hunde hielten sich fern.

Am nächsten Abend kamen kurz hintereinander Fabio und Manuel zurück. Die Kinder warteten gemeinsam auf die Zwillinge. Währenddessen berichteten Fabio und Manuel von dem, was sie gehört hatten. Das Centro Medical schien ein reges Geschäft mit den Straßenkindern zu betreiben. Mit den Impfungen sei den Kindern ein kleiner Sender unter die Haut gespritzt worden. Durch diesen Sender konnten sie die „geimpften“ Kinder noch nach Jahren ausfindig machen.

„Warum tun die das?“, fragte sich Paola. Wer konnte Interesse an den Straßenkindern haben?

„Das Geschäft mit uns Kindern scheint gut zu laufen“, wusste Manuel zu berichten. „Sie verkaufen uns an Bordelle und an gut zahlende Pharmaunternehmen sowie Krankenhäuser. Angeblich sollen manche Kinder für Versuchszwecke oder für andere medizinische Sachen benutzt werden.“

„Für was für medizinische Sachen?“, fragte Paola. Sie wusste nicht, wovon Manuel sprach, doch die Worte „Versuchszwecke“ und „benutzt werden“ hörten sich nicht gut an.

„Sie verkaufen uns an irgendwelche Leute, die genug dafür zahlen.“ Paola schüttelte den Kopf. Sie verstand nichts von dem, was ihr Freund erzählte. Es war Manuel anzusehen, dass er nur ungern weitersprach, weswegen er seine Worte vorsichtig wählte. Paola wusste, dass Manuel wenig auf Gerüchte gab und Tratsch nicht mochte. Dass er nun dieses Thema so ausführlich erörterte, unterstrich seine Sorge.

„Wenn ein neues Medikament getestet werden soll, probieren sie es halt an uns Straßenkindern aus. Falls etwas schiefläuft, vermisst uns niemand. Und wenn jemand krank ist und zum Beispiel eine neue Leber braucht, suchen sie ein passendes Straßenkind und entnehmen das benötigte Organ.“

Paola wusste nicht, wofür eine Leber oder irgendein anderes Organ nötig waren. „Kann man denn ohne seine Organe leben?“, fragte sie ungläubig.

Manuel mied ihren Blick, als er leise antwortete. „Vielleicht, doch es ist die Frage, ob sie das wollen.“ Langsam verstand Paola, was Manuels Worte für sie bedeuten könnten.

Mit ihrer Hand fuhr sie sich über ihren Oberarm.

Nun ergab alles einen Sinn.

Sie trug einen Sender in sich. Die Männer suchten sie, weil sie irgendeinen Käufer für sie gefunden hatten. Wofür, war ihr nach wie vor nicht klar, doch das Mädchen begriff, dass sie sich in akuter Gefahr befand. Mit einem trotzigen Blick streckte sie ihren Arm in Fabios Richtung aus. „Schneid mir das Ding raus!“ Paola wunderte sich selbst, wie fest ihre Stimme klang. Doch eines war für klar. Mit dem Sender im Arm würden die Männer sie leichter finden können, wenn sie in ihre Nähe kamen.

„Paola, ich kann das nicht.“ Das Entsetzen stand Fabio ins Gesicht geschrieben. „Ich kann dir doch nicht den Arm aufschneiden.“

„Doch, kannst du.“ Paola war fest entschlossen. „Wenn du es nicht tust, werden sie mich finden. Du musst das machen.“

„Hört auf, ihr beiden“, wurde ihre Diskussion von Manuel unterbrochen. „Fabio hat recht. Wir wissen überhaupt nicht, ob du einen Sender in dir trägst und wo er sitzen könnte.“ Nachdenklich strich er seine Haare aus der Stirn. „Lass uns morgen nach Dasher suchen. Er wird uns helfen können.“

Dasher war ein Gauner. Für Geld konnte man von ihm alles bekommen. Sicher würde er einen Arzt kennen, der ihnen helfen könnte. Doch sie besaßen nichts, was sie ihm als Bezahlung geben könnten. Aber auch wenn sie jetzt kein Geld hatten, könnten sie ihm irgendwann nützlich sein. Dasher war der mächtigste Gangsterboss Sucres. Man munkelte, dass er weitreichende Kontakte zu Politikern, Richtern und Polizisten unterhielt. Ihm gehörte das Spielcasino dieser Stadt. Politiker und viele wichtige Persönlichkeiten Boliviens gingen dort ein und aus. Einige verließen das Casino mit durchaus sehr zufriedenen Gesichtern, sodass man Dasher nachsagte, seinen Einfluss durch Bestechung bereits weit über die Grenzen Boliviens hinaus ausgebaut zu haben. Angeblich sollte er der Drahtzieher weltweiter Drogen- und Waffengeschäfte sein. Die Polizei Sucres ließ ihn gewähren. Dasher kannte jeden wichtigen Menschen dieser Stadt. Er wusste, was vorging, und niemand wagte es, ihm seinen Gehorsam zu verweigern.

„Wo bleiben denn Pedro und Julian?“, fragte sich Paola irgendwann. Die drei waren so tief in ihre Unterhaltung vertieft gewesen, dass sie das Fehlen der Zwillinge bisher nicht registriert hatten.

„Es ist bereits dunkel“, Fabio stand auf und schaute sorgenvoll durch eine der Fensteröffnungen nach draußen.

„Sie müssten schon längst hier sein.“ Sie hatten vereinbart, dass alle mit Einbruch der Dunkelheit zu dem verlassenen Haus zurückgekehrt sein sollten. Die Verspätung der beiden konnte viele Ursachen haben. Es war nicht unüblich, dass die Kinder bei Nacht noch unterwegs waren. Sie kannten sich aus und wussten sich zu wehren. Trotzdem wirkten die Freunde auf einmal alle angespannt und besorgt.

„Ich werde nach ihnen sehen.“ Fabio erhob sich.

„Ich komme mit“, tat Manuel kund und stand ebenfalls auf.

Fabio warf ihm einen langen, beschwörenden Blick zu. „Bleib hier und lass die Mädchen nicht aus den Augen.“ Dass Manuel ohne weitere Einwände bei den Mädchen blieb, verstärkte Paolas Angst.

Schweigen legte sich über die kleine Gruppe, als Fabio das Haus verlassen hatte. Paola saß da und lauschte auf jedes Geräusch. Jegliches Rascheln ließ sie zusammenfahren.

Manuel stand immer wieder auf und spähte durch die Fensteröffnungen in die Finsternis der Nacht, ohne etwas erkennen zu können. Auch er war aufs Äußerste angespannt. Emilia schlief irgendwann auf dem Boden zusammengerollt ein.

Fabio war nun schon eine ganze Weile fort. Auch von den Zwillingen war nichts zu sehen und zu hören. Paola saß da und lauschte.

Still und schwarz war die Nacht. Emilias gleichmäßiges Atmen war das einzige Geräusch in der Hütte. Die Angst und die Anspannung der letzten Tage forderten ihren Tribut. Immer öfter fielen ihr die Augen zu.

Als die Tür aufgerissen wurde und Fabio hektisch schreiend die Hütte betrat, sprang Paola erschrocken auf.

„Macht schnell!“, schrie Fabio seine Freunde an.

„Lauft, sie werden gleich da sein.“ Noch nie hatten sie ihren Freund so panisch gesehen. Schweiß rann ihm über die Stirn. Sein Atem ging schnell und stoßweise.

„Macht schnell!“, wiederholte er und riss Emilia hoch, die aus ihrem Schlaf aufgeschreckt und orientierungslos im Raum stand.

„Manuel, kümmere du dich um Emilia.“ Mit diesen Worten riss er Paola am Arm und zerrte sie zum Ausgang hinter sich her. „Du kommst mit mir.“

Paola stellte keine Fragen, sondern rannte los. Fabio war direkt hinter ihr. Nicht weit von ihnen entfernt hörte sie Männer rufen und sah eine Taschenlampe aufleuchten. Es dauerte nur wenige Augenblicke und die Lichtkegel der Lampen hatten sie erfasst. Sie hörte die Männer schreien, konnte die Worte jedoch nicht verstehen.