Schmale Pfade im Dschungel von Gut und Böse - Chavy J. Mauques - E-Book

Schmale Pfade im Dschungel von Gut und Böse E-Book

Chavy J. Mauques

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Beschreibung

Ein Krimidrama der etwas anderen Art: Ein Lesevergnügen für alle, die atemlose Spannung und blutrünstige Gewalt weniger schätzen und sich eher für die menschlich-psychologischen Hintergründe der Figuren interessieren.

Im Stil klassischer Noir-Krimis à la Hammett, Chandler oder Robert B. Parker geschrieben, ohne rasante Verfolgungsjagden oder Kämpfe auf Leben und Tod, dafür mit menschlich-gesellschaftlich-philosophischen Überlegungen für das 21. Jahrhundert, mit Anspielungen auf Musik, Filme und Kunst, trockenem Witz und viel griechischem Lokalkolorit.

Die Geschichte beginnt mit einer Leiche am Strand und endet mit einer Reihe von tödlichen Unfällen der Verbrecher, während die anderen den Urlaub genießen.

Und was geschieht dazwischen?

Eine Journalistin aus Wien fliegt im Urlaub nach Griechenland und beginnt eine Affaire mit dem lokalen Polizeichef: Er hat zwar viel zu tun, aber keine konkreten Gewalttaten, die er oder ein Detektiv aufklären muß.

Außerdem sind dort in einem abenteuerlichen Jakobsweg zwei Dutzend andere Leute aus verschiedenen Ländern, Kulturen und Berufen unterwegs: Ein indischer Unfallarzt, eine italienische Nonne, ein schwedischer Surfmeister, ein griechischer DJ, ein deutscher Schlagzeuger, ein österreichischer Koch, ein griechischer Gastwirt, eine ceylonesische Perlentaucherin, eine polnische Schneiderin, eine schweizer Schlafwagenschaffnerin, ein italienischer Schuhmacher u.s.w., teils rechtschaffen, teils Verbrecher, aber das läßt sich nicht so genau unterscheiden.

Die Wege dieser Personen kreuzen sich im Laufe einer spannenden Woche zufällig wie in einem modernen "Reigen" mit wilden Wendungen.

Sie vertreten sehr eigene Auffassungen von Lebensstil, Arbeit und Geldverdienen, von Beziehungen im 21. Jahrhundert, von Treue und Verantwortung, Schuld und Sünde, Gerechtigkeit und Strafe - veraltete Begriffe, die heute neu gedacht werden müssen, und tradierte Werte, die aus mehreren Perspektiven wie in einem Episodenroman gegenübergestellt werden.

Die „Bösen“ fallen einem neutralen, unbarmherzigen Schicksal durch Unfälle zum Opfer, die „Guten“ überleben. Einige von ihnen beschließen, ihr Leben zu ändern.

Wo liegt die Grenze zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch? Wie kann man mit den Grauzonen dazwischen umgehen? Was bedeuten Zeit, Zufall und Sinn? Gibt es Lebens- und Beziehungsmodelle, die besser funktionieren als die alten? Wie kann man ein ganz neues Leben beginnen?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Jody

Nur wer ein reines Herz hat, kann eine gute Suppe kochen(Beethoven)

Entrée

Ein guter Autor gibt dir etwas, von dem du gar nicht gewußt hast, daß es das gibt. Doch wenn du damit durch bist, wird dir klar, daß es genau das ist, wonach du gesucht hast.

Geoff Nicholson

Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß das Böse ein Franzose ist.

Terry Eagleton

Déjà ces lents, ces tranquilles naufrages

Déjà ces cages qu'on n'attendait pas

Déjà ces discrets manques de courage

J'ai vu des bateaux, des fleurs, des rois

Des matins si beaux, j'en ai cueilli parfois

En passant

Jean-Jacques Goldman

„Ihr Jungs seid weit gereist. Wonach sucht Ihr?“

„Nach Weisheit.“

„Dann seid Ihr am falschen Ort.“

In: Shooter

Q: “Will you need collision coverage?”

Bond: “Yes.”

Q: “Fire?”

Bond: “Probably.”

Q: “Property destruction?”

Bond: “Definitely.”

Q: “Personal injury?”

Bond: “I hope not, but accidents do happen.”

In: James Bond – Tomorrow Never Dies

Personen

Inai - Journalistin aus Wien

Kauko - finnischer Virologe

Lizzi - Koloratursopranistin aus Linz

Hauptmann Dimitri Stephanopoulos - Polizeichef von Paleóchora

Der Alte - kretischer Mafiaboß

Orhan Kasapcioglu - türkischer Drogendealer

Marga Schusterer - schweizer Schlafwagenschaffnerin

Mohammed Khomali - algerischer Gangster

Azadeh, Enadir und Karen - Haremsdamen in Algier

Andrea Talkidis - Bürgermeister von Paleóchora

Manni, Muschi und Kevin Blankow – ostdeutsche Neonazis

Stefanos Navertis - Kapitän eines Delphinbootes

Sören Arendsen - schwedischer Surfweltmeister

Ase Olsen - schwedischer Segelmacher

Christos alias DJ-C - DJ in der Agios Bar

Dennis le Hane - britischer cleaner

Davidos Sedaris - kretischer Tankwart

Giannis und Giorgos - Polizisten in Paleóchora

Alexis Dinaris - Gastwirt auf Gavdos

Anton Ganslinger - österreichischer Küchenchef

Nina Kandidos - griechische Kellnerin

Dr. Yadvinder Ghemawat - indischer Unfallarzt

Chandrika Kadirgamar - ceylonesische Perlentaucherin

Predrag Marinkovic - bosnischer Lastwagenfahrer

Sandra van den Vonnegut - niederländische Puffmutter

Klaus - Schlagzeuger aus Köln

Valentin Nikulin - russischer Zirkuskünstler

Julius Boskorup - Unternehmensberater aus Wien

Joanna Somalis - CSI-Beamtin aus Athen

Olga - rumänische Akrobatin

Aisling - irische Komponistin

Der Weise – Privatgelehrter in Paleóchora

Lucia - polnische Schneiderin

Schwester Galateia - griechische Krankenschwester

Gianna dell’ Monte - italienische Nonne

Paolo dell’ Monte - Schuhmacher in Sienna

Rod Connor - amerikanischer Vertriebstrainer

Mikis - Buchhändler in Paleóchora

Fabio - italienischer Wellenreiter

Jahmess - deutscher Kite-Surfer

Fanoúla - Schülerin in Paleóchora

Baddos Spencer und Terence - Rowdies in Paleóchora

Die junge Frau im schwarzen Kleid mit wehenden schwarzen Haaren auf einem dreirädrigen Roller mit einer Ladeplattform überlasse ich Ihrer Fantasie: Es muß in einem Buch auch ein paar dunkle Punkte und offene Stellen geben, wo Ihre Neugier die Puzzlesteine zusammenfügt.

Die Ortsbeschreibungen sind authentisch, die Personen dagegen fiktiv (den gelblichen Hund gab es allerdings wirklich – er wurde irgendwann von einer Familie mitgenommen).

Das Gros der geschilderten Ereignisse, Träume, Beziehungen und Empfindungen sowie die Wesensmerkmale und Einstellungen der Figuren (außer den Todesfällen) hat der Autor – in leicht veränderter Form – persönlich oder bei Freunden und Bekannten erlebt.

Auch die – teilweise pointiert formulierten – Meinungen sind dem Autor (sowie manchen anderen Denkern) zuzuschreiben: Die Wunschvorstellung ist dabei, daß sich daraus nach der Lektüre angeregte Gespräche mit Freunden ergeben, wie es z.B. in Woody-Allen-Filmen beim Dinner in Little-Italy-Restaurants gezeigt wird.

Das Titelbild stammt vom Portal einer Kirche irgendwo in Italien: Es ist unklar, wer hier der Weise und wer der Bettler ist, wer gibt und wer nimmt.

Der erste Tag

Mitten ‘rein

„Wenn i geahnt hätt‘, daß i am Strand a Leich‘ find‘, wär‘ i in die Berge g‘foan.“

Sie hockte sich hin und betrachtete die Hand, die aus dem schneeweißen Sand ragte: Groß, möglicherweise männlich, kaum behaart, helle Haut, kurze Fingernägel, kein Ring, irgendwie verhärtet. Sie empfand keine Furcht, keinen Ekel.

„Eigenartig, was fühl‘ ich jetzt“, fragte sie sich, „Neugier, ungläubiges Staunen, Irritation?“

Sie überlegte, runzelte die Stirn: „Ein komischer Cocktail ist das“ – paßte aber gut zu ihrem Wesen.

In ihrem Kopf der permanente Film, niemals Stillstand, abends in der Loos-Bar: „Herr Ober, ich hätt‘ gern‘ einen Whodunnit.“

„Was ist das denn, bitte?“

„Na, zwei Teile Neugier, ein Teil Staunen und ein Teil Irritation, Spritzer Angostura, etwas Kardamom, gerührt, Minze und ein Stück Ananas auf dem Glasrand: Kennen Sie den nicht?“

Der Hund, der sie zu der Hand geführt hatte, benahm sich sonderbar, schnüffelte an den leicht gekrümmten Fingern, leckte versuchsweise daran und hob dann das Bein.

„Sie sagen ja, daß Hunde alles, was sie nicht bespringen können, fressen wollen und alles, was sie nicht fressen können, anpinkeln...“ Der Volksmund hat zwar kein Gesicht, aber oftmals Recht.

„Stimmt genau“, dachte sie: „Nicht anfassen – das sollte wohl besser die Polizei tun.“

Inai erhob sich. Sie war eine Frau ohne Alter, etwa Mitte Dreißig, nicht groß, nicht klein, naturschlanke, untrainierte Figur, Konfektionsgröße 38, B-Cup, kein Schmuck, das Haar halblang und von unbestimmter Farbe, dunkelblond mit hellen Strähnchen, die Augen etwas grau, etwas grün, etwas braun, mit dichten Augenbrauen und vollen Lippen, die eine Spur distanziert wirkten, eine freundliche, aber unscheinbare Frau, die man in der Menge sieht und sofort vergißt – nein, die man gar nicht erst wahrnimmt: In Wien, dem Epizentrum der europäischen Spionagewelt, perfekt geeignet als Geheimagentin, völlig unauffällig, wie geschaffen zum Beschatten...

„Spione? Meinst Du wirklich“, fragten ihre Freundinnen manchmal.

„Es ist schon unglaublich, was in der Schattenstadt so alles passiert, ohne daß es der durchschnittliche Kornspitzesser beim Heurigen mitkriegt“, antwortete sie dann: „Hier gibt‘s mehr Agenten als Kakerlaken auf einem Mistplatz in Caracas – vor allem in der Boltzmanngasse, aber manch‘ andere Gassen sind auch nicht zu verachten.“

Das war allerdings nicht ihr Job.

„Ein Toter am Strand – ma, warum muß mir das passieren“, ging ihr durch den Kopf, „und das auch noch am ersten Urlaubstag.“ Der alte Song von Planet P. klang ihr im Ohr: „Why me – die Hymne meines Lebens.“

Am Morgen, früher Oktober und herbstlich-kühles Wetter in Wien, todmüde und völlig überarbeitet, hatte sie sich zu unchristlicher Zeit aus ihrem Bett im 8. Bezirk gequält. Sie fühlte sich wie eine Lerche, die sich in den Katakomben des Vatikans verflogen hat – aber die Aussicht auf Urlaub wirkte wie weißer Rauch durch das Oberlicht am Ende eines langen, finsteren Gangs.

Grade noch rechtzeitig am Flughafen zum Einchecken nach Griechenland eingetroffen, munterte sie der fröhliche Service der netten Fly-Niki-Stewardessen mit einem Glas Sekt zur Begrüßung kurzzeitig auf.

Wie immer hatte sie einen Fensterplatz ganz hinten gewählt, nahe an der Galley und dem WC – weit weg von wichtigen Geschäftsleuten und schreienden Babys in der ersten Reihe. Sie legte den Gurt an und schlief sofort wieder ein: Eine Woche Auszeit auf Kreta am Saisonende mit Badewetter, fernab von den heimischen motschgernden Grantlern… Hauptgewinn.

In Chaniá angekommen, erwartete sie eine wilde Serpentinenfahrt mit dem Bus durch die kretischen Berge in Richtung Südwesten nach Paleóchora, einem idyllischen, altmodischen Urlaubsort, den früher nur Hippies und Surfer kannten.

Inai setzte sich hinter einen amerikanischen Rucksacktouristen und schaute müde aus dem Fenster. Zwei Stunden voller Kurven begannen, wildes Hupen, unerschrockene Ziegen und bunte Schilder am Straßenrand – plötzliche, rauschhafte Eindrücke im Halbschlaf und Vollbremsungen, die ihr jedes Mal sagten: „Was willst Du hier eigentlich? Kehr um, hier gibt‘s nur Tang mit Leichen!“

Der Busfahrer war bestrebt, alle nicht gänzlich urlaubsreifen Fahrgäste vollends zu zermürben. Er fuhr, wie wenn die Steuerfahndung und der Mann aus dem brennenden Dornbusch zugleich hinter ihm her wären: Sie konnte sehen, wie er sich nach besonders engen Manövern bekreuzigte.

„Nicht so schnell auf dem highway to hell“, schoß ihr durch den Sinn, aber sie war unbesorgt: Der Bus hatte vom Fahrer bis zu ihrem Sitz fünfzehn Meter Knautschzone – das sollte reichen, es sei denn, ein 80-Tonnenauflieger käme genau von vorn.

In ihren Augen hing der Autokamikaze in manchen Ländern mit der Verfügbarkeit von Formel-1-Strecken zusammen: „Die Österreicher können sich in Spielberg austoben, die Italiener in Monza, die Belgier in Spa“, überlegte sie: „Nur die armen Griechen müssen öffentliche Straßen benutzen, wenn sie mal die Motorista-Sau ‘rauslassen wollen.“

Man sollte immer erst die Nachfrage betrachten, bevor man Angebote ersinnt: „Vielleicht ist Autorennen ja ein griechischer Nationalsport – wußte nur keiner. Oder hat die Erfindung von Olympia ihren sportlichen Impetus für die nächsten Jahrtausende erschöpft?“ Fragen über Fragen.

In einer besonders engen Kurve hörte sie plötzlich ein lautes Knattern neben sich. Inai schreckte hoch: Eine junge Frau in einem schwarzen Kleid mit wehenden schwarzen Haaren überholte den Bus auf einem seltsamen dreirädrigen Motorroller mit einer Ladefläche hinter dem Sitz. Die Plattform war leer.

„Crazy! What’s she doing“, rief der Amerikaner vor ihr, ohne sich an jemand direkt zu wenden.

„Hat was abgeliefert und will rasch zurück nach Hause“, antwortete Inai ihm ohne nachzudenken gleichmütig auf Englisch.

Die Frau mit dem Roller war schon hinter der nächsten Straßenbiegung verschwunden.

Inai lehnte sich zurück, schloß wieder die Augen und überlegte: „Nein – anders: Sie hat einen Auftrag und will dort so schnell wie möglich eintreffen...“

Der Rucksackmann hatte ihre spontane Äußerung als Aufforderung aufgefaßt, sich umzudrehen und auf sie einzureden:

„Hi, I’m Larry, I’m from Texas, first time in Europe, I’m a student at CalTech, been to London and Paris so far, got two more months, everything’s so cheap here, weather’s OK, but the food is gross, no Starbucks here, can‘t believe it, where ya from, been here before?“

Ihr kam es so vor, als ob er den gesamten Satz ohne zu atmen gesagt hätte: „Vielleicht ist er ja Apnoetaucher?“

Vor ihrem inneren Auge erschien das Gesicht des jungen Jean Reno. Der amerikanische Schwadroneur sah aber nicht so gut wie der Franzose aus: „Wahrscheinlich ein zukünftiger Politiker – dafür reicht seine Papp’n grad‘ noch aus…“

Er kniete rückwärts auf seinem Sitz und stieß ihr die Rechte wie eine Waffe vor‘s Gesicht.

Inai seufzte, war zu müde für Konversation.

„Will der mir jetzt ein Ohr abkauen“, dachte sie, „kann der auch in Nebensätzen reden? Zu laut, zu dumm und zu ungefragt.“

Sie antwortete nicht, aber der Mann gab nicht auf: „Where you goin‘? What’s ya name? Ya travellin’ alone? When’s your birthday?“

Fast wollte sie ihn fragen, ob er den Orangehaarigen mit den kurzen Fingern gewählt hätte, was aus ihrer Sicht lebenslänglichem Stimmverlust gleichkam, aber ihr Interesse reichte einfach nicht aus – und es würde ihn auch nicht zum Schweigen bringen.

Ihr fiel eine alte Regel ein, die so wie er aus Texas stammte: „If you can’t be kind – be vague.“

Sie öffnete kurz die Augen, legte die Stirn in Falten und einen Finger auf die Lippen, lehnte sich wieder zurück und atmete hörbar ächzend aus.

„Lone star state– leave me alone“, flog ihr noch durch den Kopf, dann nickte sie wieder ein. Die Fahrt ging ereignisarm weiter.

Erschöpfung nach einer harten Arbeitssaison und Urlaubsvorfreude lieferten sich in ihrer Stimmung ein ungleiches Gefecht: Noch hatte ihre Müdigkeit die Oberhand.

Aber das konnte sich jeden Augenblick ändern – so wie beim Eisstockschießen, Cricket und anderen komischen Sportarten, wo lange nichts passiert – und dann hat plötzlich das eine Team gewonnen, und keiner weiß, warum.

Sie kannte sich mit Sport nicht aus. Aber sie mochte gerne den erratischen Bewegungen dieser Künstler zuschauen, wenn sie irgend etwas warfen, traten, stießen, jemand prügelten, ziellos ‘rumrannten oder sich in den Dreck schmissen – ein feinmotorischer Genuß.

Auch testosterongeladenes Gebrüll wegen spieltaktischer Feinheiten, die sich ihr nie erschlossen, mit der zugehörigen brachialen Gestik waren immer wieder nett – sie paßten allerdings eher auf die Bühne des Akademietheaters: „Kabuki oder Go geht anders“, meinte sie bei entsprechenden Unterhaltungen mit Freunden.

Vertraut waren ihr eher die Fingerzeichen von Mannschaftskapitänen, beim American Football und manuelles Wichtiggetue der Trainer am Spielfeldrand: Es erinnerte sie an die Handschattenfiguren für Kinder, die nicht einschlafen können.

Der Rest des ganzen Theaters war für inhaltsleere Geister bestimmt, die eigentlich nur einen Grund brauchten, um jemand zu hassen, der ein anderes Team anfeuerte.

Sie fand es dagegen unterhaltsam, wenn jemand die Hand aus der Hose zog und an den Fingern roch – Unerwartetes statt Absehbarem. Flitzer und Schlägereien auf dem Spielfeld mit anschließendem Gelb/Rot – köstlich!

In dieser Hinsicht rangierten Eishockeyspiele in Finnland weit oben. Da hat man ohnehin einen Knüppel in der Hand, und der Coach ist bei den Keilereien immer ganz vorne mit dabei: Echter Teamgeist.

Inai hatte sich in Paleóchora im Hotel Castello direkt am Sandstrand einquartiert. Es war wie ein Pueblo gebaut, weiß getüncht, das letzte Haus am Rand des Dorfes: Klein, ruhig, nur wenige Zimmer, halbwegs bezahlbar. Unter den Pinien vor dem Eingang konnte man endlos verweilen, Kleinigkeiten genießen und die Zeit vergessen: Vielleicht hatte Kazantzakis hier auch gesessen, bevor er Försterhäuser für sich entdeckte.

Die Straße führte zum Fährhafen, wurde aber kaum benutzt, abgesehen von einem uralten holländischen Lastwagen, der zwei Mal am Tag vorbeirumpelte.

Als sie den Fuß in die winzige Lobby des Restaurants setzte, fiel die Anstrengung der letzten Monate von ihr ab: Eben war ihr noch nach Schlummertrunk und Bett. Jetzt zog es sie hinaus – zur rauschenden Brandung, keine zwanzig Meter weit entfernt, zum Zirpen der Zikaden, zum Grillduft der Tavernen.

„Wenn Sie wollen, bring‘ ich Ihren Koffer auf’s Zimmer“, bot der junge Grieche hinter dem Tresen an.

„Wo wohn‘ ich denn?“

„Im ersten Stock, die Nr. 1 mit Blick auf’s Meer – das ist unser schönstes Zimmer.”

„Paßt.”

“Sie sind unser einziger Gast – außer einem Schweden, aber der hat für zwei Monate reserviert.”

Sie freute sich, dankte ihm und nahm den Schlüssel entgegen.

Dann sah sie den Hund: Mittelgroß und gelblichbraun, ein Streuner wie die meisten Tiere hier, ein undefinierbares Rassenpotpourri: Bestechlich, untreu, klug.

Er schien auf sie zu warten, zog sie an, zog sie mit – sie folgte ihm geruhsam zum Strand.

Heimat des Herzens

Inais Vater Kauko war Finne, ein international anerkannter Virologe. Als die Ebolaseuche in Afrika zu wüten begann, war er im Rahmen eines internationalen Hilfsprogramms nach Wien gekommen, um für die UNO an einer Resolution zu arbeiten.

Inais Mutter Lizzi war mit Achtzehn aus einem Dorf in der Nähe von Linz nach Wien gezogen. Eine echte Begabung und jahrelanges Gesangsstudium bei elegant gealterten Diven, ungezählte Proben und Vorsingen, Nächte voller Hoffnung und Selbstzweifel hatten letztlich zu einem Teilzeitjob als Sachbearbeiterin bei der Generali geführt.

Bisweilen fragten Freunde, was sie dort tut. Sie erklärte dann: „Ich bin für Kunden mit den Buchstaben Q, X und Y zuständig.“

„…und braucht man dafür einen Koloratursopran?“

„Eigentlich nicht – diese Stimmlage haben die Kunden schon von ganz alleine, wenn sie sich beschweren…“

Inai wurde in einer eigentümlich wirren Dezembernacht gezeugt: Ihre Mutter war in einem irischen Pub in der Körblergasse auf diesen stillen, sonderbaren Finnen gestoßen und hatte ihn mit in‘s Bett genommen.

Mit Männern, die ihr gefielen, gleich in der ersten Nacht zu schlafen, war für sie keine moralische Frage, sondern eine Chance, dem dumpfen Katholizismus ihrer Umwelt eine Watschn zu verpassen. Außerdem machte es Spaß – manchmal.

Kauko war kein sonderlich guter Vater, aber ein guter Mann. Nach dem Ende seines Projekts war er letztlich nach Helsinki zurückkehrt, weil ihm die dunkle Stille der Wintermonate mit meterhohen Schneewänden und dicken, eingesunkenen, durch das Eis leuchtenden Teerkerzen vor den Häusern fehlte.

Dennoch hatte er Inais Mutter seit der Geburt ungebeten mit der Hälfte seiner Einkünfte versorgt und sie mit der Präzision einer Schweizer Uhr jede Woche angerufen, ohne Hast gefragt, zugehört, geantwortet.

Manchmal dachte Lizzi, so sollte es mit Vätern immer sein – ähnlich wie bei vielen Tieren: Nachwuchs zeugen, danach beim Schützen und Füttern helfen, verläßlich und großzügig, aber immer auf Armeslänge entfernt.

Eine feste Beziehung einzugehen kam Inais Vater als Wissenschaftler so irreal vor wie eine eisgekühlte Caipirinha auf dem Gipfel des Mont Blanc: Er erzählte gerne die Geschichte von dem Forscher, der die verzauberte Prinzessin nicht küßt, weil er einen sprechenden Frosch im Labor viel interessanter findet als eine schöne Geliebte, die in einem Schloß wohnt.

Wenn Kauko sich nicht mit Krankheitserregern befaßte, sammelte er Fotos von bizarren Wolkenformationen, die wie Politikerköpfe aussahen, und erfand Fadenspiele, die nach dem Glauben der Eskimos wärmende Sonnenstrahlen anziehen.

Früher hatte er die Angewohnheit gehabt, in Museen in unbeobachteten Momenten abstrakte Gemälde über Kopf aufzuhängen: Er war ein häufig gesehener Besucher, weil er schauen wollte, wann die Museumsführerinnen die Veränderung bemerkten. In dem großartigen, neu errichteten Kiasma-Museum mußte er seine künstlerischen Ambitionen allerdings einstellen, weil man zur elektronischen Überwachung der Bilder übergegangen war.

Etwas später lernte Inai ihren Vater kennen und verbrachte danach regelmäßig einen Teil ihrer Ferien in Helsinki. Sie ernährte sich dort von lihapiirakka mit Elchfleisch und Beerenvodka, hatte mit etwas Finnisch auch die Bedeutung von sisu und mökki hullu gelernt und dabei eine leicht gedehnte nordische Sprechweise angenommen.

Als Österreicherin im Herzen blieb sie dennoch diesen väterlichen Wurzeln treu, die ihr Denken und manche Angewohnheiten auf nützliche, soziale Weise ergänzten.

Der Hund hingegen, opportunistisch wie alle Straßenköter, war nur sich selber treu. Er hatte gelernt, daß die meisten Touristen spät mit viel Retsina oder Bier im Blut und einem Ouzo auf Kosten des Hauses aus den Tavernen kamen und ihn streicheln wollten. Er hatte gelernt, daß sie ihm beim nächsten Mal Essensreste mitbrachten – und danach wieder: Fast alle Touristen blieben mehrere Nächte.

Es rentierte sich also, beim Streicheln stillzuhalten und dranzubleiben – allemal besser, als gammeligen Mist aus Mülleimern zu fressen.

Inai strich ihm flüchtig über den Kopf. Er zeigte ihr dafür eine Leiche.

Dilettierende Dorfpolizei

Bei der Anfahrt zum Hotel war der Bus an der Polizeistation vorbeigekommen. Inai hatte die hohen hölzernen Fensterläden, die weißblauen Autos vor der Tür gesehen und kurz überlegt, was die Polizei in einem kleinen Urlaubsort wie Paleóchora wohl zu tun hat.

Gefinkelte under-cover-Aktionen austüfteln, um den Tricks der Billardkünstler im Café Atoli auf die Schliche zu kommen? Aus den Zeugen einer Hundebeißerei mit dem Telefonbuch die Wahrheit ‘rausprügeln? Durch ausgiebiges Testtrinken schwarz gebrannten Ouzo aufdecken?

„Nein“, dachte Inai, „wahrscheinlich sitzen sie wie alle unterforderten Männer einfach nur da und denken an Sex…“

Den ganzen Tag lang jankern, die Nudel zupfen und etwas heideln – allenfalls unterbrochen von Besuchen heimischer Fischer, die nachts Zigaretten aus Afrika schmuggelten und der Obrigkeit ihren Obolus ablieferten, damit die nicht zur Unzeit aufwachen und überflüssige Fragen stellten?

Doch sie hatte sich geirrt: Als sie auf der Wache einen Beamten, der leidlich gut Englisch sprach, überreden konnte, ihr zum Strand zu folgen, und als sie zu der Stelle kamen, wo der Hund ihr die Hand gezeigt hatte, trafen sie auf eine kleine Gruppe von Polizisten, Einheimischen und Touristen, die in der Sonne gedöst hatten, bis sie die Sirene des nahenden Polizeiautos aus ihren Träumen riß – endlich Abwechslung vom tristen Urlauberdasein.

Einer hielt einen künstlichen Unterarm hoch: Aus dem Ende baumelten bunte Drähte. An dem ledernen Verbindungsstück, mit dem eine Prothese am Oberarm befestigt wird, klebte Sand – kein Blut.

Inai fiel auf, daß die Umstehenden wie sie selber eher ungläubiges Staunen als Ekel empfanden. Sie drängelte sich nach vorn, wollte alles genau sehen: Wie konnte sie nur auf den Gedanken kommen, eine Leiche gefunden zu haben? Sie war erleichtert.

Die Polizisten verstauten das Fundstück grade in einem Plastiksack. Da sie kein Griechisch sprach und im Urlaub bisher nur grüßen und Ja/Nein/Danke/Verzeihung zu sagen gelernt hatte, verstand sie die rege Unterhaltung der Männer nicht.

Einen, größer als die anderen, hoch aufgerichtet und schlank, mit breiten Schultern und dunklen, vollen Locken, meinte sie anhand der Zeichen an seiner Uniform als Chef der Polizei identifizieren zu können. Er hatte eine angenehme, sonore Stimme, und wenn er sprach, schwiegen die anderen. Er selbst stand ruhig daneben und erteilte unaufgeregt Anweisungen, eine Hand in der Tasche, die Beine fest nebeneinander placiert, eine Zigarette locker im Mundwinkel.

Er kam erst in Bewegung, als er den Tschick aus dem Mund nahm, sich umdrehte und mit schwungvollen Schritten zu einem der Polizeiwagen ging – nicht ohne Inai einen kurzen, scharfen Blick zuzuwerfen.

„Sexiest man alive in Crete“, dachte sie, „mit Gosling und McConaughey kann der locker mithalten.“

Schwarze, wache Augen, von buschigen Augenbrauen überschattet, ein einprägsames Gesicht mit markanten, aber freundlichen Zügen, am Gelenk eine aparte flache Uhr ohne Ziffern, keine Krawatte, glänzende schwarze Schuhe. Die Uniform saß wie maßgeschneidert – an den Bügelfalten hätte man eine Kokosnuß aufschlagen können.

Ihr fiel auf, daß er weder eine Waffe noch sonstiges respektheischendes Geraffel am Gürtel trug: Er kam wohl ohne solche Machtinsignien aus – oder er war Nahkampfspezialist und konnte Gscherte mit einem Kamm in Schach halten.

„Nicht schlecht“, schoß ihr durch den Kopf, „ob ich den wohl wiedersehe?“ Es mußte ja nicht grade bei einem Alkoholtest sein.

Inais amouröses Suchraster begann bei tertiären Geschlechtsmerkmalen wie eleganten Händen, Radlerwaden, kunstvoll zerzausten Haaren, einem offenen, ungekünstelten Lächeln und Grübchen an mehr als nur einer Stelle.

Rasiermesserfrisuren oder Yul-Brynner-Schädel mit einer schiechen Knochenlandschaft unter der Kopfhaut, Tattoos und Piercings waren bei ihr völlig abgesagt – harte Zeiten für verbrunzte Fußballstars und Rapper in Inai Land: Diesen g’scherten Futkarlis blieben leider nur die Fetznschädel mit Schmähduttln: Inais Wortschatz für derartige Zeitgenossen war breit gepflastert, allerdings humorvoll und nie böse gemeint.

Die übrigen Polizisten blieben noch und unterhielten sich angeregt – vielleicht war Inais Einschätzung ihres Arbeitsanfalls doch nicht ganz falsch gewesen? Ein heiteres Gespräch – man hatte keine Leiche gefunden, nicht einmal ein Stück davon, nur ein Ersatzteil.

Nachdem sich die Gruppe aufgelöst hatte, wandte Inai sich dem Meer zu und blickte auf das Wasser, in dem sich die tiefstehende Abendsonne gleißend spiegelte: Deswegen war sie hergekommen. Leichen hatten auf ihrer Urlaubs-to-do-Liste ganz unten gestanden – auf der Rückseite des Zettels.

Tausende kleiner Wellen, die das Sonnenlicht brachen und in Farbschattierungen von lichtem Türkis bis schwärzlichem Blau aufblitzten, in der Mitte weiß glänzend.

Sie ließ den Blick schweifen: Eine weitgezogene Bucht, auf der Straße entlang des Strandes ein uriger grüner Wohnwagen und ein paar geparkte Autos, außer dem altmodisch flach gebauten Dorf keine weiteren Ansiedlungen zu sehen, in der Ferne eine auffällige schräge Ebene, vielleicht Sonnenkollektoren oder Gewächshäuser, dann das Meer – bis nach Malta, bis Afrika.

Ihre Zehen fühlten den warmen Strand.

„Seltsam“, sie runzelte die Stirn, „dieser Sand, entweder im lang geplanten Urlaub – oder in der Sahara, nach einem Tag ohne Wasser: Derselbe Stoff, und doch so unterschiedlich, Himmel oder Hölle, je nachdem, wo man grad‘ steht und wie’s einem geht. Wo liegt da die Grenze?“

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf: Es hatte kluge Leute gegeben, die zwischen Paradies und Orkus nicht unterschieden – keine Trennlinie erkennbar.

Ihr Freund, der Streuner, tauchte links von ihr auf und kam langsam auf sie zu, nicht ohne einen Abstecher zu jedem Mistkübel zu machen. Sie sah ihm bei seiner bedächtigen Annäherung zu. Einige Meter vor ihr schaute er auf, spitzte die Ohren, wedelte kaum merklich mit seinem langen Schweif und kam auf sie zugelaufen.

Inai kniete sich in den warmen Sand und kraulte ihn ein wenig. Ihr fiel eine Zeitschrift für Hundefreunde mit dem Titel Kot & Köter ein: „Grandioser Name“, war ihr professionelles Urteil.

Sie wollte nicht mehr an den eigenartigen Fund denken, nicht mehr über die Herkunft der Prothese grübeln.

Alsdann – Neustart in den Urlaub.

Nochmal von vorn

Sie strich dem Tier ein letztes Mal über den Kopf und fragte: „Was meinst Du: Duschen und Umziehen oder gleich in‘s Dorf und ein erstes Urlaubsglasl?“

Der Köter versagte kläglich.

Sie entschied sich für den Drink und machte sich auf den Weg, vorbei an dem kleinen Supermarkt, an einigen spärlich besetzten Restaurants und Cafés auf der Hauptstraße, an Geschäften, die noch geschlossen waren: Sie würden wieder öffnen, wenn es nicht mehr so heiß war, und Touristen, die jetzt noch am Strand lagen, durch die Straßen mäanderten, um einzigartige Erinnerungspreziosen und Mitbringsel von unschätzbarem Wert zu kaufen.

Inai hatte vor zwei Jahren aufgehört zu rauchen. Doch heute erschien es ihr völlig normal, im Kiosk ein Päckchen Zigaretten zu kaufen: „Urlaub ist Ausnahmezustand.“

Sie war nicht sicher, ob sie sich überhaupt eine anzünden würde, aber bereit sein ist alles. Ihr berufliches Leben in Wien war so rational durchstrukturiert, daß sie wie als Zeichen stillen Widerstands gelegentlich total sinnlose Dinge tun wollte – eher eine Bestätigung, noch nicht völlig vom Alltag und ihrer fordernden Umwelt einvernommen zu sein: „Eine rauchende Nichtraucherin – paßt.“

Gemächlich setzte sie ihren Weg fort. Am Corali, einer Taverne auf der Hafenseite, hielt sie inne, studierte die Karte und suchte sich einen Tisch am Rand mit Blick auf‘s Meer.

Nachdem sie einen halben Liter Retsina bestellt und den ersten Schluck aus der kühlen Kupferkanne getrunken hatte, seufzte sie laut, atmete einige Male tief ein und aus – „chi gong für Arme“, wie sie es nannte: Vertreibt dunkle Gedanken über Leichenteile und hilft zu entspannen.

„Corali?“ Sie ließ den Blick über die Papiertischdecke und den schlichten Brotkorb aus Blech wandern: „Das ist doch kein griechisches Wort?“

Familienrestaurant seit 1977 stand auf dem Schild, das über ihr im Wind schaukelte.

Korallenriffs, Corelli-Variationen und Kirchenchoräle, Lewis Carroll, cowboy corrals, Carole King, Corellis Mandoline – Namen, Farben, Bilder und Töne schwirrten ihr durch den Kopf, jederzeit eine wilde Assoziationsmühle: „Das hätte Zettel‘s Träumer sicher gefallen…“

Ihr fielen die Zigaretten in ihrer Tasche ein: Umständlich öffnete sie die Packung und band aus der Cellophanfolie eine kleine Schleife, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den ersten Zug tief wie ein Feuerwehrmann, der grade Drillinge aus einem brennenden Hochhaus gerettet hat. Absichtlich ließ sie sich für jeden Handgriff viel Zeit: Urlaub.

Sie widmete sich ihrem Essen, hing ihren wirbelnden Fantasien nach und spürte lange gar nicht, daß jemand sie offenbar beobachtete. Inai versuchte zu orten, woher diese Blicke kamen.

„Wer ist das?“ Sie war sich sicher, daß jemand sie von hinten intensiv ansah – allerdings unklar, ob von nah oder fern.

Noch bevor sie sich unauffällig umschauen konnte, fiel ein Schatten auf ihren Tisch, und eine ruhige Stimme, die sie heute schon einmal gehört hatte, sagte etwas auf Griechisch zu ihr.

Sie blickte hoch und sah sich in den wachen Augen des Polizeichefs gefangen: Sie zwinkerte und schüttelte stumm den Kopf.

Auf seinem Gesicht erschienen kleine Lachfältchen, und der Grieche fragte sie in akzentreichem Englisch:

„Hallo! Woher kommen Sie?“ Zwei Reihen strahlend weißer Zähne – und Grübchen...

Als sie ihm einladend ihre Hand entgegenstreckte und auf den leeren Stuhl neben sich wies, bemerkte sie aus dem Augenwinkel den Hund – an die Hecke gekauert, abwartend, still. Er war ihr gefolgt, lag einfach da.

„Eine elegante Hand hat sie“, dachte der Alte.

Er fokussierte das Objektiv des Fernrohrs: „Schlank, aber sehnig, mit feinen Adern auf dem Handrücken: Eine Hand, die zupacken kann – notfalls auch zuschlägt?“

Er nahm sich vor, es besser nicht dazu kommen zu lassen.

„Und Hauptmann Stephanopoulos – kariólis. Macht sich an jede hübsche Frau im Dorf ‘ran.“

Böse Bomben

Der Alte spuckte wütend über das Geländer seines Balkons, auf dem er das Dreibein mit einem lichtstarken Teleskop aufgestellt hatte. Er haßte den Polizeichef mit allen Fasern seines malträtierten Körpers: „Kolotripida – auch ein Teil dieses verdammten Systems.“

Aber er war klug genug, es nie zu einer persönlichen Konfrontation kommen zu lassen. Er wußte, daß es Akten über ihn gab: Gut, daß er das Fernrohr hatte.

Das Gerät stammte aus den Erträgen einer kleinen Schieberei vor sieben Monaten: Ein betuchter Unternehmer aus Chaniá war mit seiner üppigen Geliebten nach Paleóchora gekommen und hatte seinen weißen Lexus in der Eile am Straßenrand stehengelassen – sexueller Notstand sticht sicheres Parken.

Am nächsten Morgen fehlte ihm die Sound- und Videoanlage mit acht Boxen und drei Bildschirmen, das Navigationssystem sowie das Satellitentelefon.

Zwar waren von den beiden belgischen Junkies, die der Alte mit dem Bruch beauftragt hatte, die Chromschienen des Steuerungsteils etwas zerkratzt worden. Dennoch konnte die Elektronik eine ordentliche Stange Geld bringen.

Der Alte mußte aber nicht nach einem Abnehmer suchen: Mohammed Khomali, sein Geschäftspartner in Algier, mit dem er die meisten seiner Lieferungen aus Afrika abwickelte, war über die Anlage sichtlich erfreut gewesen und hatte sich mit dem Teleskop revanchiert.

Der Alte hatte seine Ohren in allen Büros, Tavernen und Kafenions im Ort: Von der Hand am Strand erfuhr er noch vor der Polizei, machte sich seinen Reim darauf und rief den Mann in Algier an.

Mit dem Fernrohr war er nun in der Lage, die Nachbarschaft, Gassen und Plätze unterhalb seines Hauses zu überwachen. Wenn er auf‘s Dach stieg, konnte er auch die höher liegenden Stockwerke einsehen. Die Penthousewohnung von Stephanopoulos war sein erstes Ziel gewesen.

Doch nun saß der Dreckskerl dort unten und redete mit einer Unbekannten. Der Alte hatte sie noch nie im Ort gesehen. Sie mußte grade erst angekommen sein, sicher eine neue Touristin, die sich am Ende der Saison erholen wollte.

„Kluge Frau“, bemerkte der Alte.

„Kluge Frauen mit kräftigen Händen sind gefährlich“, dachte er und inspizierte den Rest ihres Äußeren.

Sein Handy vibrierte: Eine dunkle, heisere Stimme, die er seit vielen Jahren kannte, sprach in ruhigen, klaren Sätzen zu ihm.

Er antwortete in einem Gemisch aus Türkisch, Griechisch und Englisch: „Freut mich – wann genau – und wie lange – mit wem kommst Du – geht klar – hast Du besondere Wünsche – OK – gute Reise.“

Er memorierte die knappen Antworten des Anrufers. Schön, wenn man sich auskannte, wenn man mit Leuten schon so lange arbeitete, daß eigentlich alles gesagt war.

Er schätzte es, wenn seine wichtigen Geschäftspartner sich ab und zu persönlich sehen ließen: Orhan Kasapcioglu, seinen Drogenlieferant aus Antalya zu Gast zu haben, war eine vertrauensbildende Maßnahme. Vertrauen – wie weit reichte das schon in seiner Welt?

„Man zahlt bar, man liefert gute Ware und hält sich präzise an Abmachungen“, überlegte er, „man ist pünktlich und ernsthaft, man revanchiert sich für Unterstützung und redet nie mit der Polizei – niemals.“ Falls doch, war man tot, früher oder später, auf die eine oder andere Weise.

Vertrauen war nur eine Seite der Münze – auf der anderen Seite stand Furcht. Beides mußte in der Balance sein: Wenn man diese Münze warf, fiel sie nie auf eine Seite, sie blieb immer senkrecht stehen.

Und darüber hinaus? Sonst gab es kein Vertrauen, eher Treue – aber nicht Treue im herkömmlichen Sinne, mehr eine Gewohnheit, auf wen man sich verlassen konnte, gewachsen aus langjähriger Erfahrung und Hilfe in eckigen Situationen, die allmählich Sicherheit schuf.

„Diese Worte kommen einem bekannt vor, aber die Bedeutung ist völlig fließend, je nachdem, an welchem Flußufer man steht“, grübelte er.

Der Alte verlor sich in Gedanken, schüttelte irritiert den Kopf: Er würde Kasapcioglu und dessen Freundin in seinem Haus empfangen. Sie könnten unter seinem Dach schlafen: Kein Hotel, keine Öffentlichkeit – es gab bei ihm genügend Platz.

„Na gut, noch etwas Zeit bis zu ihrer Ankunft.“

Er würde sich für die Beiden eine angemessene Begrüßungsfeier einfallen lassen. Abrupt wandte sich der Alte wieder dem Fernrohr zu.

Nur selten ließ er sich auf der Straße sehen: Ein betagter Kreter mit hängenden Schultern, klein, dürr und grauhaarig, Stoppelbart, vielleicht etwas einfältig, mit nikotinvergilbten Fingern und Kleidung aus den 70er Jahren. Er sah von Ferne wie ein ärmlicher Fischer oder Olivenbauer aus, einer von Vielen – bei genauerem Hinsehen allerdings gepflegt mit hellwachen, blitzschnellen Augen, die permanent die Umgebung absuchten, jede Kleinigkeit registrierten: Ein zweibeiniges Sozialchamäleon, um ein Vielfaches klüger und gefährlicher als das Zungentier mit dem erstaunten Gesicht.

Doch sein Hinken war auffällig und der Grund, warum er sich fast nie in der Öffentlichkeit zeigte – ein leichtes seitliches Nachziehen des Beins. Niemand hätte vermutet, daß er eine Prothese unterhalb des rechten Knies trug.

Für seine Geschäfte mußte er das Haus nicht verlassen. Ansonsten versorgte ihn ein junger Verwandter mit den täglichen Einkäufen – nur das Nötigste, er lebte weitgehend anspruchslos.

Kaviar und Crémant dagegen, japanisches Rindfleisch und Sake, Foie Gras und belgische Trüffel, französische Weichkäse, ausgefallene Gewürze und italienischen Schinken für den nicht ganz so anspruchslosen Teil seines Lebens ließ er sich senden: Kulinarische Extravaganzen stellten seinen einzigen Luxus dar. Aber er hielt dabei Maß – man sah ihm den Genuß nicht an.

Seine Kochkünste und der riesige klimatisierte Keller stellten das Leventis und das Nostos in den Schatten: Am Herd entfaltete er eine Kunst, die in Präzision und Hingabe seinem kriminellen Geschäft gleichkam. Aber wie wird man zu einem Mafiosokoch?

Als junger Mann war er in den Zeiten der Militärjunta, beseelt von begrenzt tragfähigen Idealen wie Unabhängigkeit und Geilheit in den Untergrund gegangen. Er besaß die kombinierende Intelligenz eines Simultanschachspielers, war moralisch aber so orientierungslos wie ein halbierter Regenwurm.

Sein Chemiestudium in Iráklion hatte er abgebrochen und sich in kurzer Zeit bei den Rebellen in den kretischen Bergen den Ruf eines genialen Bombenbastlers erworben: Sie nannten ihn – nach dem grandiosen, aber seelenlosen Bildhauer – den Semtex-Myron.

Jede verwüstete Polizeistation, jeder zerstörte Sendemast, jeder Militärjeep, den er mit der Präzision eines irren Gehirnchirurgen in die Luft jagte, verschaffte ihm bald mehr Befriedigung als seine wilden, wollüstigen Komplizinnen im Untergrund, die immer, wenn sie nicht als Honigfalle für tumbe öffentliche Figuren fungierten, die Aufständischen beglückten, um in der Horizontalen nicht aus der Übung zu kommen.

Doch jede Explosion riß das dunkle Loch in seinem liberalen Herzen weiter auf, nährte seinen Haß auf das faschistoide Regime in Athen, statt ihm Frieden zu geben.

Dann kam der Tag, als er einen Moment lang unaufmerksam war und es mit dem Verlust seines rechten Unterschenkels bezahlte. Er hatte Glück im Unglück: Als die Polizei in dem Unterschlupf auftauchte, war er längst über einen minutiös geplanten Fluchtweg in Sicherheit und wurde von einem verbündeten Tierarzt zusammengeflickt. Das Geschäft mit Prothesen und Organen war ihm seitdem vertraut.

Die Rebellen meinten, ein Krüppel in ihren Reihen stelle ein zu hohes Risiko dar, und trennten sich von ihm. Er verlegte sich auf eine andere Art, den Staat zu schädigen: Verbrechen.

Daß eine demokratisch geprägte Regierung eines Tages die Militärjunta ablöste, war für ihn von nebensächlicher Bedeutung: So wie ein Fuchs im Hühnerstall zwischen dem ersten und zehnten Huhn keinen Unterschied macht, setzte der Alte seine Intelligenz überall ein, wo sie ihm am Fiskus vorbei zu Einnahmen verhalf. Da es in dem Ort keine organisierte Kriminalität gab, war er der Erste, die Nr. 1 – und stellte sicher, daß es auch so blieb.

Paleóchora erwies sich als perfekte Basis: Ein winziger, unauffälliger Ort ganz am Rand von Kreta – auf Capri zum Beispiel wohnten sieben Mal so viele Menschen wie hier. Hunderttausende Touristen, zumeist Ausländer, ein stetiges Kommen und Gehen… Wer behielt da schon den Überblick?

Er saß wie ein Zöllner – die waren schon bei den Römern üblich – auf der Brücke nach Nordafrika, wo es alles fast umsonst gab, was man anderswo kaum kaufen konnte: Mädchen, Sklaven, Söldner und Waffen, unlizensierte Medikamente und Software, Drogen, Nieren, Prada-Taschen, dual-use-Elektronik und Waren aller Art unter Umgehung der Einfuhrbestimmungen.

Bornierte Politiker – nützliche Idioten – schaufelten ihm haufenweise Geld in die Tasche mit unsinnigen Embargomaßnahmen, die schon bei Lord Nelson nicht funktionierten: Debile Handlanger des internationalen Schmuggels – Brandbeschleuniger, ohne es auch nur zu merken, geschweige denn mit abzukassieren...

Der Alte stellte nur ein kleines Rad in der mediterranen Mafiamaschinerie dar, aber die unscheinbare Schnittstelle Kreta lag fest in seiner Hand, kaum sichtbar und daher gefeit gegen Rivalitäten.

Ein Zehntel aller illegalen Lieferungen zwischen Afrika und Europa ging über ihn – ein perfekter Ort. Was über Zypern, Sizilien, Marseilles und Gibraltar lief, ließ ihn kalt: Dort verfuhren die Behörden auch erheblich schärfer.

Sein Geschäft kam fast ohne Personal aus, und die Rendite war bestechend: Gefragt war kriminelle Intelligenz in Form von Logistik – unangreifbar wie Helena-Muränen in ihren Felsenlöchern an der Küste, die mit exzellentem Gehör und Geruchssinn still auf vorbeidriftende Beute warten, gnadenlos zubeißen und nie wieder loslassen.

Er benutzte Dorfjungen als billige Transporteure und Boten – sein Credo war, ausschließlich mündliche Nachrichten zu verwenden. Aber die sahen ihn nie: Sämtliche Kontakte liefen über einen Vertrauten, mit dem er nachts in einer Nische an der Rückseite seines Hauses wie in einem Beichtstuhl kommunizierte.

Auch der kannte nur seine Stimme und konnte nicht herausfinden, zu welcher Adresse dieser seltsame tote Briefkasten gehörte – das Gebäude war über vier Jahrhunderte langgestreckt mit verwinkelten Kellern, Geheimgängen und kaschierten Innenhöfen angelegt worden: Selbst die Katasterbehörde besaß keine Unterlagen über die baulichen Details.

Niemand in seinem Netzwerk ahnte, wer der Alte war, aber alle wußten, daß er irgendein Druckmittel, mehr oder minder tödlich, gegen jeden in der Hand hatte: Dafür sorgten ab und zu zwei Kerle aus den Bergen – Männer für’s Grobe, die man besser nicht nach der Uhrzeit fragte, weil dann die Glocke geschlagen hätte.

Lange Linse

Der Alte schaute durch das Teleskop: Stephanopoulos turtelte wie Robbie Williams nach drei Monaten Entziehungsklinik: „Poutsokéfalos – total unterleibsgesteuert.“

Er grinste bösartig: „Kein vernünftiger Job, keine Kohle, keine Macht: Klar, daß der sich jede Touristin für eine persönliche Leibesvisitation vornimmt – die kleine Bestätigung, doch noch ein Mann zu sein.“ Aber die Frau dort unten schien mitzuspielen.

„Was, so lange arbeiten Sie hier schon? Da müssen Sie ja viel Übles gesehen haben...“ Inai hatte durch geschicktes Fragen mehr von dem schönen Polizisten erfahren, als er dachte.

„Naja, eigentlich nicht, wir haben hier in erster Linie armselige Kiffer mit permanenter Bildstörung, denen sie das Gehirn mit 90 Grad gewaschen haben, und ein paar debile Jungs, die zu viel amerikanische Filme gesehen haben: Die sind alle auf der großen Durchreise unterwegs – Endstation nicht Sehnsucht, sondern unbekannt… und ich halt‘ sie dabei nur ungern auf.“

Sie mußte über das Bild lachen: „Nanu, woher denn der Zynismus, Herr Hauptmann?“

Er legte den Kopf etwas schief: „Nur wenn sie sich dranmachen würden, die Devotionalien in der Evangelistriakirche abzuräumen oder ein Gemetzel in der Chania-Bank anzuzetteln, müßten wir das große Besteck ‘rausholen: Passiert hier aber nie.“

Dimitri verzog das Gesicht gekonnt zu einer finsteren Scarface-Miene.

Inai mochte seinen schrägen Humor und konnte gut wechseln: „Sonst könnte man ja auch in Kolumbien Urlaub machen.“

„Genau: Wir leben hier auf einem sehr ruhigen Fleckchen Erde. Nur wenn Sie viel Pech haben, werden Sie von einer Tennisballkanone erschossen.“

„Gut, daß ich Minigolf spiele“, antwortete sie und schüttelte ernst den Kopf.

Er schaute ihr einen Moment lang versonnen in die Augen: „Wir liegen hier an der Ecke von Europa, ein friedliches Niemandsland von Harmonie und Lust – Sie werden sehen…“

„Harmonie und Lust? Eine schöne Formel“, überlegte sie. „Sympathischer Typ, witzig und gar nicht dumm – vielleicht auch geschickt im Bett?“ Sie spürte die besagte Lust in sich aufsteigen und versuchte, nicht auf seine Hose zu schauen.

Manchmal machte es ihr Spaß, die bekannten Annäherungssignale gezielt manipulativ einzusetzen – ostentatives Haargefummel, herzliches Lachen über jede noch so flache Bemerkung, streichelnde Bewegungen am eigenen Körper: Die Burschn zu Hause warteten beim Flirten auf diese Zeichen, und sie vermutete, daß der Grieche sie ebenfalls kannte.

Von ihrer Mutter hatte sie solide Menschenkenntnis und handfeste Lebensklugheit geerbt – außerdem eine gewisse Angewohnheit bei neuen Bekanntschaften.

Als Dimitri vorschlug, in einer Bar noch ein Glas zu trinken, schaute sie ihm direkt in seine samtenen Augen und fragte mit einem gutturalen Gurren und etwas Sarkasmus in der Stimme: „Haben Sie denn kein Zuhause, Herr Polizeichef – oder sind da die Wände feucht?“

Stephanopoulos reagierte schnell. Das brachte sein Job mit sich, und er machte es sich leicht: „Klar, gehen wir.“

Inai erhob sich und antwortete in ihrer unkomplizierten Art: „Schön, und damit es keine Mißverständnisse gibt: Ich will nur diese eine Nacht mit Dir. Danach – schaumermal...“

Der Polizeichef war sprachlos: „Du bist wirklich die umwerfendste Frau, die ich je…“, wollte er sagen, biß sich aber auf die Lippe, legte leicht den Arm um ihre Schulter und zog sie mit in Richtung der Hauptstraße.

Der Hund sah ihnen nach, überlegte.

Türkischer Transport

Orhan Kasapcioglu sah auf die Uhr: 17:39. In vier Minuten würde er es wieder tun. Der Türke war ein control freak: Alles mußte exakt nach Plan verlaufen – nach seinem Plan. Nur deshalb war er nach zwanzig Jahren im Drogenhandel noch am Leben.

Orhan betrachtete nachdenklich seine schöne Freundin, die schlafend neben ihm lag, die üppige Figur, die kurzen nußbraunen Haare, ihr ungeschminktes ovales Gesicht mit einem entspannten, aufgeschlossenen Ausdruck, die Art, wie sie sich dezent und doch stilvoll, perfekt passend zu ihrem Typ, zu kleiden wußte – eine der zahllosen Frauen, die durch einen seltsamen Zufall nicht auf dem Titelblatt von Vogue oder Elle landeten.

Marga Schusterer arbeitete auf den SBB-Schlafwagenzügen zwischen Zürich, Wien und Istanbul. Da ihr Freund Fliegen haßte, war er nach Budapest, Genf und Basel, seinen wichtigsten Umschlagsorten für Westeuropa, immer per Zug unterwegs.

„Fliegen ist eine Aneinanderreihung von Ungewißheiten, von denen die schlimmen ausnahmslos tödlich enden“, hatte er einmal zu ihr gesagt. Der Satz hatte sie gewundert: Er wirkte auf sie keineswegs ängstlich – nicht wie jemand, der viel über sein Ende grübelt.

Marga widersprach ihm nicht. Sie dachte viel und redete wenig, ahnte nichts von dem Verderben, das sein Tun über andere Menschen brachte.

Sie hatte sich eine Woche Urlaub genommen, um mit ihrem neuen Liebhaber in Griechenland auszuspannen, und ein 1.-Klasseabteil im Schlafwagen von Sofia gebucht. Dort waren sie von einem stummen, großen Mann in schwarzem Anzug, der ganz sicher nicht zur SBB gehörte, mit Champagner, Blinis und Kaviar bewirtet worden.

Im Hafen von Piräus würde sie eine von Kasapcioglus schnellen Motoryachten abholen und über Nacht nach Kreta bringen – soweit der Plan.

Sie kannten sich erst seit wenigen Wochen, waren noch in der Phase des Kennenlernens, die der Türke im eigenen Interesse auszudehnen versuchte.

Margas Verhältnis zu ihm ähnelte einem Angler an einem norwegischen Fjord: Die Schnur reicht nur bis knapp unter die Oberfläche, aber er weiß, daß darunter viele hundert Meter nachtschwarzen Wassers liegen – kaum auszuloten.

Sie wunderte sich manchmal, wieso ein Handelsvertreter im Baustoffgewerbe – wie er sich ihr vorgestellt hatte – so teure Anzüge tragen und großzügige Geschenke mitbringen konnte. Sie wußte die Annehmlichkeiten zu schätzen, ohne sich dadurch verpflichtet zu fühlen oder von seinem Wohlstand blenden zu lassen.

Zu gegebener Zeit würde sie es schon herausfinden: „In der Türkei gibt es 30 Milliardäre und 70 Tausend Millionäre“, ging ihr durch den Kopf, „vielleicht ist er ja einer davon, oder sein Geld stammt aus einer Erbschaft.“

Sie hatte in ihrem Metier schon zu viel Unmögliches erlebt, um das Mögliche vorschnell auszuschließen: Sie hatte Hühner, Hunde und einen dressierten Affen in einer Mönchskutte durch den Zug gejagt und eingefangen.

Einmal reiste ein arabischer Geschäftsmann mit seiner deutschen Professorengattin in der 1. Klasse von Wien nach Köln. Irgendwann fiel ihnen auf, daß ihnen ihr Kind abhandengekommen war. Nachdem sie den gesamten Waggon vergeblich durchsucht hatte, stellte sich heraus, daß das Paar mit einer Nanny reiste, die allerdings in der 2. Klasse sitzen mußte – Saudi-Arabien ist eher nicht als egalitärer Brennpunkt bekannt: Der Junior, in ein silbern glitzerndes Engelskostüm gewandet, wollte offenbar lieber bei ihr als bei den Eltern sein – Marga fand ihn schließlich unter dem Sitz des Kindermädchens versteckt.

Die herbstlichen Winzerfeste boten breiten Raum für Exzesse: Fast jeden Tag verkosteten dann Fahrgäste, die schon zu Beginn der Reise kaum mehr stehen konnten, den Bordwein und taten ihn mit Kennermiene als untrinkbar ab, um dann ihre eigenen Vorräte kastenweise zu vernichten.

Viel Freude hatten ihre männlichen Kollegen mit einer Gruppe von Prostituierten aus Schottland, die auf dem Weg zu einer Erotikmesse in Budapest waren: Im Speisewagen entfachten sie heftig alkoholisiert eine Orgie, von der Pasolini geträumt hätte.

Auf einer Fahrt nach München gab ein Heldentenor seiner Mutter mit Stentorstimme per Handy Tipps, wie man die Sozialversicherung im eigenen Sinne „beeinflussen“ könnte – die peinlich berührten Mitreisenden belohnten ihn danach allerdings nicht mit standing ovations.

Bei einem Staatsbesuch von dem Inselstaat Tonga wollte der extrem übergewichtige König einen modernen SBB-Zug besichtigen, blieb aber beim Einsteigen in der Schiebetür des Waggons stecken. Während seine entsetzte Entourage nicht wußte, was zu tun sei, warf Marga sich von innen mit aller Kraft gegen den gewaltigen Bauch des Monarchen und drückte ihn zurück in die Freiheit. Dem Herrscher schien das sogar zu gefallen: Er kam dadurch in der Situation von Fleischmasse, die in eine Wurstpelle gepreßt wird – für Majestät eine ganz neue Erfahrung.

„Der Speisewagen ist die Bühne für das Inferno öffentlichen Transports“, sagte die Schweizerin oft zu Freunden: „Nirgends kommt es so häufig zu Zwischenfällen.“

Ungezählt waren die Rangeleien aus nichtigem Grund, die Hyde-Park-Reden irrer Dichter und die Jungverliebten, die sich im WC zum Vögeln einschlossen, während sich vor der Tür Kleinkinder und Senioren reihenweise in die Hose machten.

„Mich wundert, daß es in Zügen Speise- und Schlafwagen, Kleinkind- und Businessabteile, Fahrrad- und Postbereiche gibt, aber keine Gummizellen“, meinte sie im Gespräch mit Kollegen: „Der Bedarf wäre sicherlich gegeben.“ Doch Marga mochte ihren Beruf.

Sie war in einem kleinen skandinavischen Wanderzirkus aufgewachsen. Ihr Vater, ein auf Entfesselungstricks spezialisierter japanischer Zwerg, und ihre Mutter, eine hübsche Säbeltänzerin, die im Alter von Vierzehn der Einödsennerei ihrer Eltern auf einer walliser Hochalp entkommen war, hatten ihr außer Reiselust und einer ungewöhnlichen Sprachbegabung nichts vererbt.

Als ihre Mutter auf einer Tour in Polen mit einem bisexuellen arabischen Schlangenmenschen für immer verschwand, trieb der Kummer ihren Vater so weit, daß er eines Nachts nackt, von Kopf bis Fuß mit Hühnerblut beschmiert, in den Tigerkäfig stieg und nicht mehr herauskam.

Später überlegte sie oft, ob ihre Eltern eigentlich eine glückliche erotische Beziehung geführt hatten – vielleicht war der Araber ja nur eine Impulshandlung gewesen. Bei ihren Erzeugern gab es weder Streit noch Zärtlichkeiten, nie einen Kuß oder auch nur eine Umarmung in ihrem Beisein, selbst für die Tochter keinerlei fürsorgliche Gesten oder liebevolle Berührungen: Doch das war rückblickend keineswegs positiv zu werten.

Ihre sexuelle Aufklärung mußte sie sich als Teenager mühsam – mit viel Versuch und Irrtum – auf der Straße erarbeiten: Sie hatte damals nur eine vage Vermutung über den Unterschied zwischen Liebe und Sex, was erstere wirklich bedeutet, und wie man letzteren macht.

Der Zirkusdirektor der Wolgafee, ein liebenswerter Norweger, der nie aus seinem Lebenstraum aufgewacht war, wollte der kleinen Marga den Unfall ihres Vaters mit einem uralten Ritual aus Haiti erklären.

Sie hatte ihm aber nicht geglaubt, war fortgelaufen, nach fürchterlichen Jahren in Waisenhäusern, ziellosen Reisen und Kurzzeitjobs letztlich als Übersetzerin an der Wall Street gelandet: Sie glich einem rastlosen Paradiesvogel in einem Hopper-Gemälde, der sich nach der bourgeoisen Normalität bei Rockwell sehnt.

An einem Ort, in dem es immer um Geld und nie um Liebe geht, versuchte Marga, eine Existenz aufzubauen. Aber selbst mit dem Salär von Nomura und vier Nebenjobs als off-Broadway-Statistin, als dog walker an der Upper West Side, als Kellnerin in einer Gothicbar in Tribeca und gelegentlich als bezahlte Begleiterin für ausländische Diplomaten konnte sie eine winzige Wohnung in Manhattan und regelmäßige Mahlzeiten kaum finanzieren.

Schlimmer jedoch war die unvorstellbare Kälte auf dem Beziehungsmarkt in dieser faszinierenden Stadt.

„Eine TV-Serie mit dem Titel Love and the City hätte hier nie eine Chance gehabt“, sagte sie zu Freundinnen gelegentlich im Scherz: „In New York werden zwar ab und zu Kinder geboren, aber nur durch Zufall gezeugt.“

„Richtig – hier wird zur Seite gesprungen, sexuell belästigt, casual gesext und philanderisiert, aber nie Liebe gemacht“, stimmten ihr die anderen housewives ziemlich desperate zu.

„… und für ein bißchen Romantik muß man Friends sehen“, ergänzte sie lachend.

Eines Tages kehrte sie daher nach Europa zurück und bewarb sich bei der SBB. Hier traf sie Orhan und verliebte sich in seine dunkle, heisere Stimme – sein penibel gepflegtes Äußeres, die mittelgroße, aufrechte, muskulöse Statur und das ruhige, konzentrierte Gesicht mit dunklem Teint und wachen Augen spielten dabei keine Rolle.

Er gab ihr ohne zu fragen die Liebe, der sie dreißig Jahre lang nachgelaufen war. Sie nahm sie – ebenfalls ohne Fragen.

Der Türke wußte dies sehr zu schätzen. Schöne Frauen hatten in seinem Metier denselben Stellenwert wie teure Gemälde: Sie signalisierten den Geschäftspartnern, daß es gut lief, waren wie Zimmerpflanzen im Hintergrund präsent, jederzeit austauschbar, ansonsten egal. Man streichelte seinen Rubens nicht, aber wenn ein anderer die Finger nach ihm ausstreckte, hackte man sie ihm ab. Wenn es wichtig war, gab man seinen Hirst vielleicht an einen Geschäftspartner weiter. Es bestand keine Notwendigkeit, seinem Koons treu zu sein – allein schon wegen der zahllosen Kopien von dessen Werken.

In seinem Geschäft hatte der Begriff Beziehung keinerlei private Bedeutung: „Wenn Du menschliche Wärme brauchst, geh‘ auf‘s Klo und sprich mit dem Händetrockner“, riet er einem eher halbgaren Gangmitglied.

---ENDE DER LESEPROBE---