Schmetterlinge im Gepäck - Stephanie Perkins - E-Book

Schmetterlinge im Gepäck E-Book

Stephanie Perkins

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Beschreibung

Klopfende Herzen in San Francisco!

Lolas Leben ist nicht nur außergewöhnlich, sondern auch ziemlich toll: Sie lebt mit ihren zwei Vätern in San Francisco, zieht jeden Tag ein anderes ausgeflipptes Outfit an und hat einen coolen Rockmusiker als Freund! Doch als auf einmal ihre ehemaligen Nachbarn nach zwei Jahren Abwesenheit wieder in das Haus nebenan ziehen, steht ihre Welt Kopf. Denn nicht nur hat ihr Calliope damals die Freundschaft gekündigt, sondern vor allem ist deren Zwillingsbruder Cricket der Junge, der Lola vor zwei Jahren das Herz gebrochen hat …

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Seitenzahl: 419

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DIE AUTORIN

© Destinee Blau

Stephanie Perkins, geboren in North Carolina, ist in Arizona aufgewachsen und hat in San Francisco und Atlanta studiert. Sie hat schon immer mit Büchern gearbeitet – erst als Buchhändlerin, dann als Bibliothekarin und jetzt als Autorin. Sie liebt spannende Abenteuer, Mocca Latte, Märchen, laute Musik, Nachmittagsschläfchen und Küssen.

Weitere lieferbare Titel bei cbj:

Herzklopfen auf Französisch

Stephanie Perkins

Schmetterlinge

im

Gepäck

Aus dem Englischen

von Stefanie Mierswa

cbj

ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random HouseDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Februar 2014

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2011 by Stephanie Perkins

Published by Arrangement with Stephanie Perkins

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

»Lola and the Boy Next Door« bei Dutton Books,

a member of the Penguin Group (USA), Inc., New York

© 2014 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbj Verlag in der Verlagsgruppe Random House,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,

30827 Garbsen.

Übersetzung: Stefanie Mierswa

Umschlagbild: Gettyimages/Buero Monaco;

Shutterstock/Andrew Zarivny

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

kg · Herstellung: CZ

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-10733-8V002

www.cbj-verlag.de

Für Jarrod,

bester Freund & wahre Liebe

Kapitel eins

Ich habe drei schlichte Wünsche. Die sind wirklich nicht zu viel verlangt.

Der erste ist, angezogen wie Marie Antoinette zum Winterball zu gehen. Ich will eine so kunstvolle Perücke, dass ein Kanarienvogel darin wohnen könnte, und ein richtig breites Kleid, mit dem ich den Ballsaal nur durch eine Flügeltür betreten kann. Wenn ich ankomme, werde ich aber meine Röcke ganz hochhalten, damit jeder die Springerstiefel mit Plateau sehen kann und weiß, dass ich unter den ganzen Rüschen eine harte Punkfrau bin.

Der zweite ist, dass meine Eltern meinen neuen Freund akzeptieren. Sie hassen ihn. Sie hassen seine blondierten Haare mit den ständigen dunklen Ansätzen und seine Arme, die von oben bis unten mit Spinnweben- und Stern-Tattoos bedeckt sind. Sie behaupten, er habe eine herablassende Art und würde nicht lächeln, sondern selbstgefällig grinsen. Sie haben es satt, dass seine Musik aus meinem Zimmer dröhnt, und sie sind es leid, darüber zu diskutieren, wann ich zu Hause sein soll, wenn ich zu den Konzerten seiner Band gehe.

Und mein dritter Wunsch?

Die Bell-Zwillinge niemals wiederzusehen. Nie nie nie.

Aber ich würde viel lieber über meinen Freund sprechen. Mir ist schon klar, dass es nicht cool ist, sich zu wünschen, dass die Eltern den Freund gut finden. Aber mein Leben wäre so viel einfacher, wenn sie sich damit abfinden würden, dass Max nun mal derjenige welche ist. Keine peinlichen Einschränkungen mehr, keine stündlichen Kontrollanrufe bei Verabredungen und – das Beste von allem – keine Sonntagsbrunchs.

Keine Morgen wie dieser.

»Noch eine Waffel, Max?«

Mein Vater Nathan schiebt den goldenen Stapel über unseren antiken Bauerntisch zu meinem Freund hinüber. In Wirklichkeit ist es keine Frage, sondern ein Befehl, damit meine Eltern ihr Verhör fortsetzen können, bevor wir gehen. Unsere Belohnung dafür, dass wir das über uns ergehen lassen? Eine entspanntere Sonntagnachmittags-Verabredung mit weniger Kontrollen.

Max nimmt sich zwei und dazu den hausgemachten Himbeer-Pfirsich-Sirup. »Danke, Sir. Unglaublich lecker, wie immer.« Er gießt den Sirup ganz vorsichtig auf die Waffel, einen Tropfen in jedes Quadrat. Obwohl es vielleicht nicht den Anschein hat, ist Max ein vorsichtiger Mensch. Deshalb trinkt er samstagabends keinen Alkohol und kifft auch nicht. Er will nicht verkatert aussehen, wenn er zum Brunch kommt, denn natürlich halten meine Eltern genau danach Ausschau. Nach Beweisen für Zügellosigkeit.

»Dank Andy.« Nathan deutet mit dem Kopf zu meinem anderen Dad hinüber, der von unserem Haus aus eine Konditorei betreibt. »Er hat sie gebacken.«

»Köstlich. Vielen Dank, Sir.« Max lässt keine Gelegenheit aus. »Hattest du genug, Lola?«

Ich strecke mich, und die Plastikarmreifen an meinem rechten Arm, die den ganzen Unterarm bedecken, klackern aneinander. »Ja, vor ungefähr zwanzig Minuten. Komm schon«, wende ich mich bettelnd an Andy, der noch am ehesten dafür infrage kommt, uns früh zu entlassen. »Können wir jetzt nicht gehen?«

Er zwinkert unschuldig. »Noch etwas Orangensaft? Omelett?«

»Nein.« Ich kämpfe dagegen an, von meinem Stuhl runterzurutschen. Das sieht nämlich unattraktiv aus.

Nathan pikt in eine weitere Waffel. »Und, Max. Wie geht’s den Zählerständen?«

Wenn Max gerade kein Indiepunk-Garagenrockgott ist, arbeitet er bei der Stadt San Francisco. Es ärgert Nathan, dass mein Freund nicht studieren will. Doch er kapiert einfach nicht, dass Max absolut brillant ist. Er liest komplizierte Philosophiebücher von Autoren, deren Namen ich nicht mal aussprechen kann, und guckt sich haufenweise kritische Politiksendungen im Fernsehen an. Ich würde jedenfalls keine Debatte mit ihm anfangen.

Max lächelt höflich und seine dunklen Augenbrauen gehen einen Tick nach oben. »Genauso wie letzte Woche.«

»Und der Band?«, erkundigt sich Andy. »Sollte da nicht irgend so ein Plattenfuzzi am Freitag kommen?«

Mein Freund runzelt die Stirn. Der Typ vom Label hat sich nicht blicken lassen. Max erzählt Andy stattdessen das Neueste über das bald erscheinende Album von Amphetamine, während Nathan und ich finstere Blicke tauschen. Mit Sicherheit ist mein Vater enttäuscht, weil er mal wieder nichts gefunden hat, was er Max vorwerfen könnte. Außer der Sache mit dem Alter natürlich.

Denn das ist der wahre Grund, weshalb meine Eltern Max hassen.

Weil ich siebzehn bin und mein Freund zweiundzwanzig.

Aber ich glaube fest daran, dass das Alter keine Rolle spielt. Außerdem sind es nur fünf Jahre und das ist viel weniger als der Altersunterschied zwischen meinen Eltern. Allerdings hat es keinen Zweck, sie darauf hinzuweisen oder sie daran zu erinnern, dass mein Freund genauso alt ist, wie Nathan war, als meine Eltern zusammenkamen. Das regt sie nur auf. »Ich war vielleicht so alt wie er, aber Andy war schon dreißig«, sagt Nathan dann immer. »Kein Teenager. Außerdem hatten wir beide vorher mehrere andere Beziehungen und haben viel Lebenserfahrung gesammelt. Man kann sich nicht Hals über Kopf in so was hineinstürzen. Man muss vorsichtig sein.«

Aber sie haben anscheinend vergessen, wie es ist, jung und verliebt zu sein. Klar kann ich mich Hals über Kopf in so was hineinstürzen. Bei jemandem wie Max wäre ich doch blöd, wenn ich das nicht täte. Meine beste Freundin findet es wahnsinnig lustig, dass meine Eltern so streng sind. Sollte nicht gerade ein schwules Pärchen nachvollziehen können, wie reizvoll ein sexy und leicht gefährlicher Freund sein kann?

Das ist leider so weit von der Realität entfernt, dass es wehtut.

Es spielt auch keine Rolle, dass ich die perfekte Tochter bin. Ich trinke nicht, nehme keine Drogen und habe noch nie geraucht. Ich habe nicht ihr Auto zu Schrott gefahren – ich besitze nicht mal einen Führerschein, also müssen sie auch keine hohen Versicherungsprämien zahlen – und ich habe einen vernünftigen Job. Ich bekomme gute Noten. Okay, außer in Biologie, aber ich habe mich aus Prinzip geweigert, den Schweinefötus zu sezieren. Und ich habe nur ein Loch in jedem Ohr und keine Tätowierung. Bis jetzt. Es ist mir nicht mal peinlich, meine Eltern in der Öffentlichkeit zu umarmen.

Außer wenn Nathan beim Joggen ein Schweißband trägt. Weil – also echt.

Ich räume mein Geschirr ab in der Hoffnung, die Sache ein wenig zu beschleunigen. Heute fahren Max und ich an einen meiner Lieblingsorte, den Japanischen Teegarten, und danach bringt er mich pünktlich zur Abendschicht zur Arbeit. Und dazwischen verbringen wir hoffentlich etwas wertvolle Zeit in seinem 64er Chevy Impala.

Ich lehne mich an die Arbeitsplatte in der Küche und träume von Max’ Auto.

»Ich bin bloß schockiert, dass sie nicht ihren Kimono trägt«, sagt Nathan.

»Was?« Ich hasse es, wenn ich geistig abwesend bin und dann merke, dass man über mich geredet hat.

»Chinesischer Pyjama im Japanischen Teegarten«, fährt er fort und zeigt auf meine rote Seidenhose. »Was werden da die Leute denken?«

Ich glaube nicht an Mode, sondern an Verkleidung. Das Leben ist zu kurz, um jeden Tag dieselbe Person zu sein. Ich verdrehe die Augen, um meinen Eltern zu zeigen, dass ich ihr Verhalten total blöd finde.

»Unsere kleine Dragqueen«, sagt Andy.

»Öfter mal was Neues.« Ich schnappe mir seinen Teller und schütte die Essensreste in Betsys Fressnapf. Ihre Augen treten aus den Höhlen und sie verschlingt die Waffelstückchen mit einem einzigen großen Bissen.

Betsys voller Name lautet Heavens to Betsy und wir haben sie vor ein paar Jahren vor Hundefängern gerettet. Sie ist ein Mischling, gebaut wie ein Golden Retriever, aber mit schwarzem Fell. Ich wollte einen schwarzen Hund, denn Andy hat mal einen Zeitschriftenartikel ausgeschnitten – er schneidet ständig irgendwelche Artikel aus, in denen es normalerweise um Teenager geht, die an einer Überdosis sterben, Syphilis kriegen oder wegen einer Schwangerschaft die Schule schmeißen müssen –, in dem stand, dass schwarze Hunde immer als Letzte im Tierheim ausgesucht und daher häufiger eingeschläfert würden als andere Hunde. Rassismus bei Hunden, würde ich sagen. Betsy ist eine Seele von einem Hund.

»Lola.« Andy hat sein ernstes Gesicht aufgesetzt. »Ich war noch nicht fertig.«

»Dann hol dir doch einen neuen Teller.«

»Lola«, sagt Nathan streng und ich gebe Andy einen neuen Teller. Ich fürchte schon, dass sie mir vor Max eine Szene machen, als sie merken, dass Betsy um noch mehr Waffeln bettelt.

»Nein«, sage ich zu ihr.

»Warst du heute schon mit ihr draußen?«, fragt mich Nathan.

»Nein, aber Andy.«

»Ja, aber das war, bevor ich mit dem Kochen angefangen habe«, sagt Andy. »Die nächste Runde steht an.«

»Wie wär’s, wenn du einen Spaziergang mit ihr machst, während wir mit Max zu Ende essen?« Wieder ein Befehl und keine Frage.

Ich werfe Max einen Blick zu, und er schließt die Augen, als könnte er nicht glauben, dass sie schon wieder diese Nummer abziehen. »Aber, Dad …«

»Kein Aber. Du wolltest den Hund haben, du gehst mit ihm raus.«

Das ist einer von Nathans nervigsten Sprüchen. Heavens to Betsy sollte eigentlich mir gehören, aber sie besaß die Frechheit, sich ausgerechnet in Nathan zu verlieben, was Andy und mich ohne Ende ärgert. Wir sind es nämlich, die mit ihr rausgehen und sich um ihr Fressen kümmern. Ich greife nach den biologisch abbaubaren Beuteln und ihrer Leine, die ich mit Herzen und russischen Matrjoschkas bestickt habe, und sie flippt sofort aus. »Ja, ja, wir gehen ja schon.«

Ich werfe Max noch einen reumütigen Blick zu und dann sind Betsy und ich auch schon zur Tür hinaus.

Es sind einundzwanzig Stufen von unserer Veranda bis zum Bürgersteig. Egal, wohin man in San Francisco geht, man hat überall mit Stufen und Hügeln zu tun. Es ist ungewöhnlich warm draußen, deshalb trage ich ein Tanktop zu meiner Pyjamahose und den Plastikarmreifen. Außerdem meine riesige weiße Jackie-O-Sonnenbrille, eine lange brünette Perücke mit smaragdgrünen Spitzen und schwarze Ballettschuhe. Und ich meine echte Ballettschuhe, keine Ballerinas, die nur wie Ballettschuhe aussehen.

Mein Neujahrsvorsatz war, nie mehr zweimal das gleiche Outfit zu tragen.

Die Sonne fühlt sich gut an auf meinen Schultern. Es spielt keine Rolle, dass August ist, denn durch die Bucht ändert sich die Temperatur das ganze Jahr über nur wenig. Es ist immer kühl. Heute bin ich dankbar für das sonderbare Wetter, denn es bedeutet, dass ich keinen Pullover zu meiner Verabredung mitnehmen muss.

Betsy pinkelt wie immer auf das winzige rechteckige Rasenstück vor dem lavendelblauen viktorianischen Haus nebenan, was ich absolut in Ordnung finde, und wir ziehen weiter. Trotz meiner nervigen Eltern bin ich glücklich. Ich habe ein Date mit meinem Freund, super Arbeitszeiten mit meinen Lieblingskollegen und noch eine Woche Sommerferien.

Wir wandern den mächtigen Hügel hinauf und wieder hinunter, der unsere Straße vom Park trennt. Als wir ankommen, begrüßt uns ein koreanischer Herr in einem Trainingsanzug aus Nickistoff. Er macht gerade Tai-Chi zwischen den Palmen. »Hallo, Dolores! Wie war dein Geburtstag?« Mr Lim ist der einzige Mensch außer meinen Eltern (wenn sie wütend sind), der mich bei meinem richtigen Namen nennt. Seine Tochter Lindsey ist meine beste Freundin; sie wohnen nur ein paar Straßen von uns entfernt.

»Hi, Mr Lim. Es war himmlisch!« Mein Geburtstag war letzte Woche. Ich bin immer die Erste in meinem Jahrgang, was ich super finde. Es verleiht mir eine zusätzliche Reife. »Wie läuft’s im Restaurant?«

»Sehr gut, danke. Diese Woche wollen alle Rinder-Galbi essen. Tschüs, Dolores! Viele Grüße an deine Eltern.«

Der Alte-Dame-Name kommt daher, dass ich nach einer benannt wurde. Meine Urgroßmutter Dolores Deeks starb ein paar Jahre vor meiner Geburt. Sie war Andys Großmutter und sie war fantastisch. Die Art Frau, die Hüte mit Federn dran trug und bei Bürgerrechtsprotesten mitmarschierte. Dolores war außerdem der erste Mensch, vor dem Andy sich outete. Da war er dreizehn. Sie standen sich sehr nah, und als sie starb, vermachte sie Andy ihr Haus. Und genau dort wohnen wir jetzt, in Uroma Dolores’ minzgrünem viktorianischem Haus im Castro District.

Was wir uns ohne ihre großzügige Hinterlassenschaft gar nicht leisten könnten. Meine Eltern kommen ganz gut zurecht, aber das ist nichts im Vergleich zu den Nachbarn. Die gepflegten Häuser in unserer Straße mit ihren schicken Giebelgesimsen und extravaganten Holzverzierungen kommen alle von altem Geld. Auch das lavendelblaue Haus nebenan.

Meinen Namen habe ich außerdem mit diesem Park gemein, Mission Dolores. Das ist kein Zufall. Uroma Dolores wurde nach der nahe gelegenen Mission benannt, die ihren Namen wiederum von einem Bach hat, dem Arroyo de Nuestra Se˜nora de los Dolores, was so viel bedeutet wie »Unsere-Dame-der-Schmerzen-Bach«. Wer möchte auch nicht nach einem deprimierenden Gewässer benannt werden? Es gibt außerdem eine Hauptstraße hier in der Gegend, die Dolores heißt. Irgendwie merkwürdig.

Ich wäre lieber Lola.

Heavens to Betsy ist fertig und wir machen uns auf den Rückweg. Hoffentlich haben meine Eltern Max nicht in die Mangel genommen. Für jemanden, der auf der Bühne so abgeht, ist er sonst eigentlich ziemlich introvertiert, und diese wöchentlichen Treffen machen ihm schon zu schaffen. »Ich dachte immer, mit einem beschützerischen Vater zu tun zu haben, ist schlimm genug«, sagte er mal. »Aber zwei? Deine Dads bringen mich noch ins Grab, Lo.«

Ein Möbelwagen rumpelt vorbei, und es ist seltsam, denn auf einmal – einfach so aus dem Nichts – verfliegt meine Heiterkeit und mich beschleicht eine böse Vorahnung. Wir gehen schneller. Max muss sich inzwischen mehr als nur unbehaglich fühlen. Ich kann es nicht erklären, aber je näher wir unserem Haus kommen, desto düstere Gedanken kommen mir. Ein schreckliches Szenario geistert mir durch den Kopf: Meine Eltern setzen Max mit ihren Fragen so zu, dass er beschließt, ich bin es nicht mehr wert.

Ich hoffe, dass meine Eltern eines Tages, wenn Max und ich länger als nur einen Sommer zusammen sind, kapieren werden, dass er derjenige welche ist, und das Alter dann kein Thema mehr sein wird. Aber trotz ihres Unvermögens, diese Wahrheit jetzt zu erkennen, sind sie nicht blöd. Sie geben sich mit Max ab, weil sie denken, dass wir nur zusammen durchbrennen würden, wenn sie mir verbieten, mich mit ihm zu treffen. Ich würde bei ihm einziehen und mein Geld als Nackttänzerin oder Aciddealerin verdienen.

Was natürlich völliger Quatsch ist.

Trotzdem renne ich jetzt und zerre Betsy den Hügel hinunter. Irgendwas stimmt nicht. Und ich bin ganz sicher, dass es passiert ist – dass Max gegangen ist oder dass ihn meine Eltern in eine erregte Diskussion über die Richtungslosigkeit in seinem Leben gedrängt haben –, als ich unsere Straße erreiche und sich alles zusammenfügt.

Der Möbelwagen.

Nicht der Brunch.

Der Möbelwagen.

Aber bestimmt gehört der Laster zu einem anderen Mieter. Das muss einfach so sein, so ist es nämlich immer. Die letzte Familie, dieses Pärchen, das immer so nach Käse gerochen und medizinische Kuriositäten wie Schrumpflebern in Formaldehyd und übergroße Vaginamodelle gesammelt hat, ist vor einer Woche ausgezogen. In den letzten beiden Jahren hat es eine ganze Reihe von Mietern gegeben, und immer wenn jemand geht, habe ich einfach ein schlechtes Gefühl, bis die neuen Mieter kommen.

Denn was ist, wenn diesmal sie es sind, die wieder einziehen?

Ich gehe langsamer, um mir den Laster genauer anzusehen. Ist jemand draußen? Als wir vorhin vorbeigegangen sind, habe ich kein Auto in der Garage bemerkt, aber ich habe es mir auch zur Gewohnheit gemacht, unser Nachbarhaus nicht anzustarren. Tatsächlich stehen da zwei Personen ein Stück von mir entfernt auf dem Gehweg. Ich spähe angestrengt hinüber und stelle zugleich aufgeregt und erleichtert fest, dass es bloß die Möbelpacker sind. Betsy zieht an der Leine und ich werde wieder schneller.

Bestimmt gibt es überhaupt keinen Grund zur Sorge. Wie hoch ist schon die Wahrscheinlichkeit?

Andererseits … eine kleine Wahrscheinlichkeit gibt es immer. Die Möbelpacker heben ein weißes Sofa aus dem Laster und mein Herz klopft lauter. Kenne ich es? Habe ich schon mal auf diesem Zweiersofa gesessen? Aber nein. Ich kenne es nicht. Ich linse in den vollgestopften Lastwagen, suche mit den Augen nach einem vertrauten Gegenstand und finde nur stapelweise schlichte, moderne Möbelstücke, die ich noch nie gesehen habe.

Sie sind es nicht. Sie können es nicht sein.

Sie sind es nicht!

Ich grinse von einem Ohr zum anderen – ein dämliches Feixen, mit dem ich wie ein Kind aussehe, was ich normalerweise nicht zulasse – und winke den Möbelpackern zu. Sie murren und nicken zur Antwort. Das lavendelfarbene Garagentor steht offen, und ich bin jetzt sicher, dass es vorher zu war. Ich werfe einen prüfenden Blick auf das Auto und meine Erleichterung nimmt zu. Es ist ein silberner Kleinwagen, den ich nicht kenne.

Gerettet. Wieder mal. Heute ist doch ein guter Tag.

Betsy und ich hüpfen ins Haus. »Der Brunch ist zu Ende! Gehen wir, Max.«

Alle schauen zum Wohnzimmerfenster hinaus, das zur Straße rausgeht.

»Sieht aus, als hätten wir wieder Nachbarn«, stelle ich fest.

Andy scheint überrascht zu sein, dass meine Stimme so fröhlich klingt. Wir haben nie darüber geredet, aber er weiß, dass dort vor zwei Jahren etwas passiert ist. Er weiß, dass ich fürchte, sie könnten zurückkommen, und dass ich an jedem Umzugstag unruhig werde.

»Was ist denn?« Ich grinse wieder, halte mich dann aber zurück, um vor Max nicht blöd auszusehen, und lächle schwach.

»Ähm, Lo? Du hast sie nicht zufällig gesehen, oder?«

Andys Sorge rührt mich. Ich befreie Betsy von der Leine und husche in die Küche. Fest entschlossen, den Vormittag zu beenden und zu meinem Date zu kommen, räume ich das letzte Geschirr vom Tisch und gehe auf die Spüle zu. »Nö.« Ich lache. »Wieso? Haben die auch eine Vagina aus Plastik? Eine ausgestopfte Giraffe? Eine Ritterrüstung aus dem Mittelalter …? Was ist denn?«

Alle drei sehen mich ungläubig an.

Mir schnürt sich die Kehle zu. »Was habt ihr?«

Max mustert mich mit ungewohnter Neugierde. »Deine Eltern sagen, du kennst die Familie.«

Nein. NEIN.

Jemand sagt noch etwas, aber die Worte dringen nicht zu mir durch. Meine Füße tragen mich aufs Fenster zu, während mir mein Gehirn zuschreit, dass ich umkehren soll. Sie können es nicht sein. Das waren doch gar nicht ihre Möbel! Und das war nicht ihr Auto! Aber man kann sich eben auch neue Sachen kaufen. Meine Augen sind fest auf das Nachbarhaus gerichtet, als eine Gestalt auf der Veranda erscheint. Das Geschirr in meinen Händen – warum trage ich eigentlich noch die Teller herum? – zerspringt auf dem Fußboden.

Denn da ist sie.

Calliope Bell.

Kapitel zwei

Sie ist genauso schön wie im Fernsehen.« Ich stochere in der Gratisschale mit Keksen und Reiskräckern herum. »Genauso schön, wie sie immer schon war.«

Max zuckt mit den Schultern. »Sie ist ganz okay. Nichts, wofür man gleich durchdrehen müsste.«

Es tröstet mich zwar, dass er so unbeeindruckt ist, aber es reicht nicht aus, um mich abzulenken. Ich lehne mich an das Geländer des rustikalen Teehauses und eine Brise weht über den spiegelnden Teich neben uns. »Das verstehst du nicht. Das ist Calliope Bell.«

»Stimmt, ich versteh es tatsächlich nicht.« Seine Augen blicken finster durch seine Buddy-Holly-Brille. Noch so etwas, das wir gemeinsam haben – wir sind beide blind wie die Maulwürfe. Ich liebe es, wenn er seine Brille aufhat. Harter Rocker trifft sexy Nerd. Auf der Bühne trägt er sie nie, außer er spielt eine Acousticnummer. Dann gibt sie ihm etwas Sensibles, das gut dazu passt. Max achtet immer sehr auf sein Äußeres, was einige Leute vielleicht eitel finden, ich aber total verstehe. Man hat nur einmal die Chance, einen ersten Eindruck zu machen.

»Nur damit ich das richtig verstehe«, fährt er fort. »Als ihr beide im ersten Highschool-Jahr wart –«

»Als ich im ersten Highschool-Jahr war. Sie ist ein Jahr älter.«

»Na gut, als du im ersten Highschool-Jahr warst … ist was passiert? War sie gemein zu dir? Und du bist ihr deshalb immer noch böse?« Seine Stirn ist gefurcht, als fehlte ihm die Hälfte der Gleichung. Und sie fehlt ihm tatsächlich. Aber von mir wird er sie nicht bekommen.

»Ja.«

Er schnaubt verächtlich. »Muss ja ein ziemlicher Zickenkrieg gewesen sein, wenn du deswegen das Geschirr fallen lässt.«

Eine Viertelstunde habe ich gebraucht, um die Sauerei zu beseitigen. Porzellanscherben und Omelettstückchen, die in den Ritzen des Parketts festsaßen, und klebriger Himbeer-Pfirsich-Sirup, der wie Blut über die Sockelleiste gespritzt war.

»Du hast ja keine Ahnung.« Ich belasse es dabei.

Max gießt sich noch eine Tasse Jasmintee ein. »Und warum hast du sie so vergöttert?«

»Damals hab ich sie nicht vergöttert. Nur als wir noch Kinder waren. Sie war so ein … wundervolles, talentiertes Mädchen, das zufällig nebenan wohnte. Ich meine, wir verbrachten viel Zeit miteinander, als wir noch klein waren, spielten Barbies und Rollenspiele. Es tat weh, als sie sich gegen mich wandte, das ist alles. Komisch, dass du noch nie von ihr gehört hast«, füge ich hinzu.

»Tut mir leid. Ich gucke nicht viel Eiskunstlauf.«

»Sie hat immerhin schon an zwei Weltmeisterschaften teilgenommen. Silbermedaillen? Sie ist die große Olympiahoffnung dieses Jahr.«

»Tut mir leid«, wiederholt er.

»Sie war mal auf einer Wheaties-Packung.«

»Die man dann für einen Spottpreis bei eBay kaufen konnte.« Er stupst mein Knie mit seinem unterm Tisch an. »Na und? Und wenn schon.«

Ich seufze. »Ich fand ihre Kostüme toll. Die Chiffonrüschen, die Perlenstickereien und Swarovski-Kristalle, die Röckchen …«

»Röckchen?« Max trinkt seinen Tee aus.

»Und sie hatte so eine Anmut, so eine elegante Haltung und super Selbstbewusstsein.« Ich ziehe die Schultern nach hinten. »Und dieses perfekte glänzende Haar. Perfekte Haut.«

»Perfekt wird überbewertet. Perfekt ist langweilig.«

Ich lächle. »Ich bin also nicht perfekt?«

»Nein. Du bist herrlich verrückt und anders würde ich dich auch nicht haben wollen. Trink mal deinen Tee aus.«

Als ich fertig bin, machen wir noch einen Spaziergang. Der Japanische Teegarten ist nicht besonders groß, aber das macht er durch Schönheit wieder wett. Duftende Blumen in Edelsteinfarben bilden ein Gegengewicht zu aufwendig geschnittenen Pflanzen in ruhigen Blau- und Grüntönen. Fußwege schlängeln sich zwischen buddhistischen Statuen, Koi-Teichen, einer roten Pagode und einer mondförmigen Holzbrücke entlang. Die einzigen Geräusche sind Vogelgezwitscher und das leise Klicken von Fotoapparaten. Es ist friedlich. Zauberhaft.

Aber das Beste daran?

Lauter verborgene Winkel, ideal, um sich zu küssen.

Wir finden genau die richtige Bank, versteckt und ungestört, und Max legt die Hand hinter meinen Kopf und zieht mich an sich. Danach habe ich mich gesehnt. Seine Küsse sind sanft und rau zugleich und schmecken nach Pfefferminz und Zigaretten.

Wir sind schon den ganzen Sommer zusammen, aber ich habe mich immer noch nicht an ihn gewöhnt. An Max. Meinen Freund Max. An dem Abend, als wir uns kennenlernten, haben meine Eltern mich zum ersten Mal in einen Club gehen lassen. Lindsey war gerade auf dem Klo, also war ich eine Zeit lang allein und hockte nervös an der groben Betonwand des Verge. Er kam direkt auf mich zu, so als hätte er es schon hundertmal vorher gemacht.

»Entschuldigung«, sagte er. »Du hast sicher gemerkt, dass ich dich während des Sets angestarrt habe.«

Und das stimmte. Sein Starren hatte mich elektrisiert, auch wenn ich ihm nicht ganz traute. In dem kleinen Club war es ziemlich voll und er hätte jedes der neben mir tanzenden, lechzenden Mädchen meinen können.

»Wie heißt du?«

»Lola Nolan.« Ich rückte mein Diadem zurecht und trat in meinen Creepers von einem Fuß auf den anderen.

»Lo-lo-lo-lo Lo-la.« Max sang meinen Namen wie das Stück von den Kinks. Seine tiefe Stimme war ganz heiser vom Konzert. Er trug ein schlichtes schwarzes T-Shirt, das seine Uniform darstellte, wie ich bald herausfinden sollte. Darunter hatte er breite Schultern und muskulöse Arme, und ich bemerkte sofort die Tätowierung, die meine liebste werden sollte, versteckt in seiner linken Armbeuge. Sein Namensvetter aus Wo die wilden Kerle wohnen. Der kleine Junge im weißen Wolfspelz.

Er war der attraktivste Mann, der je mit mir gesprochen hatte. Halbwegs zusammenhängende Sätze schwirrten mir durch den Kopf, aber ich konnte keinen von ihnen lange genug festhalten, um ihn von mir zu geben.

»Wie fandest du das Konzert?« Er musste brüllen, um die Ramones zu übertönen, die inzwischen aus den Lautsprechern dröhnten.

»Ihr wart super«, brüllte ich zurück. »Ich hab euch heute zum ersten Mal gesehen.«

Den zweiten Teil versuchte ich ganz beiläufig klingen zu lassen, so als hätte ich nur seine Band heute zum ersten Mal gesehen. Er musste ja nicht unbedingt wissen, dass es mein allererstes Konzert überhaupt war.

»Ich weiß. Du wärst mir sonst aufgefallen. Hast du einen Freund, Lola?«

Hinter ihm sang Joey Ramone: Hey, little girl. I wanna be your boyfriend.

Die Jungs in der Schule fragten nie so direkt. Nicht, dass ich damit viel Erfahrung hatte, nur ab und zu einen Typen, der sich einen Monat lang hielt. Die meisten Jungs sind entweder von mir eingeschüchtert oder halten mich für sonderbar. »Was geht dich das an?« Ich schob trotzig das Kinn nach vorn und gab mehr Selbstbewusstsein vor, als ich hatte.

Sweet little girl. I wanna be your boyfriend.

Max musterte mich von Kopf bis Fuß und verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. »Anscheinend musst du schon gehen.« Er deutete mit dem Kopf hinter mich, ich drehte mich um und da stand Lindsey mit vor Staunen offenem Mund. Nur ein Teenager konnte so unbeholfen und verdutzt aussehen. Ob Max wohl klar war, dass wir noch zur Highschool gingen? »Gib mir doch deine Nummer«, fuhr er fort. »Ich würde dich gern mal wiedersehen.«

Er muss mein laut klopfendes Herz gehört haben, während ich den Inhalt meiner Handtasche durchging: Kaugummi mit Wassermelonegeschmack, abgerissene Kinokarten, Quittungen für Gemüse-Burritos und ein Regenbogen von Nagellackfläschchen. Ich zog einen Edding heraus und dachte zu spät daran, dass nur Kinder und Groupies Eddings mit sich herumtragen. Zum Glück schien es ihn nicht zu stören.

Max hielt mir sein Handgelenk hin. »Hier.«

Ich spürte seinen warmen Atem im Nacken, als ich den Marker auf seine Haut drückte. Meine Hand zitterte, aber irgendwie schaffte ich es, mit klaren, dicken Strichen die Nummer unter seine Tätowierungen zu schreiben. Er lächelte – dieses typische Lächeln, bei dem er nur einen Mundwinkel verzieht – und schlenderte davon, zwischen den schwitzenden Körpern hindurch und auf die schwach erleuchtete Theke zu. Ich gestattete mir, einen Moment lang seinen Hintern anzustarren. Trotz der Telefonnummer war ich sicher, ihn nie wiederzusehen.

Doch er rief tatsächlich an.

Klar, sonst säßen wir jetzt nicht hier.

Es passierte zwei Tage später, als ich gerade mit dem Bus zur Arbeit fuhr. Max wollte mich zum Mittagessen in Haight-Ashbury treffen, und ich wäre fast gestorben, weil ich ihm einen Korb geben musste. Er fragte nach dem nächsten Tag. Da musste ich wieder arbeiten. Er fragte nach dem übernächsten, und ich konnte es gar nicht fassen, dass er es weiter versuchte. Ja, sagte ich zu ihm. Ja.

Ich trug ein rosa Kellnerinnen-Kleid im Stil der Fünfzigerjahre und mein echtes Haar – es hat eine durchschnittliche braune Farbe – in zwei Knoten wie Micky-Maus-Ohren. Wir aßen Falafel und stellten fest, dass wir beide Vegetarier sind. Er erzählte mir, dass er keine Mutter habe, und ich erzählte ihm, dass ich eigentlich auch keine hätte. Und dann, als ich mir gerade die letzten Krümel vom Mund wischte, sagte er Folgendes: »Es gibt keine höfliche Art zu fragen, also mache ich es einfach kurz und schmerzlos. Wie alt bist du?«

Mein Gesichtsausdruck muss schrecklich gewesen sein, denn Max sah niedergeschlagen aus, während ich nach einer geeigneten Antwort suchte. »Mist. So schlimm?«

Ich hielt Verzögerung für die beste Taktik. »Wie alt bist du denn?«

»Vergiss es. Du zuerst.«

Wieder Zeit schinden. »Was schätzt du denn, wie alt ich bin?«

»Ich schätze, du hast ein süßes Gesicht, das täuschend jung aussieht. Und ich möchte dich so oder so nicht beleidigen. Also musst du es mir verraten.«

Das stimmt. Mein Gesicht ist rund, man möchte mir am liebsten in die Wangen knuffen und meine Ohren stehen weiter ab als mir lieb ist. Ich kämpfe mit Schminke und bestimmter Kleidung dagegen an. Mein kurvenreicher Körper ist auch ganz hilfreich. Ich wollte Max gerade die Wahrheit sagen, ganz ehrlich, als er zu raten anfing. »Neunzehn?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Älter oder jünger?«

Ich zuckte mit den Schultern, aber er wusste, was das zu bedeuten hatte. »Achtzehn? Bitte sag, dass du achtzehn bist.«

»Klar bin ich achtzehn.« Ich schob den leeren Plastik-Esskorb von mir weg. Äußerlich war ich die Eiskönigin, aber innerlich drehte ich gerade durch. »Wäre ich hier, wenn ich nicht achtzehn wäre?«

Er kniff argwöhnisch die Augen zusammen und Panik stieg in mir auf. »Und wie alt bist du?«, fragte ich wieder.

»Älter als du. Studierst du?«

»Werde ich.« Eines Tages.

»Dann wohnst du noch zu Hause?«

»Wie alt bist du?«, fragte ich zum dritten Mal.

Er verzog das Gesicht. »Ich bin zweiundzwanzig, Lola. Und wir sollten uns wahrscheinlich überhaupt nicht unterhalten. Es tut mir leid, wenn ich gewusst hätte …«

»Ich bin volljährig.« Und dann kam ich mir total blöd vor.

Langes Schweigen. »Nein«, entgegnete Max. »Du bist gefährlich.«

Aber er lächelte dabei.

Nachdem wir uns eine Woche lang weiter zwanglos verabredeten, konnte ich ihn endlich davon überzeugen, mich zu küssen. Er war eindeutig interessiert, aber ich merkte ihm an, dass ich ihn nervös machte. Aus irgendeinem Grund wurde ich dadurch umso mutiger. Ich mochte Max so, wie ich seit Jahren niemanden gemocht hatte. Seit zwei Jahren, um genau zu sein.

Es passierte in der Hauptstelle der Stadtbücherei, wir trafen uns dort, weil Max sie für sicher hielt. Doch als er mich sah – kurzes Kleid, hohe Stiefel – weiteten sich seine Augen zu einem Ausdruck, den ich bereits als ungewöhnliche Gefühlsäußerung kannte. »Du könntest einen anständigen Mann in Schwierigkeiten bringen«, sagte er. Ich griff nach seinem Buch, streifte stattdessen aber seinen Jungen im Wolfspelz. Sein Griff lockerte sich. »Lola«, warnte er mich.

Ich schaute ihn unschuldig an.

Da nahm er meine Hand und führte mich weg von den öffentlichen Tischen und hin zu den Regalen, wo sich niemand aufhielt. Er drückte mich mit dem Rücken gegen die Biografien. »Bist du sicher, dass du das willst?« Seine Stimme klang neckend, aber seine Augen blickten ernst.

Ich bekam schwitzende Handflächen. »Klar.«

»Ich bin kein netter Kerl.« Er kam näher.

»Vielleicht bin ich ja auch kein nettes Mädchen.«

»Stimmt nicht. Du bist ein sehr nettes Mädchen. Das mag ich so an dir.« Dann zog er mein Gesicht mit einem einzigen Finger zu seinem hoch.

Unsere Beziehung schritt schnell voran. Ich war diejenige, die das Tempo wieder etwas drosselte. Meine Eltern stellten Fragen. Sie nahmen mir nicht mehr ab, dass ich derart viel Zeit mit Lindsey verbrachte. Und ich wusste, dass es falsch war, Max weiter anzulügen, wenn sich das zwischen uns entwickelte, also gestand ich ihm mein wahres Alter.

Max war wütend. Er ließ sich eine Woche lang nicht blicken, und ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als er schließlich anrief. Er sagte, er sei verliebt. Und ich sagte, er müsse Nathan und Andy kennenlernen. Eltern machen ihn nervös – sein Vater ist Alkoholiker, seine Mutter ging weg, als er fünf Jahre alt war –, aber er war einverstanden. Dann wurden uns die Einschränkungen auferlegt. Und letzte Woche, an meinem siebzehnten Geburtstag, verlor ich meine Unschuld in seiner Wohnung.

Meine Eltern denken, wir waren im Zoo.

Seitdem haben wir noch einmal miteinander geschlafen. Und ich bin kein Idiot, was diese Dinge betrifft; ich bin nicht romantisch verklärt. Ich habe genug gelesen, um zu wissen, dass es eine Weile dauert, bis es für Mädchen schön ist. Aber ich hoffe, dass es bald besser wird.

Das Küssen ist fantastisch, deshalb bin ich sicher, dass das auch noch kommt.

Nur dass ich mich heute nicht auf seine Lippen konzentrieren kann. Den ganzen Nachmittag habe ich auf sie gewartet, und jetzt, wo sie da sind, bin ich zerstreut. Irgendwo bellt ein Hund – an der Pagode oder außerhalb des Gartens? – und ich kann nichts denken als Bell. Bell. Bell.

Sie sind zurück. Sie waren zu dritt heute Morgen, Calliope und ihre Eltern. Keine Spur von Calliopes Geschwistern. Nicht dass es mir etwas ausmachen würde, Aleck zu sehen. Aber den anderen …

»Was ist?«

Ich schrecke auf. Max sieht mich an. Wann haben wir aufgehört, uns zu küssen?

»Was ist?«, fragt er noch einmal. »Wo bist du?«

Meine Augenmuskeln zucken. »Tut mir leid, ich war mit den Gedanken bei der Arbeit.«

Er glaubt mir nicht. Das ist das Problem, wenn man seinen Freund schon früher belogen hat. Er seufzt enttäuscht, steht auf und steckt eine Hand in die Hosentasche. Ich weiß, dass er an seinem Feuerzeug herumfummelt.

»Tut mir leid«, sage ich noch einmal.

»Vergiss es.« Er wirft einen Blick auf die Uhrzeit auf seinem Handy. »Wir müssen sowieso los.«

Die Fahrt zum Royal Civic Center 16 verläuft ruhig, abgesehen von The Clash, die aus der Anlage schallen. »Rufst du mich nachher an?«, frage ich.

Er nickt, als er davonfährt, aber ich weiß, ich bin noch nicht aus dem Schneider.

Als bräuchte ich noch einen weiteren Grund, um die Bells zu hassen.

Kapitel drei

Meine Vorgesetzte stellt die Salzstreuer um. Das macht sie mit einer beunruhigenden Häufigkeit. Im Kino herrscht gerade die nächtliche Flaute zwischen den Filmen, und ich nutze die Gelegenheit, um mir das buttrige Popcorn-Gefühl von den Armhärchen zu schrubben.

»Versuch’s mal damit.« Sie reicht mir ein Baby-Feuchttuch. »Geht besser als eine Serviette.«

Ich nehme es mit aufrichtigem Dank an. Trotz ihres Ordnungsfanatismus ist Anna meine Lieblingskollegin. Sie ist etwas älter als ich, ziemlich hübsch und hat gerade auf der Filmhochschule angefangen. Sie hat ein fröhliches Lächeln, eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen und eine dicke platinblonde Strähne im dunkelbraunen Haar. Ein netter Effekt. Außerdem trägt sie immer so eine Kette mit einer bananenförmigen Glasperle dran.

Ich finde es toll, wenn jemand ein charakteristisches Accessoire trägt.

»Wo zum Kuckuck kommt das jetzt wieder her?«, fragt die einzige andere Person hinter der Theke. Oder besser gesagt, auf der Theke, denn dort hockt Annas unglaublich attraktiver, mit britischem Akzent sprechender Freund.

Er ist das andere, das ich an Anna mag. Wo immer sie auch hingeht, er folgt ihr.

Er deutet mit dem Kopf auf das Babytuch. »Was schleppst du denn noch alles mit dir herum? Staubtücher? Möbelpolitur?«

»Pass bloß auf, Étienne«, antwortet sie. »Sonst schrubbe ich noch dir die Arme.«

Er grinst. »Solange wir dabei ungestört sind.«

Anna ist die Einzige, die ihn mit seinem Vornamen anspricht. Wir anderen benutzen seinen Nachnamen, St. Clair. Ich weiß nicht genau, warum. Es ist einfach so. Beide sind erst vor Kurzem hergezogen, haben sich aber letztes Jahr in Paris auf der Highschool kennengelernt. Paris. Ich würde alles darum geben, wenn ich in Paris zur Schule gehen könnte, vor allem, wenn es dort solche Jungs wie Étienne gibt.

Nicht dass ich Max betrügen würde. Ich meine nur so. St. Clair hat wundervolle braune Augen und wuscheliges Künstlerhaar. Obwohl er für meinen Geschmack etwas klein geraten ist, fast zehn Zentimeter kleiner als seine Freundin.

Er studiert in Berkeley, verbringt aber ebenso viel Zeit hier im Kino wie auf der anderen Seite der Bucht, obwohl er gar nicht hier arbeitet. Und alle lieben ihn, weil er gut aussehend, frech und selbstbewusst ist. Schon nach wenigen Stunden hatte er sich in alle Mitarbeiterbereiche eingeschlichen, ohne dass sich die Kinoleitung auch nur einmal beschwert hätte.

So viel Ausstrahlung ist beeindruckend. Aber das bedeutet nicht, dass ich von ihrem privaten Geschrubbe hören möchte. »Meine Schicht ist in einer halben Stunde zu Ende. Bitte lasst mich zuerst das Feld räumen, bevor ihr das weiter vertieft.«

Anna lächelt St. Clair an, der gerade den riesigen Button mit der Aufschrift Frag mich nach unserem Kinogängerclub von ihrer kastanienbraunen Arbeitsweste abmacht. »Lola ist bloß neidisch. Sie hat mal wieder Max-Probleme.« Sie wirft mir einen flüchtigen Blick zu und ihr Lächeln wirkt jetzt gequält. »Was hab ich dir über Musiker gesagt? Dieser Böser-Junge-Typ bricht dir nur das Herz.«

»Die sind doch bloß böse, weil sie ansonsten total öde sind«, murmelt St. Clair. Er steckt sich den Button an seine eigene Kleidung, diese unglaubliche schwarze Cabanjacke, mit der er tatsächlich sehr europäisch aussieht.

»Nur weil ihr zwei irgendwann mal mit jemandem ein Problem hattet«, entgegne ich, »muss ich noch lange nicht selbst auch eins haben. Max und mir geht es gut. Tu das bloß nicht!« Ich sehe St. Clair kopfschüttelnd an. »Du ruinierst gerade eine wunderbare Jacke.«

»Entschuldigung, wolltest du ihn haben? Vielleicht fehlt er noch in deiner Sammlung.« Er zeigt auf meine eigene kastanienbraune Weste. Zwischen den Buttons des Royal Theater, die ich tragen muss, sind mehrere klassische, glitzernde Broschen befestigt. Bisher hat sich nur einer der Chefs beschwert, aber wie ich ihm höflich erklärt habe, lenkt mein Schmuck nur noch mehr Aufmerksamkeit auf seine Werbung.

Der Punkt ging an mich.

Zum Glück hat sich bisher noch niemand über die Weste an sich beschwert, die ich enger und kürzer gemacht habe, damit sie einigermaßen passt und halbwegs schmeichelhaft aussieht. Na ja, so schmeichelhaft, wie eine Polyesterweste eben aussehen kann. Mein Handy vibriert in meiner Tasche. »Merk dir, wo wir stehen geblieben sind«, sage ich zu St. Clair. Es ist eine SMS von Lindsey:

du wirst nicht glauben wen ich beim joggen im park gesehen habe. sitzt du gerade?

»Lola!« Anna stürmt auf mich zu, um mich aufzufangen, aber ich falle gar nicht. Oder doch? Ihre Hand ist auf meinem Arm und hält mich aufrecht. »Was ist los, was ist passiert?«

Bestimmt hat Lindsey Calliope gesehen. Calliope war immer diejenige, die durch den Park gelaufen ist, das gehörte zu ihrem Training. Natürlich war es Calliope! Ich schiebe die andere Möglichkeit weg, ganz weit weg, aber sie federt sofort zurück. Dieser Parasit, der in mir wächst. Er verschwindet einfach nicht, egal, wie oft ich mir vornehme, ihn zu vergessen. Das ist die Vergangenheit und die Vergangenheit kann niemand ändern. Trotzdem wächst er immer weiter. Denn so furchtbar es auch ist, an Calliope Bell zu denken – es ist nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der mich überkommt, wenn ich an ihren Zwilling denke.

Dieses Jahr werden beide im letzten Highschool-Jahr sein. Was bedeutet, dass es keinen Grund gibt, warum ihr Zwilling nicht da sein sollte, auch wenn ich ihn heute Morgen nicht gesehen habe. Ich kann nur noch auf etwas Aufschub hoffen. Und diese Zeit brauche ich, um mich darauf vorzubereiten.

Ich sende Lindsey ein schlichtes Fragezeichen zurück. Bitte, bitte, bitte, flehe ich das Universum an. Bitte lass es Calliope sein.

»Ist es Max?«, fragt Anna. »Deine Eltern? O nein, es ist bestimmt der Typ, den wir gestern aus dem Kino geschmissen haben, oder? Dieser Spinner mit dem riesigen Handy und dem Eimer voll Hühnchen! Wie hat der bloß deine Num–«

»Der ist es nicht.« Aber ich kann es ihr nicht erklären. Nicht jetzt, das nicht. »Alles okay.«

Anna und St. Clair tauschen einen identischen ungläubigen Blick.

»Es geht um Betsy. Meinen Hund. Andy schreibt, sie benimmt sich komisch. Aber ich bin sicher, es ist bloß …« Mein Handy vibriert wieder, und ich versuche so hektisch, die neue Nachricht zu lesen, dass ich es beinahe fallen lasse:

calliope. recherche ergibt neuen trainer. sie ist echt wieder da.

»Und?«, erkundigt sich St. Clair.

Calliope. Gott sei Dank, Calliope. Ich blicke zu meinen Freunden auf. »Was ist?«

»Betsy!«, rufen sie wie aus einem Mund.

»Ach so, ja.« Ich lächle sie erleichtert an. »Falscher Alarm. Sie hat nur einen Schuh erbrochen.«

»Einen Schuh?«, fragt St. Clair.

»Mensch«, sagt Anna. »Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Musst du nach Hause?«

»Wir kriegen das mit dem Schließen schon hin, falls du wegmusst«, fügt St. Clair hinzu. Als ob er hier arbeitet. Hundertpro will er nur, dass ich abhaue, damit er seiner Freundin die Zunge in den Hals schieben kann.

Ich schreite davon, auf die Popcorn-Maschine zu. Es ist mir peinlich, dass ich so eine Show veranstaltet habe. »Betsy geht’s gut. Aber danke«, füge ich hinzu, als mein Handy plötzlich erneut vibriert.

alles klar bei dir?

Ja. Hab sie heute Morgen gesehen.

warum hast du mir das nicht erzählt???

Wollte dich nach der Arbeit anrufen. Du-weißt-schon-wen hast du nicht gesehen?

nein. aber ich bleib dran. ruf mich später an Ned.

Lindsey hält sich für eine Detektivin. Das rührt daher, dass sie für Krimis schwärmt, seit sie das Nancy-Drew-Starter-Set zum achten Geburtstag bekommen hat (Mord steht nicht im Stundenplan bis Geheimnis um die Shadow Ranch). Deshalb nennt sie mich »Ned«. Zuerst wollte sie mir den Namen Bess verpassen, das ist Nancys stets flirtende, shoppende Freundin. Das gefiel mir aber nicht, weil Bess immer zu Nancy sagt, die Lage sei zu gefährlich und sie solle aufgeben.

Was für eine Freundin sagt einem denn so was?

Und ich bin auf keinen Fall George, Nancys andere beste Freundin. George ist eine jungenhafte Sportskanone mit Knollnase. Sie würde nie ein Marie-Antoinette-Kleid zu ihrem Winterball anziehen, auch nicht mit Plateau-Springerstiefeln. Bleibt also nur Ned Nickerson, Nancys Freund. Ned ist eigentlich ganz nützlich und steht Nancy oft in lebensgefährlichen Situationen bei. Damit kann ich leben. Auch wenn er ein Typ ist.

Ich stelle mir Lindsey vor ihrem Computer vor. Sicher ist sie sofort auf die Eiskunstlauf-Fanseiten gegangen und hat dort vom neuen Trainer erfahren. Obwohl ich es ihr auch zutrauen würde, dass sie direkt zu Calliope marschiert ist. Lindsey lässt sich nicht so leicht einschüchtern, weshalb sie eines Tages tatsächlich eine gute Ermittlerin abgeben würde. Sie ist vernünftig, offen und unbeirrbar ehrlich.

In diesem Sinne gleichen wir uns gegenseitig aus.

Wir sind schon beste Freundinnen, seit … na ja, seit die Bells nicht mehr meine besten Freunde sind. Damals, als ich in den Kindergarten kam und sie merkten, dass es nicht mehr cool war, mit dem Nachbarsmädchen rumzuhängen, das nur halbtags in der Schule war. Aber dieser Teil unserer Geschichte ist nicht so hart, wie er klingt. Denn bald lernte ich Lindsey kennen, und wir entdeckten unsere gemeinsame Begeisterung für Rollasseln, meergrüne Buntstifte und diese kleinen »Little-Debbie«-Kuchen, die wie Weihnachtsbäume aussehen. Wir waren sofort Freunde. Und später, als mich unsere Klassenkameraden zu hänseln begannen, weil ich Ballettröckchen oder rubinrote Tanzschuhe trug, war es Lindsey, die zurückknurrte: »Steck’s dir sonst wohin, Armleuchter.«

Ich bin ihr wirklich treu ergeben.

Ob sie wohl was über den anderen Bell-Zwilling rausfindet?

»Wie bitte?«, sagt St. Clair.

»Häh?« Ich drehe mich um und stelle fest, dass er und Anna mich wieder so seltsam ansehen.

»Du hast irgendwas über einen Zwilling gesagt.« Anna hebt misstrauisch den Kopf. »Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du warst heute Abend wirklich sehr zerstreut.«

»Mir geht’s super! Ehrlich!« Wie oft muss ich denn heute noch lügen? Ich melde mich freiwillig, um die Toiletten im dritten Stock zu putzen, damit ich mich nicht noch weiter im Lügennetz verstricke. Aber als Andy später auftaucht, um mich abzuholen – meine Eltern wollen nicht, dass ich so spätabends noch mit dem Bus fahre –, mustert er mich mit der gleichen Sorge. »Alles okay, Lola-Palola?«

Ich knalle meine Handtasche auf den Boden vor dem Beifahrersitz. »Warum fragen mich das ständig alle?«

»Vielleicht weil du aussiehst, als …« Andy zögert und sein Gesichtsausdruck ändert sich zu kaum verhehlter Hoffnung. »Habt ihr Schluss gemacht, du und Max?«

»Dad!«

Er zuckt mit den Achseln, aber sein Adamsapfel hüpft in seiner Kehle, ein sicheres Zeichen, dass er sich schlecht fühlt, weil er gefragt hat. Vielleicht besteht doch noch Hoffnung, was Max und meine Eltern betrifft. Oder zumindest, was Max und Andy betrifft. Andy gibt in schwierigen Situationen immer als Erster nach.

Was ihn übrigens nicht zur »Frau« bei uns macht. Nichts ärgert mich mehr, als wenn jemand annimmt, einer meiner Dads sei kein richtiger Dad. Ja, Andy verdient seinen Lebensunterhalt mit Backwaren. Und er ist zu Hause geblieben, um mich großzuziehen. Und er kann ganz gut über Gefühle reden. Aber er repariert auch Steckdosen, beseitigt Verstopfungen in Küchenabflüssen, zerquetscht Kakerlaken und wechselt platte Reifen. Und Nathan mag der gestrenge Zuchtmeister und taffe Anwalt der amerikanischen Bürgerrechtsunion sein, aber er schmückt auch unser Haus mit Antiquitäten und muss bei Sitcom-Hochzeiten immer heulen.

Also ist keiner von beiden »die Frau«. Sie sind beide schwule Männer. Fertig.

Außerdem entsprechen ja auch nicht alle Frauen diesem Klischee.

»Ist es … wegen unserer Nachbarn?«, fragt Andy zaghaft. Er weiß genau, dass ich nichts sagen werde, wenn es um sie geht.

»Es ist nichts, Dad. Ich hatte nur einen langen Tag.«

Wir fahren schweigend nach Hause. Als ich aus dem Auto steige, schaudere ich, aber nicht, weil es so kalt ist. Ich starre das lavendelblaue viktorianische Haus an. Das Schlafzimmerfenster gegenüber von meinem eigenen. Es brennt kein Licht darin. Die Kälte, die mein Herz gepackt hat, löst sich ein wenig, lässt es aber nicht los. Ich muss in dieses Zimmer hineinsehen. Mit einem Adrenalinstoß rase ich die Verandatreppe rauf, ins Haus und die Treppe in den ersten Stock hinauf.

»Hey!«, ruft Nathan mir nach. »Keine Umarmung für deinen alten Pa?«

Andy spricht leise mit ihm. Jetzt, wo ich vor meiner Zimmertür stehe, fürchte ich mich davor reinzugehen. Was total bescheuert ist. Eigentlich bin ich ein mutiger Mensch. Warum sollte mir ein einzelnes Fenster Angst einjagen? Trotzdem warte ich ab, um sicherzugehen, dass Nathan nicht nach oben kommt. Was immer mich auf der anderen Seite erwartet, ich will nicht dabei gestört werden.

Er kommt nicht. Sicher hat Andy ihm gesagt, dass er mich lieber in Ruhe lassen soll. Gut so.

Ich öffne meine Tür mit gespielter Selbstsicherheit. Ich taste nach dem Lichtschalter, überlege es mir dann aber anders und beschließe, auf Lindseys Art einzutreten. Ich schleiche im Dunkeln vorwärts. Die Reihen pastellfarbener Häuser in dieser Stadt stehen so dicht nebeneinander, dass das Fenster, das meinem genau gegenüberliegt, nur wenige Meter entfernt ist. Ich spähe durch die Finsternis und suche nach Zeichen, dass das Zimmer dahinter bewohnt ist.

Am Fenster hängen keine Gardinen. Ich kneife die Augen zusammen, aber soweit ich erkennen kann, ist das Zimmer … leer. Es ist nichts darin. Ich blicke nach rechts in Calliopes Zimmer. Kisten. Ich blicke wieder geradeaus.

Kein Zwilling.

KEIN ZWILLING.

Mein ganzer Körper atmet auf. Ich schalte das Licht ein und dann die Stereoanlage – Max’ Band natürlich – und drehe sie laut auf. Ich streife meine Ballettschuhe ab, schleudere sie auf den Schuhhaufen, der meinen Schrank versperrt, und reiße mir die Perücke herunter. Ich schüttle mein echtes Haar aus und werfe meine Arbeitsweste auf den Boden. Die dämliche kurzärmlige Bluse, die ich tragen muss, und die hässliche, langweilige schwarze Hose gesellen sich zur Weste. Ich ziehe meine chinesische Pyjamahose aus roter Seide und das dazu passende Top wieder an. Jetzt fühle ich mich wieder wie ich selbst.

Ich werfe einen Blick auf das leere Fenster.

O ja. Ich fühle mich eindeutig wieder wie ich selbst.

Amphetamine dröhnen aus meinen Lautsprechern und ich tanze zu meinem Handy hinüber. Als Erstes werde ich Lindsey anrufen. Und dann Max, damit ich mich dafür entschuldigen kann, dass ich im Teegarten so abwesend war. Vielleicht hat er sogar morgen früh Zeit. Ich muss erst um zwei arbeiten, also könnten wir zu unseren eigenen Bedingungen brunchen gehen. Oder wir könnten sagen, dass wir brunchen gehen, und in Wirklichkeit zu seiner Wohnung fahren.

Ich schließe die Augen und springe und zucke zum stampfenden Schlagzeug. Ich drehe mich lachend im Kreis und werfe meinen Körper von einer Seite des Zimmers zur anderen. Max’ Stimme klingt angefressen. Seine Texte sind höhnisch. Die Energie seiner Gitarre steigert sich immer mehr und der Bass pulsiert in mir wie Blut. Ich bin unbesiegbar.

Und dann mache ich die Augen auf.

Cricket Bell grinst. »Hi, Lola.«

Kapitel vier

Er sitzt in seinem Fenster. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Hintern ist auf dem Fensterbrett und seine Beine – unglaublich lange und schlanke Exemplare – baumeln an der Hausseite, zwei Stockwerke über dem Boden. Die Hände hat er im Schoß gefaltet, als wäre es das Normalste der Welt, seine ahnungslose Nachbarin auszuspionieren.

Ich starre ihn hilflos und entgeistert an und er fängt an zu lachen. Sein ganzer Körper wackelt dabei und er wirft den Kopf zurück und klatscht in die Hände.

Cricket Bell lacht mich aus. Und klatscht.

»Ich hab dich gerufen.« Er versucht, ernst zu gucken, aber sein Mund wird vor Vergnügen nur noch breiter. Ich kann praktisch seine Zähne zählen. »Ich hab dich ein Dutzend Mal gerufen, aber deine Musik war zu laut, also hab ich einfach abgewartet. Du bist eine gute Tänzerin.«

Ich bin so gedemütigt, dass ich keinen sinnvollen Satz zustande bringe.

»Tut mir leid.« Er grinst noch immer, aber jetzt ist es ihm sichtlich unangenehm. »Ich wollte nur Hallo sagen.«

Er schwingt mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung die Beine in sein Zimmer. Die Art, wie er auf den Füßen landet, hat eine Leichtigkeit, eine Anmut an sich, die ich sofort wiedererkenne. Eine vertraute, quälende Scham überkommt mich. Dann streckt er sich und ich staune erneut.

»Cricket, du bist so … groß.«

Was vermutlich das Dämlichste ist, das ich zu ihm sagen kann.

Cricket Bell war immer schon größer als die meisten anderen Jungs, aber in den letzten zwei Jahren sind sicher fünfzehn Zentimeter hinzugekommen. Mindestens. Sein schlanker Körper – früher mager und trotz seiner anmutigen Bewegungen unbeholfen – hat sich ebenfalls verändert. Er ist kräftiger geworden, wenn auch nur unmerklich. Weniger kantig. Aber darauf hinzuweisen, dass jemand groß ist, ist in etwa so, als würde man auf das Wetter hinweisen, wenn es regnet. Offensichtlich und überflüssig.

»Das kommt von den Haaren«, antwortet er mit ernster Miene. »Die Schwerkraft war immer schon mein ärgster Feind.«