Schmetterlingsschwester - Doris Köhl - E-Book

Schmetterlingsschwester E-Book

Doris Köhl

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Beschreibung

Kreta im Oktober 2016: Ein junges Pärchen findet in einer Höhle in den Bergen eine Leiche. Wer ist die Tote und wie ist sie dorthin gekommen? Kommissar Georgios Kalemakis und sein Team ermitteln im Umfeld der Auswanderer, Aussteiger und Langzeiturlauber in den Dörfern der Messara-Ebene. Dabei stößt die Polizei auf ein Geflecht aus Lebenslügen und auf die Schatten der Vergangenheit.

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Schmetterlingsschwester

Ein Kretakrimi

© 2019 Doris Köhl

Umschlag/Satz: Corinna Theis-HammadLektorat, Korrektorat: Dr. Petra Fochler

Schmetterlingskette (Umschlag und Seite 2):© Tarzhanova – Fotolia.com

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

ISBN 978-3-7482-5125-5

Hardcover:

ISBN 978-3-7482-5126-2

e-Book:

ISBN 978-3-7482-5127-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

PROLOG

HEIDELBERG, 18. JUNI 1983

Die Luft war stickig und verraucht in der Heidelberger Diskothek «Limelight», wie jeden Samstag war der Schuppen rappelvoll. Chrissie bahnte sich ihren Weg zur Tanzfläche. Der DJ hatte gerade ihr aktuelles Lieblingslied aufgelegt, «Baby Jane» von Rod Stewart. Chrissies Lieblingslieder wechselten ebenso oft wie die Jungs, für die sie schwärmte. Die 16-jährige Christiane Habold, die jeder nur Chrissie nannte, liebte das «Limelight». Sie tanzte leidenschaftlich gern und genauso mochte sie es, auf einem der begehrten Plätze auf den Bassboxen zu sitzen und die wogende Menge auf der Tanzfläche zu beobachten, all die wirbelnden Arme und fliegenden Haare. Außerdem hatte man von hier den direkten Blick zur Eingangstür.Chrissies Eltern waren wenig begeistert davon, dass sich ihre Töchter ausgerechnet diese düstere Spelunke als neues Lieblingslokal ausgesucht hatten. Aber was sollten sie schon tun? Das «Limelight» war gerade «in», und sie wussten, dass Verbote diese Disco nur noch attraktiver machen würden.

An diesem Abend war Chrissie allein unterwegs. Eigentlich wollte sie mit ihrer Zwillingsschwester Bine ausgehen, doch die beiden hatten sich gestritten und Bine war schmollend in ihrem Zimmer verschwunden. Chrissie hatte den Grund für den unsinnigen Streit schon wieder vergessen, und er war ihr auch nicht wichtig. Sie war nicht nachtragend. Jetzt vermisste sie ihre Schwester. Auch wenn sie vom Temperament her sehr verschieden waren, standen sich Chrissie und Bine so nahe, wie man es eineiigen Zwillingen im Allgemeinen nachsagte.

Und Chrissie hätte ihrer Schwester wahnsinnig gerne diesen umwerfend attraktiven Typen gezeigt, den sie letzte Woche hier gesichtet hatte – sollte er auch an diesem Abend auftauchen. Sie war am vorigen Samstag mit ihrer Freundin Lisa im «Limelight» gewesen. Bine hatte einen ihrer berüchtigten Migräneanfälle gehabt, die sie seit Jahren in regelmäßigen Abständen heimsuchten. Davon war Chrissie zum Glück verschont geblieben. Die beiden Freundinnen hatten auf der Bassbox gesessen und die Jungs kommentiert, die den Laden betraten, als plötzlich dieser Traumtyp in der Lederjacke zur Tür hereinkam. Er hatte schwarze Locken, tiefbraune Augen, einen lässigen Gang und einen extrem durchtrainierten Körper. Das musste ein Sportler sein! Chrissie und Lisa hatten sich angeschaut und das Gleiche gedacht. Volltreffer! Aber wahrscheinlich war so einer unerreichbar … Er schien auch ein paar Jahre älter zu sein als die Mädchen, vermutlich um die 20. Weder Chrissie noch Lisa hatten sich getraut, sich dem Jungen zu nähern, sie hatten ihm nur schmachtende Blicke zugeworfen, die er nicht zu bemerken schien.

Chrissie hatte Glück, sie ergatterte wieder einen Platz auf der Bassbox. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und nippte an ihrer Limo. Immer wieder fixierte sie den Eingang, als könnte allein ihr Wille den tollen Typen in die Tür zaubern. In Gedanken nannte sie ihn Aragorn. Sie, Bine und Lisa hatten mehr oder weniger parallel J.R.R. Tolkiens «Der Herr der Ringe» gelesen und sich alle drei in den fiktiven Charakter des «Waldläufers» Aragorn verliebt.

Eine Stunde später war immer noch keine Spur von «Aragorn» zu sehen. Enttäuscht und dieses erfolglosen Abends im «Limelight» überdrüssig entschied sich Chrissie, nach Hause zu fahren. Jetzt bestand noch die Chance, die letzte Straßenbahn nach Leimen zu erwischen, wo sie mit ihrer Familie in einem Einfamilienhaus wohnte. Schließlich hatte ihr Vater ihr Geld für ein Taxi zugesteckt – Hauptsache, seine Kleine kam sicher nach Hause.

Chrissie trank ihre Limo aus, es war inzwischen die dritte, als das geschah, worauf zu hoffen sie schon aufgegeben hatte: «Aragorn» betrat die Disco! Eine Art Stromstoß durchfuhr das Mädchen, und alle Pläne, an diesem Abend früh nach Hause zu fahren, waren schlagartig vergessen. Heute würde sie ihn auf sich aufmerksam machen. Keine Schüchternheiten diesmal, nichts wie ran! Ein wenig bedauerte Chrissie, dass sie Alkohol so verabscheute. Jetzt hätte sie sich gerne Mut angetrunken. Nun, es musste ohne gehen. Chrissie glitt von der Bassbox und drängte sich durch die Menge in Richtung Bar, wo der tolle Typ mit den schwarzen Locken gerade auf einem wackeligen Hocker Platz genommen hatte.

Chrissie stellte sich an die Bar und lächelte ihren Schwarm an. Der hatte sich eine Bacardi-Cola bestellt. Er bemerkte das Teenie-Mädchen neben sich, das ihn unentwegt anstarrte. Die war ja niedlich! Ein bisschen jung vielleicht, aber wen kümmerte das? Die zierliche Chrissie mit den blonden schulterlangen Haaren, den dunkelblauen Augen und der leichten Stupsnase gefiel ihm.

«Hi», sagte er und lächelte Chrissie an. «Ich bin Tom. Und wer bist du?»

Chrissie wurde puterrot, das Herz schlug ihr bis zum Hals.

«Christiane, ähm, Chrissie – also, ich bin Chrissie.»

«Magst du was trinken?»

Beim Gedanken an eine weitere klebrig-süße Limonade drehte sich ihr der Magen um, aber ihr fiel auch kein anderes Getränk ein.

«Hm, einfach ein Wasser vielleicht?»

«Ach was, Wasser!»

Tom lachte. Er hatte eine schöne Stimme, dunkel und sinnlich. Wieder durchfuhr Chrissie ein Stromstoß. Tom orderte eine weitere Bacardi-Cola.

«Für meine Freundin.»

Er zwinkerte Chrissie zu. Sie hatte schon angesetzt zu sagen: «Ich trinke keinen Al…», besann sich dann aber und verschluckte den Rest des Satzes. «Aragorn» sollte sie doch nicht für ein kleines Mädchen halten! «Bacardi-Cola ist mein Lieblingsgetränk!», entfuhr es ihr stattdessen. Tom, der damit beschäftigt war, die Getränke zu bezahlen, hatte weder das eine noch das andere gehört. Er rutschte von seinem Hocker und bot Chrissie seinen Sitz an. Als das Mädchen Platz genommen hatte, legte er den Arm um sie. Er strich ihr sanft übers Haar.

«Weißt du überhaupt, wie süß du bist, kleine Chrissie?»

Chrissie konnte es nicht glauben. Das war ja wie im Traum. Oder im Film. Einem der schmalztriefenden Hollywood-Streifen, die sich ihre Mutter so gerne ansah. Meinte der das wirklich so, wie er es sagte? Chrissie sah Tom fragend an. Er blickte ihr tief in die Augen.

«Ich mag dich!», raunte er. «Lass uns von hier verschwinden, der Laden ist heute irgendwie lahm.»

Als Chrissie und Tom das «Limelight» verließen, hallten ihnen die Klänge von Culture Club nach. «Do you really want to hurt me, do you really want to make me cry …» Mit Boy Georges Stimme im Ohr lehnte sich Chrissie an Tom, der sie verschwörerisch ansah. Der Abend hatte gerade erst begonnen.

Eine Stunde später hatten sich Chrissie und Tom auf dem Rasen der Neckarwiese ausgestreckt. Chrissie schmiegte sich fest an Tom, beide lagen mit dem Kopf und Oberkörper auf Toms alter Lederjacke. Er hatte in einer Tankstelle noch eine Flasche Bacardi und ein paar Dosen Cola besorgt, und beide hatten inzwischen einen beachtlichen Alkoholpegel. Die Welt um Chrissie drehte sich, und sie fühlte sich wie in einer schillernden Seifenblase, doch erstaunlicherweise blieb die Übelkeit ihres letzten Alkoholexzesses aus. Sie war selig, am liebsten würde sie für immer hier liegen bleiben, an ihren Traummann gekuschelt, und in den Nachthimmel schauen.

Chrissie war noch Jungfrau. Sie fragte sich, ob Tom wohl ihr erster Mann werden würde und ob sie sich schon dafür bereit fühlte. Ob er wohl in dieser Nacht noch versuchte, sie zu verführen? Sie dachte kurz an Bine, die sich geschworen hatte, niemals gleich beim ersten Treffen mit einem Jungen zu schlafen. Beim Gedanken an ihre Schwester registrierte Chrissie eine kleine Warnlampe in ihrem Kopf. Was die vernünftige Bine wohl von dem halten würde, was sie da gerade tat? Sie ignorierte die warnende Stimme in ihrem Inneren. Das hier war etwas Besonderes, und der Augenblick gehörte nur ihr und Tom. Und der war nicht einfach irgendein Junge, er war ein richtiger Mann, und zwar der umwerfendste, dem sie je begegnet war.

Nach einer Weile richtete Tom sich auf. Er griff in die Seitentasche seiner Jacke und zog eine abgewetzte Plastiktüte mit bunten Pillen heraus. Er öffnete die Tüte, nahm eine grellorange Tablette heraus und steckte sie sich in den Mund. Dann reichte er die Tüte weiter zu Chrissie.

«Komm, lass uns noch ein bisschen Spaß haben!»

«Was ist das?»

«Na, wonach sieht es denn aus?»

Tom grinste Chrissie verschmitzt an. Sie erschrak. Drogen? Nein, nicht mit ihr! So etwas machte sie nicht! «Pst». Tom beugte sich zu Chrissie herunter, küsste sie sanft auf den Mund und flüsterte: «Du machst mich verrückt, kleine Chrissie!» Dann schob er ihr eine grasgrüne Pille in den Mund. Chrissie schluckte sie hinunter und spülte mit einem Schluck Cola nach. Nun hatte sie schon diese Unmengen an Alkohol in sich hineingeschüttet, da kam es darauf auch nicht mehr an. So schlimm konnte das doch nicht sein. Andere nahmen ständig so ein Zeug, sie tat es ja nur dieses eine Mal, und diese Nacht war eben … ein Abenteuer! Tom zog Chrissie hoch. Sie klammerte sich an ihm fest, gerade stehen oder gehen konnte sie nicht mehr. «Oh, là là!», lachte er und küsste sie wieder. Chrissie verfiel in ein beinahe hysterisches Kichern, das plötzlich und unerwartet in ein heftiges Schluchzen umschlug. Was war denn jetzt los? Sie kannte sich nicht mehr aus. Irgendetwas in ihr realisierte durch alle bunten Seifenblasen hindurch, dass die Sache begann, aus dem Ruder zu laufen. Tränen liefen über ihr Gesicht.

«Ich will nach Hause.»

Chrissies Stimme klang dünn und brüchig. Sie sehnte sich nach ihrem Bett, nach Mama und Papa, nach ihrer Schwester.

Tom und Chrissie torkelten durch die Heidelberger Altstadt. Am Bismarckplatz stand ein Taxi.

«Na gut, ich bring dich heim», sagte Tom.

Als der Taxifahrer Heinrich Reimann das sturzbetrunkene Pärchen in seinen Wagen ließ, hatte er kein gutes Gefühl.

«Wehe, ihr kotzt mir die Sitze voll!»

Die beiden setzten sich auf die Rückbank.

«Wo wollt ihr eigentlich hin?»

«Neckargemünd», rief Tom. Jetzt verstand Chrissie gar nichts mehr.

«Aber ich wohne doch in Leimen …»

«Neckargemünd!», wiederholte Tom. Heinrich Reimann schüttelte den Kopf und fuhr los. Was war denn das für ein seltsames Gespann? Er fuhr los, wollte die beiden so schnell wie möglich in Neckargemünd absetzen und anschließend Feierabend machen. Immerhin sprang noch eine gute Summe für ihn heraus, die Nacht war nicht besonders gut gelaufen bisher. Gesetzt den Fall natürlich, die jungen Leute hatten überhaupt genug Geld dabei, um ihn zu bezahlen. Wieder schüttelte Heinrich Reimann den Kopf. Er wurde langsam zu alt für den Job. Die Knochen schmerzten, die Bandscheiben machten ihm Probleme, und auch sein Nervenkostüm war nach all den vielen Jahren nicht mehr das beste. Ein Jahr noch, höchstens, dann würde er das Taxifahren aufgeben.

Das Taxi fuhr zügig die Landstraße entlang in Richtung Neckargemünd. Chrissie hatte sich wieder an Tom gelehnt, sie war auf einmal schrecklich müde. Wohin sie fuhren, war ihr inzwischen völlig egal, Hauptsache, sie musste nicht mehr laufen. Plötzlich hob sich ihr Magen, und ein Meer von Bacardi-Cola drängte nach oben.

«Scheiße, mir ist schlecht!»

Der Taxifahrer bremste abrupt und hielt an einem Waldweg.

«Raus, aber schnell!»

Er hatte es gewusst. Hätte er diese Fahrt bloß verweigert! Chrissie kippte beinahe aus dem Wagen und erbrach sich ins Gras. Das half. Jetzt ging es ihr ein wenig besser. Sie hielt sich am Dach des Taxis fest und machte keine Anstalten, wieder einzusteigen.

«Nächstes Mal könnt ihr sehen, wie ihr heimkommt. Immer dasselbe mit euch besoffenem Gesindel! Und überhaupt, das ist doch noch ein Kind! Unverantwortlich, so was. Sie müsste man anzeigen», herrschte er Tom an.

Toms Augen funkelten wütend. «Halt’s Maul, Alter!» Er fuchtelte mit seiner Faust vor Heinrich Reimanns Gesicht herum.

«Ist ja gut», erwiderte der sichtlich eingeschüchterte Taxifahrer. Mit diesem ebenso durchtrainierten wie durchgeknallten Proleten legte er sich besser nicht an.

Er wandte sich jetzt an Chrissie. «Alles in Ordnung, Mädchen? Können wir weiterfahren?»

Noch bevor Chrissie sich zurück auf die Rückbank geschoben hatte, zog Tom ein Messer aus seiner Jacke. «Los, Kohle her!»

«Was?»

Chrissie riss die Augen auf. Sie fühlte sich endgültig im falschen Film. Wann hatte dieser tolle Abend eigentlich angefangen, sich in einen Albtraum zu verwandeln? Auch Heinrich Reimann konnte nicht glauben, was ihm da geschah. In all den Jahren war er nie Opfer eines Überfalls geworden. In Gedanken hatte er diese Möglichkeit unzählige Male durchgespielt, und natürlich war das im Kollegenkreis immer wieder Thema: Wie verhalte ich mich, wenn ich mit einer Waffe bedroht werde? Jetzt, wo die Theorie sich in bittere Praxis verwandelt hatte, fühlte sich Heinrich Reimann hilflos und ausgeliefert. Sein Kopf war leer. Doch ein Teil von ihm reagierte auch trotzig. Er würde diesem widerlichen Schönling seine gesamten Tageseinnahmen nicht ohne Widerstand überlassen.

«Nein!», rief er mit Nachdruck.

Tom stürzte sich mit dem Messer auf den Taxifahrer und stach auf ihn ein, immer wieder, wie im Rausch. Chrissie schrie auf und taumelte über den Waldweg in die Dunkelheit. Tom ließ von Heinrich Reimann ab und folgte ihr. Chrissie stieß in ihrer Panik Laute aus, die nicht mehr menschlich klangen.

Tom hatte das zierliche Mädchen schnell eingeholt. Er war jetzt direkt hinter ihr. Er registrierte einen großen Stein am Wegesrand, nahm ihn auf und schlug ihn kräftig auf Chrissies Hinterkopf. Das Mädchen brach zusammen und blieb reglos liegen.

Eine halbe Stunde später waren Polizei und Rettungswagen vor Ort. Einer Familie aus Neckargemünd, die sich auf dem Nachhauseweg von einer Hochzeit befand, war das Taxi mit den offenen Türen am Straßenrand aufgefallen. Sie hatten angehalten und nachgesehen und dabei den blutüberströmten Taxifahrer entdeckt. Von der nächsten Telefonzelle aus hatten sie einen Notruf abgesetzt. Für Heinrich Reimann kam jede Hilfe zu spät. Die Polizei fand die bewusstlose Schülerin Christiane Habold einige Meter entfernt im Wald.

Chrissie lag mehrere Tage im Koma, ihr Zustand war kritisch. Als sie schließlich wieder erwachte, konnte sie sich an nichts erinnern. Die Kopfverletzung, der Cocktail aus Alkohol und Drogen und der Schock hatten eine Amnesie ausgelöst. Ihre letzte verschwommene Erinnerung führte sie ins «Limelight», wo ihr der schöne Tom einen Drink spendiert hatte.

Im Zuge der späteren Untersuchung des Taxis fand die Spurensicherung Blutspuren einer weiteren Person auf dem Beifahrersitz. Die Mordkommission ermittelte, dass Christiane zusammen mit dem 20-jährigen Thomas Berger die Diskothek «Limelight» gegen null Uhr verlassen hatte. Die unbekannte Blutspur konnte Thomas Berger zugeordnet werden. Dieser war der Polizei nicht unbekannt. Er stand im Verdacht, an einem Überfall auf eine Tankstelle beteiligt gewesen zu sein, doch man konnte ihm nichts nachweisen. Sein älterer Bruder Markus war mehrfach in Drogendelikte verwickelt und hatte bereits wegen eines Einbruchs im Gefängnis gesessen.

Die Polizei stand vor einem Rätsel. War Thomas Berger Täter oder Opfer bei diesem Taximord? Oder war er gar beides? Auf jeden Fall war und blieb er spurlos verschwunden. Ob sich zurzeit des Überfalls noch weitere Personen im Auto befunden hatten, konnte nicht ermittelt werden. Fingerabdrücke und Faserspuren gab es reichlich, aber das war bei einem Taxi auch nicht anders zu erwarten. Es meldete sich kein Zeuge. Der mysteriöse Taximord bestimmte tagelang die Schlagzeilen der lokalen Presse. Der Fall wurde nie gelöst.

1

KRETA, 16. OKTOBER 2016

Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Vielleicht noch hundert Meter. Die Koordinaten auf Patricks Smartphone sprangen wild hin und her, und der Kompass drehte sich im Kreis.

«Der Empfang hier oben ist wirklich bescheiden.»

Jana folgte ihrem Freund über das unwegsame Gelände. Die Felsen und der struppige Bewuchs aus Thymian und Disteln nahmen kein Ende. Zum Glück war es nicht mehr so heiß wie im August, als sie auf der Insel angekommen waren, aber der schattenlose Aufstieg erwies sich immer noch als eine schweißtreibende Angelegenheit. Jana hatte Mühe, mit Patricks schnellem Schritt mitzuhalten. Sie wusste, wenn er einen Cache witterte, überkam ihn das Jagdfieber, und er war nicht zu bremsen.

Sie waren seit einem Dreivierteljahr ein Paar. Kennengelernt hatten sie sich an der Mainzer Universität, beide kurz vor ihrem Abschluss. Sie hatte Kunstgeschichte studiert, er Informatik. Jana stand in der Mensa in der Schlange hinter Patrick, beide hatten sich für Lasagne entschieden. Als die Bedienung die letzte Portion Lasagne auf Patricks Teller verfrachtet hatte und er Janas enttäuschten Blick sah, bestellte er kurzerhand noch ein anderes Gericht, überließ Jana seine Lasagne und lud sie dazu ein.

Ihr Patrick! Beim Gedanken an ihre erste Begegnung wurde Jana warm ums Herz. So war er, ihr Freund: ein herzensguter und hilfsbereiter Mensch. Und humorvoll. Und intelligent. Und … heiß! Jana grinste in sich hinein und dachte voller Vorfreude an den herannahenden Abend. Mit seinen braunen Zottelhaaren, den strahlend grünen Augen und dem Dreitagebart hatte er ihr gleich gefallen.

Die Reise nach Kreta war seine Idee gewesen. Sie wollten sich beide nach erfolgreich abgeschlossenem Studium einen längeren Urlaub im Süden gönnen, und Patrick, der die kretische Südküste von früheren Ferien mit seinen Eltern kannte, hatte als Ziel den kleinen Ort Pitsidia vorgeschlagen. Er musste Jana nicht lang überreden. Sie war noch nie in Griechenland gewesen und liebte alles Mediterrane. Schwimmen, lesen, faulenzen am Strand, laue Abende mit leckerem Essen und Wein und ein paar schöne Ausflüge ins Hinterland.

Und natürlich Geocaching, ihr gemeinsames Hobby. Geocaching war eine Art elektronische Schatzsuche. Die Verstecke der in der Regel wasserdichten Cache-Behälter wurden anhand geografischer Koordinaten im Internet veröffentlicht und konnten anschließend mittels eines GPS-Empfängers oder einer speziellen App für das Smartphone von anderen Geocachern gesucht und gefunden werden. In einem Geocache befanden sich ein Logbuch, in das sich jeder Finder eintrug, und – je nach Größe der Dose – verschiedene kleine Tauschgegenstände. Der Fund konnte anschließend im Internet vermerkt und auch durch Fotos dokumentiert werden. Durch Geocaching hatten Patrick und Jana fantastische Plätze entdeckt, und die Mischung aus Ostereiersuche und Schnitzeljagd machte einfach Spaß.

Jana war mehr als froh, dass Patrick und sie sich wieder so gut verstanden. Die Sache mit Christoph hatte ihrer jungen Beziehung die erste Krise beschert. Nein, sie wollte jetzt nicht an Christoph denken. Das war vorbei! Das Leben war schön, und sie wollte es genießen. Im Hier und Jetzt. Und mit Patrick.

Patricks Stimme riss Jana aus ihren Gedanken.

«Schau mal, ich glaub, da ist ein Trampelpfad!»

«Hm, bist du sicher? Könnte auch von Ziegen stammen.»

«Das kommt aber von der Richtung her hin. Und alles andere ist noch unwahrscheinlicher.»

«Stimmt. Lass es uns versuchen.»

Jana drehte ihre langen Haare zu einem Knoten und steckte sie fest. Der Schweiß rann ihr übers Gesicht.

«Hoffentlich sind wir bald da. So langsam reicht’s mir …»

Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche.

«Ich glaub, ich seh was da vorne! Das könnte die Höhle sein. Bei dem Hügel, hinter der krummen Pinie!»

Patrick hatte sich nicht getäuscht. Nach wenigen Metern erreichten sie ihr Ziel, und ein schwarzer Schlund tat sich vor ihnen auf.

«Wow, die ist toll! Viel größer als ich dachte. Da brauchen wir die Taschenlampen.»

«Ist der Cache drinnen versteckt?»

«Ich denke schon, auf dem Hinweisbild sieht es so aus. In einer Nische hinter einem vorspringenden Fels.»

Patrick nahm seine Taschenlampe und war in Sekundenschnelle in der Höhle verschwunden. Jana folgte ihm mit ihrer eigenen Lampe.

«Puh, hier drinnen riecht’s ganz schön streng …», meinte Jana. «Wir sollten uns beeilen, der Geruch ist wirklich eklig.»

«Ha, ich glaube, ich hab ihn!»

Tatsächlich hatte der Felsvorsprung, vor dem Patrick jetzt stand, Ähnlichkeit mit dem auf dem Foto. Patrick griff in einen Spalt hinter dem Felsen, doch das Loch war leer. Stattdessen wuselte etwas über seine Hand. Patrick stieß einen Schrei aus.

«Iiiiigitt, verdammt!»

Er schüttelte eine große, haarige schwarze Spinne von seinem Arm. Patrick hasste Spinnen, diese Phobie trug er seit seiner frühen Kindheit mit sich herum. Der Achtbeiner machte sich weiter unbeliebt und krabbelte jetzt an Patricks Bein.

«Waaaah!»

Patrick fuchtelte mit den Armen und rannte aus der Höhle. Die Taschenlampe flog in hohem Bogen auf die Erde.

«Das ist ja widerlich! Keine tausend Pferde kriegen mich mehr in diese Höhle!»

Jana stand immer noch am selben Platz und lachte.

«Kein Problem, dann sucht die furchtlose Spinnenkämpferin den Cache eben alleine!»

Jana drang weiter in die Höhle vor, die sich tatsächlich als viel größer als erwartet erwies. Der unangenehme Geruch wurde stärker. Sie leuchtete mit der Taschenlampe in alle Ecken. Auf der linken Seite lag ein seltsamer Gegenstand auf der Erde. Eine Art länglicher Sack. Neugierig näherte sich Jana dem Objekt und leuchtete es an. Aus seiner Öffnung hing etwas Helles heraus, irgendwelche Fäden. Nein, das waren keine Fäden, das waren Strähnen von menschlichen Haaren! Jana zuckte zusammen, ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken herunter. Das konnte doch nicht sein! Mit dem Fuß drehte sie den Sack vorsichtig ein Stück weit um und leuchtete erneut seine Öffnung an. Kein Zweifel, in diesem Sack befand sich eine Leiche. Jetzt schrie Jana und fegte aus der Höhle, als hätte der Schreck ihr Flügel verliehen.

Eine gute Stunde später traf die Polizei ein. Aufgrund der Koordinaten, die Patrick am Telefon durchgegeben hatte, konnten die Beamten die Stelle schnell orten.

Kommissar Georgios Kalemakis und seine Kollegen Leonidas Fanourakis und Alexa Petridou von der Mordkommission Iraklion standen vor der Höhle und sprachen mit Patrick und Jana, während die Spurensicherung sich in der Höhle zu schaffen machte. Georgios Kalemakis wirkte mit seinen gegelten Haaren, dem schicken Anzug und den schwarzen Lackschuhen, die inzwischen kretischer Bergstaub bedeckte, in dieser archaischen Umgebung irgendwie deplatziert. Sein rundlicher Kollege Leonidas Fanourakis hatte ein freundliches und von der Anstrengung des Aufstiegs gerötetes Gesicht und aß einen Schokoriegel. Alexa Petridou befragte das Touristenpärchen auf Deutsch. Ihre Mutter stammte aus Wien, und Alexa war zweisprachig aufgewachsen.

Zusammen mit den Kriminalbeamten verließen Patrick und Jana den Fundort der Leiche. Die Sonne stand mittlerweile tief, in Kürze würde die Dunkelheit hereinbrechen. Ein kühler Wind war aufgekommen. Jana fröstelte nicht nur wegen der kalten Brise. Der Anblick von Haarsträhnen, die wie Schlangen aus Säcken krochen, würde sie noch lange im Traum verfolgen.

2

KRETA, 28. JULI 2016

Der Flieger landete mit mehr als einer Stunde Verspätung am Nikos-Kazantzakis-Flughafen Heraklion. Eigentlich hieß die Hauptstadt der Insel Kreta Iraklion oder auch Iraklio, doch aufgrund einer veralteten Umschreibungskonvention landeten noch immer alle Maschinen in Heraklion. Sabine Fischer und ihre Freundin Saskia Hoffmann stiegen aus dem klimatisierten Flugzeug und liefen wie vor eine Wand.

«Meine Güte, ist das heiß hier!»

Der Geruch von Kerosin lag in der Luft, dazu wehte ein starker Wind, der dennoch kaum Abkühlung brachte.

Die beiden Frauen besuchten die Insel zum ersten Mal. Saskias Tochter Jenny hatte ihnen so oft von Kretas Südküste vorgeschwärmt, dass sie sich für dieses Reiseziel entschieden hatten. Und dies nicht nur für einen Urlaub von zwei, drei Wochen. Nein, sie wollten die nächsten Monate, wenn nicht sogar ein ganzes Jahr hier verbringen.

Sabine brauchte eine Auszeit. Sie hatte sich gerade von ihrem Mann Robert getrennt. Wobei man das nicht wirklich Trennung nennen konnte, es war eher eine Flucht. Sabine war Lehrerin an einer Realschule in Heidelberg. Sie nahm ein Sabbatjahr, hatte ihren Mann aber nicht über ihre Pläne informiert. Der ahnungslose Robert, ein promovierter Biologe, befand sich auf einem Kongress in Chicago, er würde erst am kommenden Mittwoch zurückkehren. Er würde das Haus betreten, wie immer mit dem Finger über die kleine Kommode im Flur fahren, um nach Spuren von Staub zu fahnden, und dann würde er rufen: «Sabine! Wo bist du schon wieder? Ich hab dich tausendmal angerufen!»

Robert war ein Kontrollfreak. Er rief sie täglich bis zu fünfmal an, um sich darüber zu informieren, was sie gerade tat, wo sie war, ob sie die Wäsche gewaschen hatte, ob sie auch nicht vergessen hatte, die Zutaten für das Essen einzukaufen, das er am Abend für sie beide kochen wollte, und ob sie auch wirklich mit dem Hund draußen war. Als würde sie das auch nur einmal vergessen!

Robert konnte es nicht lassen, Sabine zu überwachen. Es war nicht einmal so, dass er sie verdächtigte fremdzugehen – er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Frau irgendeinen Mann auf der Welt großartiger finden könnte als ihn – nein, er ertrug es schlichtweg nicht, wenn er nicht wusste, was um Sabine und das Haus herum gerade vor sich ging. Wenn er nach Hause kam, kontrollierte er, ob die Fernsehzeitschrift am richtigen Platz lag, er richtete die Kissen auf dem Sofa aus, sah nach, ob die neue Klopapierrolle in der korrekten Art und Weise angebracht worden war, nämlich mit dem Streifen nach vorne. Hatte Sabine etwas nicht zu seiner vollsten Zufriedenheit erledigt, wurde er wütend. «Sabine! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass der Vorhang im Schlafzimmer ab 16 Uhr vorgezogen werden muss, damit die Bilder nicht von der Sonne ausbleichen?» Robert war ein Choleriker. Zwar hatte er sie nie geschlagen, aber er schleuderte, wenn er wütend war, alles, was ihm in die Finger kam, durch den Raum. Und das konnte gefährlich werden. Schon einmal hatte eine gläserne Schale Sabines Kopf nur knapp verfehlt.

Narrenfreiheit besaß bei Robert nur Bonnie, ihr Hund. Robert vergötterte Bonnie und hatte die Hündin völlig verzogen. Eigentlich mochte Sabine lieber Katzen, aber als Robert vor vier Jahren mit dem süßen Golden-Retriever-Welpen um die Ecke gekommen war, hatte sie das beige Wollknäuel sofort in ihr Herz geschlossen.

Am Mittwoch würde Robert also nach Hause kommen und auf dem Küchentisch eine Nachricht vorfinden, auf der geschrieben stand, dass und warum Sabine ihn verlassen hatte. Er würde schäumen vor Wut und versuchen, sie auf dem Handy zu erreichen. Das Handy würde in der Küche klingeln, sie hatte es auf den Kühlschrank gelegt. Die Nummer ihres neuen Smartphones, von dem Robert nichts wusste, besaßen nur Saskia und der Schulleiter. Dieser war in ihr Vorhaben eingeweiht und unterstützte sie. Er hatte sich oft Sorgen um Sabine gemacht und befürchtet, ihr jähzorniger Mann könnte ihr eines Tages Gewalt antun oder sie gar in einem seiner Tobsuchtsanfälle umbringen. Ihr Chef würde Sabine nicht an Robert verraten.

Vor einem halben Jahr war Sabines Zwillingsschwester Christiane bei einem Verkehrsunfall auf eisglatter Fahrbahn ums Leben gekommen. Chrissies Tod hatte Sabines Leben erdbebengleich erschüttert, sie aber gleichzeitig wachgerüttelt. Das Leben war kostbar und endlich, und sie wollte nicht noch mehr Jahre an der Seite eines Mannes vergeuden, den sie nicht mehr liebte und der sie unterdrückte. Ihr Leben musste sich grundlegend ändern!

Die zierliche Sabine mit den schulterlangen blonden Haaren war auf eine unaufgeregte, mädchenhafte Art hübsch, aber in den letzten Jahren hatte sie gelernt, sich unsichtbar zu machen, um Roberts Aufmerksamkeit so wenig wie möglich auf sich zu lenken. Unsichtbar war sie nun auch für den Rest der Welt geworden, eine graue Maus. Nur in der Schule stand sie ihre Frau. Dort fühlte sie sich sicher. Sie wusste, sie war eine gute Lehrerin.

Sabine trauerte sehr um Chrissie. Ihre Schwester war ein Teil von ihr, so wie sie ein Teil von Chrissie gewesen war. Sabine hatte sich nie vorstellen können, dass Chrissie irgendwann nicht mehr da sein könnte. Dabei hatte das Leben ihrer Zwillingsschwester schon einmal am seidenen Faden gehangen. Im Alter von 16 Jahren war Chrissie Opfer eines Verbrechens geworden, das sie fast nicht überlebt hätte. Jetzt wurde Sabine bald 50 und sie würde ihren Geburtstag zum ersten Mal ohne Chrissie feiern.

Sabine dachte an den verhängnisvollen Abend im Sommer 1983, den sie in Gedanken nur «die Katastrophe» nannte. Lange noch hatten sie danach Schuldgefühle geplagt. Wie wäre der Abend verlaufen, wenn sie sich nicht gestritten hätten? Wenn sie Chrissie ins «Limelight» begleitet hätte? Wenn sie beide zu Hause geblieben wären? Wenn, wenn, wenn. Sabine wusste, dass all diese Wenns die Uhr nicht zurückdrehen konnten, und doch schaffte sie es jahrelang nicht, sich von den fruchtlosen Grübeleien zu befreien.

Nach der «Katastrophe» war Chrissie nicht mehr dieselbe gewesen. Sie litt unter Panikattacken und als Folge der Kopfverletzung hatte sie große Mühe, sich länger zu konzentrieren. Sie fehlte viel in der Schule und schaffte ihr Abitur nicht. Statt des ursprünglich angestrebten Studiums machte Chrissie eine Ausbildung zur Goldschmiedin. Das passte zu ihr. Chrissie liebte Schmuck und im Umgang mit Metallen und Edelsteinen war sie sehr geschickt. Mit ihren filigranen Kreationen hatte sie sich einen Namen gemacht. Chrissies Begeisterung für das Schmuckhandwerk war bereits geweckt worden, als beide Schwestern zu ihrem sechzehnten Geburtstag von ihrer Patentante Elisabeth jeweils eine Kette geschenkt bekamen, an der ein goldener Schmetterling baumelte. Sabines Schmetterling war mit einem Türkis verziert, Chrissies mit einem Amethyst. Auch jetzt trug Sabine die Kette mit dem Schmetterling, sie mochte das Schmuckstück sehr.

«Hey, Sas, ich glaub, da kommen unsere Koffer.»

Sabine und ihre Freundin standen am Gepäckband Nr. 4, auf dem das Gepäck ihres Flugs aus Frankfurt kreiste. Sie nahmen ihre Rollkoffer vom Band und gingen in Richtung Ausgang.

Im Gegensatz zur gertenschlanken Sabine war Saskia mollig. Sabines Gewicht änderte sich nie, ganz egal, was oder wie viel sie aß. Saskia dagegen nahm schon zu, wenn sie Schokoladenwerbung im Fernsehen sah. Das war einfach ungerecht! Saskias braune Locken waren frisurenresistent. Ganz gleich, in welche Form sie sie brachte, spätestens nach ein, zwei Stunden standen sie wieder korkenziehergleich von Saskias Kopf ab. Oftmals bändigte Saskia ihre Haare mit einem bunten Tuch. Überhaupt liebte sie Kleidung in grellen Farben und trug sie in abenteuerlichen Kombinationen. Saskia war als junge Frau viel durch Asien gereist, hatte Monate in Indien und Thailand verbracht, und ein wenig der Farbenfreude dieser Länder war an ihr haften geblieben. Sie lebte die Liebe zu Farben auch in ihren großflächigen Bildern aus – Saskia war freischaffende Künstlerin.

Sabine sah ihre Freundin mit warmem Blick an. Sie war froh, dass Saskia sie begleitete. Neben Chrissie war Saskia in den letzten Jahren ihr Fels in der Brandung gewesen. Auf sie konnte sie sich immer verlassen. Als Sabines Trauer um Chrissie Robert erst sprach- und hilflos und schließlich wütend gemacht hatte, war es Saskia gewesen, die ihre Freundin aufgefangen hatte.

Die beiden Frauen sahen sich nach einem Taxi um. Einen Bus in den Süden würden sie um diese Tageszeit nicht mehr bekommen. Zum Glück hatten sie schnell ein Taxi aufgetan, das sie an die Südküste bringen konnte. Sabine hatte Sorge, ob sie am späten Abend überhaupt noch eine Unterkunft finden würden.

«Kalos irthate», rief der Taxifahrer fröhlich. «Welcome to Crete! First time here?»

Saskia erzählte ihm, dass es ihre erste Reise nach Kreta war, dass sie an die Südküste wollten, nach Matala oder Kalamaki, aber noch kein Quartier hatten.

«No problem», meinte der Taxifahrer. «I phone my cousin. Manolis! Have room. In Sivas. Nice village!»

Er telefonierte mit seinem Cousin Manolis, dessen Ferienwohnung in Sivas tatsächlich frei war.

«Okay, we go Sivas!»

Stolz strahlte er die beiden Frauen an. Sie fuhren auf die Schnellstraße Richtung Rethymnon, an der Abfahrt nach Mires bog das Taxi ab. Bis Agia Varvara, einem ebenso langen wie unansehnlichen Ort, heizte der Taxifahrer über die gut ausgebaute Straße. Danach wand sich eine schmalere Trasse in zahlreichen Kurven hinunter in die Messara, die größte Ebene Kretas. Viel langsamer fuhr der Taxifahrer auch jetzt nicht. Wenn das mal gut ging!

Während Saskia neugierig aus dem Fenster in die Dunkelheit starrte, hing Sabine wieder ihren Gedanken nach. Sie stellte sich vor, wie Robert, der inzwischen wohl hunderte Male versucht hatte, sie zu erreichen, wie ein kopfloses Huhn durch Chicago irrte. Wie viel Uhr war es dort eigentlich? Vielleicht schlief er auch. Wobei sich Sabine nicht vorstellen konnte, dass Robert viel Schlaf fand, wenn das Schlimmste eingetreten war, was er sich vorstellen konnte: Er hatte die Kontrolle über Sabine verloren! Sabine grinste bitter. Wie oft hatte sie sich gewünscht, er hätte eine Geliebte, dann hätte sie wenigstens zeitweise ihre Ruhe – und er ein neues Objekt für seinen Kontrollwahn. Doch Robert interessierte sich nicht für andere Frauen.

Am Anfang ihrer Beziehung schien alles in Ordnung zu sein. Sabine hatte sich schnell in Robert verliebt, den sie in einem Eiscafé kennengelernt hatte. Der attraktive Naturwissenschaftler imponierte ihr. Anders als viele seiner Kollegen, die sie im Laufe der Jahre kennenlernte, war Robert kein Fachidiot, sondern er war vielseitig interessiert. Wie Sabine begeisterte er sich für Kunst und Kultur, war sehr belesen, konnte stundenlang politische Debatten im Fernsehen verfolgen und unterstützte ein Umweltprojekt in Baden-Württemberg. Robert spielte Badminton und teilte Sabines Wanderlust. Wenn die beiden stundenlang zusammen durch einsame Landschaften liefen, verstanden sie sich besonders gut. Robert war ein begnadeter Koch und großer Weinkenner. Er bekochte Sabine, die das sehr genoss, denn sie selbst kochte weder gern noch besonders gut. Roberts Hang zu zwanghaftem Verhalten war Sabine von Anfang an aufgefallen, doch das hatte sie in Kauf genommen. Nobody’s perfect!

Saskia konnte Robert von Anfang an nicht ausstehen, und diese Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Sabines Freundin verfügte über eine frappierend gute Intuition und Menschenkenntnis. Als Sabine ihr Robert vorgestellt hatte, versuchte Saskia, ihn ihrer Freundin auszureden. «Lass die Finger von dem! Der hat ’ne Meise. Der Kerl macht dich unglücklich. Hundertpro!» Sabine hatte nicht auf Saskia gehört.

Auf ihre Weise hatte Sabine, was Männer betraf, das gleiche Talent zum Griff ins Klo wie ihre Zwillingsschwester, die wie ein Magnet alle Alkoholiker, Schnorrer, Taugenichtse und «bad boys» in ihrer Umgebung anzog. Angezogen hatte. Sabine seufzte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wie sollte sie jemals über den Tod ihrer Schwester hinwegkommen?

Um kurz vor zehn erreichten sie Sivas. Das Dorf – soweit sie das in der Dunkelheit beurteilen konnten – gefiel den beiden Frauen gut. Es lag nicht direkt am Meer, aber das Meer war auch nicht weit entfernt, und sie wollten sich sowieso einen Mietwagen nehmen. Die Ferienwohnung befand sich in einer kleinen Seitengasse der Platia, des Dorfplatzes. Eine Natursteintreppe führte in den ersten Stock des alten kretischen Bauernhauses. Im Erdgeschoss wohnte Manolis, der Cousin des Taxifahrers, mit seiner Frau Maria. Sabines und Saskias neues Domizil war geschmackvoll mit alten traditionellen Möbeln eingerichtet. Die Fensterläden aus Holz waren blau gestrichen. An der Hauswand rankte eine üppige, im typischen Pink blühende Bougainvillea. Jede der Frauen hatte ihr eigenes Schlafzimmer, dazu gab es ein hübsches kleines Wohnzimmer mit einer Küchenecke und ein Bad. Vom Wohnzimmer aus führte eine Tür auf einen Balkon, und die Frauen konnten zusätzlich die Dachterrasse nutzen, die sie über eine Wendeltreppe aus Metall erreichten. Dort oben spendete eine mit Bambusstäben gedeckte Pergola zwei blauen Liegestühlen Schatten. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf die Asterousia-Berge und das Dorf Listaros. Davon jedoch sahen Sabine und Saskia an ihrem Ankunftsabend nichts. Sie legten sich nebeneinander auf die Liegestühle und fassten sich bei den Händen. Sie lächelten sich an. Sie hatten es tatsächlich getan, Sabines neues Leben hatte begonnen.

3

KRETA, 1. AUGUST 2016

Vier Tage nach Sabines und Saskias Ankunft auf Kreta landete ein weiterer Flieger aus Frankfurt auf dem Nikos-Kazantzakis-Flughafen und brachte Jana Dahlberg und Patrick Kiewel auf die Insel. Die beiden freuten sich wie verrückt auf ihren ersten gemeinsamen Urlaub. Patrick war gespannt, wie viel sich im Dorf Pitsidia und in der Pension Anemos verändert haben mochte, die er noch aus Urlauben mit seinen Eltern kannte. Patrick hievte sich seinen monströsen, übervollen Rucksack auf den Rücken, Jana zog ihre Reisetasche hinter sich her. Sie verreiste immer mit leichtem Gepäck. Ein paar Lieblingsklamotten, die man leicht durchwaschen konnte, ihren Kulturbeutel, feste Schuhe zum Wandern, ihr Badezeug und natürlich einige Taschenbücher. Jana war eine Leseratte. Hatte sie sich erst in eine spannende Geschichte vertieft, vergaß sie alles um sich herum, versank komplett in einer anderen Welt und war in der Regel erst dann wieder richtig ansprechbar, wenn sie das Buch ausgelesen hatte. Für den nächsten Urlaub würde sie sich einen E-Book-Reader besorgen. Sie hatte sich lang dagegen gesträubt, denn reale physische Bücher mochte sie viel lieber, das Blättern und den Geruch von Papier … Herrlich war das! Trotzdem waren diese Reader gerade auf Reisen einfach praktisch, und dann hätte sie noch weniger Gepäck. Patrick dagegen wollte auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. So befanden sich in seinem Rucksack ein ganzes Arsenal an Wanderutensilien, eine Regenjacke, seine Schnorchelausrüstung und vieles mehr.

Patrick und Jana nahmen den Stadtbus Nr. 1 zum Chania-Tor und fuhren von dort aus weiter mit dem Überlandbus. In Pitsidia, dem letzten Dorf vor dem bekannteren Touristenort Matala, dem Ziel dieses Busses, stiegen sie aus. Janas Gesicht glühte vor Hitze und vor Aufregung. So viel hatte sie über Pitsidia gehört und nun würde sie es tatsächlich selbst kennenlernen! Ein kleiner Jauchzer entfuhr ihr. Patrick lachte. Er liebte Janas Begeisterungsfähigkeit. Bestimmt würde ihr Kreta genauso gut gefallen wie ihm.

Es ging schon los. «Patrick, schau mal da vorne, diese riesige Blühpflanze, das ist ja unglaublich!»

«Das ist eine Bougainvillea, die wachsen hier überall.»

«Und da hinten, schau mal, die kleinen Ziegen! Sind die süß! Wo ist eigentlich das Meer?» Mit fragendem Blick schaute sie sich um.

Patrick deutete auf einen Hügel. «Dahinter. Von hier aus kann man es leider nicht sehen, aber es ist nah.» Er lief los in Richtung der Pension Anemos, den Weg hatte er noch genau im Kopf. Jana folgte ihm. Die Pension lag am östlichen Ortsrand. Von allen Zimmern aus hatte man den direkten Blick auf den Psiloritis, den höchsten Berg Kretas.

Evangelia, die Hauswirtin, fiel Patrick um den Hals.

«Patrick! Ela! Ja sou! Ti kaneis? Welcome back!»

Evangelias freundliches und ebenso rundes wie runzliges Gesicht strahlte. «Wait, wait. Sit down.» Sie zeigte auf einen runden blauen Metalltisch und ein paar darum gruppierte Stühle. Evangelia hatte Patrick dreizehn Jahre nicht gesehen und ihn trotzdem gleich wiedererkannt. Wie viele Kreter hatte sie ein erstaunliches Gedächtnis für Gesichter und Namen.

Die alte Frau schlurfte schwerfällig ins Haus und hielt sich die Hüfte, die ihr Schmerzen zu bereiten schien. Ein paar Minuten später saßen Jana und Patrick vor einer aufgeschnittenen Wassermelone, griechischem Kaffee und Raki, dem traditionellen kretischen Tresterschnaps. Immer wieder tätschelte Evangelia Patricks Arm. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß, Patrick hatte die herzliche Evangelia immer gemocht.

Patricks und Janas Zimmer war eins der schönsten im Haus. Es hatte einen Balkon, der um die Ecke ging, sodass sie nicht nur in Richtung Psiloritis, sondern auch in Richtung Meer blickten. Der Raum war mit hellen Holzmöbeln eingerichtet, wie man sie in vielen Pensionen auf Kreta fand. Die Gardinen an beiden Fenstern leuchteten in einem freundlichen Hellorange. Evangelia hatte sie vor langer Zeit selbst genäht, und die Farbe war mit den Jahren verblichen. Patrick kannte sie, es waren die gleichen wie vor dreizehn Jahren. Mit großer Freude stellte er fest, dass sich in der Pension Anemos nichts Wesentliches verändert hatte.

Nur wenige hundert Meter von der Pension entfernt saß Miriam Talbot in ihrem kleinen und leicht schiefen Häuschen am Küchentisch und schnippelte die Zutaten für einen Salat. Sie trug ihre schwarzen Haare, in die sich bisher kaum ein graues Exemplar gemogelt hatte, kurz. Dies verlieh ihr zusammen mit dem breiten schwarzen Gestell ihrer starken Brille – Miriam war extrem kurzsichtig – und der zumeist schwarzen Kleidung etwas Existenzialistisches.