Schnee, der auf Tränen fällt - Arndt Waßmann - E-Book

Schnee, der auf Tränen fällt E-Book

Arndt Waßmann

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Beschreibung

Ein Zug, der einen endlosen Tunnel durchfährt. Eine Frau, die über ihren Tod verhandelt. Die letzten Tränen dieser Welt. Arndt Waßmann vereint in diesem Band die verschiedensten Schicksale in ihrem Kampf um Leben, Hoffnung und Zukunft. Ob Sieg oder Niederlage, das wird stets aufs Neue entschieden.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: November 2015

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 048 1

Arndt Waßmann

Schnee, der auf Tränen fällt

Das Spiel des Lebens

 

 

 

Gleich! Die Frau wand sich unter seinen harten Stößen. Schweiß bedeckte ihren Körper. Tiefes, fast tierisches Stöhnen drang aus ihrer Kehle. Jetzt! Im Augenblick des Höhepunkts schlug er seine Zähne in ihren Hals. Die Welt um ihn verschwamm. Er spürte nur noch das Pulsieren des Blutes, das er gierig in sich aufsaugte. Mehr, immer mehr. Bis der Blutstrom abnahm und ihr Herz aufhörte zu schlagen.

Er stieg von dem toten Körper, einen widerlichen Nachgeschmack im Mund. Ein Geschmack nach Drogen, Alkohol und abgrundtiefer Verkommenheit. Nutten waren ekelhaft. Aber er war ausgehungert gewesen, ausgehungert nach Sex, Ekstase und Blut. Vielleicht sollte er mehr auf seine Ernährung achten.

Er nahm einige Utensilien aus einer kleinen Ledertasche, die er bei solchen Anlässen immer mit sich führte. Jede Zeit und jeder Ort besaß glaubwürdige Todesarten. Die hier würde aussehen, als hätte sie der Kampfhund irgendeines Zuhälters zerfleischt.

Jetzt, da er nicht mehr hungrig war, fand er wieder Freude an der Sache. Es war eine Art Spiel. Und er liebte Spiele.

 

Er kleidete sich an, warf seinen Mantel über und verließ die schäbige Gegend in der Nähe des Industriegebiets. Er hasste solche Viertel ebenso wie den Geschmack der Leute, die hier wohnten. Aber es war die sicherste und vor allem einfachste Art, seine fleischlichen Begierden zu befriedigen. Morgen würde er an einem besseren Ort weilen, dem Theater – und sich ganz ohne Hunger allein dem Genuss der Kunst hingeben.

Vor hundertdreiundfünfzig Jahren war er selbst Schauspieler gewesen: Vincent Teret, jung, schön, der Liebling aller Damen. Nie war er einem amourösen Abenteuer aus dem Wege gegangen, doch alle waren sie oberflächlich geblieben. Bis ihm eines Abends eine Frau aufgefallen war, die in der ersten Reihe saß. Trotz ihres Rouges war sie seltsam blass gewesen. Doch ihre Augen hatten ein solches Feuer, eine solche Faszination ausgestrahlt, dass er zum ersten Mal die Hilfe der Souffleuse benötigt hatte. Und sie war am nächsten Abend wiedergekommen, und an dem darauf. Eine leidenschaftliche Affäre folgte – an deren Ende sie ihm die Unsterblichkeit bot. Er erinnerte sich noch an seine Angst, als er ihr »wahres« Gesicht sah, als sie seinen Hals festhielt, als das Leben aus ihm wich – und an den quälenden Hunger, mit dem er aus seinem Todesschlaf erwachte. Sie hatte neben ihm gesessen und ihn mit einem Blick angesehen, den er bis heute nicht vergessen hatte. Es hatte keine Leidenschaft mehr darin gelegen, sondern Liebe – die Liebe eines Kindes zu seinem neuen Spielzeug.

Er hatte aufspringen wollen, um seinen Durst zu löschen, egal wie, egal wo. Doch sie hatte ihn festgehalten.

»Nicht so stürmisch, mein Don Giovanni. Du hast die Ewigkeit vor dir. Ewiges Abenteuer oder ewige Qual – das liegt bei dir. Du kannst über die Menschen triumphieren oder zum Tier werden und an deiner eigenen Existenz verzweifeln. Wofür entscheidest du dich?«

»Ich verbrenne. Alles in mir lodert. Ich brauche Blut!« Seine Stimmbänder wollten ihm kaum gehorchen, wollten nicht sprechen, sondern schreien vor Schmerz und Verlangen.

»Ganz wie du willst.« Sie ging aus dem Zimmer und zerrte ein junges Mädchen herein, gefesselt, geknebelt und mit panischer Angst in den Augen.

Er konnte ihren Herzschlag hören, förmlich sehen, wie das Blut durch ihre jungen Adern pulsierte. Blut für ihn. Sein Blut!

Er wollte sich auf sie stürzen, doch wieder hielt ihn seine Geliebte, die »Mutter« seines neuen Lebens, zurück. »Nur eines noch«, sagte sie ruhig, aber mit immenser Eindringlichkeit. »Sie ist dein erstes Opfer, deine erste Mahlzeit. Jetzt entscheidest du über dein Schicksal. Jetzt entscheidest du, ob ein Tier aus dir wird oder etwas Besseres.«

Sie stand auf, setzte sich an das Klavier, das in der Ecke des Zimmers stand, und fing an zu spielen: Beethovens Mondscheinsonate.

Hunger, Durst und Qual wüteten in seinem Innern. Er blickte das Mädchen an. So nah. So einfach. Doch noch war er Herr über sich selbst. Vampir sein war nur ein Kostüm. Wie jedoch seine Rolle aussah, bestimmte er selbst.

Es kostete ihn unendliche Überwindung, sich von dem jungen, wunderbar weißen Hals abzuwenden, der vor ihm zitterte. Doch er schaffte es. Mühsam und gegen seinen eigenen Körper ankämpfend setzte auch er sich ans Klavier. Seine Geliebte bedachte ihn mit einem Lächeln und spielte weiter. Seine ersten Griffe waren falsch und misstönend, doch bald schon fügte sich sein Spiel harmonisch ein, wie schon zu der Zeit, als er noch ein Mensch gewesen war. Er konzentrierte sich auf den Wohlklang der Musik, ihre Kraft, ihre Schönheit. Und es war dies der Moment, als das Tier in ihm endgültig die Herrschaft verlor.

 

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als die letzte Note verklang. Hinter den Vorhängen war es bereits dunkel geworden. Er wandte sich um. War das Mädchen noch da? Natürlich. Immer noch kauerte sie angstvoll in der Ecke und blickte zu den beiden Vampiren.

»Nun, Vincent, du hast eine weise Entscheidung getroffen. Ich wusste doch, dass ich kein Tier erschaffen würde. Du hast nicht gefressen wie ein Schwein, darum lass uns nun dinieren, wie es Königen gebührt.« Die Frau, die er zum ersten Mal im Theater gesehen hatte, und die nun seinem Leben eine völlig neue Bühne eröffnete, ging auf das Mädchen zu und löste dessen Fesseln. »Lauf, Kleine! Wenn du schlau und flink genug bist, darfst du vielleicht weiterleben.«

Das Mädchen rannte, rannte um ihr Leben.

»Und jetzt beginnt die Jagd, Vincent. Jetzt beginnt das Spiel. Nur die Unwürdigen verdienen den Tod, die anderen verdienen eine Chance. Sonst spielst du falsch – und betrügst am Ende nur dich selbst.« Wieder setzte sie sich ans Klavier, und er musste von ganzem Herzen lachen, als sie den Flohwalzer anstimmte. Das erste Lachen in seiner neuen Existenz.

 

Schnell hatte er die Spur des Mädchens aufgenommen. Es war faszinierend, wie fein seine Nase geworden war. Ihr Geruch hing in der Luft wie ein leichtes Parfüm. Es duftete nach Frühling. Er rannte, genoss die neue Kraft, die Schnelligkeit, die Anmut der Bewegung.

Seine Geliebte hatte dem Mädchen einen großen Vorsprung verschafft und so die Jagd zu einer Herausforderung gemacht. Seine erste Jagd. Und sie war großartig. Kein niederes Wild, das man zu Tode hetzen wollte, sondern eine würdige Trophäe.

Gar nicht weit entfernt durchmaß ein Fluss die Landschaft. Und es gab eine Brücke. Wenn das Mädchen sie erreichte, würde er sie laufen lassen. Beide Seiten mussten in einem Spiel gewinnen können, sonst war es nicht wert, gespielt zu werden. Doch natürlich war er begierig auf den Sieg, auf das frische Blut, das durch seine Adern rinnen sollte. Würde es seinen grenzenlosen Durst stillen? Wie war der Geschmack des Lebens?

Und was würde sein neues Leben bringen? Würde er jeden Monat von solch höllischem Durst gepeinigt werden? Jede Woche? Jeden Tag?

Er rannte. Rannte wie noch nie in seinem Leben. Er folgte der Fährte aus Frühlingsduft, in den sich panische Angst mischte. Es rannten wohl beide um ihr Leben. Jeder auf seine Weise.

Der Duft wurde stärker, frischer, näher. Und da sah er sie. Mondschein ließ ihr weißes Kleid erglänzen, hob sie aus der Dunkelheit ab. Ihr dunkles Haar flatterte im Wind, schien selbst fliehen zu wollen. Sie lief auf den Fluss zu, auf die Brücke. Schlaues Mädchen.

Doch am Ufer stand schon jemand – seine Geliebte, seine Mutter, sein einziger Wegweiser in dieser veränderten Welt. Sie versperrte die Brücke nicht, ganz im Gegenteil. Ruhig stand sie abseits davon, freute sich daran, wie andere spielten. »Lauf, Mädchen, schneller! Gleich hast du’s geschafft!«, rief sie lachend. Dann wandte sie ihren Kopf zu ihm. »Spielt man denn mit dem Essen, Vincent?«, fügte sie ebenso lachend hinzu.

Endlich! Endlich hatte er das Mädchen erreicht, atmete tief ihren betörenden Duft. Sie zu Boden reißen? Nein. Er rannte weiter, bis er vor der Brücke stand. Nun gab es keinen Ausweg mehr. Das Mädchen hörte auf zu rennen. Das Spiel war vorbei. Sie hatte verloren.

Langsam kam sie auf ihn zu. »Werdet Ihr mich jetzt töten?«

Er nickte. »Ja, das werde ich.«

»Und werde ich dann so wie Ihr?«

Er zögerte. Wurde sie? Die Dritte im Bunde übernahm die Antwort. Sie trat von hinten an das Mädchen heran und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Nein, das wirst du nicht.«

Dann blickte sie ihn an. »Gute Jagd, Vincent. Und jetzt mach ein Ende. Quäle nie jemanden, der es nicht verdient hat.«

Mit einer schnellen Bewegung schlug er seine Zähne in den Hals des Mädchens. Instinktiv wissend, wo die richtige Stelle lag. Und als das erhitzte Blut seine Zunge benetzte und belebend seine Kehle hinabrann, überkam ihn ein Gefühl, das … das jenseits von allen Bühnen dieser Welt lag.

 

Und wenn sie auch der Beginn seines neuen Lebens gewesen war, so war sie auch das Ende seines alten. Leidenschaft, Liebe und Zuneigung seiner Geliebten verblassten mit jedem Tag mehr. Sie blieb noch einige Monate bei ihm, wies ihn in die Kunst des Tötens ein und in die des Überlebens. Danach verschwand sie, offensichtlich ihres neuen Spielzeugs überdrüssig geworden. Und doch gewiss, dass er ihr Spiel weiterführen würde.

Vincent Teret schüttelte den Kopf und ließ seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurückkehren. Das neunzehnte Jahrhundert war längst vergangen, sogar schon das zwanzigste. Und doch schien ihm sein Leben als Vampir gerade erst begonnen zu haben. Erstaunlich, wie lange manche Erinnerungen währten. Ob er sich an die Theatervorstellung morgen wohl ebenso lange erinnern würde? Wohl kaum.

 

Gerade wurde im Foyer dezent das Pausenende eingeläutet. Er strich seinen maßgeschneiderten Anzug glatt und schloss sich dem Strom der Zuschauer an. Wie durch einen Zufall blickte er zur Seite – und ein betörender Geruch traf ihn, der ihm fast die Sinne raubte.

Sie war mehrere Meter entfernt, Dutzende Menschen drängten sich dazwischen. Und doch kam nur sie infrage. Alles, was er von ihr sah, war wundervoll goldenes Haar, das über ihren Rücken fiel und sich geschmeidig den wohlgeformten Rundungen ihres Gesäßes anpasste. Dies gefiel ihm, doch was ihn faszinierte, war ihr Duft. Die Luft war geschwängert von allerlei Parfüms und Rasierwassern, aber sie stach heraus wie eine Lilie in einem Meer von Rosen. Sie war unberührt, unverdorben, rein.

Murrende Stimmen, die sich an ihm vorbeischoben, machten ihm bewusst, dass er inmitten der drängenden Menge stand, zur Gänze versunken in Duft und Anblick dieses Engels.

Der folgenden Akte des Stückes drangen nicht zu ihm durch. Er hatte das goldblonde Haar vier Reihen vor sich ausgemacht und bemerkte das Ende der Vorstellung erst, als sich dessen Trägerin erhob. Für einen kurzen Augenblick sah er ihr Gesicht und spätestens jetzt stand fest, dass er sie schmecken musste – und wie herrlich es sein würde, wenn ihr liebliches Blut seine Zunge benetzte und durch seine Adern rann. Dies war kein Blut, an dem man seinen Hunger stillte. Dies war eine Delikatesse, bei der das Warten und die richtige Zubereitung den Genuss noch um ein Vielfaches steigerten.

Und es war ein Spiel, das er schon lange nicht mehr gespielt hatte.

 

Er folgte ihr, sah, wie sie sich von ihren Freundinnen verabschiedete und sich allein auf den Weg nach Hause machte. Das Glück war auf seiner Seite. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, und er würde dafür sorgen, dass es dabei blieb. Es war so einfach, Leute zu manipulieren, sie dazu zu bringen, genau das zu tun, was man selbst wollte. Man musste nur mit ihrer Angst spielen. Ein paar seltsame Geräusche aus der Nebenstraße, an der sie eigentlich vorbeimusste, ein paar klappernde Mülltonnen, huschende Schatten: Immer mehr brachte er sie von ihrem Weg ab, immer mehr trieb er sie in die Richtung, in der er sie haben wollte, immer mehr steigerte sich dabei ihre Angst. Und immer weniger bemerkte sie, dass sie nun durch ein Viertel lief, wo reale Gefahr drohte, keine huschenden Schatten.

Drei dunkle Gestalten versperrten ihr plötzlich den Weg. Ein Messer blitzte im Mondlicht auf. Er hörte die Worte der Männer, angewidert von ihrer Sprache, angewidert vom Geruch ihres niederen Wesens – und doch erfreut, wie sich alles gefügt hatte. Nur noch ein kleines bisschen, dann war es so weit.

Der Anführer der Bande setzte das Messer an die Kehle des Mädchens. Seine andere Hand hob sich, um ihr das Kleid vom Körper zu reißen. Jetzt!

Wie aus dem Nichts tauchte er auf, ergriff die Hand mit dem Messer, brach sie. Ein Faustschlag schickte den Zweiten zu Boden. Vincent spürte, wie sein Verlangen nach Blut erwachte, sein Verlangen, zu töten. Doch der Wille behielt die Oberhand. Nicht heute, nicht hier, nicht jetzt. Ein Blutbad würde alles nur verderben.

Der Abschaum floh. Vincent strich seinen Anzug glatt und wandte sich zu dem zitternden Mädchen um. »Schönes Fräulein, darf ich es wagen, Arm und Geleit Euch anzutragen?« Würde sie das Zitat vollenden? Oder den perfekten Eindruck, den er von ihr hatte, durch stilloses Gefasel zerstören?

Sie blickte ihn kurz entgeistert an, dann brach sie in Tränen aus und warf sich schluchzend an seine Brust. Es war wie ein Hammerschlag. Ihr Duft überflutete ihn, schlug über ihm zusammen, raubte ihm die Sinne. Es kostete ihn all seine Kraft, nicht der Begierde nachzugeben und ihr Blut wie im Rausch durch seine Kehle rinnen zu lassen. Wie an einem Rettungsanker klammerte er sich an ihrer Angst fest, an diesem bitteren Hauch, der ihren betörenden Duft durchdrang. Er redete sich ein, dass ihr Blut noch viel mehr danach schmecken würde, dass er sich wegen einer unbedeutenden Mahlzeit um eine Delikatesse brachte. Und langsam wich die Flut zurück.

»Nun, junge Dame, wer wird denn Tränen ob seiner Rettung vergießen?«

Sie löste ihre Umarmung, und er war erlöst und enttäuscht zugleich.

»Ich … ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ohne Sie wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr am Leben.« Sie blickte ihn an, bemerkte seinen Anzug. »Sie sehen nicht aus, als …«

»Als gehöre ich in dieses Viertel? Danke für das Kompliment. Ich habe gesehen, wie Sie vom Theater in diese Richtung gingen – und war besorgt, dass Ihnen etwas zustoßen könnte. Mit Recht, wie es scheint.«

»Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich hier gelandet bin. Es war eine … seltsame Nacht.«

»Die Nacht schuf tausend Ungeheuer, doch tausendfacher war mein Mut.« Er hielt ihr seinen Arm hin. »Ich denke, zu zweit werden wir den richtigen Weg finden.«

Sie hakte sich ein und warf ihm hin und wieder einen scheuen Blick zu. Er war zufrieden. Sie war verstört, verwirrt, vor allem aber fasziniert. Das Spiel hatte begonnen.

 

Sie waren vor ihrem Haus angelangt. Drinnen brannte noch Licht. Bestimmt warteten die Eltern auf ihre Tochter.

»Nochmals vielen Dank für alles.«

Er spürte, dass sie noch mehr sagen wollte, sich aber nicht traute. Er liebte diese Unsicherheit.

»Nun, wenn Sie sich erkenntlich zeigen wollen: Nächsten Freitag ist Premiere von ›Faust‹. Möchten Sie mich begleiten?«

»Sehr gern.«

»Wie erfreulich. Ich werde an der Kasse eine Karte für Sie hinterlegen lassen. Wie lautet Ihr Name?«

»Maria, Maria Berner.«

Maria, ausgerechnet Maria. Konnte es eine reizvollere Beute geben?

»Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Vincent.«

Er strich kurz über ihre rosige Wange, dann wandte er sich um. »Dann leben Sie wohl – bis nächste Woche.«

»Ach, übrigens: Bin weder Fräulein, weder schön. Kann ungeleitet nach Hause geh’n.«

Er drehte den Kopf und warf ihr einen Handkuss zu. Sie hatte es tatsächlich gekannt. Ein Mahl, würdig eines Fürsten.

Bis zu ihrer nächsten Begegnung würde nun Zeit vergehen. Zu viele Tage? Nein, denn es gab noch einiges zu tun, damit ihr Rendezvous perfekt wurde. Natürlich würde er vorher noch einmal ausgiebig seinen Durst stillen, doch es galt, noch etwas anderes zu erledigen. In jedem Spiel ging es auch um Macht. Manche Spieler besaßen sie, weil sie ihnen gebührte. Manche Spieler – waren wie Maria. Und manche waren Abschaum, der betrog. Er hasste Betrüger.

Maria war rein – und er würde ihr nicht mit Hass im Herzen gegenübertreten.

 

Ein Peitschenhieb traf Vincent, danach ein zweiter, doch er spürte den Schmerz kaum. Lederriemen hielten seine Hände an einen Balken gefesselt, die Füße berührten kaum den Boden. Er war nackt.

Wieder ein Hieb. Vor ihm stand eine Frau mit kurzen, rot gefärbten Haaren, die einen seltsamen Kontrast zu ihrem schwarzen Lederkorsett bildeten.

»Na, du mieses Schwein, genießt du deine Strafe auch noch?« Mit voller Wucht schlug sie zu. Sein Körper war schon von blutigen Striemen übersät. Doch das machte nichts, bei ihm würden sie rasch heilen. Ihre anderen Kunden mussten tiefe Narben haben.

Es hatte eine Weile gedauert, bis er die richtige gefunden hatte. Für die meisten dieser Frauen war es einfach nur eine Tätigkeit, die Geld brachte. Sie hätten genauso gut Kühe melken können. Vielleicht war das ohnehin ein Problem der heutigen Zeit: dass zu wenige Leute Kühe molken und Felder bestellten.

»Du elender Dreckskerl.« Die Peitsche traf seine Genitalien.

Die hier war anders. Er roch ihren Hass förmlich, spürte, wie viel Freude es ihr bereitete, andere zu quälen, wie sie ihre Macht genoss. Es spielte keine Rolle, warum. Vielleicht hatten ihre Eltern sie nie geliebt, vielleicht war eine Überdosis Emanzenpropaganda schuld – oder vielleicht war sie einfach ein Miststück. Es spielte keine Rolle, denn heute würde es enden. Nicht mit dem Tod. Dies hier war ein pädagogisch wertvolles Spiel.

Er spannte seine Muskeln an. Das erste Lederband riss.

»Eh, was soll das, du Schwein? Soll ich dir die Peitsche in den Arsch rammen?«

Das zweite Band riss. »Nein, danke«, sagte er mit betont höflicher Stimme. Noch sah er nur Verwirrung auf ihrem Gesicht. Das würde sich ändern.

Sie hob wieder ihre Peitsche. Er fing sie ab und riss sie ihr aus der Hand.

»He, hör auf damit, dafür hast du nicht bezahlt!«

»Richtig. Dies wird eine Lektion für dich sein. Und die ist kostenlos.«

Sie rannte zur Tür, doch Vincent war vor ihr dort. Er schüttelte nachsichtig den Kopf. »Es hat noch nicht zur Pause geklingelt.«

Der Blick, den er ihr zuwarf, bedeutete Tod. Ihre Augen verrieten Angst, bald würde es Panik sein.

»Bitte, hör auf. Du bekommst dein Geld zurück. Es tut mir leid, wenn ich zu fest geschlagen habe.« Ihre Stimme zitterte.

»Nein, das tut es nicht. Noch nicht.« Immer noch sprach er völlig ruhig. Das erzeugte die meiste Angst.

Er schloss eine Hand um ihre Kehle, nicht fest, aber unentrinnbar. Sie wehrte sich mit aller Kraft, doch seine Lippen zeigten nur ein schwaches Lächeln. Er spürte förmlich, wie sie innerlich zerbrach, wie sie mit ihrem Leben abschloss, wie all ihre Macht sich in Nichts auflöste.

Und genau das war es, was ihn mit tiefer innerer Befriedigung erfüllte. Macht musste man sich verdienen – und man musste ihrer würdig sein. Bei den meisten traf weder das eine noch das andere zu. Er verachtete diese Unwürdigen. Aber heute würde es eine weniger sein.

Er blickte in ihre Augen und sah dort die Scherben ihres bisherigen Lebens. Er nickte zufrieden. Auf den Fundamenten eines solchen Lebens konnte nichts Gutes entstehen. Nur aus seinen Trümmern.

Er ließ sie los. Ein keuchendes Bündel fiel zu Boden.

»Jetzt tut es dir leid.«

 

Noch zwei Tage bis Freitag, zwei Tage bis zur Verkostung einer Delikatesse. Und schon viel zu lange, seit er seinen Hunger gestillt hatte. So, wie man einen edlen Wein nicht trank, weil man durstig war, so würde er auch ihr köstliches Blut nicht so entweihen. Dafür gab es Nahrungsmittel, die keiner vermisste. Heute Abend würde er aus Hunger essen, nicht aus Genuss. Und da er ohnehin bald die Stadt verlassen würde, also sprach nichts dagegen, heute Abend etwas härter zu spielen.

Vincent war im verkommensten Viertel der Stadt unterwegs. Es hatte solche Gegenden auch früher schon gegeben, und auch früher schon waren sie sein Jagdrevier gewesen. Doch heute hatten sie sich zu einem Krebsgeschwür entwickelt, das immer mehr wucherte. Und keiner hatte den Mut, es herauszuschneiden. Solche Überlegungen motivierten. Er würde Blut vergießen, viel Blut.

Vincent kannte diese Viertel gut genug, war lange genug Schauspieler gewesen, um zu wissen, wie man unbehelligt blieb – und wie man das Gegenteil erreichte.

 

Schläge prasselten auf ihn ein, Tritte. Als Mensch wäre er längst bewusstlos gewesen, vielleicht schon tot. Es war fast dasselbe wie bei der Peitschenlady: Das Entsetzen der scheinbar Mächtigen zu sehen, wenn ihre Macht zerbrach – er liebte es.

Genug! Er ließ seiner Kraft, seinem Blutdurst freien Lauf. Ein eleganter Sprung brachte ihn auf die Beine. Das erste Genick brach, ein Kehlkopf würde zertrümmert. Blieben noch zwei. Sie versuchten zu fliehen, doch seine schnellen Reflexe schleuderten beide zurück in die Gosse. Er sprang, hielt einen am Boden, hieb dem Zweiten die Zähne in den Hals. Heißes Blut floss durch seine Kehle. Nicht köstlich, aber Blut. Die andere Gestalt zappelte, schrie. Er hasste es, beim Essen gestört zu werden.

Schließlich war sein Durst gestillt. Zeit für den letzten Akt. Mit einem wuchtigen Stoß drang seine Faust in den Brustkorb des bewusstlosen Körpers. Rippen splitterten, dann hielt er das Herz in der Hand. Es schlug noch.

Er wuchtete den letzten Überlebenden hoch und weidete sich an dessen Angst und Panik, als das Blut des fremden Herzens auf sein Gesicht tropfte.