Schnee ist auch nur hübschgemachtes Wasser - Dora Heldt - E-Book
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Schnee ist auch nur hübschgemachtes Wasser E-Book

Dora Heldt

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Beschreibung

»Wo geht's denn hier zum Schnee?« Dora Heldt nimmt uns mit in ihre Winterwelt und erzählt in heiterem Ton, warum Ela jetzt Manu heißt, am 23. Dezember manchmal ein hässlicher Hund gesucht werden muss und warum kleine dickliche Jungen im Engelskostüm gar nicht unbedingt süß sind. Herrliche Geschichten rund um die Zeit des Schneematsches, der Glühweinstände und auch der ersten Frühlingsgefühle – das »Must-have« für Dora Heldt-Fans. Und alle, die es werden wollen.

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Seitenzahl: 158

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Dora Heldt

Schnee ist auch nur hübschgemachtes Wasser

Wintergeschichten

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Josefines Sehnsucht nach Schnee

Und jetzt zum Wetter und Verkehr.«

Josefine öffnete ein Auge und wartete gespannt.

»Auch heute erwartet uns wieder ein sonniger Tag mit nur vereinzelten Wolkenfeldern. Höchsttemperaturen von 17 bis 20 Grad, die Tiefsttemperaturen nachts bei milden 12 Grad.«

Sie stöhnte leise. Die muntere Stimme der Radiomoderatorin fuhr fort: »Das ist wirklich ein wunderbarer Altweibersommer und das Beste ist, dass sich dieses Hochdruckgebiet auch noch die nächsten Tage hält. Und jetzt zu den Verkehrsnachrichten …«

Josefine streckte sich, um das Radio auszuschalten. Dann setzte sie sich mühsam auf und blickte auf das gerahmte Foto, das auf ihrem Nachttisch stand. »Guten Morgen, mein Schatz.«

Herbert war schon seit zwanzig Jahren tot, trotzdem galten ihr erster und ihr letzter Satz jeden Tag ihm. Ihrem Mann, mit dem sie fast fünfzig Jahre verheiratet gewesen war. Und der nur sechs Wochen vor ihrer goldenen Hochzeit beim Rasenmähen gestorben war. Mit 75. Eine denkbar blöde Art, sich um das Fest zu drücken, dachte Josefine heute. Herbert hatte Feiern immer gehasst, im Gegensatz zu ihr, aber deswegen fiel man doch nicht einfach so um. Nur, weil ihre zahlreichen Bekannten Wert auf ein großes Fest zur goldenen Hochzeit legten. Und Josefine das damals durchgesetzt hatte. Gegen Hermanns Willen. »Dann kommen sie alle angerannt, in schrecklichen Kleidern, trinken und essen auf unsere Kosten, gehen nicht nach Hause und bringen schreckliche Geschenke mit«, hatte er gesagt. »Es wird furchtbar.«

Er hatte recht behalten. Es war furchtbar gewesen. Weil Josefine statt der roten Rosen dann weiße Lilien bestellt und im selben Gasthof, in dem die goldene Hochzeit stattfinden sollte, die Trauerfeier ausgerichtet hatte. Tatsächlich kamen alle angerannt, sie hatten zwar keine Geschenke dabei, aber es wurde auf Josefines Kosten sehr viel gegessen und noch mehr getrunken. Statt schrecklicher Kleider war die Garderobe aber einheitlich, alle trugen schwarz. Es war lange her.

Langsam schob sie ihre Beine aus dem Bett und wartete einen Moment, bevor sie aufstand. Es ging alles nicht mehr gut. Das Leben war mühsam geworden und langsam mochte sie auch nicht mehr. Aber jetzt musste sie sich ins Bad quälen, sich waschen, kämmen und anziehen, weil heute Jens kam. Der Enkel ihrer verstorbenen Schwester Margarete. Sie wäre vermutlich geplatzt vor Stolz auf diesen hübschen jungen Mann. Aber so hatte sie ihn gar nicht mehr erlebt. Margarete war gestorben, als Jens fünfzehn war. Heute war er zweiunddreißig und kam einmal in der Woche zum Frühstück, brachte ihr die schweren Einkäufe, erzählte lustige Geschichten und aß mindestens drei Brötchen. Josefine fand es nur bedauerlich, dass er allein lebte. Er hätte die Richtige noch nicht gefunden, sagte er jedes Mal, wenn sie ihn fragte. Dabei würde Josefine so gern noch erleben, dass Jens ihr seine Liebe vorstellte. Aber so viel Zeit blieb ihr nicht mehr, ihre Kräfte ließen immer schneller nach. Und es reichte auch langsam. Er müsste sich einfach mal beeilen, sonst wäre sie nicht mehr da.

 

Jens stellte seine Tasse ab und sah sie forschend an. »Was ist, Josefine? Du gefällst mir heute gar nicht.«

»Das muss auch nicht sein«, sie sah ihn an. »Das bringt nämlich nichts.« Ächzend zog sie sich an der Stuhllehne hoch und schlurfte zur Küchenzeile, auf der die Thermoskanne stand. »Ich bin 92. Der Altersunterschied ist einfach zu groß.«

Sie lächelte ihn mühsam an, als sie wieder auf ihrem Platz saß, etwas besorgt lächelte er zurück. »Geht es dir nicht gut? Hast du Schmerzen?«

Josefine schüttelte den Kopf. »Nicht mehr als sonst. Mach dir keine Sorgen.«

Sie sah ihm an, dass er ihr nicht glaubte. Er machte sich ständig Sorgen um sie. Der Junge war einfach zu weich. Seine nächste Frage kam deshalb nicht unerwartet.

»Wolltest du nicht letzte Woche zum Arzt?«

»Ich sollte«, korrigierte sie ihn. »Du hast drauf bestanden. Ja, ich war da.«

»Und? Was hat er gesagt?«

»Was soll er gesagt haben?« Josefine zuckte die Schultern. »Es ist altersgemäßer Verschleiß. Ganz normal. Und ich soll trinken. Als wenn ich in meinem Alter damit anfangen würde.«

»Er meint Wasser«, Jens grinste schief. »Oder Tee. Oder Saft. Doch keinen Alkohol.«

»Schade«, Josefine rieb sich nach diesem müden Witz die Augen. Wenn sie nicht aufpasste, schlief sie hier gleich ein. Sie hatte so schwere Lider, ihr wurde fast übel vor lauter Wehrhaftigkeit gegen den Schlaf.

»Aber du musst wirklich mehr …«, fing Jens an und hörte wieder auf, als sie die Hand hob.

»Jens, ich habe es dir schon mal gesagt, ich lehne Gespräche über Alter und Krankheiten bei Tisch ab. Steh doch mal auf und geh zum Kühlschrank, ich habe die Butter vergessen. Und das kleine Glas Erdbeermarmelade.«

Jens sah sie forschend an, als würde er ein Insekt beobachten. Josefine deutete mit dem Finger auf die Küchenzeile. »Die Butter. Und starr mich nicht so an. Ich komme mir vor wie eine Amöbe unterm Mikroskop.«

Während sie ihm zusah, wie er den Kühlschrank öffnete, fiel ihr der Traum von letzter Nacht wieder ein. Sie hatte mit Herbert, seiner Schwester Ilse, deren Mann Gerd, ihrer Freundin Ella und ihrer Schwester Margarete auf einer Veranda gesessen. Die Sonne schien vom blauen Himmel, der Schnee glitzerte, in ihren Bechern war Punsch und sie wollten gleich Schlitten fahren. Sie war sehr glücklich gewesen. Weil sie den Winter und den Schnee so liebte. Der traurige Gedanke kam sofort hinterher. Alle anderen waren schon lange tot. Nur sie war noch da. Aber sie war sich sicher, dass die anderen irgendwo auf sie warteten. Von Tag zu Tag aufgeregter. Weil es nicht mehr so lange dauern würde, bis sie sich wiedersahen.

»Worüber lächelst du?« Jens stellte die Butter und die Marmelade auf den Tisch und setzte sich wieder.

Josefine hob den Kopf. »Ich würde so gern noch mal Schlitten fahren.«

»Schlitten?« Jens sah sie an, bevor er nach draußen deutete. »Und das fällt dir bei diesem herrlichen Wetter ein?«

»Ja. Ich finde diesen Spätsommer gar nicht so schön. Ich freue mich immer auf den Winter und den ersten Schnee. Aber wer weiß, wann der dieses Jahr kommt. Der Sommer scheint gar kein Ende zu nehmen.« Josefine legte Jens ein Brötchen auf den Teller. Sie selbst hatte überhaupt keinen Appetit. Jens schien das noch nicht bemerkt zu haben. Unbekümmert schnitt er das Brötchen auf und lächelte. »Du mit deinem Winter. Und deinem Schnee. Ich bräuchte das nicht. Ich genieße die Sonne. Und du wirst deinen Schnee schon noch bekommen.«

Josefine wich seinem Blick aus. Er sollte ihre Skepsis nicht bemerken. Aber sie ahnte, dass sie den Schnee nicht mehr sehen würde.

 

Einen Stock höher saß Anna im Wohnzimmer und zappte sich durch die Vormittagsprogramme. Morgenmagazine, eine Dokumentation über einen Streichelzoo, die Wiederholung einer Arztserie, an der sie etwas länger hängen blieb, dann aber doch weiterschaltete, weil sie die vielen Ärzte in weißen Kitteln nicht unterscheiden konnte, einen Bericht über die größten Trucks der Welt, eine Trickfilmepisode und eine Kochshow. Genervt schaltete sie das Gerät aus und blieb unschlüssig sitzen. Der Vormittag ging überhaupt nicht vorbei, obwohl sie hier schon gefühlte Stunden saß und ihre Laune immer schlechter wurde. Sie musste irgendetwas tun, sie hatte nur keine Ahnung, was. Ihr Blick fiel auf ihre Jogginghose, auf dem Oberschenkel prangte noch der Joghurtfleck von gestern. Sie könnte ja duschen gehen. Oder in die Badewanne. Dann wäre sie wenigstens beschäftigt. Behutsam schob sie ihre schlafende Katze vom Schoß und stand auf. Sie kam bis zur Wohnzimmertür, als das Telefon klingelte.

»Ich bin es. Gibt es was Neues?«

Wäre sie doch bloß nicht rangegangen. »Mama. Hallo. Was meinst du?«

»Was ich meine?« Ihre Mutter hatte am Telefon eine noch nervigere Stimme als sonst. »Was ist mit deiner Jobsuche? Hast du wieder was? Oder hängst du schon wieder im Jogginganzug auf dem Sofa rum?«

Anna hasste hellseherische Fähigkeiten. Die hatte ihre Mutter immer schon gehabt. Aber sie musste sich zurücknehmen, im Moment war sie darauf angewiesen, dass sie Geld bekam. Und da war ihre Mutter, oder besser, ihr Stiefvater gerade die einzige verlässliche Quelle. Das ließen sie sie auch spüren. »Ich habe noch drei Bewerbungen offen«, sie antwortete mit der sanftesten Stimme, derer sie fähig war. »Ein Hotel, die eine Rezeptionistin suchen und zwei Restaurants.«

»Restaurants?« Die Stimme am anderen Ende klang fassungslos. »Als was denn? Du kannst doch nicht mal kochen?«

»Die suchen keine Köchin, sondern jemanden, der da Veranstaltungen organisiert. Das habe ich schließlich studiert.«

»Ich hab dir doch gleich gesagt, dass das kein Mensch braucht. Das ist doch nicht mal ein richtiger Beruf.«

Anna legte den Kopf in den Nacken, starrte auf die Deckenleuchten und wartete auf den entscheidenden Satz. Der auch prompt folgte. »Also, wir können dich jetzt nicht ewig unterstützen. Ich kann mich nicht mein ganzes Leben für ein Kind aufopfern. Ich habe leider so ein bisschen den Eindruck, als würdest du dich vor einer anständigen Arbeit drücken. Das kann doch nicht sein, dass du nichts findest. Kümmerst du dich überhaupt richtig …«

»Mama«, unterbrach Anna die Tirade erleichtert und hielt als Beweis kurz den Hörer in Richtung Tür. »Ich muss leider Schluss machen, es klingelt an der Tür. Ich melde mich, Tschüss.«

Erleichtert öffnete sie, egal wer es war, alles war besser als dieses Telefonat.

»Hey«, Marie, ihre Nachbarin stand vor ihr, ihren Sohn an der Hand. »Anna, kannst du mich retten? Die Schule hat heute Morgen angerufen, die haben einen Wasserrohrbruch, ich muss aber jetzt zur Arbeit, weil ich einen ganz wichtigen Termin habe und ich habe keine Betreuung für Felix gefunden. Oma Josefine hat Besuch, da will ich jetzt nicht stören. Vielleicht kann er so lange bei dir bleiben. Und dann fragst du nachher Josefine?«

»Ja, klar«, Anna öffnete die Tür weit und lächelte Felix an. »Dann komm rein, ich habe sowieso nichts vor.«

»Deine Hose hat einen Fleck«, stellte Felix knapp fest, während er an ihr vorbeiging. »Tschüss, Mama.« Bevor sie antworten konnte, war er schon im Wohnzimmer verschwunden.

»Die Katze ist einfach wichtiger als du«, Anna hob die Schultern. »Wann kommst du wieder?«

»Nicht vor zwei«, hektisch sah Marie auf die Uhr. »Oh Gott, ich bin schon wieder zu spät. Bis nachher.«

Nachdenklich sah Anna ihr nach. Das war auch nicht einfach, alleinerziehend, berufstätig und immer unter Strom. Und sie selbst hatte sich gerade gelangweilt. In fleckiger Jogginghose beim Fernsehen. Umgeben von Selbstmitleid. Sie war ein schlechter Mensch.

Felix lag schon auf dem Sofa, die Katze auf seinem Bauch streichelnd, mit entrücktem Lächeln. »Kira ist sofort auf meinen Bauch gesprungen«, teilte er leise mit. »Und jetzt schnurrt sie. Ich glaube, sie ist in mich verliebt.«

»Bestimmt«, Anna betrachtete ihn. »Möchtest du was trinken?«

»Nö.« Ohne den Blick von Katze Kira zu nehmen, sagte er: »Ich glaube, meine Mama ist auch verliebt.«

»In dich. Ja, natürlich.«

»Nein«, Felix sah sie jetzt erstaunt an. »Ich bin doch ihr Kind. Ich glaube, sie ist in den Besuch von Oma Josefine verliebt. Sie kriegt immer so komische Augen, wenn er an uns vorbeigeht. Und Karla aus meiner Klasse hat gesagt, dass man komische Augen hat, wenn man verliebt ist. Ich sag das mal Oma Josefine, dann kann die das ihrem Besuch sagen. Mama hat ja gar keine Zeit, das selbst zu machen.«

»Aha«, Anna betrachtete den kleinen Kuppler interessiert. »Dass man in deinem Alter schon solche Gedanken hat.«

»Ich bin neun. Fast zehn.« Kira streckte sich auf seinem Bauch, Felix kicherte leise. Dann sagte er: »Oma Josefine hatte früher auch Katzen. Die sind aber alle gestorben. Die werden ja nicht so alt wie Menschen. Wann stirbt Kira?«

»Was?« Anna zuckte zusammen. »Wieso soll sie sterben? Sie ist erst vier Jahre alt.«

»Dann hat sie noch Zeit.« Zufrieden streichelte Felix weiter. »Das ist gut.«

»Und wann sind Josefines Katzen gestorben?« Anna setzte sich auf die Lehne des Sofas. »Ich habe hier im Haus außer Kira noch nie eine andere Katze gesehen.«

»Die sind ja schon lange tot.« Felix richtete sich vorsichtig auf, um Kira nicht zu stören. »Ungefähr so lange wie ihr Mann.«

»Josefines Mann?« Sie war erstaunt. Sie wohnte seit zwei Jahren in diesem Haus, war auch schon zwei- oder dreimal bei ihrer Vermieterin eingeladen gewesen, von Katzen oder einem Mann hatte Josefine nie etwas erzählt. Das musste sie von Felix erfahren. »Wie oft besuchst du denn Josefine?«

»Och«, er kitzelte Kira am Bauch. »Eigentlich jeden Tag. Aber in letzter Zeit ist sie ganz oft müde.«

 

In der Nachbarwohnung stellte Christa die Spülmaschine an und wischte abschließend über die Arbeitsplatte. Alles picobello, zufrieden sah sie sich in der kleinen Küche um und ging ins Esszimmer. Ihr Mann stand auf dem Balkon und betrachtete die Straße.

»Ist da was Besonderes? Oder weißt du nur nicht, was du machen sollst?«

Günter drehte sich langsam um und schob die Hände in die Hosentaschen. »Jens ist wieder bei Josefine. Der wittert wohl sein Erbe.«

»Das ist doch Unsinn. Der kommt seit Jahren einmal in der Woche und kümmert sich. Das ist doch kein Erbschleicher.«

»Was denn sonst?« Günter schlenderte zum Tisch und setzte sich. »Der erbt dieses Haus hier. Und er wird es sofort verkaufen, dann werden hier Eigentumswohnungen entstehen und wir müssen alle raus. In unserem Alter. Nach dreißig Jahren. Aber das sage ich dir, ich mache es den neuen Besitzern nicht leicht. Die müssen mich rausklagen. Ich gehe vor Gericht.«

Das war sein Lieblingssatz. Günter ging ausgesprochen gern vor Gericht. Er war ein Streithammel. Er hatte schon Parkplatzsünder in ihrer Straße angezeigt, Schwarzarbeiter verklagt, schrieb Beschwerden über Gott und die Welt, er wusste nie wohin mit seiner Wut und seiner schlechten Laune. Seit drei Jahren war er Rentner, das machte ihn fertig. Er hatte nicht in den Ruhestand gehen wollen, er war gern Abteilungsleiter in der Spedition gewesen, aber es kam ein junger Nachfolger und Günter war nun mal im Rentenalter. Das hatte er übel genommen. Und deswegen war er streitlustig.

Christa seufzte und schüttelte den Kopf. »Josefine lebt ja noch. Und du weißt doch gar nicht, was Jens dann mit dem Haus vorhat. Du solltest dir mal eine Jacke überziehen und Zeitungen kaufen. Dann hast du was zu tun.«

»Lange wird sie nicht mehr leben. Sie ist über neunzig. Und klapprig geworden. Das wird schneller gehen, als du denkst.«

Ohne zu antworten, verließ Christa das Zimmer. Wenn sie schlechte Laune bekam, dann bügelte sie. Und das tat sie in letzter Zeit sehr oft. Weil sie sich über ihren Mann ärgerte und nicht wusste, was sie daran ändern konnte. Als sie damals, vor fast dreißig Jahren, hier einzogen, war die Welt noch in Ordnung. Josefine und Herbert hatten dieses Vierfamilienhaus gebaut und drei Wohnungen vermietet. Christa und Günter waren die Ersten, die einzogen. Hier waren ihre beiden Söhne geboren, hier hatten sie viele gute Zeiten und auch manch schwere erlebt. Sie hatten viele Mieter ein- und wieder ausziehen sehen. Es hatte Todesfälle und Trennungen gegeben, manchmal waren es auch nur Jobwechsel gewesen, nur Christa und Günter waren die ganzen Jahre in Josefines Haus geblieben. Im Moment war es eine gute Hausgemeinschaft. Die junge, alleinerziehende Mutter über ihnen hatte einen reizenden kleinen Sohn, sie waren angenehme Mieter, genauso wie die junge Frau daneben. Anscheinend war sie vor Kurzem arbeitslos geworden, sie war jetzt viel zu Hause, aber sie grüßte immer nett und man hörte sie nicht. Vermutlich würde sie sowieso ausziehen müssen, falls sie keine neue Arbeit bekam. Die Wohnungen hier waren groß und die Miete musste erst mal verdient werden.

Das Bügeleisen zischte, es hatte die richtige Temperatur, Christa ließ es über die Bettwäsche gleiten. Sie war lange nicht mehr nebenan bei Josefine gewesen, irgendwie hatte sie keine Ruhe dafür gehabt. Günter ging ihr auf die Nerven und sie wollte nicht, dass Josefine mitbekam, wie sehr er sich verändert hatte. Er brauchte dringend eine Aufgabe, aber bislang hatte er jeden Vorschlag abgelehnt. Er wollte sich nicht ehrenamtlich betätigen, sich schon gar nicht um irgendwelche Kinder kümmern, er hatte schließlich selbst Enkel und die sah er kaum. Was wiederum daran lag, dass einer ihrer Söhne in Frankreich lebte und der andere eine Frau geheiratet hatte, die Günter nicht leiden konnte. Außerdem wohnten auch sie fünfhundert Kilometer entfernt, die Strecke war zu lang, als dass man sich öfter als zu Weihnachten oder an den Geburtstagen sah. Christa fuhr ab und zu mit der Bahn hin, das tat Günter aber aus Prinzip nicht. Er hasste die Bahn.

Sie stellte das Bügeleisen hoch und faltete den Kissenbezug zusammen. Ihr Blick ging dabei nach draußen, das schwarze Auto von Jens stand noch vor der Tür. Auch ihn kannte sie seit Jahren. Früher war er mit seiner Oma gekommen, wenn die ihre Schwester besuchte, als er älter wurde, auch mal allein mit dem Fahrrad, und seit Margarete gestorben war, kam er jede Woche. Von wegen Erbschleicher, er hing einfach an Josefine. Christa schob den nächsten Kissenbezug aufs Bügelbrett und beschloss, heute Nachmittag bei Josefine zu klingeln.

 

Während Jens langsam zu seinem Auto zurückging, drehte er sich noch mal um. Josefine hatte immer am Fenster gestanden und ihm nachgesehen. Immer. Sein Leben lang. Aber das tat sie nicht mehr. Jetzt fiel es ihm auf. Sie hatte es seit Wochen nicht mehr getan. Dafür bewegte sich die Gardine in der Nachbarwohnung. Christa stand am Fenster und hob die Hand. Kurz entschlossen drehte Jens sich um und ging zurück. Sie stand schon in der offenen Wohnungstür und blickte ihm entgegen.

»Guten Morgen, wie geht es dir?« Sie öffnete die Tür weiter, als wolle sie ihn hereinbitten.

»Danke, gut, Frau Schröder, ich habe nur eine kurze Bitte.«

Sie sah ihn neugierig an. »Ja?«

»Ich mache mir Sorgen um Josefine. Sie ist so schwach und müde. Könnten Sie mal ein Auge auf sie haben? Und mich anrufen, falls irgendetwas ist?«

Christa nickte sofort. »Natürlich. Ich wollte sowieso nachher mal rübergehen. Schreib mir mal deine Telefonnummer auf, ich kümmere mich.«

Erleichtert zog Jens eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. »Danke, Frau Schröder, ich versuche, nachher noch mal vorbeizukommen. Bis bald.«

Mit der Karte in der Hand wartete Christa, bis die Haustür hinter Jens zugefallen war. Sie hatte sich im letzten Jahr tatsächlich nur noch wenig für Josefine interessiert. Ihr eigener Alltag war immer wichtiger gewesen. Kopfschüttelnd ging sie zurück in die Wohnung. Sie war keine gute Nachbarin.

»Christa? Mit wem hast du geredet? War das etwa der Erbschleicher?«

Langsam ging sie ins Wohnzimmer, bleib an der Tür stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Günter. Wir müssen uns unterhalten. Jetzt sofort.«