Schnee von gestern - Rüdiger Wenke - E-Book

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Rüdiger Wenke

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Beschreibung

Als er das Erbe seiner verstorbenen Schwester antritt, gerät Hans Wallris unerwartet in einen Strudel krimineller Machenschaften und tödlicher Gefahr. Ohne es zu wissen, hält er den Schlüssel zu einem beträchtlichen Vermögen in der Hand, das aus dem amerikanischen Drogenhandel der 80er-Jahre stammt. Das Geld ist bei einer Bank auf den Kaimaninseln deponiert und durch zwei geheime Zugangscodes abgesichert. Obwohl er ahnt, dass sich dadurch sein Leben verändern wird, will Wallris die Wahrheit herausfinden. Die Suche führt ihn zurück in die Vergangenheit seiner Schwester, nach Miami.

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Seitenzahl: 277

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Ähnliche


Rüdiger Wenke

Schnee von gestern

Roman

Imprint © 2013 Rüdiger Wenke Umschlaggestaltung: Rüdiger Wenke Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Inhalt

Imprint

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Hinweis

Kapitel 1

In der Kapelle auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg waren nur die ersten drei Reihen besetzt.

In seiner ehrfurchtsgebietenden Strenge gab der Innenraum den Trauergästen Gelegenheit, über die Vergänglichkeit des Irdischen nachzudenken. Die weißen Wände, nur mit einem schlichten Kreuz über dem Altar bekleidet, erinnerten daran, dass man nichts mitnehmen kann, wenn man in die Ewigkeit abberufen wird.

Eingebettet in ein blaugelbes Blumenmeer stand der Sarg aus matt glänzendem Eichenholz vor dem Altar.

In lieber Erinnerung von Irina Hans und Paul, stand auf dem größten der Kränze.

„Auch Du Birgit, hast nun Deinen Lebensweg vollendet und bist dorthin zurückgekehrt, von wo du gekommen bist. Gott hat Dich wieder zu sich genommen. Vor 50 Jahren wurdest Du in das Leben hineingeboren, hast Deine Kindheit in Mannheim verbracht, bist dort eingeschult und konfirmiert worden und hast dort das Gymnasium besucht. Voller Neugierde auf das pulsierende Leben bist Du dann in die Welt hinaus gegangen. In Amerika ist Dir die große Liebe begegnet. Dort, wo Du das Glück gefunden hast, bist Du geblieben. Zusammen mit Peter Walker hast Du eine kleine Familie gegründet, in der Eure Tochter aufwuchs.

Doch dann hast Du auf tragische Weise alle verloren, an denen Dein Herz hing. Es dauerte sehr lange, um darüber hinweg zu kommen. Immer wieder hast Du es versucht und Dich der Barmherzigkeit Gottes anvertraut, im Unterbewusstsein hoffend, dass er Dir hilft, solange Du aufrichtig bist und ehrlich lebst.“

Aus der weichen, wohlklingenden Stimme der Pastorin konnte man echte Anteilnahme heraushören: Und Deine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande

Als flöge sie nach Haus.

Beim letzten Vers des Gedichtes von Eichendorff konnte Irina nicht verhindern, dass die Rührung sie erfasste. Sie verwischte die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen und sich salzig in ihren Mundwinkeln sammelten. Schon als kleines Mädchen hatte sie dieses romantische Gedicht gemocht und immer wieder gelesen und dann in Gedanken vor sich hin gesagt, wenn sie im Bücherbord ihres Vaters herumgestöbert hatte. Sie wusste, es war das Lieblingsgedicht ihrer Tante.

Auch Hans Wallris konnte die Tränen nicht unterdrücken, die in ihm aufstiegen. Er hatte seine Schwester geliebt und ihre schweren Schicksalsschläge aus der Ferne miterlebt, ohne ihr helfen zu können. Er hörte ihre Stimme, als stünde sie gerade neben ihm: Die Menschen, die ich am meisten liebte, sind von mir gegangen. Was soll mich jetzt noch am Leben halten?

Das war vor elf Jahren, als Susan, Birgits Tochter, bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen war. Die Nachricht hatte ihn in Schanghai erreicht und er war von dort direkt zur Beerdigung nach Miami geflogen. Lange hatte es gedauert, um Birgit zu überreden, Amerika den Rücken zuzukehren und nach Deutschland zurück zu kommen. Erst als eine Möglichkeit gefunden wurde, die Urne zu überführen, willigte sie ein. Elf Jahre hatte sie dann zurückgezogen hier in Hamburg gelebt.

Hättest Du doch bloß Deinen alten Lebensmut wieder gefunden, dachte Wallris voller Traurigkeit. Jetzt wirst Du mit Susan auf diesem Friedhof wieder vereint sein. Die Tränen taten Wallris gut, er trocknete sie nicht ab und ließ sie laufen.

Paul, sein Sohn, hatte seine eigene Art, die Rührung zu verbergen, die auch ihn erfasst hatte. Yolo, ging es ihm immer wieder durch den Kopf, you only live once. Aber er war sich nicht ganz sicher, ob es richtig war, sich hinter oberflächlichen Sprüchen zu verstecken, wenn jemand beerdigt wurde, den man sehr gemocht hatte. Man verweigerte sich damit echter Anteilnahme und Trauer.

Eine letzte Segnung der Toten, dann wurde der Sarg hinausgetragen und vorsichtig in den Laderaum des bereitstehenden Leichenwagens geschoben, der ihn zum Krematorium bringen sollte.

„Der barmherzige Gott hat sie zu sich genommen, möge sie Frieden finden“,

wandte die Pastorin sich an die Trauergemeinde und gab jedem zum Abschied die Hand.

Keiner hatte den Mann in schwarzer Lederjacke beachtet, der während der Trauerfeier teilnahmslos in einer der hinteren Reihen gesessen hatte und nicht zu der Trauergemeinde zu gehören schien. Er zog seine Wollmütze über den Kopf und erhob sich. Ohne Eile schlenderte er davon, nachdem er einige Sätze in sein Handy gesprochen hatte. Fast im gleichen Augenblick brachen die beiden dunkelhaarigen Männer, die ganz in der Nähe der Kapelle an einem der Grabsteine gestanden hatten, ihr Gespräch ab, warfen ihre Zigaretten achtlos beiseite und entfernten sich in Richtung Ausgang.

Wallris hatte die Trauergäste in ein Café in der Nähe des Friedhofs eingeladen. Diejenigen, die seiner Einladung gefolgt waren, saßen jetzt, eher bedrückt als befreit, an den Tischen in einem Nebenraum und warteten auf ein paar abschließende Worte von ihm. Er bedankte sich für ihre Anteilnahme. An der etwas längeren Pause, die dann eintrat, ohne dass er weiterredete sondern nur schluckte, merkte man, dass die Anspannung und Niedergeschlagenheit noch nicht von ihm gewichen waren.

Ja Hans, genau so habe ich Dich in Erinnerung, dachte seine von ihm geschiedene Frau Andrea, die sich ebenfalls hier befand, um ihrer Schwägerin das Abschiedsgeleit zu geben. Du bist einer der wenigenMänner, die ich kenne, die ihre Gefühle nicht verbergen. Das macht Dich sehr sympathisch, aber auch angreifbar. Bernd ist da ganz anders, genau das Gegenteil von Dir und ich weiß bis heute nicht, ob ich das gut finde. Jedenfalls nicht gut genug, um ihn zu heiraten, was er gern möchte.

Es gab belegte Brötchen, verschiedene Kuchen, Kaffee und Tee. Nach einiger Zeit der Unterhaltung in gedämpfter Tonlage begannen die Gespräche sich wieder den Alltagsthemen anzunähern, was an der zunehmenden Lautstärke erkennbar war, mit der die Dinge dargestellt wurden, die man wichtig fand: Nachbarn, Urlaub, Autoreparaturen,

Immobilienpreise, Inflationsgefahr.

Wie ist die Welt doch komisch, dachte Paul, als er hörte, wie sich Trauergäste am Nebentisch über den HSV unterhielten, der am Wochenende im eigenen Stadion gegen Borussia Mönchen Gladbach spielen sollte. Jemand stirbt und fast schon im nächsten Augenblick ist er vergessen. Man geht einfach zur Tagesordnung über. Tante Birgit hat das so nicht verdient, bei dem vielen Unglück, gegen das sie ankämpfen musste.

Beim Gedanken daran übermannte ihn die Traurigkeit erneut und um ein Haar hätte er doch noch Tränen vergossen. Aber verdammt, das wollte er nicht. Er wollte jetzt einfach weg. Irina ging es ähnlich. „Nicht jetzt sofort, aber demnächst“, flüsterte sie ihm zu.

Als seine Kinder sich von ihm verabschiedeten, fühlte Wallris sich so allein gelassen, wie er sich niemals zuvor in seinem Leben gefühlt hatte.

„Ich bringe Irina zum Bahnhof, ihr Zug geht um 15 Uhr. Dann fahre ich nach Hannover, lade noch einen Kumpel ein und von dort fahren wir dann nach Karlsruhe. Mach’s gut Papa, hau rein! Ich lasse von mir hören.“

Irina wartete noch ein wenig, schlang dann die Arme um Ihren Vater und legte ihren Kopf an seinen Hals, wie sie es früher immer gemacht hat, wenn sie Sorgen hatte und seine Hilfe brauchte. Ein tiefes Mitgefühl ging von ihr aus, sie murmelte ein paar Abschiedsworte, von denen Wallris nur „ich hab Dich lieb, Papa“, verstand. Der Abschied von ihrer Mutter war ebenfalls sehr herzlich, aber doch nicht ganz so, wie der von ihrem Vater.

Als wäre das Zeichen zum Aufbruch gegeben worden verabschiedeten sich auch alle anderen Trauergäste und ließen Wallris und seine Exfrau allein zurück. Plötzlich mit Andrea allein zu sein bereitete ihm ein gewisses Unbehagen, wie er sich eingestehen musste. „Ich gehe erst einmal die Rechnung bezahlen“, sagte er.

Unschlüssig standen sie dann vor dem Cafe und fühlten sich beide nicht wohl in dieser Situation. Nach ihrer Trennung vor zwei Jahren waren sie sich immer aus dem Weg gegangen. Jeder von ihnen hatte sich im Leben neu eingerichtet und versucht, einfach weiterzuleben. Bisher hatte das ganz ordentlich funktioniert. Das Wenige, was Wallris über Andrea wusste, hatte ihm Irina erzählt. Zum Beispiel, dass sie mit dem Rechtsanwalt Kuhnert zusammen lebte. Alles andere hatte er zu seinem ganz persönlichen Selbstschutz einfach ausgeblendet.

„Wir hatten in der letzten Zeit, als wir merkten, dass es Birgit schlechter ging, versucht, ihr zu helfen. Bernd hat sie in finanziellen Dingen beraten, davon versteht er ja etwas. Aber es war schwierig, an sie heranzukommen. Bernd hat auch dafür gesorgt, dass sie ein Testament hinterlässt, in dem der Nachlass geregelt ist.“

Andrea’s Stimme klang fürsorglich und ruhig, wie er es aus den Anfängen ihrer gemeinsamen Zeit kannte, als die Kinder noch klein waren. Wallris konnte nicht die geringsten Anzeichen von Vorwürfen heraushören, dass er sich um seine Schwester zu wenig gekümmert hätte. Gedanken daran hatten ihn jedoch bereits erfasst, als die Pastorin Birgits tragischen Lebensweg in ihre Ansprache eingebettet hatte.

Ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, dachte er. Aber er hatte es doch. Irgendwo aus der Tiefe seines Unterbewusstseins meldete es sich immer wieder zu Wort.

„Wie kommst Du nach Hause? Oh, Entschuldigung, ich weiß nicht einmal, wo Du übernachtest. Soll ich Dich vielleicht fahren?“

Wallris war immer noch in Gedanken. Wo bin ich denn eigentlich zu Hause?

„Nein danke, das ist nett von Dir, aber ich habe einen Leihwagen und fahre zum Hotel.“

„Wenn etwas sein sollte, Du kannst mich immer anrufen“, sagte sie und reichte ihm ihre Visitenkarte.

Andrea Brentano, Hamburg-Poppenbüttel, las er. Sie hat ihren alten Namen wieder angenommen.

Kapitel 2

Die Hotelbar befand sich hinter der Rezeption in der großen Eingangshalle, etwas im Hintergrund. Des schönen Wetters wegen stand die Tür für den Außenservice offen und Wallris bekam Lust, ein wenig Sonne zu tanken. Fast alle Tische waren mit gut gekleideten Leuten besetzt, die, je nachdem wie alt sie waren, sich teilweise gestenreich unterhielten und gepflegte Konversation machten oder auch nur gelangweilt in die Sonne blickten. Nach dem grauen Tag von gestern genossen alle diesen schönen Vormittag.

„Ist bei Ihnen noch frei?“ fragte er die junge Frau, die etwas abseits, allein an einem kleineren Tisch saß. Ohne ihr Nicken abzuwarten ließ er sich auf den Stuhl sinken, machte es sich bequem und versuchte, eine gute Position zur Sonne einzunehmen. Dann angelte er nach der Karte und las eine Weile darin, wobei er verstohlen seine Umgebung musterte. „Es ist doch immer wieder das Gleiche, kaum scheint die Sonne, ist man frohgelaunt und möchte ins Freie.“

Sie nickte zustimmend, wirkte zunächst aber nicht sonderlich interessiert, den Gesprächsfaden aufzunehmen und weiterzuspinnen.

„Selbst wenn man Hamburg kennt, ist man erstaunt, was diese Stadt alles zu bieten hat“, hörte er sich sagen und bereute seine Aussage im gleichen Augenblick, denn damit hatte er sich weit nach vorn gewagt und wenn sie jetzt konkrete Fragen stellen würde, müsste er vielleicht passen. Das bedeutete natürlich nicht, dass ihm Hamburg gänzlich unbekannt war.

„Ich habe einen halben Tag Zeit und würde mich gern etwas umschauen. Was könnten Sie mir denn empfehlen, von der Reeperbahn einmal abgesehen?“ Ihre Stimme klang fröhlich und unbeschwert und so, als hätte sie bereits erkannt, dass er eher nicht zu den besten Kennern der Stadtszenerie gehörte.

Die Bedienung brachte den Himbeer-Joghurt-Shake, den er sich an der Bar bestellt hatte und wäre um ein Haar über seine ausgestreckten langen Beine gestolpert.

„Also, das hängt natürlich ganz davon ab, welche Akzente Sie setzen möchten. Kunst, Unterhaltung oder nur einfach Sightseeing. Vielleicht wäre eine Bootsfahrt unter Brücken interessant? Denn was die wenigsten Leute wissen: Hamburg ist die Stadt mit den meisten Brücken Europas. Fast 2.500 unterschiedliche Exemplare, wenn ich richtig informiert bin. Auch auf einer Hafenrundfahrt kann man Hamburg kennenlernen. Oder sie besuchen ganz einfach Planten un Blomen. Das wäre etwas mehr fürs Auge und sicher sehr entspannend, bei so schönem Wetter wie heute.“

Während sie überlegte, das Gesicht ruhig in die Sonne hielt und nachdenklich die Augen schloss, betrachtete Wallris sie etwas eingehender. Sie war sehr hübsch und hatte ein andeutungsweise südländisches Aussehen. Die langen, vollen, dunklen Haare waren nach hinten gelegt und wurden von einer modischen Sonnenbrille locker zusammengehalten. Wie alt könnte sie sein? Vielleicht dreißig oder etwas mehr, dachte er. Wenn sie sprach, bewegten sich ihre Lippen, die etwas nach vorn sprangen, vor dem tadellosen Gebiss spielerisch hin und her, auf und ab. Es machte Spaß, ihr beim Sprechen zuzuschauen und zuzuhören. Er glaubte, einen ganz leichten Akzent heraushören zu können.

In ihrer halbgeöffneten weißen Hemdbluse begann ein sehr hübscher Übergang von der Brust zu Hals und Gesicht. Er schaute noch hin, als sie ihre Augen schon wieder geöffnet hatte und fühlte sich ertappt. „Ich - also ich könnte, wenn sie wollen, mir die Zeit nehmen und Sie begleiten, natürlich nur, wenn Sie wollen. Dann könnte ich Ihnen so manches zeigen, was Sie sehen möchten.“

Schon als er sich gesetzt und zu reden anfangen hatte, hatte sie ihn aus den Augenwinkeln betrachtet und festgestellt, dass er zu den männlichen Exemplaren zählte, die sich ihrer Außenwirkung nicht bewusst sind. Ihm fehlte völlig die aufgesetzte, extrovertierte Körperlichkeit von gutaussehenden Männern. Andererseits war er auch nicht mehr ganz so jung und hatte schon einige graue Haare. Etwas nachlässig, was die Kleidung betrifft, dachte sie, aber nicht unedel. „Das Angebot nehme ich natürlich gerne an“, sagte sie unumwunden und war froh, dass der Tag für sie eine so interessante Wendung genommen hatte.

„Hans Wallris“, stellte er sich vor.

„Freut mich, ich bin Alexandra Reber. Ich habe hier im Hotel übernachtet und wollte heute Abend um 18 Uhr den Flug nach München nehmen. Ich muss gegen 16 Uhr am Flughafen sein. Bleiben also sechs Stunden für ein kleines Stadtprogramm.“

Während Wallris auf das Leihauto wartete, das in der Tiefgarage des Hotels geparkt war und gerade vorgefahren wurde, holte sie ihre Reisetasche aus dem Gepäckraum neben der Rezeption. Wenig später steuerte er den schwarzen BMW zur Ludwig-Erhard-Straße und fädelte sich vorsichtig in den zügigen Vormittagsverkehr ein.

„Ich bin ein paar Tage hier, um familiäre Dinge zu ordnen. Meine Schwester ist vor einer Woche gestorben und gestern beerdigt worden. Deswegen bin ich, ehrlich gesagt, ganz dankbar für ein wenig Abwechslung, bevor ich mich mit den unangenehmen Dingen des Lebens beschäftige.“

„Mein herzliches Beileid.“

„Sie hat ein Haus hinterlassen, um das ich mich etwas kümmern sollte und dann sind da noch die üblichen Formalitäten mit dem Nachlass und der damit zusammenhängende Papierkram. Das nervt alles ein bisschen mehr, als man es sich wünscht. In diesem Hotel übernachte ich übrigens gern, ich kenne es von früher. Es liegt schön zentral, man kann alles zu Fuß erreichen und das bietet eine Menge Möglichkeiten, langweilige Abende abwechslungsreich zu gestalten, wenn man nicht in die Glotze starren oder sich an der Hotelbar am gestelzten Gesülze eines erlebnishungrigen Investmentbankers erfreuen will.“

Am Millerntor bog er kurz entschlossen auf die Reeperbahn ein.

„Ich rate mal: das muss die Davidwache sein“, sagte Alexandra, als das markante Backsteingebäude mit der nicht zu übersehenden Aufschrift Polizei und den davor geparkten Polizeiautos zu ihrer Rechten auftauchte.

„Neben Handel und Kultur ist Kriminalität ein Werbeträger von Hamburg“, nickte er zustimmend. „Dort, wo Waren aus Übersee umgesetzt werden, sind auch immer Leute unterwegs, die mit kriminellen Machenschaften an das schnelle Geld kommen wollen. Das gilt für Hamburg genauso wie für Rotterdam, New York oder Schanghai und gehört zum Flair dieser Stadt. Leider ist auch Rauschgift wieder auf dem Vormarsch. Wie in der Zeitung zu lesen war, ist letzte Woche eine riesige Ladung Kokain in einem Container entdeckt worden, der aus Südamerika kam“, erklärte Wallris. „Ich fahre mal in Richtung Wasser, dort kann man den Schiffen zusehen und dann weiter die Elbchaussee hinunter. Von da hat man einen schönen Blick auf die Elbe, das wird Sie bestimmt begeistern.“

Er bog in die Davidstraße ein und als sie den St. Pauli Fischmarkt erreichten, war Alexandra endgültig überzeugt, dass diese Sicht Hamburgs ihr weit besser gefiel als Planten un Blomen. „Fahren Sie bitte etwas langsamer, ich möchte das genießen. Vielleicht sollten wir aussteigen und ein paar Schritte laufen.“

Sie parkten am Beachclub, wo für diese Tageszeit schon ganz ordentlich Betrieb war und schlenderten langsam Richtung Altonaer Fischmarkt. Wallris dachte an das Haus, das Birgit in Altona bewohnt hatte. Er hatte sie dort einige Male besucht, war jedoch immer nur für eine Nacht geblieben. Sie kochte gut und hatte meistens ein schönes Menü zusammengestellt. Bei einer Flasche Rotwein hatten sie dann locker und entspannt in der Erinnerungskiste gekramt und lange geredet.

Die Zeit in Amerika überging sie fast immer, fiel ihm jetzt ein. Erst, wenn sie etwas mehr getrunken hatte, entspannte sie sich und berichtete dann auch mal die eine oder andere Geschichte von Susan. Aber nicht so stolz, wie Eltern von ihren Kindern schwärmen, sondern eher beiläufig und in Nebensätzen, als wollte sie die Erinnerungen für sich behalten. Ihre Jahre in Miami waren für ihn daher ein eher unterbelichtetes Kapitel geblieben und er hatte auch nie direkter nachgefragt, warum das so war.

„So abwesend“? Alexandra sah ihn

zusammenzucken und bedauerte es, ihn in seinen Gedanken gestört zu haben.

„Hamburg ist sehr schön“, sagte sie. „So direkt und auffordernd habe ich selten eine Stadt erlebt. Es muss aufregend sein, hier zu leben und zu arbeiten. Die Elbphilharmonie kommt mir wie ein riesiges Schiff vor! Ich habe in der Zeitung von diesem sündhaft teuren Bauwerk gelesen. Was halten Sie davon?“

„Sie passt hierher“, antwortete er. „Sie spiegelt die hanseatische Befindlichkeit wieder: Lieber nicht ganz so groß, als viel zu klein. Ein Monument der Kultur und Unterhaltung inmitten einer modernen Arbeitsund Geschäftswelt.“

„Ein imposantes Bauwerk.“

„Hier in Hamburg gibt es alles, was man sich zum Leben wünscht. Vor allem Wasser. Wohnen würde ich allerdings nicht in der Speicherstadt direkt am Wasser sondern eher in Poppenbüttel, vielleicht auch in Altona. Es muss nicht groß sein, aber gemütlich, mit Garten und Terrasse.“

Als sie die Elbchaussee hinunter fuhren in Richtung Wedel hatten Beide das Gefühl, sich unmerklich nähergekommen zu sein ohne viel von sich selbst preisgegeben zu haben. Keiner wusste Näheres von dem Anderen. Weder was er beruflich machte, noch ob verheiratet, geschieden oder ledig, nichts.

Dennoch hatte nach der kurzen Zeit des

Zusammenseins ein Gefühl von Vertrautheit von Ihnen Besitz ergriffen, als würden sie sich schon sehr lange kennen oder mindestens schon eine ganze Weile.

Gut, diese Frau! dachte Wallris, einfach gut! Sieht nicht nur gut aus, man kann sich gut mit ihr unterhalten. Sie hat das, was ich an Frauen mag.

Die Zeit verging schnell, nachdem sie ziellos durch Blankenese gelaufen waren, Treppen rauf und runter und am Elbufer entlang. Als sie Sagebiel’s Fährhaus verließen, wo sie auf der Terrasse gesessen und den vorbeifahrenden Schiffen zugeschaut hatten, war es bereits vier Uhr. Sie hatten einfach den schönen Tag genossen. Die laue Brise, die über die Haut strich, hatte ihre sinnlichen Wahrnehmungen verstärkt. Beide spürten das aufregend angenehme Spannungsgefühl, welches sich einstellt, wenn der Körper von Hormonen beflügelt wird.

Wallris stellte erstaunt fest, dass er heute endlich wieder einmal von sich sagen konnte, einfach nur entspannt und glücklich zu sein. „Briefträger in Blankenese ist sicher nicht der einfachste Job, nur etwas für Leute mit einer bombastischen Kondition“, sagte er lachend, weil er gemerkt hatte, wie schlecht seine eigene war.

„Ich muss Dir ein Kompliment machen, Du bist ein besserer Stadtführer, als ich anfangs gedacht hatte, obwohl ich eigentlich nichts Konkretes von Dir zu diesem Stadtteil erfahren konnte. Weder wie alt er ist, noch wer ihn gegründet hat. Aber die

Besichtigungstour war schön und aufregend. Leider geht sie bald zu Ende“, sagte Alexandra mit echtem Bedauern. „Ich lade Dich irgendwo noch zu einem Kaffee ein und Du fährst mich dann zum Flughafen, wenn es Dir recht ist. Dann bleibt Dir noch genügend Zeit, Dich um Deine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern.“

Er hatte vor der Eingangshalle zum Terminal geparkt. Sie standen sich für einen Moment gegenüber und schauten sich wortlos an.

„Mach’s gut Alexandra, es war schön mit Dir.“ Wallris nahm sie fest in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann, ohne nachzudenken, näherte sich sein Mund ihren Lippen und es folgte ein langer, weicher Abschiedskuss, der atemlos endete und ihm Herzklopfen verursachte.

„Tschüs!“

Seine Blicke folgten ihr. Er wollte ihr noch nachrufen, dass er etwas vergessen hatte, aber es fiel ihm nicht ein was. Er war völlig verwirrt. Sie drehte sich um, winkte ihm noch einmal zu, bis sie durch die Drehtür in der gläsernen Halle verschwunden war.

Unschlüssig setzte er sich ins Auto, zögerte einen Augenblick - vielleicht sollte er ihr nachlaufen? - und programmierte dann das Navi auf Hamburg, Eggersallee. München ist nicht aus der Welt, ich kann sie ja anrufen, dachte er.

Kapitel 3

Er ging durch den kleinen Vorgarten und schloss die Haustür auf. Es roch nach Bohnerwachs und Pflegemitteln. Irgendein Ventil schafft sich jeder Mensch, um Luft abzulassen, dachte er. Für Birgit war es das Putzen.

Den Großteil der schönen alten Möbel hatte sie von Tante Ulla übernommen, die ihr das Haus verkauft hatte, bevor sie ins Altersheim umgezogen war. Sie waren geschmackvoll im unteren Wohnbereich verteilt und bildeten einen gewollt gediegenen Kontrast zu den hellen Tapeten und modernen Vorhängen. An den Wänden hingen einige alte Ölschinken mit Ansichten von Schiffen, Meeren und Dünen, aber auch viele neue Bilder in Aquarelltechnik, die Birgit selbst gemalt hatte. Sie hatte mehrere Malkurse belegt und das, was da von ihr an den Wänden hing, konnte sich wirklich sehen lassen. Seit seinem letzten Besuch waren viele neue Bilder dazugekommen. Hingehauchte zarte Landschaften, Obstbaumgärten und knallgelbe Rapsfelder vor hellblauen Seepanoramen, aber auch herrlich farbstarke Blütenporträts. Wallris war nicht erstaunt, er kannte das künstlerische Talent seiner Schwester. Er versuchte sich zu erinnern, wann er sie das letzte Mal in Hamburg besucht hatte. Es war schon eine ganze Weile her. Erschrocken drehte er sich um, als er hörte wie es an der Haustür klingelte.

„Entschuldigung, dass ich so hereinplatze, aber als ich Sie vor dem Haus parken sah, wollte ich mal rüberkommen und mich mit Ihnen bekannt machen. Mein Name ist Bredenfeld, ich wohne im Haus nebenan. Ich war auch auf der Beerdigung, aber ganz sicher haben Sie mich da nicht bemerkt.“

Wallris sah dem alten Herrn eine gewisse Neugierde an.

„Nett, Sie kennenzulernen, Herr Bredenfeld“, sagte er freundlich.

Dieser machte eine kurze Pause und blickte sichtbar irritiert auf die Gänseblümchen, die aus dem obersten Knopfloch von Wallris Lederjacke hervorschauten und immer noch gut erhalten und frisch aussahen. Alexandra hatte sie ihm dorthin gesteckt.

„Ich hatte immer einen guten Kontakt zu Frau Walker. Sie hatte mir einen Ersatzschlüssel gegeben, für den Fall, dass dieser einmal benötigt werden sollte. Man weiß ja nie, was so alles passiert und sie wohnte hier ganz allein. Hier ist er! Sollten Sie Hilfe benötigen, bin ich gerne für Sie da.“ An der Haustür drehte er sich noch einmal um. „Ihre Schwester war wirklich eine sehr nette Frau.“

Wallris war müde, ließ sich auf das Sofa fallen und streckte die Beine aus. Nach einem Blick auf die Uhr nahm er an, dass Alexandra mittlerweilen schon eingecheckt hatte und auf ihren Flug wartete. Er schloss die Augen und dachte an den schönen Tag mit ihr. Ich werde sie morgen anrufen.

Das Telefon klingelte: „Rechtsanwaltskanzlei Dr. Kuhnert, ich verbinde Sie weiter.“

„Kuhnert“, meldete sich eine laute und tiefe Stimme. „Herr Wallris? Zunächst mein herzlichstes Beileid.

Ich bin für den Nachlass Ihrer Schwester zuständig und hatte versucht, Sie in dieser Sache schon heute Vormittag im Hotel zu kontaktieren, konnte Sie aber leider nicht erreichen. Wie mir bekannt ist, müssen Sie wieder nach Mannheim zurück, daher habe ich mich bemüht, alles ein wenig schneller zu erledigen, als es sonst üblich ist. Ich habe alle testamentarischen Unterlagen beim Amtsgericht Hamburg-Altona eingereicht und um einen schnellen Termin nachgesucht. Die Nachlasseröffnung ist morgen, um 10 Uhr vormittags. Könnten Sie danach in meine Kanzlei kommen, um nähere Einzelheiten zu besprechen? Am besten um 11 Uhr, dann werde ich mir für Sie Zeit nehmen.“

Wallris blieben nur Sekunden, um seine Zustimmung zu geben, als das Gespräch auch schon, mit einem kurzen, „also dann bis morgen“, beendet war. Rechtanwälte haben nie viel Zeit! Vielleicht sind sie arbeitsamer als andere Zeitgenossen oder einfach nur schlecht organisiert, dachte er.

Das Gespräch hatte ihn wieder mitten hinein in die Realität befördert. Er war hier um den Nachlass seiner Schwester zu ordnen und dabei sollte ihm Kuhnert helfen. Morgen würde er also seinen Nachfolger bei seiner Exfrau kennenlernen. Er konnte nicht sagen, was das für ein Gefühl war. Er wusste nur, dass Irina, die ihn einmal getroffen hatte, von ihm nicht sonderlich begeistert war. „Ein typischer Affe, ich verstehe nicht, warum Mama sich so einen ausgesucht hat“, lautete ihr Kommentar.

Er kannte seine Ex jedoch gut genug, um zu wissen, welche Dinge sie wichtig fand, nämlich anerkannt zu werden und gesellschaftlich gut vernetzt zu sein. Also hatte er sich Irina gegenüber mit Äußerungen in dieser Hinsicht vornehm zurückgehalten und erfreut zur Kenntnis genommen, dass er in ihr eine Verbündete gefunden hatte.

Paul hatte sich bei diesem Thema eher neutral verhalten, für ihn war Kuhnert schlicht und einfach Mamas neuer Lover. Ganz neutral war er allerdings auch nicht, denn einmal nannte er ihn geringschätzig Mamas Anwaltsfuzzi.

Wallris hatte immer versucht, seine Kinder aus dem ganzen Schlamassel herauszuhalten, ob das allerdings gelungen war, konnte er nicht sagen.

Die Probleme in ihrer Ehe hatten erst angefangen, als die Kinder schon fast mit der Schule fertig waren. Als Chemie-Ingenieur war er viel im Ausland unterwegs und Andrea hielt ihm den Rücken frei.

Ganz souverän managte sie alles, was in der Familie so anfiel. Nebenbei arbeitete sie als freie Mitarbeiterin für das Lektorat eines Heidelberger Zeitungsverlages. Kam er nach manchmal wochenlanger Abwesenheit nach Hause, war alles in bester Ordnung. Andrea klagte wenig, jedenfalls nicht in seiner Anwesenheit. Irina ermahnte ihn manchmal: „Du musst dich mehr um Mama kümmern! Geht doch mal zusammen ins Kino oder unternehmt mal was zusammen.“ Aber da er so oft unterwegs war, fand er es schön, in bequemen Klamotten zu Hause rumzuhängen. Und dann war da jener Abend, als er die Kinder vom Schulfest abholen sollte und ganz beiläufig bei Andrea anfragte, ob sie das für ihn erledigen könnte, weil er lieber den Tatort mit Rosa Roth sehen wollte. „Ich habe auch schon ein Glas Rotwein zu viel getrunken“, hatte er noch hinzugefügt, um seine Aussage zu unterstützen.

So, wie Andrea damals in die Luft gegangen war, hatte er sie niemals vorher erlebt. Er hörte Vokabeln, die er ihr einfach nicht zugetraut hatte!

„In dieser Familie denkt doch jeder nur an sich. Ich reiß mir den Arsch auf, schufte wie eine Beknackte und bei mir wird die ganze Scheiße abgeladen“, schrie sie. „Und Du, Hans Wallris, machst einfach die Beine lang, hängst vor der Glotze rum und pflegst Deine plüschige Gemütlichkeit. Immer schön abtauchen, wenn Probleme da sind! Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, so weiterzumachen. Ich will endlich mal richtig leben und mich verwirklichen!“ Nach diesem lang aufgestauten Vulkanausbruch hatte er selbstverständlich sofort auf Rosa Roth verzichtet und die Kinder abgeholt, obwohl das mit dem Rotwein stimmte.

In der Folgezeit waren sie öfter mal zusammen ins Kino gegangen, hatten interessante Aufführungen im Mannheimer Nationaltheater gesehen, Schlosskonzerte in Heidelberg besucht und Dampferfahrten auf dem Rhein unternommen. Er hatte sich Mühe gegeben, alte Hits auszugraben, von Phil Collins, Modern Talking, Dire Straits oder a-ha, die sie früher gern zusammen gehört hatten. Er hatte sogar mit seinem Vorgesetzten gesprochen und um weniger Auslandseinsatz gebeten, um mehr Zeit für die Familie zu haben.

„Mensch Wallris, sie sind einer meiner besten Männer. Unser China-Geschäft läuft gerade auf vollen Touren und die chinesischen Auftraggeber sind hochzufrieden mit Ihnen. Alle schätzen Ihre Kompetenz und besonders Ihre Freundlichkeit. Sagen Sie mir, wie viel Gehaltserhöhung Sie brauchen und ich genehmige die Sache. Aber sagen Sie mir bitte nicht, dass Sie sich hier im Werk verkriechen wollen, bei all den Talenten, die sie haben.“ Winter hatte sich richtig in Rage geredet und Wallris konnte einfach nicht nein sagen. Also hatte er sich für die Gehaltserhöhung entschieden und insgeheim gehofft, dass sich mit Andrea alles wieder einrenken würde.

Aber daraus wurde leider nichts.

Ihre Beziehung lief einfach nicht mehr. Etwas war kaputt gegangen, auch im Bett, wo sonst alles sehr harmonisch gewesen war. Tote Hose auf der ganzen Linie. Das Feuer war erloschen. Ihre Ehe, so musste er sich widerstrebend eingestehen, war am Ende und nicht mehr zu retten. Ein Jahr später reichte Andrea die Scheidung ein. Er hatte genügend Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, dass sie nicht mehr seine Frau sein wollte.

Andrea zog nach Hamburg und nahm eine Stelle als stellvertretende Abteilungsleiterin im Kulturressort einer großen Wochenzeitung an. Ihr Vater kannte den Chefredakteur und hatte sich für sie eingesetzt, froh darüber, seine einzige Tochter wieder um sich zu haben. Sie hatte ihren Traumjob gefunden und ihre Karriere verlief so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Für viele interessante Leute aus Wirtschaft, Politik und der Medienbranche war sie eine gern gesehene Gesprächspartnerin, nicht nur weil sie gut aussah, sondern weil sie wirklich etwas auf dem Kasten hatte. Und bei einer dieser vielen Gelegenheiten hatte sie auch Kuhnert kennengelernt. Neuerdings war sie auch noch Mitglied bei den Grünen geworden. Selbstverständlich mit Aussicht auf eine Parteikarriere. „Solche Leute wie Dich brauchen wir“, hatte ihr einer der Parteivorsitzenden versichert.

Irina und Paul nahmen das mit der Scheidung sehr gelassen auf. Nur manchmal kam es ihm so vor, als ob besonders Irina die Familie vermissen würde.

Vielleicht war es aber auch nur der schmerzliche Gedanke, dass eine unbeschwerte Zeit unwiederbringlich vorbei war.

Zwei Monate nach Andreas Auszug hatte er Iris kennengelernt, eine junge Lehrerin, die im Kurpfalz-Gymnasium in Mannheim Englisch und Sport unterrichtete. Sie war oft mit ihrem Hund Othello unterwegs, einem schwarzen Riesenschnauzer. Einmal, als sie sich auf den Neckarwiesen beim Joggen entgegenliefen, machte Othello abrupt Halt, baute sich vor ihm auf, bleckte die Zähne und knurrte ihn ohne ersichtlichen Grund bedrohlich an. Iris versuchte, ihn zu rufen, was völlig erfolglos blieb, kam dann gerannt und zog ihn ärgerlich am Halsband zurück. „Pfui, Oti, das macht man nicht“, stieß sie etwas außer Atem hervor. „Er tut das sonst nie, ich bin völlig sprachlos!“

Für Wallris, der einfach nur ruhig stehengeblieben war, bestand kein Grund zur Panik. Er kannte sich mit Hunden aus. Bis vor wenigen Jahren war Alex voll integriertes Mitglied ihrer Familie gewesen, ein Boxerrüde mit Anrecht auf einen gelegentlichen Sofaplatz. Wenn der ihm allerdings streitig gemacht wurde, hatte er manchmal ähnlich reagiert. Alles nur Schau, Ruhe bewahren, war das Beste, was man tun konnte. Also sprach er den schwarzen Riesen ruhig an und hielt ihm die Hand zum Beschnüffeln hin. Oti verstand das als Angebot und roch daran.

Augenblicklich hörte er auf zu knurren und wedelte stattdessen heftig mit seinem Stummelschwanz. Die Begrüßung war erfolgreich verlaufen, weil die Chemie stimmte und Oti offensichtlich auf der Suche nach einem passenden Herrchen für sein Frauchen war. Iris traute zunächst ihren Augen nicht, musste sich dann aber später eingestehen, als sie mit Wallris schon längere Zeit mehr als nur gut befreundet war, dass Hunde doch über eine ausgesprochen gute Menschenkenntnis verfügen.

Er mochte Iris sehr gern, ohne sie wirklich zu lieben. Sie war eine absolute Optimistin und immer für gute Laune zuständig. Manchmal vielleicht etwas zu laut und zu direkt, so als wolle sie auch bei ihm zu Hause für Stimmung sorgen, so wie in ihrem Unterricht. Aber sie kamen gut miteinander aus, weil sie immer dann, wenn er unterwegs war, sich selbst organisieren konnte. „Damit habe ich kein Problem, damit kann ich umgehen“, behauptete sie immer. Auch seine Kinder kamen gut mit ihr zurecht, wegen ihrer unkomplizierten, kumpelhaften Art.

Als er eines Tages von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückkam, hatte er einen Brief von ihr im Postkasten gefunden.

Lieber Hans,

es war sehr schön mit Dir und ich habe die Zeit genossen. Ich habe immer versucht mein Bestes zu geben, aber meine Natur zieht mich eher zu Frauen hin. Sei mir nicht böse, ich habe lange mit mir ringen müssen, bis ich den Entschluss gefasst habe, es Dir zu sagen.

Gruß und Kuss

Iris

Er verscheuchte seine Erinnerungen und versuchte sich wieder in der Gegenwart einzufinden. Das ist schon eine ganze Weile her, dachte er. Vielleicht sollte ich morgen mal bei Alexandra anrufen und fragen, ob sie gut angekommen ist. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er weder ihre Adresse, noch ihre Telefonnummer hatte und sie die von Ihm auch nicht. Wenig professionell, aber es gibt ja andere Möglichkeiten, tröstete er sich. Da er im Haus nicht länger bleiben wollte, fuhr er zum Hotel zurück und schaute an der Rezeption vorbei.

„Hier im Hotel hat eine junge Dame mit Namen Alexandra Reber übernachtet. Wir hatten eine geschäftliche Besprechung. Sie hat Arbeitsunterlagen vergessen, die sie für einen wichtigen Termin dringend benötigt. Würden Sie ihr diese bitte nachsenden? Am besten mit Express.

„Alexandra Reber, ich schaue mal in der Gästeliste nach“, sagte der junge Mann und scrollte sich durch das Namensverzeichnis. „Eine Alexandra Reber ist leider nicht bei uns gewesen. Tut mir leid, vielleicht haben Sie den Namen verwechselt?“

Wallris‘ Sprachlosigkeit spiegelte sich in seinem Gesicht wider.

„Versuchen Sie es doch bitte noch einmal!“