Schneeflöckchen, Weißpfötchen - Petra Schier - E-Book

Schneeflöckchen, Weißpfötchen E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

Santa Claus weiß nicht, wo ihm der Kopf steht: Vor einem Jahr wurde praktisch auf den letzten Drücker zu Weihnachten ein großer Wunsch an ihn übermittelt, den er wegen technischer Probleme jedoch erst jetzt entdeckt: Xander, ein erfolgreicher Fotograf und Reiseblogger, wünscht sich nichts mehr, als dass seine beste Freundin Ellie seine Gefühle für ihn erwidert. Zunächst sieht es so aus, als könnt sich dieser Wunsch mit nur wenig Aufwand erfüllen lassen, doch dann taucht Patrice auf, ein smarter Anwalt, der Ellies Aufmerksamkeit stiehlt. Santa hat eine Idee, er schickt die weiße Schäferhündin Amara zu Ellie, damit sie und Xander sich gemeinsam um sie kümmern können. Die beiden sind von der Hündin verzaubert, aber Ellie wehrt sich noch immer gegen den Gedanken, Xander könnte mehr für sie sein als nur ihr bester Freund.

Wird es für die beiden am Ende ein Fest der Liebe geben?

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Seitenzahl: 441

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

»Santa Claus weiß nicht, wo ihm der Kopf steht: Vor einem Jahr wurde praktisch auf den letzten Drücker zu Weihnachten ein großer Wunsch an ihn übermittelt, den er wegen technischer Probleme jedoch erst jetzt entdeckt: Xander, ein erfolgreicher Fotograf und Reiseblogger, wünscht sich nichts mehr, als dass seine beste Freundin Ellie seine Gefühle für ihn erwidert. Zunächst sieht es so aus, als könnt sich dieser Wunsch mit nur wenig Aufwand erfüllen lassen, doch dann taucht Patrice auf, ein smarter Anwalt, der Ellies Aufmerksamkeit stiehlt. Santa hat eine Idee, er schickt die weiße Schäferhündin Amara zu Ellie, damit sie und Xander sich gemeinsam um sie kümmern können. Die beiden sind von der Hündin verzaubert, aber Ellie wehrt sich noch immer gegen den Gedanken, Xander könnte mehr für sie sein als nur ihr bester Freund. 

Wird es für die beiden am Ende ein Fest der Liebe geben?

Zur Autorin

Seit Petra Schier 2003 ihr Fernstudium in Geschichte und Literatur abschloss, arbeitet sie als freie Autorin. Neben ihren zauberhaften Liebesromanen mit Hund schreibt sie auch historische Romane. Sie lebt heute mit ihrem Mann und einem deutschen Schäferhund in einem kleinen Ort in der Eifel.

Petra Schier

Schneeflöckchen, Weißpfötchen

Roman

HarperCollins

Originalausgabe

© 2025 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Covergestaltung von zero Werbeagentur, München

Coverabbildung von Oleksiy Mark, otsphoto, Yellowj, Eric Isselee / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783749909339

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberin und des Verlags bleiben davon unberührt.

1. Kapitel

»Ach du liebes bisschen, was ist denn hier explodiert?« Fassungslos stand Elfe-Sieben in der Bürotür und starrte auf das Chaos aus Aktenordnern, Wunschzettelstapeln und … Bedienungsanleitungen? So gut wie jede Oberfläche im Raum war unter Bergen von Papier verschwunden.

»Wie bitte?« Ein dumpfes Poltern folgte. »Au!« Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, tauchte unter seinem Schreibtisch auf und rieb sich stöhnend den Kopf.

»Pass doch auf, mein Lieber!« Halb lachend, halb mitfühlend, richtete sich Santas Ehefrau auf und blickte in Richtung der kleinen Weihnachtselfe, die schon seit vielen Jahren als Assistentin des Weihnachtsmannes arbeitete. »Ach, du bist es, Elfe-Sieben. Du kommst gerade recht, um uns beim Suchen zu helfen.« Sie warf einen kurzen Blick auf die runde Uhr über der Tür. »Bist du nicht ein bisschen spät dran?«

Elfe-Sieben nickte verlegen. »Ich habe verschlafen, tut mir leid. Die Batterien an meinem Wecker waren leer.« Noch einmal blickte sie sich mit großen Augen um. »Wonach sucht ihr denn?«

Sich immer noch den Kopf reibend, erhob Santa Claus sich und setzte sich auf seinen Drehstuhl. »Nach der Bedienungsanleitung für das Weihnachtswunsch-Radar. Elf-Dreizehn hat sie mir vor Jahren ausgehändigt, aber ich weiß partout nicht mehr, wo ich sie abgelegt habe.«

»Und ausgerechnet heute ist Elf-Dreizehn nicht da, weil er mit Elfe-Sechzehn zu dieser Schlittenausstellung auf der Erde gegangen ist«, ergänzte seine Frau und erhob sich ebenfalls. »Wir haben schon alles abgesucht, aber die Anleitung ist wie vom Erdboden verschluckt.«

Vorsichtig, um nicht auf einen Stapel Papier zu treten oder einen Stapel Aktenordner umzuwerfen, trat Elfe-Sieben näher an den Schreibtisch des Weihnachtsmanns heran. »Oje, ich fürchte, da könnt ihr lange suchen. Die Anleitung ist nicht hier im Büro. Santa, erinnerst du dich nicht, dass du damals genau so eine Suchaktion wie diese hier vorausgesehen und mich gebeten hast, in unserem Archiv ein eigenes Regalfach für alle Betriebsanleitungen anzulegen, die wir besitzen?«

»Ach, hm.« Santa Claus ließ von der offensichtlichen Beule ab, die er sich bei dem unsanften Kontakt mit der Schreibtischplatte zugezogen hatte, und strich sich verlegen durch den weißen Rauschebart. »Jetzt, wo du es sagst, klingelt etwas bei mir.«

»Das erklärt dann wohl auch, warum wir hier im Büro nicht eine einzige Anleitung gefunden haben.« Seufzend ließ Santas Frau sich auf dem Rand des Schreibtischs nieder. »Ich hatte mich schon darüber gewundert.«

»Ich kann die Anleitung für das Weihnachtswunsch-Radar rasch holen.« Elfe-Sieben wandte sich zur Tür, drehte sich jedoch noch einmal um. »Wozu braucht ihr sie denn überhaupt? Ist das Radar etwa kaputt?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Verzagt hob der Weihnachtsmann die Schultern. »Ich wollte es heute zur Kontrolle erstmals für dieses Jahr starten, weil wir ja nun Anfang November haben und die ersten Wunschzettel eintrudeln. Es steht zwar das ganze Jahr über auf Empfang, aber um die eingetroffenen Wünsche herunterzuladen, muss es ja mit dem Computer gekoppelt sein.« Wieder strich er sich durch den Bart. »Dabei fiel mir auf, dass es wohl vor längerer Zeit, wann genau, weiß ich nicht, einen Absturz oder eine Fehlfunktion gegeben haben muss. Schau, hier.« Er deutete auf den Computerbildschirm. »Immer, wenn ich die Software zu starten versuche, erscheint diese Error-Meldung.«

Neugierig trat Elfe-Sieben näher, um ebenfalls auf den Bildschirm blicken zu können. »Error 20729 Stack overflow«, las sie halblaut vor, was die rot hinterlegte Fehlermeldung besagte.

»Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll.« Der Weihnachtsmann klang nun besorgt. »Man kann die Meldung auch nicht einfach wegklicken, denn dann verlangt sie nach einer Bestätigungs-PIN.« Wieder deutete er auf den Bildschirm. »Aber man kann im Hintergrund sehen, dass mehrere Wünsche eingegangen sind, siehst du? Hier, am Postfach-Icon steht eine rote Zahl. Ich muss herausfinden, wie ich diese Fehlermeldung quittieren kann, um die Wünsche abzurufen.«

»Ich verstehe.« Elfe-Sieben nickte und wirbelte um die eigene Achse. »Bin schon unterwegs!«

Es dauerte wirklich nicht lange, bis sie mit der Bedienungsanleitung aus dem Archiv im Keller zurückkehrte, dennoch trommelte Santa Claus ungeduldig mit den Fingern neben der Computermaus auf die Tischplatte.

»Da haben wir es schon!« Elfe-Sieben blätterte bereits in dem recht umfangreichen Buch. »Hier, im Kapitel der Fehlermeldungen.« Sie tippte auf eine Seite. »Error 20729 Stack overflow bedeutet …« Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, dann hob sie mit besorgter Miene den Kopf. »Das bedeutet, ein überdimensionaler Wunsch verursacht einen Absturz der Software und verstopft danach sozusagen den Posteingang.«

»Und wie kann man das reparieren?« Santas Frau streckte die Hand nach der Betriebsanleitung aus und las sich, als die Elfe sie ihr aushändigte, den betreffenden Abschnitt durch. »Hier steht auch nur, dass man diese PIN eingeben muss und danach den Wunsch, der das Problem verursacht hat, manuell in einen eigenen Ordner verschieben soll, um ihn zu bearbeiten. Wie die PIN lautet, steht leider nicht dabei.«

»Ich kann mich auch gar nicht entsinnen, so eine PIN von Elf-Dreizehn erhalten zu haben.« Santa Claus runzelte die Stirn. »Und was nun?«

»Versuch es doch mal mit der vierstelligen PIN, mit der du dich auch am Betriebssystem selbst anmeldest, wenn du den Computer startest.« Elfe-Sieben grinste. »Bestimmt hat Elf-Dreizehn die hinterlegt, weil er ganz genau weiß, dass du bei zig verschiedenen Zahlenkombinationen bloß durcheinandergerätst.«

»Hm …« Mit immer noch mit gerunzelter Stirn gab Santa Claus die PIN ein – und atmete erleichtert auf. »Es hat funktioniert! Dann wollen wir doch mal sehen, was das für ein riesiger Wunsch sein soll, der …« Er brach ab und hustete. »Ach herrje. Schatz, Elfe-Sieben, schaut euch das mal an! Das ist ja ungeheuerlich.«

»Lass sehen.« Die Frau des Weihnachtsmannes beugte sich neugierig vor, und auch Elfe-Sieben drängte sich neben sie, um erkennen zu können, was auf dem Bildschirm zu sehen war.

»Der Wunsch ist ja auf den vierundzwanzigsten Dezember des vergangenen Jahres datiert!« Die Elfe blickte Santa mit großen Augen an. »Aber er ist in den Ordner für dieses Jahr verschoben worden.«

»Das muss beim oder nach dem Systemabsturz passiert sein.« Santas Frau blätterte erneut in der Betriebsanleitung. »Hier steht, dass das automatisch geschieht, wenn die Wunscherfüllungsphase des laufenden Jahres abgeschlossen ist. Und das war sie ja an Heiligabend.« Sie warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm. »Da, die Uhrzeit belegt es. Als dieser Wunsch eingegangen ist, bist du bestimmt gerade zu deiner Reise um die Welt aufgebrochen.«

»Und der Wunsch lag nun also das ganze Jahr über in diesem Ordner, ohne dass ich ihn entdeckt habe?« Der Weihnachtsmann verzog besorgt die Lippen. »Das gefällt mir gar nicht.«

»Anscheinend hat der Systemausfall damals dafür gesorgt, dass er versehentlich als ›gelesen‹ markiert wurde.« Elfe-Sieben hatte Santas Frau die Anleitung wieder abgenommen und überflog die Texte zur Problembehandlung. »Das sollte eigentlich nicht passieren, da muss Elf-Dreizehn unbedingt noch mal ran und das überprüfen. Die Error-Meldung scheint nur ausgelöst worden zu sein, weil inzwischen noch weitere Wünsche eingetroffen sind und für die komplette Verstopfung des Postfachs gesorgt haben.«

»Sobald Elf-Dreizehn wieder da ist, sage ich ihm Bescheid.« Santa Claus fuhr mit dem Mauszeiger über die eingegangenen Gedanken-Wünsche. »Die sind alle nicht sonderlich groß oder auffällig, zumindest nicht im Vergleich zu diesem hier.« Der Mauszeiger verharrte kurz auf dem Wunsch von vor knapp einem Jahr. Als Santa Claus ihn mit einem Doppelklick öffnete, schrillte hinter ihm das Gefühlsradar in ohrenbetäubender Lautstärke los.

»Um Himmels willen!« Santas Frau zuckte zusammen, sprang auf, eilte zu dem Gerät in der Ecke hinter dem Schreibtisch und regelte den Ton rasch herunter. »Seht euch bloß mal diese heftigen Ausschläge an!«

Santa Claus warf nur einen kurzen Blick über die Schulter, konzentrierte sich aber sogleich wieder auf den Wunsch, der ihm auf dem Bildschirm angezeigt wurde. »Oh, oh, oh«, brummte er vor sich hin. »Was haben wir denn da? Kein Wunder, dass das Gefühlsradar anspringt.«

»Stimmt.« Elfe-Sieben hatte sich anstelle von Santas Frau auf der Tischkante niedergelassen. »Das ist ein hoch emotionaler Weihnachtswunsch, und wie es aussieht, wurde er von der Weihnachtsfeier, auf der er gedacht wurde, noch vervielfacht.«

»Was ist das denn nun für ein Wunsch?« Die Ehefrau des Weihnachtsmannes wandte sich wieder von dem Gefühlsradar ab. »Worum geht es dabei?«

»Um die Liebe.« Elfe-Sieben seufzte verzückt. »Die ganz große Liebe!«

»Oha.« Auf der Miene von Santas Frau erschien ein besorgter Ausdruck. »Das sind immer die schwierigsten und auch die gefährlichsten Wünsche.«

»Stimmt auffallend.« Santa Claus tippte bereits auf der Tastatur einige Befehle. »Sehen wir uns erst einmal an, wer dieser Xander ist, der den Wunsch gedacht hat … Aha!«

»Ein junger Fotograf und Reiseblogger. Hier steht sogar, wie man seinen Namen ausspricht. Englisch nämlich, also Sänder mit weichem S am Angang. Bestimmt spricht das fast jeder falsch aus, deshalb ist es im Himmelsarchiv für uns hinterlegt.« Elfe-Sieben beugte sich so weit vor, dass ihre spitze Mütze ihr beinahe vom Kopf gerutscht wäre. Hastig rückte sie ihre Kopfbedeckung wieder gerade. »Anscheinend kommt er viel in der Welt herum, aber zu Weihnachten war er bei seiner Angebeteten zu Besuch.«

»Bei seiner Angebeteten?« Santas Frau lachte. »Sagt man das heute überhaupt noch?«

»Ist doch egal.« Elfe-Sieben grinste. »Schaut lieber mal genau hin, wer seine Ellie ist. Wir haben vor einiger Zeit ihrer älteren Schwester geholfen, ihren Weihnachtswunsch zu erfüllen und ihr Glück zu finden.«

»Jana Weißmüller.« Santa grinste ebenfalls. »Das ist doch diese talentierte Glaskünstlerin.«

»Ganz genau.« Elfe-Sieben nickte enthusiastisch. »Sie lebt in dieser entzückenden kleinen Stadt im Rheinland, in der wir schon so viele große Weihnachtswünsche erfüllen durften.«

»Und nun ist also ihre Schwester Ellie an der Reihe.« Aufmerksam blickte Santas Frau ihrem Mann über die Schulter. »Oder vielmehr … Wie genau steht dieser Xander denn zu Ellie? Sie scheinen etwa im gleichen Alter zu sein.«

»Sie sind gut befreundet.« Santa Claus scrollte sich durch die weiteren Informationen, die er aus dem Himmelsarchiv abgerufen hatte. »Sehr gut sogar. Er, Ellie, eine junge Frau namens Jelena und deren jüngerer Bruder Arian. Aus den Archivdaten geht hervor, dass sie so etwas wie ein vierblättriges Kleeblatt waren, zumindest während der Schulzeit und noch ein Weilchen danach. Dann haben alle ihre Ausbildungen gemacht und sind ihre jeweiligen Wege gegangen, haben sich aber nie aus den Augen verloren, obwohl Xander nach seiner Ausbildung zum Fotografen erst bei verschiedenen Zeitschriften und Magazinen gearbeitet und sich danach mit seinem Reiseblog selbstständig gemacht hat und viel durch ganz Europa gereist ist.«

»Ellie betreibt doch zusammen mit ihrer Mutter einen Friseursalon, wenn ich mich nicht irre, oder?«, warf Elfe-Sieben eifrig ein.

»So ist es«, bestätigte der Weihnachtsmann. »Vergangene Weihnachten war Xander, anscheinend ganz überraschend, zusammen mit seiner jüngeren Schwester Xenia bei Ellies Familie zu Besuch. Die Details muss ich mir noch ganz in Ruhe ansehen.«

»Und dort hat er an Heiligabend also einen großen Wunsch gedacht.« Santas Frau verzog nachdenklich die Lippen. »Wenn ich das richtig sehe, hat er sich gewünscht …«

»Dass Ellie endlich seine Gefühle erwidert«, vervollständigte Elfe-Sieben den Satz. »Ist das nicht furchtbar romantisch?«

Santas Frau räuspert sich. »Ich würde es eher nur als furchtbar bezeichnen.«

»Warum das denn?« Der Weihnachtsmann drehte sich verblüfft zu ihr um.

Sie hob die Schultern. »Weil Liebe nicht einfach herbeigewünscht werden kann – und erzwungen auch nicht. Ich fürchte, das ist so ein Wunsch, der sich nur ganz schwer erfüllen lassen wird. Denn wenn Ellie Xanders Gefühle bis jetzt nicht erwidert hat, wie willst du es anstellen, dass sich das ändert? Noch dazu in den wenigen Wochen bis Weihnachten? Eigentlich dürften wir uns in solche Dinge gar nicht einmischen.«

»Aber ein Wunsch ist ein Wunsch ist ein Wunsch!«, zitierte Elfe-Sieben das Motto des Weihnachtsmannes.

»Und muss deshalb erfüllt werden«, fügte dieser mit ernster Miene hinzu. »Ich muss es zumindest versuchen.«

»Noch wissen wir ja auch gar nicht, ob Ellie Xander ebenfalls liebt«, gab Elfe-Sieben zu bedenken. »Vielleicht gibt es ja einen Grund, weshalb die beiden bisher nicht zusammengefunden haben. Ist dazu in Xanders Wunsch etwas vermerkt?«

»Nein, leider nicht.« Der Weihnachtsmann rief den Wunsch erneut auf. »Soweit ich es verstehe, wünscht er sich nur, dass sie seine Gefühle erwidert, die er anscheinend schon lange für sie hegt.«

»Das müssen aber schon sehr große Gefühle sein, wenn sie gleich unser Weihnachtswunsch-Radar zum Absturz bringen.« Die Besorgnis war nach wie vor nicht aus der Miene von Santas Frau gewichen.

»Wenn er letztes Jahr überraschend bei Ellie und ihrer Familie zu Besuch war, hat das, zusammen mit der Weihnachtsstimmung, den Wunsch sehr wahrscheinlich extrem verstärkt.« Elfe-Sieben sprang von der Tischkante herunter. »Santa, leg doch mal einen Feed auf einen der Bildschirme an der Videowand, am besten mit Splitscreen, damit wir Xander und Ellie im Auge behalten können.« Umständlich stakste sie über die am Boden verteilten Aktenordner und um einen Stapel Wunschzettel herum. »Wir müssen ja schließlich erst einmal die aktuelle Lage peilen.«

»Augenblick.« Der Weihnachtsmann gab ein paar Befehle in den Computer ein, und Augenblicke später sprang einer der Bildschirme an der großen Videowand an sowie gleich darauf ein zweiter. »Huch, was war das denn?«

»Ich sagte doch Splitscreen«, protestierte Elf-Sieben, »Nicht zwei einzelne … Oh, Moment mal, das ist ja gar nicht … Wen haben wir denn da?« Neugierig trat sie einen Schritt näher an die Bildschirme heran und wäre dabei fast auf einem Wunschzettel ausgerutscht. »Oje, oh nein, was ist das denn für eine traurige, abgemagerte Kreatur?«

»Lass sehen!« Santas Frau eilte – vorsichtig, um das Chaos im Büro nicht noch zu verschlimmern – ebenfalls zur Videowand und stieß gleich darauf einen erschrockenen Laut aus. »Bei allen großen Geistern, ist das ein Hund?«

»Ich fürchte, ja.« Elfe-Sieben kämpfte mit den Tränen. »Schau nur, wie traurig sie aussieht und wie vernachlässigt!«

»Wie kommt sie denn plötzlich auf den Bildschirm?« Santas Frau warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.

»Ich weiß es nicht.« Er hob ratlos die Schultern. »Oder … wartet mal!« Eilig rief er die Liste mit den Wünschen auf, die das Weihnachtswunsch-Radar empfangen hatte. »Ist es eine weiße Schäferhündin?«

Elfe-Sieben nickte. »Ja, zumindest sieht sie unter all dem Schmutz ein bisschen so aus.«

»Dann ist das Amara.« Santa Claus erhob sich und gesellte sich zu der Elfe und seiner Frau, stieß dabei aber mit dem Fuß gegen einen Stapel Aktenordner, der daraufhin umkippte. »Mist!«

»Pass doch auf!« Seine Frau seufzte. »Wer ist Amara?«

»Eine Streunerin, seit sie vor einem halben Jahr ausgesetzt wurde.« Santa Claus strich sich einmal mehr durch den Bart. »Ich weiß nicht genau, warum, aber das Weihnachtswunsch-Radar hat ihren sehnlichen Wunsch nach einem neuen Zuhause aufgefangen.«

»Und wo ist sie da jetzt?« Elfe-Sieben starrte wie gebannt auf den Bildschirm. »Was ist das für ein Wald?«

»Zufällig der Wald bei dieser kleinen Stadt, in der auch Ellie lebt.« Santa Claus hustete. »Wenn das nicht mal ein Zufall ist.«

»Tatsächlich.« Seine Frau kräuselte die Lippen. »Du siehst aus, als hättest du etwas vor.«

»Vielleicht.« Er lächelte kaum merklich. »Hunde haben uns in den vergangenen Jahren sehr oft geholfen – und wir ihnen.«

»Da gibt es nur ein kleines Problem«, wandte Elfe-Sieben ein.

»Und das wäre?« Fragend hob Santa Claus die Augenbrauen.

»Soweit ich mich erinnere, hat Ellie riesige Angst vor Hunden.« Elfe-Sieben seufzte. »Sie wurde als Kind mal angefallen und schwer verletzt. Ich erinnere mich genau, dass das mal zur Sprache kam, als wir den Wunsch ihrer Schwester erfüllt haben. Oder vielleicht war es auch irgendwann später. Ist ja auch egal. Ich glaube nicht, dass wir ihr einen Gefallen tun, wenn wir versuchen, Amara und sie zusammenzubringen. Für die arme Hündin müssen wir eine andere Lösung finden.«

»Hm, tja …« Der Weihnachtsmann runzelte nachdenklich die Stirn. »Wenn das so ist … Aber andererseits … Vor Scottie, dem Hund von Jana und Oliver, hat sie inzwischen keine Angst mehr.«

»Das ist doch etwas ganz anderes«, warf seine Frau ein. »Und sie hat lange gebraucht, um ihre Furcht vor ihm zu überwinden. Ich sehe es wie Elfe-Sieben, für Amara sollten wir eine andere Lösung finden. Das wird sonst auch alles viel zu kompliziert. Du hattest doch so sehr auf eine ruhige Vorweihnachtszeit gehofft.«

»Ach was, Ruhe wird vollkommen überbewertet.« In den Augen des Weihnachtsmannes glomm ein unternehmungslustiger Funke. »Aber wenn es euch beruhigt, werde ich erst einmal noch ein paar weitere Erkundigungen einholen, bevor ich mich an einen konkreten Plan zur Wunscherfüllung mache.« Schwungvoll drehte er sich um, weil er zu seinem Schreibtisch zurückkehren wollte, und trat prompt auf einen Aktenordner, der daraufhin ins Rutschen geriet. Wild ruderte Santa Claus mit den Armen, landete aber dennoch im nächsten Moment unsanft auf seinem Allerwertesten. »Autsch!«

»Ist dir was passiert?« Besorgt beugte seine Frau sich über ihn und half ihm, wieder aufzustehen.

»Nein, nein, alles in Ordnung.« Santa Claus rieb sich über seine Kehrseite, dann blickte er sich mit zerknirschter Miene in seinem Büro um. »Ich fürchte, die Recherche muss noch ein wenig warten. Zuerst muss ich hier aufräumen.«

2. Kapitel

»Ach, Mist, ihr seid ja schon fest bei der Arbeit!« Außer Atem hatte Ellie die gläserne Eingangstür zu dem großen, zweigeschossigen Gebäude in der Annastraße aufgestoßen und trat ein. Mit einem unterdrückten Ächzen stellte sie die große Tasche mit Einkäufen sowie den schweren Farbeimer ab und lockerte die Arme. »Warum sind Sachen aus dem Baumarkt bloß immer so schwer?«

»Das ist ein Naturgesetz.« Jelena, mit der Ellie bereits befreundet war, seit sie denken konnte, hob den Farbeimer ein paar Zentimeter an, stellte ihn jedoch gleich wieder ab und verdrehte die Augen. »Arian, du bist dran. Wozu haben wir schließlich einen starken Mann im Team?«

Ihr um drei Jahre jüngerer Bruder legte vorsichtig den Pinsel auf dem Rand der Dose ab, in der sich fliederfarbene Wandfarbe befand, mit der er einen vorgezeichneten Bereich in der hinteren Ecke des Raumes gestrichen hatte. »Bin ich etwa euer Packesel?«, scherzte er, als er näher kam und sich den schweren Eimer schnappte. »Ich darf mir natürlich die Nägel ruinieren, was?« Mit gespielt anklagender Miene streckte er die freie Hand aus, deren Fingernägel in einem schillernden Schwarz-Lila lackiert waren.

Ellie prustete. »Schätzelein, deine Nägel sind längst ruiniert, da macht ein Farbeimer auch keinen Unterschied mehr.«

Verdrießlich musterte Arian seine Fingernägel, die, wie die gesamte Hand, von Farbklecksen übersät und an einigen Stellen unschön abgesplittert waren. »Ich fürchte, da hast du nicht ganz unrecht.« Er sah sich suchend um. »Wohin soll der Eimer denn?« Nach einem Blick auf das Etikett grinste er anerkennend, wodurch die Grübchen in seinen Wangen auf anbetungswürdige Weise sichtbar wurden. »Granatapfelrot. Nice.«

»Das ist für die Ecken und Kanten im Salonbereich nebenan.« Ellie deutete nach rechts, wo hinter einem breiten Durchgang die Räumlichkeiten ihres zukünftigen Wirkungskreises lagen.

»Doppel-nice.« Arian trug den Eimer ohne sichtbare Anstrengung hinüber in den zukünftigen Friseursalon. Ellie blickte ihm dankbar nach und stellte einmal mehr fest, was für ein ansehnliches Exemplar von einem Mann er war. Fast eins neunzig groß, durchtrainiert vom regelmäßigen Schwimmen und Kraftsport, breitschultrig mit schmalen Hüften und langen, muskulösen Armen und Beinen. Zu schade, dass sie ihn schon viel zu lange und zu gut kannte, um sich romantisch zu ihm hingezogen zu fühlen. Dabei war er beinahe perfekt, zumindest äußerlich. Sein langes dichtes, etwas über schulterlanges Haar war zu einem gepflegten Zopf gebunden. Dass es stets glänzte und splissfrei blieb, dafür sorgte Ellie alle vier Wochen höchstpersönlich mit ihrer Friseurschere und einer professionellen Haarkur.

Das Gesicht mit den hohen markanten Wangenknochen, Erbe seiner ungarischen Vorfahren, war von einem ebenfalls gepflegten Fünftagebart bedeckt. Seine strahlend blauen Augen glichen denen seiner Schwester Jelena ganz frappierend, doch abgesehen davon und von den langen dichten, dunkelbraunen Haaren hatten die beiden nicht viel gemein. Jelena, wie Ellie gerade dreißig Jahre alt, war im Gegensatz zu Arian nur eins siebzig, sehr kurvig und, wenngleich durchaus nicht unsportlich, so doch alles in allem eher weich und anschmiegsam. Ellie, die in ihrer Jugend ebenfalls wettkampfmäßig geschwommen war und sich auch heute noch gerne mindestens ein- bis zweimal pro Woche im Schwimmbad verausgabte, stach optisch von den beiden ab. Zwar hatte auch sie dunkelbraunes Haar, das sie schon seit Jahren zu einem frechen Pixie geschnitten trug, momentan mit einer pinkfarbenen Ponysträhne, die sich sanft um ihre linke Wange schmiegte, doch sie war weder groß noch muskulös und auch nicht so kurvig wie ihre Freundin. Sie war nur eins fünfundsechzig, sehr schlank und mit einem Mini-Busen versehen, der nur mithilfe eines wirklich guten Wonderbras nach mehr als einer Kinderhand voll aussah.

Sie waren also ein optisch höchst interessantes Trio, verbunden durch eine Sandkastenfreundschaft, wie sie besser und beständiger kaum sein konnte, zumindest, was Jelena und Ellie betraf. Arian war erst viel später dazugestoßen, hauptsächlich, weil Ellie und Jelena sowie der damals Dritte im Bunde, Xander, Jelenas jüngeren Bruder sehr oft hatten mitschleppen müssen, wenn sie etwas unternommen hatten. Anfangs war das noch lästig gewesen, denn drei Jahre Altersunterschied machte vor allem im Teenageralter doch eine Menge aus, doch je älter sie wurden, desto besser hatten sie sich verstanden, und mittlerweile konnte Ellie sich ein Leben ohne die beiden – und Xander natürlich – nicht mehr vorstellen.

Allerdings war Xander nun schon seit acht Jahren in der Weltgeschichte unterwegs, davon die letzten fünf Jahre fast ununterbrochen. Als Reisejournalist und -fotograf hatte er einen sehr erfolgreichen Blog ins Leben gerufen. Ab und zu nahm er auch Aufträge für Fotoreportagen, zum Beispiel beim Lifestyle-Magazin Zeitschritte, an oder bei anderen großen Zeitschriften. Deshalb war das einstige vierblättrige Kleeblatt in den vergangenen Jahren etwas auseinandergedriftet. Zwar telefonierten, zoomten und texteten sie alle regelmäßig miteinander, aber ohne Xander vor Ort war es trotzdem nicht dasselbe wie früher.

Glücklicherweise hatte er kürzlich verkündet, dass er irgendwann im Lauf des kommenden Jahres nach Hause zurückkehren und mit einem eigenen Fotostudio sesshaft werden wollte. Zwar gab es in der Stadt bereits eines, das sehr erfolgreich von Sophie Braumann geführt wurde, doch ein zweites würde der Stadt wohl kaum schaden, besonders weil die künstlerische Herangehensweise von Sophie und Xander sich stark voneinander unterschieden. Xander würde mit Sicherheit auch weiterhin seine wunderbaren Natur- und Städtefotos in seinem Blog veröffentlichen sowie möglicherweise auch auf Ausstellungen präsentieren und verkaufen. Zumindest ermutigte Ellie ihn dazu bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Bis dahin würde aber noch einige Zeit ins Land ziehen und jede Menge Arbeit auf Ellie, Jelena und Arian warten, bis sie im kommenden Jahr ihre große Beauty-Oase mit Friseursalon, Kosmetik- und Nagelstudio eröffnen konnten.

Ellie hatte sich mittlerweile aus ihrem pinkfarbenen Kurzmantel geschält und ihn zu den anderen Jacken und Taschen auf einen Tisch neben dem Eingang gelegt. Sie sah sich eingehend um. »Ihr seid ja schon gut vorangekommen.«

»Aber nur hier vorne.« Jelena deutete auf die Wände des Raumes. »Nebenan im Salon und in den hinteren Zimmern ist noch gar nichts passiert.«

Sehnsüchtig blickte Ellie hinüber zu ihrem zukünftigen Refugium, seufzte dann aber bedauernd: »Dann mache ich mich mal an die Arbeit im Büro. Schließlich sollen die Möbel diese Woche geliefert werden.«

»Ich habe auch schon alles für die Fliesenleger im Bad vorbereitet«, fügte Jelena an. »Jetzt wollte ich mit den Wänden in der Kaffeeküche anfangen. Denn die Kücheneinrichtung soll ja auch schon am Donnerstag geliefert werden.«

Ellie nickte zustimmend. »Dann machen wir uns wohl am besten gleich an die Arbeit. Mama wollte eigentlich auch noch herkommen, sobald sie Feierabend gemacht hat, aber ich habe ihr gesagt, dass das nicht nötig ist. Sie muss ja schließlich auf meine Arbeitskraft im Salon verzichten, weil ich früher gegangen bin. Ich weiß, wie anstrengend das ist, auch wenn Helge auch noch mithilft. Ich denke, wir schaffen das heute auch ohne sie.«

»Deine Mutter hat sowieso schon so viel getan. Ohne sie wären wir längst nicht so weit. Dabei wollte sie ursprünglich ja mehr stille Teilhaberin sein, und nun nimmt sie uns einfach alles ab, was nur möglich ist, und wird garantiert auch im neuen Salon noch voll mitarbeiten.« Arian kehrte zu seinem Pinsel zurück. »Sie hat sich einen freien Abend verdient.«

»Dann mal los!« Ellie rieb betont munter die Handflächen aneinander, hauptsächlich, um sich selbst zu motivieren und zu überspielen, wie wenig sie sich auf die vor ihr liegende Aufgabe freute. Sie hasste Tapezieren und Anstreichen von ganzem Herzen. Eine Profifirma konnten sie sich jedoch nicht leisten. Nur für die schwierigsten Gewerke hatten sie ein Budget, alles Übrige mussten sie selbst stemmen. »Was haben wir denn hier?« Sie sprach die Worte absichtlich laut aus und gab ihrer Stimme einen unternehmungslustigen Tonfall. »Wenigstens kann man bei weißer Wandfarbe nicht viel falsch machen«, redete sie mit den Wänden, die sie zusammen mit ihrem Vater am Wochenende tapeziert hatte. Zumindest diese nervige Aufgabe war bereits erledigt. Sie öffnete den Farbeimer, suchte sich die erforderlichen Arbeitswerkzeuge zusammen und war nur wenige Minuten später damit beschäftigt, die Ecken und Ränder weiß zu streichen. Dabei summte und sang sie halblaut die Songs auf ihrer Kuschelrock-Playlist mit, die von ihrem Smartphone an einen winzigen, jedoch erstaunlich leistungsstarken Bluetooth-Lautsprecher übertragen wurden. Auch aus den anderen Räumen drang Musik. Arian hatte sich für Songs von Madonna entschieden und sang gerade La Isla Bonita mit, während aus der Küche Send me an Angel von den Scorpions zu vernehmen war.

Ellie musste grinsen, als aus ihrem Lautsprecher Unchained Melody aus dem Film Ghost – Nachricht von Sam erklang. Sie erhöhte ein wenig die Lautstärke der Musik und ihres Gesangs.

Prompt sang auch Arian viel lauter mit, und nur Sekunden später setzte auch Jelena mit gleichermaßen Nachdruck wie Talent ein. Eifrig pinselte Ellie weiße Farbe auf die Wand vor ihr. Der Gesangswettbewerb war eröffnet.

***

Xander hatte seinen Hybrid-SUV auf dem großen Parkplatz beim Marktplatz abgestellt und schlenderte nun gemächlich über das Areal, auf dem in etwa vier Wochen der Weihnachtsmarkt eröffnet werden würde. Für einen Moment blieb er vor dem Schaufenster des alteingesessenen Juweliers Stein stehen, der wie immer Uhren, Ketten und Armbänder in geschmackvollen Arrangements ausstellte. Ein Abteil der Auslagen war für die bezaubernden Glaskunstwerke der ortsansässigen Glaskünstlerin Jana Weißmüller-Jones reserviert. Diese Ringe, Ohrgehänge und Ketten betrachtete er besonders lange und mit Stolz. Er kannte Jana schon, seit er auf der Welt war; sie war fast wie eine große Schwester oder eine Cousine für ihn.

Besonders lange blieb sein Blick an einer filigranen Kette aus Glas hängen, deren Anhänger eine winzige, aber wunderbar detailreiche Weihnachtselfe war, die ihn seltsamerweise sofort an Janas jüngere Schwester Ellie denken ließ. Vielleicht, weil die Elfe unter ihrer spitzen Mütze einen ähnlich pfiffigen Pixie-Haarschnitt wie Ellie trug. Ein Blick auf das Preisschild ließ ihn husten, dennoch betrat er spontan das Juweliergeschäft und kaufte die Kette.

Als er wieder auf die Straße trat, gingen gerade die Straßenlaternen an, und auch die meisten Geschäfte und Restaurants waren bereits hell erleuchtet. Der Himmel war heute von tief hängenden Wolken bedeckt, weshalb die frühabendliche Dunkelheit noch schneller als sonst hereinbrach. Als er die Annastraße, eine der Haupteinkaufsstraßen im Stadtzentrum, entlangging, immer noch ohne Eile, erblickte er in manchen Schaufenstern und vor einigen Ladentüren noch Überbleibsel der Herbst- und Halloween-Dekoration: Vogelscheuchen, grinsende Gespenster, überdimensionale Spinnen sowie ein paar Hexen auf ihren fliegenden Besen. Auch einige Kürbisse waren noch zu sehen. Dazwischen fanden sich aber auch schon ein paar vorweihnachtliche Lichterketten und geschmückte Tannenzweige. Im Schaufenster von Tessas Blumenladen waren neben bunten Herbstgestecken bereits Töpfe mit blühenden Christrosen zu sehen. Der Winter und mit ihm der Advent näherten sich mit großen Schritten, auch wenn noch nicht einmal die Laternenumzüge zum Festtag des Heiligen Martin stattgefunden hatten.

Etwas länger als vielleicht nötig hielt Xander sich vor den Auslagen des Blumenladens auf und genoss die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, die auf ihn einströmten. Nachdem er fast acht Jahre lang in der Welt herumgereist war, merkte er nun, mit einunddreißig, wie sehr er seine Heimat vermisst hatte. Seine Eltern und seine damals erst siebzehnjährige Schwester Xenia waren vor acht Jahren in eine kleine Stadt namens Lichterhaven an der Nordseeküste gezogen, weil das dortige Klima seinem Vater besser bekam, der an chronischer Bronchitis litt.

Xenia war vor einem halben Jahr in ihr altes Elternhaus zurückgekehrt, weil sie eine gute Stellung im Sternbach Hotel und Resort ergattert hatte und davon träumte, aus ihrem großen Elternhaus mit dem weitläufigen Garten eines nicht zu fernen Tages ein Bed & Breakfast zu machen. Das Anwesen war bereits seit fünf Generationen in der Familie und früher einmal ein Gutshof gewesen. Auch als Gasthof hatte es bereits einmal über längere Zeit gedient. Ihre Eltern waren damit einverstanden, solange die beiden Geschwister sich nicht darüber in die Haare gerieten, denn das Anwesen würde eines Tages als Erbe zu gleichen Teilen an sie beide fallen.

Xander hatte seiner Schwester bereits angeboten, einen Vertrag aufzusetzen, der ihn zum stillen, gleichberechtigten Teilhaber machen würde – und zum Investor, mit dessen finanzieller Hilfe Xenia diesen Traum schneller würde verwirklichen können. Über die Details würden sie sich in der nächsten Zeit ausgiebig die Köpfe heißreden können.

Bis gestern war er noch durch Nordfrankreich gereist; die Artikel dazu würde er in der nächsten Zeit veröffentlichen. Heute Vormittag war er spontan von dort aufgebrochen. Eigentlich hatte er erst im neuen Jahr, vielleicht im April oder Mai, nach Hause zurückkehren wollen. Ihm hatte ursprünglich vorgeschwebt, eine Artikelserie über europäische Weihnachtsbräuche und Winterlandschaften in Bild und Wort festzuhalten, aber dann hatte ihn unvermittelt das Heimweh gepackt – und die Einsicht, dass sich sein größter Wunsch wohl nicht erfüllen würde, solange er in der Ferne umherschweifte.

Wirklich eingestanden hatte er sich diesen Wunsch bereits vor einem guten Jahr, doch dann hatte er immer wieder Ausreden gefunden, um diese Sache vor sich herzuschieben. Nun gut, ein paar sehr lukrative Fotoserien waren ebenfalls dazwischengekommen, und er hatte sich erfolgreich eingeredet, dass er sich erst ein ausreichendes finanzielles Polster schaffen musste, ehe er daran denken konnte, sesshaft zu werden und ein eigenes Studio nebst Galerie zu eröffnen.

Geräuschvoll stieß er die Luft aus und sog gleich darauf die feuchtkalte Herbstluft in seine Lungen. Er zögerte schon wieder viel zu lange, dabei freute er sich schon so sehr, Ellie, aber auch Arian und Jelena wiederzusehen. Von Ellies Mutter, deren Friseursalon ganz in der Nähe er vorhin einen Besuch abgestattet hatte, wusste er, wo die drei sich gerade aufhielten.

Das große, zweistöckige Gebäude direkt gegenüber vom Blumenladen war im Erdgeschoss hell erleuchtet. Durch die breiten Schaufenster und die gläserne Eingangstür konnte er erkennen, dass im Inneren fleißig renoviert wurde.

Immer noch reichlich langsam überquerte Xander die Fußgängerzone und blieb vor dem Eingang stehen. Er konnte Arian sehen, der linker Hand mit einem Pinsel fliederfarbene Akzente auf einen abgeklebten Bereich an der Wand aufmalte, und Musik hören oder vielmehr ein nicht identifizierbares Gewummer.

Kurz benutzte Xander die Glastür als Spiegel, musterte sich und fuhr sich gewohnheitsmäßig mit beiden Händen ordnend durch seine stets leicht verwuschelten blonden Locken, rückte seine Brille gerade, obgleich es nicht notwendig war, und drückte schließlich entschlossen die Tür auf. Erst jetzt schlug ihm die volle Kakophonie aus drei verschiedenen Musikstücken und dem Gesang dreier Stimmen entgegen. Unwillkürlich grinste er breit: Papa don’t preach von Madonna mischte sich mit Love you like a Hurricane von den Scorpions. Letzteres konnte nur Jelena sein. Dazwischen Everybody Hurts von R.E.M.

Arian, Jelena und auch Ellie sangen lautstark mit, offensichtlich in dem Bemühen, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Arian hatte den Besucher wegen des infernalischen Lärms gar nicht bemerkt, deshalb trat Xander einfach hinter ihn und tippte ihm leicht auf die Schulter.

Arian zuckte zusammen und ließ den Pinsel fallen, achtete aber gar nicht darauf, als er Xander erkannte. Ehe er einen Freudenschrei ausstoßen konnte, legte Xander rasch einen Finger an die Lippen und lächelte vielsagend. Arian verstand und umarmte ihn herzlich, aber wortlos. Dann bedeutete er Xander mit Gesten, dass die beiden Frauen sich in den hinteren Räumen aufhielten, und nahm seinen Gesang wieder auf.

Xander ging auf den Durchgang zu, der zu den rückwärtigen Räumlichkeiten führte, und spürte kurz dem Kribbeln in seiner Magengrube nach. Sein Herzschlag hatte sich ein wenig beschleunigt. Kurz zögerte er, als er Jelena durch die Tür sah, die links in einen Raum führte, in dem ein alter Kühlschrank stand. Sie strich dort singend eine Wand. Rechter Hand gab es ebenfalls eine Tür zu einem erleuchteten Zimmer, und dort war Ellie mit Anstreichen beschäftigt. Ihr Anblick nahm ihm die Entscheidung, wen er zuerst begrüßen sollte, augenblicklich ab. Von nebenan ertönte inzwischen Wind of Change, vom vorderen Raum Madonnas True Blue.

Während Arian und Jelena wieder lauthals mitsangen, fluchte Ellie, weil ihre Playlist offensichtlich gerade gestoppt hatte. »Moment!«, rief sie, ohne sich umzudrehen. »Ich muss die blöde App neu starten.«

»Ja, ja, beeil dich mal«, kam es zusammen mit einem Lachen von Jelena. »Sonst habe ich gewonnen. Ich liege eh vorn.«

»Von wegen.« Ellie wischte mit einer Hand auf dem Display ihres Handys herum, während sie in der anderen die Farbrolle hielt.

»But no matter where I go, you’re the one for me, baby, this I know, cause it’s true love«, sang Xander einfach Arians Song mit.

***

Ellie fluchte unterdrückt, weil ihre Kuschelrock-Playlist sich einfach verabschiedet hatte. Hektisch wischte sie auf dem Display ihres Smartphones herum, um sie erneut zu starten. Als sie hinter sich eine dunkle Männerstimme vernahm, die Arians Madonna-Song textsicher mitsang, erstarrte sie für eine Sekunde. Die Malerrolle fiel ihr aus der Hand und klatschte in den Farbeimer. Sie fuhr so schnell zu dem Besucher herum, dass sie beinahe ihr Handy von sich geworfen hätte.

»True love, you’re the one, I’m dreaming of«, sang er mit einem breiten Grinsen weiter.

»Xander!«, kreischte sie begeistert, rannte auf ihn zu und sprang ihm regelrecht in die Arme. »Wo kommst du denn her? Ich dachte, du bist noch den ganzen Winter über in Frankreich.«

Xander erwiderte ihre stürmische Umarmung und wirbelte sie einmal im Kreis herum. »Kleine Planänderung.«

»Wie toll ist das denn?« Sie presste ihr Gesicht für einen Moment gegen seine Schulter, spürte die weiche Wolle seines dunkelroten Kurzmantels und sog seinen ihr so vertrauten Duft ein. Dann trat sie einen halben Schritt zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf beide Wangen. »Warum hast du denn nichts gesagt? Wir hätten doch eine Party schmeißen können oder so. Wie lange bleibst du?«

»Was ist denn hier los?«, erklang von der Tür her Jelenas Stimme. »Habe ich da etwa …? Xander!« Ihr Freudenschrei war nur wenig leiser als der von Ellie. Auch sie fiel ihm um den Hals und schubste Ellie dabei einfach ein wenig zur Seite. Im nächsten Moment trat sie ebenfalls einen Schritt zurück und zog das einfache Haargummi aus ihrem langen dunkelbraunen Haar, um es erneut zu einem Zopf zusammenzubinden. »Das ist aber eine Überraschung.«

»Und was für eine«, bestätigte Arian, der inzwischen ebenfalls in das zukünftige Büro getreten war und Xander auf die Schulter klopfte. Dass er ihn nicht ebenfalls mit einer Umarmung begrüßte, verriet Ellie, dass sie sich zuvor schon begegnet sein mussten. »Ich hoffe, du bleibst ein paar Tage. Mindestens übers Wochenende, damit wir etwas unternehmen können. Wie du siehst, sind wir ja hier ziemlich beschäftigt.«

»Quatsch, nix wird unternommen.« Jelena grinste frech und zupfte an Xanders Mantel herum. »Du wirst zur Sklavenarbeit bei uns zwangsverpflichtet. Ein kräftiger Mann mehr kommt wie gerufen. Toller Mantel übrigens, und die Farbe ist genial. Gibt es den auch für Frauen in Größe vierundvierzig? Falls ja, muss ich sofort shoppen, egal wo.«

Kurz blickte Xander an sich hinab. »Keine Ahnung, den habe ich vor zwei Wochen in Lyon gekauft.«

»Mist, das ist ein bisschen weit weg.« Jelena schürzte die Lippen. »Wie heißt der Laden? Vielleicht haben die ja auch einen Onlineshop.«

»Keine Ahnung.« Xander hob die Schultern.

»Oh Mann!« Jelena verdrehte die Augen.

»Ich kann den Namen herausfinden«, bot er an.

Jelenas Miene hellte sich auf. »Ja, bitte.«

»Jetzt hört doch mal auf mit Onlineshopping!« Ellie legte Xander eine Hand auf den Arm. »Erzähl uns lieber, was dich hierhergeführt hat. Warum die Planänderung?« Sie wurde ernst. »Es ist doch nichts passiert, oder? Mit Xenia? Ich bin ihr neulich noch im Supermarkt begegnet, und da hat sie erzählt, dass die Stellung im Sternbach-Resort ihr gut gefällt.«

»Nein, keine Sorge, mit Xenia ist alles in Ordnung.« Xander lächelte. »Kann ich nicht einfach so bei euch einfallen?« Ehe sie etwas antworten konnte, fuhr er fort: »Ich hatte Heimweh, und da dachte ich, warum soll ich noch fast ein halbes Jahr in der Weltgeschichte herumtingeln? Also habe ich die Sache in Frankreich abgebrochen, mein Zeug zusammengepackt und bin nach Hause gefahren.«

»Aber …« Ellie konnte ihr Glück kaum fassen. »Einfach so? Was ist denn mit deinem Blog, und wie lange bleibst du? Willst du Urlaub machen?«

Xander lachte. »Wenn ich mir so ansehe, was hier noch zu tun ist, würde ich es vielleicht nicht gerade Urlaub nennen. Ich habe noch andere Themen, mit denen ich meinen Blog in der nächsten Zeit füttern kann, und bestimmt ergibt sich auch etwas bei Zeitschritte oder auch bei dem Kunstmagazin Kunstschritte.« Er hielt kurz inne. »Ich habe nicht vor, wieder auf große Reise zu gehen.« Der kurze, warme Blick, den er Ellie bei diesen Worten zuwarf, verstärkte das Glücksgefühl noch, das sie ergriffen hatte. »Es wird Zeit für etwas Neues. Ich wollte ja sowieso kommendes Jahr meine Idee mit dem Fotostudio und vielleicht einer eigenen kleinen Galerie angehen. Warum also nicht schon jetzt damit anfangen? Zuerst muss ich aber wohl auf die Suche nach einer Wohnung gehen. Xenia hat zwar nichts dagegen, dass ich erst mal auf unbestimmte Zeit in meinem alten Zimmer absteige, aber einen Dauerzustand will ich nicht daraus machen, schon weil sie ja auch große Pläne mit dem Haus hat.«

»Also, wenn das nicht mal ein Grund zum Feiern ist!« Arian klopfte Xander erneut auf die Schulter. »Damit wären wir endlich wieder vollzählig.« Suchend sah er sich um und grinste schief. »Leider gibt es hier nicht viel mehr als ein paar Getränke und die Reste von meinem Salat im Kühlschrank. Sollen wir Pizza bei Luigi bestellen?«

3. Kapitel

Ellie lächelte vor sich hin, als sie ihren feuerroten Mini in der Zufahrt zu dem Holzhaus parkte, in dem sie seit wenigen Wochen wohnte. Bis zum Sommer hatte hier Melissa, Mitarbeiterin und gute Freundin von Ellies Schwester Jana, mit ihrem frisch angetrauten Mann Lennart und ihrem kleinen Sohn Andy gelebt, doch kurz nach der Hochzeit im Mai hatten sie auf der anderen Seite der Stadt ein tolles Einfamilienhaus mit großem Garten gekauft und waren umgezogen. Ellie hatte sich gefreut, als Melissa kürzlich verkündet hatte, dass sie schwanger war. Somit war die Entscheidung für ein etwas größeres Domizil genau richtig gewesen.

Das Holzhäuschen wiederum gehörte eigentlich zur Ferienhaussiedlung, die dem Sternbach-Resort angeschlossen war. Rund um einen großen See scharten sich die meisten dieser Feriendomizile, doch ein paar von ihnen lagen auch etwas versteckter im Wald. Eigentlich hätte es nun wieder als romantisch-verwunschenes Ferienhaus dienen können, doch Ellie, die nur eine winzige Souterrain-Wohnung in der Altstadt bewohnt hatte, war mit Justus Sternbach handelseins geworden. Sie hatte erst im Oktober umziehen können, weil Patrick Sternbach, der alle Holzhäuser der Ferienhaussiedlung gebaut hatte, das Heizungssystem verändert und durch eine Wärmepumpe ersetzt hatte, doch sie wusste bereits, dass der Umzug die beste Entscheidung gewesen war. Das Häuschen, acht mal acht Meter im Grundriss, voll unterkellert und mit einem recht hohen Kniestock im Obergeschoss, sodass man dort überall aufrecht stehen konnte, war einfach ein Traum. Es lag etwa zweihundert Meter von der Ferienhaussiedlung entfernt auf einer großen Waldlichtung. Der Zuweg war zwar nur geschottert, aber trotzdem zu jeder Jahreszeit gut befahrbar. Die Zufahrt zum Haus war von halbhohen Wildrosen- und Bauernjasminbüschen gesäumt, und ein Zaun sowie fast mannshohe Hecken umgaben den Garten, in dem es neben einem Schuppen für Gartenmöbel und -geräte auch eine Kinderschaukel gab.

Der gepflegte Vorgarten aus Stauden, Blumenbeeten und einer Trockenmauer, in der Steingartengewächse gediehen, war bereits von der Baumschule Kilian für den Winter vorbereitet worden und bot jetzt, Anfang November, einen eher tristen Anblick, doch Ellie hatte in den vorhandenen Steinkübeln bereits Christrosen gepflanzt, und auch die Chrysanthemenbüsche blühten momentan noch links und rechts neben der Eingangstür. In dem großen grinsenden Kürbis aus Steingut rechts neben der Tür leuchtete ein LED-Licht, das sich automatisch bei Einbruch der Dunkelheit ein- und nachts wieder ausschaltete.

Durch das Auto war der Bewegungsmelder am Eingang aktiviert worden, sodass sich das Licht eingeschaltet hatte. Für einen Moment blickte Ellie entspannt und mit einem wohligen Gefühl im Bauch auf ihr neues Zuhause. Der Abend war herrlich lustig gewesen, ganz so wie früher, zu Schulzeiten. Sie konnte noch gar nicht richtig fassen, dass Xander wieder da war und dass er hierbleiben wollte. Natürlich hatte sie gewusst, dass das sein Plan für das kommende Jahr gewesen war, aber dass er sich so spontan entscheiden würde, jetzt schon nach Hause zurückzukehren, war nun doch eine Überraschung.

Sie hatten tatsächlich Pizza bestellt, gemeinsam gegessen und sich auf den neuesten Stand ihrer jeweiligen Leben gebracht, und danach hatte er ihr noch beim Anstreichen geholfen, ganz selbstverständlich, so war er nun mal. Stets hilfsbereit, zupackend und fröhlich. Wie sehr sie ihn vermisst hatte, war ihr erst bewusst geworden, als er so plötzlich vor ihr gestanden hatte. So erging es ihr jedes Mal, wenn er zu Besuch kam. Solange er unterwegs war, kam sie gut damit zurecht, dass einer ihrer besten und längsten Freunde sich in der Welt herumtrieb, so manches Abenteuer erlebte und ihr per Kurznachricht, Fotos, E-Mails und hin und wieder auch telefonisch davon berichtete und sich anhörte, was sie in der Zwischenzeit erlebt hatte, auch wenn ihre Berichte im Vergleich zu den seinen eher unspektakulär ausfielen. Doch sobald er leibhaftig vor ihr stand, spürte sie sofort, dass ihr Leben ohne seine Anwesenheit nicht vollständig war. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie schon seit einer Ewigkeit befreundet waren. Gekannt hatten sie sich schon seit dem Kindergarten, und sie waren in der Grundschule in dieselbe, auf dem Gymnasium dann in Parallelklassen gegangen, zugleich aber im selben Schwimmverein Mitglied gewesen.

Xander war darüber hinaus, abgesehen von Jelena und Arian, der Einzige gewesen, der nie großartig von sich aus die hässlichen Narben erwähnt oder auch nur beachtet hatte, die sie an der linken Schulter, der Halsbeuge, am Oberarm und an der Hüfte aufwies, seit sie im Alter von fünf Jahren von einem großen Hund angefallen und schwer verletzt worden war. An den Vorfall selbst erinnerte sie sich so gut wie nicht mehr, doch die Narben würden sie ein Leben lang begleiten. Darunter hatte sie als Kind und Teenagerin sehr gelitten, denn schön sahen sie wirklich nicht aus, auch wenn sie mittlerweile stark verblasst waren. Tatsächlich war es Xander gewesen, der sie, als sie mit gerade zwölf Jahren ihr Schwimmtalent entdeckte, ermutigt hatte, dem Schwimmteam des Sportvereins beizutreten. Sie hatte erst gezögert, denn damals war es ihr unsagbar schwergefallen, sich im Badeanzug zu zeigen. Sie schwamm zwar gerne, keine Frage, aber die neugierigen, mitleidigen und manchmal sogar angewiderten Blicke der Menschen hatten sie sehr belastet, sodass sie sogar eine Zeit lang einen hochgeschlossenen, langarmigen Badeanzug mit knielangem Beinteil getragen hatte, wie ihn ein paar ihrer muslimischen Mitschülerinnen bevorzugten. Doch das hatte auch wieder für Getuschel gesorgt und für weitere mitleidige Blicke, denn in der kleinen Stadt wussten die meisten, dass sie diese Kleiderwahl nicht wegen ihres Glaubens getroffen hatte, sondern weil sie ihre Mitmenschen – und ein Stück weit auch sich selbst – vor dem Anblick ihres teilweise verunstalteten Körpers bewahren wollte.

Xander hatte die Narben irgendwie nie wahrgenommen, außer wenn sie selbst darüber gesprochen hatte, und sein unerschütterlicher Optimismus hatte ihr geholfen, sich nach und nach immer mehr zu akzeptieren, sodass sie schließlich auch den Mut aufbrachte, wieder in einem ganz normalen Badeanzug schwimmen zu gehen.

Jelena hatte allerdings auch ihren Teil dazu beigetragen. Sie war schon immer etwas rundlicher gewesen und seit ihren Teenagertagen auch von üppiger Oberweite. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen hatte sie nie ein Problem damit gehabt, diese Kurven zu zeigen, auch wenn sie nicht dem gängigen Schlankheitsideal entsprachen. Sie war sportlich, allerdings eher in Richtung Yoga, Tanzen, Aerobic. Ins Schwimmbad war sie immer nur zum Spaß und Herumplanschen gegangen, hauptsächlich im Sommer. Erst vor etwa drei Jahren hatte Ellie sie dazu animiert, auch mal öfter Bahnen zu schwimmen oder mit ihr Wasserball zu spielen. Auch Arian hatte von Anfang an mitgemacht, und vielleicht würde nun Xander bald auch wieder mit von der Partie sein und das Wasserballteam vervollständigen, damit sie nicht mehr abwechselnd zwei gegen einen – oder eine – spielen mussten.

Als das Licht an der Haustür wieder erlosch, schrak Ellie aus ihren Gedanken auf, die ganz von selbst immer tiefer in die Vergangenheit gewandert waren. Sie musste über sich schmunzeln, griff nach ihrer Handtasche und stieg aus dem Auto. Sogleich flammte die Lampe über der Haustür wieder auf. Sie betätigte die Fernbedienung an ihrem Autoschlüssel, um den Wagen abzuschließen, und ging auf das Haus zu. Nach drei Schritten blieb sie jedoch erschrocken stehen, weil sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen hatte – und eine weiße Gestalt!

Als sie den Kopf in diese Richtung drehte, fuhr ihr der Schreck erst so richtig in die Glieder. Ihr Herz machte einen wilden Satz und raste danach panisch weiter. Ihr wurde eiskalt und heiß zugleich, und sie hatte das Gefühl, sich nicht mehr rühren zu können.

***

Was war denn das für ein Geräusch? Ein Auto? Kommt da ein Mensch? Dann verstecke ich mich wohl besser. Nicht, dass dieser Mensch mir etwas tut. Obwohl … vielleicht ist es ja auch ein netter Mensch, der mir hilft. Hilfe brauche ich nämlich ganz arg, und noch viel mehr etwas zu essen. Ich habe solchen Hunger, dass mir ganz hohl im Bauch und übel ist. Viel Kraft habe ich auch nicht mehr. Das Laufen ist schon ganz schön beschwerlich geworden. Meine Pfoten tun weh, mein Bauch ebenso. Ich glaube, ich kann bald nicht mehr. Vielleicht gucke ich doch mal, wer da gekommen ist.

Das Auto hat da vorne vor dem Haus angehalten. Ein kleines Auto, das sieht nicht gefährlich aus. Ich kann auch einen Menschen riechen, da ist einer ausgestiegen. Ich gehe mal vorsichtig näher. Aha, das scheint eine Frau zu sein, die sieht auch nicht gefährlich aus. Vielleicht hat sie ja etwas zu essen übrig. Also los, gehe ich mal noch näher heran, damit sie mich sieht. Hallo, du, Menschenfrau!

***

Ellie schluckte krampfhaft, schluckte noch einmal, bekam kaum Luft. Rechts von ihr, etwa zehn Meter entfernt, stand ein ziemlich großer heller Hund. Das Fell leuchtete im Schein der Lampe; es schien weiß zu sein, wirkte aber sehr verschmutzt. Der Kopf des Tieres war hoch erhoben, die Ohren aufgerichtet, sein Blick eindringlich auf sie gerichtet.

»Oh Gott.« Ellie schluckte ein drittes Mal. »Wo kommst du denn her?« Ihre Stimme schwankte und krächzte zugleich.

Aus dem Wald, was denn sonst? Ich laufe schon seit einer ganzen Weile hier herum und suche was zu essen und einen trockenen Platz zum Schlafen. Hast du etwas Essbares?

»Oh. Nein, äh … Bleib weg.« Ellie hatte noch immer das Gefühl, festgefroren zu sein, doch als der große Hund nun den Kopf ein wenig senkte und in ihre Richtung reckte, wich sie instinktiv einen Schritt zurück. »Bleib mir bloß vom Hals. Geh wieder nach Hause, ja? Du wohnst doch bestimmt hier irgendwo. Bei mir ist es total uninteressant, und ich habe auch nichts für dich.«

Wirklich nicht? Kein Futter? Ich nehme auch ein Stück Brot oder so. Warum guckst du denn so komisch? Bist du böse? Nein, halt, ich kann Angst riechen. Fürchtest du dich etwa vor mir? Ich tue dir doch gar nichts. Ich habe bloß so schrecklichen Hunger und Durst und mir ist kalt. Kannst du mir nicht helfen?

»Was mache ich denn jetzt?« Ellie zuckte zusammen, weil sie laut gedacht hatte. »Braver Hund«, wandte sie sich an das Tier, das daraufhin ganz langsam näher kam. »Bleib schön dahinten. Ich schmecke auch überhaupt nicht. Wirklich nicht.« Zu ihrer Angst gesellte sich das Gefühl, sich lächerlich zu machen, doch die Worte purzelten ihr unkontrolliert aus dem Mund. »Geh weg, einfach nach Hause. Du brauchst mich nicht anzugreifen. Ich tue dir nichts, also tu mir auch bitte nichts.«

Was redest du denn da? Warum sollte ich dir etwas tun? Ich möchte nur etwas zu essen, aber doch nicht dich. Warum hast du denn solche Angst?

Der Hund war wieder stehen geblieben und sah sie unverwandt an. Seine Rute hing herunter und schwang leicht hin und her.

In Ellies Kopf wirbelten die Gedanken wild umeinander. »Was mache ich denn jetzt?«, wiederholte sie halblaut. Wie aus dem Nichts hatte sie das Gefühl, von einem riesenhaften Ungetüm mit angsteinflößenden, langen Zähnen angesprungen und umgeworfen zu werden. Schnell machte sie noch einen Schritt rückwärts.

Hallo? Was ist denn? Warum hast du denn solche Angst? Das beunruhigt mich. Tiere, die Angst haben, können gefährlich werden. Das ist bei Menschen vielleicht auch so. Sei also bloß vorsichtig, Menschenfrau. Ich wehre mich, wenn du mir etwas tust.

Ellie stockte der Atem, als die Rute des Hundes aufhörte zu schwingen. Sein Kopf senkte sich noch etwas mehr, die Ohren legte er an, und dann vernahm sie ein leises, tiefes Knurren.

»Oh Gott, oh nein …« Ihr Blick irrte zur Haustür, die nur wenige Schritte entfernt war, doch wenn sie jetzt loslief, wäre dieser riesige Hund garantiert schneller und würde sie angreifen. Wie aus dem Nichts kam ihr eine Idee. Man sagte doch, dass man wilde Tiere, Bären sogar, mit viel Lärm verjagen konnte. Bestimmt würde das auch bei einem Hund funktionieren, oder? Natürlich nur, wenn er nicht tollwütig war oder so. Aber war die Tollwut in Deutschland nicht ausgerottet? Sie wusste es nicht genau. Allerdings sah der Hund nicht krank aus. Nur schmutzig, riesig und angsteinflößend.

Unvermittelt und mit dem Mut der Verzweiflung klatschte Ellie laut in die Hände und stieß einen zittrigen Schrei aus. »Husch! Weg! Weg mit dir. Hau ab, hörst du? Husch, husch, weg! Verschwinde!«

Wie? Was? Was ist denn mit der Menschenfrau los? Hilfe! Die ist ja verrückt und doch gefährlich!

»Husch, weg, hau ab!« Wieder klatschte Ellie so fest in die Hände, wie sie nur konnte, machte sich so groß, wie es bei ihrer zierlichen Statur ging, und wedelte auch noch wild mit den Armen. »Verschwinde, geh nach Hause. Lass mich in Ruhe!«

Großer Hund, die ist ja wirklich böse und gefährlich. Schon gut, schon gut, ich bin ja schon weg. Du brauchst nicht so zu schreien. Mit einem erschrockenen Bellen, das in ein schiefes Jaulen überging, zog der große Hund den Schwanz ein, duckte sich, machte kehrt und rannte davon.

Zutiefst erleichtert und mit rasendem Herzen beobachtete Ellie, wie das Tier zwischen den Bäumen verschwand. Sie hatte es geschafft! Ihn verjagt! Eilig ging sie zur Haustür und bemerkte dort erst, dass sie die ganze Zeit ihren Schlüsselbund in der rechten Hand umkrallt hatte. Ihre Handfläche war ganz feucht, und als sie mit zitternden Fingern versuchte, die Tür aufzuschließen, fiel ihr der Schlüsselbund aus der Hand. Das leise Klirren ließ sie zusammenzucken.

Fahrig raffte sie die Schlüssel wieder an sich und sah sich nervös um, doch von dem Hund war weit und breit nichts mehr zu sehen.