Schneerose - Maya Shepherd - E-Book

Schneerose E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

Für die 17-jährige Lia ist jeder Schultag die reinste Qual, da sie ein Mobbingopfer ist. Während die Angriffe ihrer Mitschüler immer grausamer und gewalttätiger werden, findet sie nachts Ablenkung in den Discotheken der Stadt. Dort ist Lia ein anderer Mensch: stark und frei. Im Exit lernt sie den jahrhundertealten Vampir Orlando kennen. Sie ist für ihn nur eine von vielen, doch das ändert sich, als er Lias Blut nicht trinken kann. Es ist genauso giftig für ihn wie der Saft einer Schneerose.

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Seitenzahl: 543

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Maya Shepherd

Schneerose

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Lia Green

Orlando Moundrell

Lia Green

Orlando Moundrell

Lindsay Sullivan

Mike Chapman

Mary Cromwell

Orlando Moundrell

Lia Green

Orlando Moundrell

Lia Green

Orlando Moundrell

Chasity Moundrell

Lia Green

Claudia le Boursier

Lia Green

Orlando Moundrell

Lia Green

Lindsay Sullivan

Vivienne Tussaud

Lia Green

Tru Wilson

Orlando Moundrell

Lia Green

Mary Cromwell

Tru Wilson

Orlando Moundrell

Lia Green

Mike Chapman

Mary Cromwell

Tru Wilson

Chasity Moundrell

33. Claudia le Boursier

Orlando Moundrell

Lia Green

Lindsay Sullivan

Mary Cromwell

Tru Wilson

Chasity Moundrell

Kain

Lia Green

Lilith

Lia Green

Quellenangaben

Das Copyright der Textauszüge aus Liedern liegt bei folgenden Rechteinhabern:

Ich danke…

Impressum neobooks

Prolog

Ihre Füße sind blutig und verbrannt von dem heiß glühenden Sand der Wüste. Die Sonne knallt auf ihren unbedeckten Kopf, sodass sich die Haut ihres nackten Körpers bereits zu schälen beginnt. Vor Wassermangel sind ihre Lippen gesprungen und aufgerissen. Sie wirkt dem Tode geweiht, doch der Schein trügt. Wie eine Schlange wirft sie nur ihre alte Haut ab, um in neuer Blüte wieder aufzuerstehen.

Aber selbst mit geschuppter Haut und kaum noch menschlichen Gesichtszügen würde ihr jeder Mann, der sie nur für den Bruchteil einer Sekunde erblickt, unwiderruflich verfallen. Einer Fata Morgana gleich würde er sich vor ihre verkohlten Füße werfen, bereit zu tun, was auch immer sie von ihm verlangt. Ohne wenn und aber. Doch sie würde nur an ihm vorbei gehen, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, während er vor Kummer und Sehnsucht nach ihr vergehen würde. Nicht ein Mann wird es je wieder wert sein, dass sie ihre blutroten Augen auf ihn richtet.

Verrat ist der treueste Begleiter des Mannes. Den Ersten verließ sie aus freien Stücken, weil er ihren Stolz brechen wollte, um sie sich zur willenlosen Sklavin zu machen. Der Zweite, der ohne sie nicht mehr über diese Welt wandeln würde, verstieß sie aus Angst ihr untertan zu sein. Sie nahm den Verlorenen auf, als er einsam war und gab ihm Nahrung, Wärme und Liebe. Eine Liebe, welche die Ewigkeit hätte überdauern können. Aber er zog die Unwürdigen ihr vor, weil er ihre Schönheit und Macht erkannte und wusste, dass er nie mit ihr gleichgestellt sein würde.

Es wäre ein Leichtes gewesen ihn auszulöschen, doch gebietet sie über die Zeit. Ihr Leben ist länger als das einer jeden anderen, warum sollte sie also sofort beenden, womit sie sich Jahrhunderte die Zeit vertreiben kann? Geduld ist eine Tugend über die nur die Wenigsten verfügen, doch sie kann warten. Sie wird sich im Verborgenen als stille Beobachterin halten, solange bis er anfängt sich in Sicherheit zu wiegen, denn vergessen könnte er sie nie. Niemand, der ihr je begegnet ist, könnte sie vergessen.

Getrieben von Hass setzt sie Tag und Nacht einen Schritt vor den anderen. Es bleibt ihr die Unendlichkeit, um ihre Rache zu planen. Und wenn sie dann eintritt, wird keiner sie erwarten, wodurch sie nur noch grausamer und erbarmungsloser sein wird.

Sie wird seine widerwärtige Schöpfung zerstören bis nicht mal mehr eine von seinen Kreaturen übrig bleibt, denn sie sind schwach und ohne Hoffnung. Anders als ihre Kinder, die vor Schönheit und Stärke erstrahlen werden. Sie sollen die wahren Bewohner der Erde sein. Perfekt bis ins kleinste Detail, mit einem Kopf, der zum Denken und Herrschen, und nicht nur zur Zierde da ist.

Als ihre Füße endlich den Strand des roten Meeres erreichen, zischt das Wasser als es sie berührt. Es verbrennt auf ihrer heißen Haut wie auf glühenden Kohlen und umflutet sie mit einem dampfenden Nebelschleier, während sie weiter in die See tritt. Der Dunst breitet sich über den gesamten Strand aus. Erst als sie den Ozean wieder verlässt, lichtet sich der Nebel. Ihr Haar erstrahlt feuerrot in der untergehenden Sonne und bildet einen Kontrast zu ihren smaragdgrünen Augen. Verschwunden ist die schuppige, verbrannte Haut, an derer statt sich neue gebildet hat, welche weicher und straffer ist als die eines neugeborenen Babys.

Die Göttin des Lebens ist erwacht, so jung wie die Welt selbst und erst wenn die Erde zerbricht, wird sie aufhören zu sein.

Lia Green

Ganz klein hat sie sich auf dem harten Stuhl gemacht und richtet ihren Blick stur gerade aus. In ihrem rechten Ohr steckt ein Kopfhörer aus dem, nur für sie hörbar, die ersten Töne von Metallicas „Nothing else matters“ dringen. Mit dem linken Ohr sollte sie eigentlich der Predigt ihres Geschichtslehrers über die Auswirkungen des ersten Weltkriegs zuhören, doch stattdessen lauscht sie jeder anderen leise gezischten Stimme in dem viel zu vollen Klassenzimmer, nur nicht Mr. Attkins. Durch ihren Platz in der letzten Reihe sieht sie wenigstens wenn die anderen Schüler sich, wie sie glauben, unauffällig zu ihr umdrehen, um dann miteinander zu tuscheln. Auch wenn sie, dank der Musik, nicht jedes Wort ihrer Gespräche mitbekommt, spürt sie doch immer ihre gehässigen Blicke auf sich. Sie legen sich wie ein Seil eng um ihren Hals und umschließen ihn gerade so feste, dass es unangenehm drückt und sie manchmal, wenn es all zu schlimm ist, nach Luft schnappen lässt, aber nie feste genug, um sie umzubringen.

Es ist eine Last, die sie täglich aufs Neue dazu bringt, sich überwinden zu müssen in die Schule zu gehen. Einmal ist sie bereits wegen zu vieler Fehlstunden sitzen geblieben. Wenn sie dieses Schuljahr wieder nicht schafft, schmeißt sie die Scarborough Grammar School endgültig raus und wenn sie von der Schule fliegt, fliegt sie auch Zuhause raus. Da hat ihr Vater keine Zweifel dran gelassen. Es interessiert ihn nicht warum sie nicht hingeht, er verlangt nur, dass sie hingeht. Sie muss nicht mal gut sein, sondern soll nur bestehen. Oft sagt er, dass ihm seine Arbeit auch keinen Spaß machen würde, aber er trotzdem hingehen müsse. Doch das fällt Lia schwer zu glauben, wenn sie sieht, wie oft ihr Vater beruflich unterwegs ist. Die Stunden, die er in der Woche daheim verbringt, kann sie an einer Hand abzählen.

„Hast du ihre Augenringe gesehen?“, tönt es von der Bank vor ihr, wobei Tracy eine ihrer blonden Locken um ihre in grellem Pink lackierten Fingernägel wickelt. Eine Duftwolke ihres zu starken Parfüms weht zu Lia und lässt ihre Augen brennen.

„Sie sieht aus wie 40“, gibt Tracys Busenfreundin Sarah zurück und schielt dabei abfällig über ihre Schulter zu Lia, die schnell den Kopf senkt und so tut als würde sie sich auf ihre Notizen konzentrieren, obwohl ihr Blatt leer ist. Das Parfüm ist so stark, dass ihr Kopf zu schmerzen beginnt.

„Verdammter Psycho! Die Typen wollen die doch auch nur für das Eine!“, zischt Tracy mit einem herablassenden Lächeln und einem triumphierenden Blick auf Lia. Sie weiß ganz genau, dass Lia sie hören kann. Erst das gibt ihr den Kick.

Für einen Moment ist es still und Lia hofft bereits, dass es das für heute an Lästereien war während sie gegen das Engegefühl in ihrer Kehle anschluckt, doch da ergreift Sarah wieder das Wort. Verzweifelt hat sie die ganze Zeit nach einem Punkt gesucht mit dem sie Tracy erneut für sich begeistern kann.

„Guck mal wie rissig ihre Lippen sind, wer weiß was sie damit die halbe Nacht wieder gemacht hat. Was für eine Schlampe!“

Zufrieden stellt Sarah fest, dass es funktioniert hat. Tracy kichert.

„Mit der wollte doch eh keiner richtig zusammen sein. Die ist doch total verbraucht.“

„Wer weiß was man sich bei der für Krankheiten holt!“, stimmt Sarah sofort eifrig nickend zu.

„Never cared for what they say

Never cared for games they play“

Es klingelt zur Pause. Während alle anderen erleichtert aufspringen und aus dem Klassenzimmer stürzen, bleibt Lia still sitzen. Erst als der Letzte ihrer Mitschüler den Raum verlässt, beginnt sie ihre Schulunterlagen unter dem strengen Blick von Mr. Attkins zusammenzupacken.

„Liandra, brauchen Sie wieder eine Extraeinladung?“, drängt der Lehrer sie mit seiner nörgelnden Stimme.

„Ich habe nur noch meine Notizen zu Ende geschrieben.“, nuschelt Lia leise vor sich hin, ohne Mr. Attkins dabei anzusehen.

„Das wage ich doch zu bezweifeln. Mit den Knöpfen in den Ohren bekommen sie doch gar nichts von meinem Unterricht mit.“ Er macht eine theatralische Pause und wartet darauf, dass Lia endlich ihre grünen Augen auf ihn richtet, damit er sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein kann.

„Ich erwarte nicht, dass Sie mein Unterricht interessiert, aber es wäre nett, wenn Sie aus Respekt mir gegenüber, wenigstens so tun würden. Wir wissen beide, dass Geschichte nicht gerade Ihr bestes Fach ist.“

„Ja, Mr. Attkins“, antwortet Lia kleinlaut und setzt ein entschuldigendes Lächeln auf, womit sie jedoch bei dem Lehrer auf Granit beißt.

„Mit so einer Einstellung sehe ich schwarz für die Versetzung.“

Lia nickt nur und eilt aus dem Zimmer, so schnell wie möglich weg von Mr. Attkins.

Auf dem Flur erwarten sie bereits ihre beiden besten Freunde Lindsay und Mike ungeduldig. Ursprünglich waren sie in einer Klasse, doch das hat sich geändert seit Lia letztes Jahr sitzen geblieben ist.

„Wenn du immer so lange brauchst, dann werden wir nie einen besseren Platz in der Cafeteria ergattern. Willst du für immer neben den Mülltonnen sitzen?!“, beschwert sich Lindsay bei ihr und läuft, ohne eine Antwort abzuwarten, mit eiligem Schritt voraus. Mike hingegen tätschelt Lia sanft die Schulter und mustert sie mit besorgtem Blick durch seine dicke Hornbrille.

„War wieder irgendetwas mit den anderen?“

Zur Antwort schüttelt Lia mit hängenden Schultern den Kopf. Es ist jeden Tag irgendetwas und Mike weiß das, weshalb er ihr nun ein aufmunterndes Lächeln schenkt.

„Jetzt ist erst einmal Pause und dann hast du den halben Tag auch schon geschafft.“

Lia versucht sein Lächeln zu erwidern, doch ihr Gesicht gleicht eher einer schaurigen Maske von Halloween.

Wie Lindsay bereits befürchtet hatte, ist es in der Cafeteria bereits so voll, dass fast alle Tische besetzt sind. Während Lia in den Gängen der Schule noch trödelte, hat sie es nun eilig zu ihrem Stammtisch zu kommen. Der Tisch ist eigentlich nur für zwei Personen gedacht und befindet sich in der hintersten Ecke des Raumes, direkt hinter den Mülltonnen, weshalb dort sonst niemand sitzen möchte. Es ist der Platz für die ewigen Loser. Lia stört es nicht dort zu sitzen, solange man sie dann in Ruhe lässt, doch Lindsay hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben irgendwann einen Tisch an den Fenstern zu ergattern.

Schnell häuft sich Lia einen großen Schöpfer einer Masse, die als Kartoffelgratin betitelt ist, auf ihren Teller. Zusammen mit ihrer geliebten Cola Lemon zahlt sie das Essen an der Kasse. Noch ein Vorteil, wenn man so spät kommt: Die Kassen sind frei und sie muss sich nicht in eine Schlange stellen, in der sie erneut Opfer der Launen ihrer Mitschüler werden könnte. Zielstrebig und ohne den Kopf zu heben, steuert sie auf ihren Tisch zu. Dabei versucht sie ihre Ohren vor dem Gegröle der anderen zu verschließen. Bloß nicht beachten. Bloß nicht verunsichern lassen. Ruhig bleiben. So ist sie die Erste, die sich an dem Tisch einfindet. Erleichtert, ohne weitere Vorkommnisse, ihren Platz erreicht zu haben, dreht sie sich nach ihren Freunden um und sieht nur noch wie Mike über das ausgestellte Bein eines Jungen namens Bradley stolpert. Der Milchshake von Mikes Tablette ergießt sich über den Fußboden, während Mike seine dicke Brille von der Nase rutscht und er zu Boden stürzt, mitten hinein in die rosa Pfütze. Der Raum ist erfüllt von schadenfrohem Gelächter, während Mike knallrot im Gesicht wird und hilflos den Boden nach seiner Brille abtastet, ohne die er blind wie ein Maulwurf ist. Obwohl bei Lia bereits der Angstschweiß ausbricht, flitzt sie zu Mike und fischt seine Brille aus der Milchshakebrühe, während Lindsay Mike zu ihrem Tisch geleitet. Gerade als Lia sich wieder aufrichten will, baut sich Bradley mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen vor ihr auf. Lia schluckt schwer und ahnt bereits böses.

„Green, meine Hose hat einen Spritzer abbekommen. Willst du ihn nicht weglutschen? Hab mir sagen lassen, dass du darin wohl Übung hast.“ Obwohl die Menge bereits am kichern und johlen ist, meint Bradley noch eins oben drauf setzen zu müssen. „Oder machst du es nur mit Lehrern für bessere Noten? Wir wissen doch alle warum du immer als Letztes die Klasse verlässt.“

Am liebsten würde Lia ihm sein falsches Grinsen aus dem Gesicht schlagen, doch stattdessen dreht sie sich nur um und rennt zu ihrem Platz bei den Mülltonnen. Es spielt keine Rolle, dass ihre Noten so schlecht sind, dass Bradleys Behauptung nicht stimmen kann. Niemand interessiert sich für die Wahrheit, sie amüsieren sich nur gerne auf ihre Kosten. Die einen aus purer Freude, die anderen, um nicht selbst Opfer von Tracys oder Bradleys Schikanen zu werden.

Lia setzt sich mit dem Rücken zu den anderen und versucht ihre Atmung zu regulieren. Normalerweise würde sie sich jetzt wieder ihre Kopfhörer in die Ohren stecken und die Musik auf volle Lautstärke drehen, doch das geht jetzt nicht, wenn Mike und Lindsay dabei sind. Also versucht sie die Stimmen aus ihrem Kopf zu vertreiben, indem sie sich voll und ganz auf ihre Freunde konzentriert. Mikes perlgrüne Hose der Schuluniform ist übersät von hellrosa Spritzern, die er bereits mit einer Serviette erfolglos zu entfernen versucht. Sein Gewische und Gereibe macht die Sauerei nur noch schlimmer und so ergreift Lia seine Hand, um dem Ganzen Einhalt zu gebieten.

„Lass! Es tut mir leid!“, sagt sie, wie schon so oft zuvor. Mike wäre mit seiner übergroßen Brille, dem wirren Haar und seiner ungewöhnlichen Vorliebe für klassische Musik sicher auch ohne sie nicht der beliebteste Junge der Schule. Aber sie weiß, dass die Hänseleien erst durch die Freundschaft zu ihr so richtig eskaliert sind und Mike weiß das auch, obwohl er es immer beharrlich abstreitet, so auch jetzt.

„Es ist doch nicht deine Schuld, dass das alles so hirnlose Idioten sind. Mach dir darüber bloß keinen Kopf.“

Lindsay sieht das Ganze jedoch etwas anderes. Mit prüfendem Blick mustert sie Lia über ihren Salatteller hinweg durch die schwarzen Fransen ihres Ponys.

„Du siehst fertig aus. Warst du letzte Nacht wieder unterwegs?“

Diese Frage stellt ihr Lindsay mindestens einmal die Woche, meist jedoch öfter und zu ihrer Schande muss Lia sie jedes Mal bejahen.

„Wann wirst du endlich lernen, dass man unter der Woche nicht feiern geht, wenn man am nächsten Tag Schule hat?!“, fragt sie vorwurfsvoll und klingt dabei wie die fürsorgliche Mutter, die Lia niemals hatte. In Erwartung der nächsten Frage, zuckt Lia nur mit den Schultern und stochert geistesabwesend in der gelbbeige Masse auf ihrem Teller herum.

„Bist du alleine nach Hause gegangen?“

Lia schüttelt den Kopf und spürt wie Mike neben ihr scharf die Luft einzieht.

„Weißt du wenigstens seinen Namen?“, will Lindsay empört wissen und steckt sich kopfschüttelnd ein Stück Gurke in den dunkelviolett geschminkten Mund. Es ist nicht das erste Mal, dass Lia sich für ihr Verhalten schämt und immer wieder nimmt sie sich vor, nie wieder unter der Woche aus zu gehen, am besten nie wieder überhaupt feiern zu gehen und vor allem nie wieder einen fremden Mann mit nach Hause zu nehmen oder gar mutterseelenallein mit zu ihm nach Hause zu gehen. Doch nicht einmal hat sie es bisher geschafft sich an ihre Vorsätze zu halten. So albern wie es auch klingt, fühlt es sich fast wie ein Zwang an. Sie kann nicht anders, aber dann denkt sie sich jedes Mal, dass sie sich vielleicht nur noch nicht genug Mühe gegeben hat. Obwohl sie selbst nicht einmal weiß, warum sie es immer wieder tut, denn es macht ihr nicht mal Spaß, ganz abgesehen von den Quälereien in der Schule, die sie sich damit einhandelt.

„Ich brauche einfach die Ablenkung“, gibt sie jedoch trotzig an Lindsay gewandt zurück. Das hört sich immer noch besser an als zu behaupten, dass man keine Kontrolle über den eigenen Körper hätte.

„Andere suchen sich deshalb ein Hobby und gehen nach der Schule schwimmen oder spielen in einer Band. Das ist wohl für dich zu banal. Du musst immer etwas Besonderes sein, dass du uns damit mit in den Dreck ziehst, ist dir egal!“, schimpft Lindsay aufgebracht und spricht damit nur aus, was Lia bereits weiß. Es gibt nichts, was sie noch zu ihrer Entschuldigung sagen könnte, denn es ist alles bedeutungslos, wenn sie es nicht endlich schafft sich zu ändern. Bei dem Blick in Mikes, von der Brille vergrößerten, traurigen Hundeaugen schnüren ihr die Schuldgefühle fast den Hals zu.

„Warum suchst du dir nicht einfach einen netten Jungen, der es auch ernst mit dir meint?“

Lia seufzt. „Das möchte ich wirklich keinem antun.“

„Mit ihren ständigen Eskapaden hat sie sich auch jede Chance ernst genommen zu werden, verbaut.“, mischt sich Lindsay ein und sendet Mike über den Tisch hinweg einen gereizten Blick entgegen.

„Quatsch! Es gibt jede Menge Jungen, die gerne mit ihr zusammen wären und nur zu schüchtern sind, um es zu sagen.“, er wendet sich an Lia und legt dabei vertraulich seine Hand auf die ihre.

„Du bist toll und wer dich wirklich kennt, weiß das auch! Und wer das nicht sieht, der hat dich auch gar nicht verdient!“

Gerührt von Mikes Worten senkt sie verlegen den Blick. So ist Mike. Gutmütig und treu, aber zum Glück nicht ihr Typ, denn sie würde ihm das Herz brechen, noch mehr als sie es ohne hin schon tut. Verärgert schnaubt Lindsay auf. Ihr Blick starrt hasserfüllt auf ihre übereinandergeschlagenen Hände.

„Ich wünschte jemand würde so etwas Mal zu mir sagen, aber wahrscheinlich muss sich ein Mädchen erst wie eine Schlampe benehmen, um die Aufmerksamkeit eines Typen zu erregen!“

Ihr Getränk schwappt über als sie wütend ihren Stuhl vom Tisch stößt und verärgert die Cafeteria verlässt. Mike blickt ihr besorgt nach, ohne den wahren Grund für ihren Ausraster zu erkennen. Stattdessen wendet er seine volle Aufmerksamkeit wieder Lia zu, die wie ein Häufchen Elend am Tisch kauert.

„Ich weiß, sie meint es nicht so…“, sagt sie schnell als sie Mikes Blick sieht und sofort weiß, dass er diesen Satz jetzt sonst bringen würde. Und vielleicht meint es Lindsay auch wirklich nicht so, aber das Problem ist, dass sie Recht hat. Es ist egal, wie sie sich benimmt und mit wie vielen Männern sie schläft, Mike wird sie immer toll finden. Doch anstatt sich darüber zu freuen, bereitet es Lia nur ein schlechtes Gewissen.

Den Rest der Pause schwärmt ihr Mike von einem Konzert eines Pianisten vor, dessen Namen Lia noch nie gehört hat und auch sofort wieder vergisst. Mikes Worte rauschen an ihren Ohren nur so vorbei, während sie sich innerlich auf die Qualen der nächsten Stunden vorzubereiten versucht. Als es zum Ende der Pause klingelt, schreckt sie aus ihren Gedanken hoch, nur um festzustellen, dass sie nicht einen Bissen ihres Essens angerührt hat. Nur ihre Cola Lemon ist bis auf den letzten Rest geleert. Schweren Herzen verabschiedet sie sich von Mike vor der Cafeteria, da er im Gegensatz zu ihr nun mit Lindsay Chemie Unterricht in den Laboren hat. Lia muss also alleine den Rückweg zu den Klassenräumen antreten. Schnell steckt sie sich wieder ihre Kopfhörer in die Ohren, um sich von Metallica beschallen zu lassen. Hauptsache laut genug, um nichts von den fiesen Gesprächen der anderen mitzubekommen.

Als sie den Flur betritt, wimmelt es nur so von Schülern, sodass sie sich weit weg von ihrer Klasse an die Wand lehnt und ihren Blick in eine Kopie des Gemäldes „Der Schrei“ von Edward Munch vertieft. Wie gerne würde sie auch, wie die Gestalt auf dem Bild, einfach laut aufschreien, doch ihre Stimme bleibt stumm.

Langsam leert sich der Flur, bis nur noch ihre Klasse übrig bleibt und die anderen sie am Ende des Flurs entdecken. Lia verdammt die blöde Lehrerin, die es nicht mal schafft mitten am Tag pünktlich zum Unterricht zu erscheinen. Mit trockener Kehle, dreht sie die Lautstärke ihres Mp3-Players runter, um nicht von einem Angriff der anderen überrascht zu werden. Sie muss immer auf der Hut sein und das geht nicht, wenn sie die anderen nicht hören kann. Die ersten abfälligen Blicke spürt sie bereits auf sich und ihre Hände fangen an sich zu verkrampfen, als Bradley und Tracy samt ihrem Gefolge auf sie zu treten.

„Du hältst dich wohl für was Besseres oder warum stehst du so weit von uns entfernt?“, will Tracy mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme wissen. Ihre Locken legen sich wie zischelnde Schlangen um ihren Kopf, während sich ihr Blick in Lias zu Boden gerichtetes Gesicht bohrt.

„Oder hast du etwa Angst vor uns?“, verhöhnt Bradley sie und lehnt sich direkt neben sie an die Wand. Sein Augenmerk ist ganz auf Lia gerichtet, wie ein Raubtier auf seine sich bereits windende Beute.

„Mein Bruder hat dich letzte Nacht in einem Club gesehen…Er meint du wärst direkt mit drei Typen auf der Toilette verschwunden.“

„Schlampe!“, zischt Sarah sofort gehässig und blickt nach Anerkennung suchend zu Tracy, doch diese betrachtet verbittert Bradley.

Ein anzügliches Grinsen huscht über sein Gesicht, während sein Blick unverhohlen über Lias Körper gleitet. Sie verdammt den knielangen Rock und die enganliegende weiße Bluse der Schuluniform. Sie hat schon so oft die zuständige Lehrerin gebeten die Kleidung mehrere Nummern größer zu bekommen, doch die Dame weigerte sich bisher beharrlich.

Tracy missfällt die Begierde in Bradleys Augen. „Wie dumm sie doch ist, nicht mal Geld dafür zu nehmen. So oft wie sie es treibt, könnte sie ein Vermögen machen.“

„Vielleicht hat sie nur noch niemand auf die Idee gebracht.“, entgegnet Bradley und rückt noch näher auf Lia zu, die vor ihm wie ein verängstigtes Reh zurückweicht.

„Also ich würde ihr nicht mehr wie nen Zehner geben.“, meint der dicke Phil, der in Wirklichkeit sein ganzes Geld dafür hergeben würde nur um eine Frau mal nicht nur auf den Bildschirm seines PCs nackt zu sehen.

„Du tust ihr Unrecht, Phil. Wen wundert es auch. Jeder weiß, dass du keine Ahnung von Frauen hast, die nicht aus Gummi sind…“

Die Umherstehenden verfallen in ein synchrones, aufgesetztes Lachen, so wie Bradley es von ihnen erwartet. Nur Tracy verschränkt genervt die Arme vor der Brust. Da beugt sich Bradley plötzlich vor, sodass ihn nur Zentimeter von Lias Gesicht trennen. Mit seiner Hand fährt er über ihr blondes Haar, welches sie in einem Pferdeschwanz streng nach hinten gebunden trägt. Nur eine einzelne Strähne fällt in einer sanften Welle über ihr von dunklen Augenringen gezeichnetes Gesicht. Als Lia den Kopf wegdrehen will, packt Bradley sie grob am Kinn und dreht es gewaltsam zu sich.

„Schaut euch nur diese Lippen an. So voll und das von Natur aus. Nicht wie bei unserer lieben Sarah vom Onkel Doktor gemacht. Miss Green kann damit sicher so manchen Mann um den Verstand bringen, nicht wahr?!“

Er wartet jedoch nicht wirklich auf eine Antwort von Lia, sondern drückt seine Hand grob gegen ihren Busen, während Lias Brustkorb sich vor Angst zitternd hebt und senkt. Ohne sich zu wehren, steht sie nur da und erträgt Bradleys Demütigungen. Wie das Reh im Licht des Autoscheinwerfers, das unfähig ist davon zu rennen. Ihre Mitschüler sind plötzlich ganz still geworden und beobachten die Szene schweigend.

„Hab’s ich doch gewusst. Das ist mehr als eine Hand voll. Ich habe ein Gespür für Granaten. Von mir würdest du zweihundert kriegen.“

Sein verlangendes Grinsen löst sich in Luft auf, als seine Hand plötzlich von Lias Brust geschlagen wird.

„Ich mach es dir für einen Fuffie, Bradley. Direkt hier oder bist du etwa zu feige?“, ertönt Trus Stimme und ehe Bradley auch nur die Zeit bekommt etwas zu erwidern, geht sie bereits vor ihm auf die Knie und macht sich an dem Reißverschluss seiner Hose zu schaffen. Überrumpelt stolpert Bradley vor ihr zurück, während die anderen zu grinsen anfangen.

„Du wirst doch etwa nicht kneifen wollen? Hast du Angst, dass alle sehen wie winzig dein angeblich gigantischer Schwanz wirklich ist?!“

Das grunzende Lachen von Phil ertönt, der dafür sofort einen bösen Blick von Bradley erntet.

„Du hast doch keine Ahnung wovon du redest, Fledermaus. Mit dir würde ich in hundert Jahren nichts anfangen.“, erwidert Bradley abweisend und strafft seine Schultern, um Tru nun Parole bieten zu können. Diese lässt sich von ihm jedoch nicht im Geringsten einschüchtern. Als sie aufsteht und sich vor Bradley aufbaut, der nur wenige Zentimeter größer als sie ist, erscheint sie Lia unwahrscheinlich stark, so als ob sie sich von nichts und niemandem unterkriegen lassen würde. In dem Moment biegt endlich ihre Mathelehrerin, beladen mit einem Haufen Blätter, in den Flur ein. Die Show ist beendet. Bradley wirft Tru noch einen letzten abfälligen Blick, zu bevor er sich mit seinen Untertanen in Richtung Klassenraum begibt.

Tru dreht sich nun zu Lia um und lässt ihre warmen braunen Augen vorsichtig über Lias Gesicht gleiten.

„Alles okay?“

Lia strafft den grünen Blazer der Schuluniform. „Danke für deine Hilfe.“

Tru macht eine wegwerfende Handbewegung und lächelt für einen Moment schief, nur um dann wieder Lia mit ernstem Gesicht anzusehen.

„Du musst zurückschlagen!“

Unbeholfen zuckt Lia mit den Schultern. „Ich hab doch keine Chance gegen eine ganze Gruppe.“

„Dann musst du eben umso härter zuschlagen. Wenn du dich nicht wehrst, lassen sie dich nie in Ruhe!“

Hinter Tru betritt Lia als Letzte das Klassenzimmer und verbarrikadiert sich erneut mit Musik in den Ohren in der hintersten Reihe, während Tru ganz vorne sitzt und gedankenverloren aus dem Fenster blickt. In der Klassenarbeit hat Lia mal wieder eine 5. Mr. Attkins hat Recht, es sieht schlecht aus für die Versetzung.

Orlando Moundrell

Der Bass lauter Musik dringt an seine Ohren und lässt den Boden vibrieren. Die Farben der Neonlichter legen sich über die Tanzwütigen, während die Menschen an der Bar in sanftem Dämmerlicht zu einer Masse verschmelzen.

Orlando tritt an die überfüllte Theke und braucht der jungen Kellnerin nur in den Rücken zu blicken, um sie dazu zu bewegen sich sofort zu ihm umzudrehen und jedes Gespräch oder jede Handlung, mit der sie gerade beschäftigt war, sogleich zu unterlassen, um seine Wünsche, egal welcher Natur sie auch sein mögen, entgegen zu nehmen. Ihm entgeht auch nicht die Gänsehaut, die sich über ihren Körper in einem wohligen Schauer ausbreitet als er „Einen Bloody Mary“ fordert. Ein nervöses Kichern entfährt ihr bevor sie sich dann endlich ihrer Arbeit zuwendet.

Er spürt die ersten neugierigen Blicke bereits auf sich. Sie kommen von allen Seiten und den verschiedensten Frauen. Den größten Teil bilden natürlich die Single Damen, die entweder auf der Suche nach der großen Liebe oder einem kleinen schmutzigen Abenteuer sind. Aber auch vergebene Frauen machen keinen Hehl aus ihrem Interesse, indem ihre Augen während eines Gesprächs mit ihrem Partner immer wieder zu ihm wandern oder sie ihn sogar betrachten, derweilen ihre Lippen die eines anderen berühren. Egal wo er hingeht, kann er sich der Aufmerksamkeit aller gewiss sein.

Mit zitternden Händen stellt die Kellnerin ihm nun sein blutrotes Getränk hin, sodass es leicht überschwappt. Der rote Saft läuft über ihre Finger, die sie dann in ihren rosa geschminkten Mund steckt und genüsslich unter den Augen Orlandos daran lutscht.

„Tschuldige, du machst mich ganz nervös. Ich bin Sindy!“, sagt sie und fährt sich dabei mit dem Daumen verführerisch über die Lippen.

„Mein Fehler, dann sollte ich wohl besser gehen. Schönen Abend noch, Sindy.“, entgegnet er ihr grinsend und verlässt unter Sindys Bitte zu bleiben die Bar, um sich an einen der Tische zu stellen, von denen man die ganze Tanzfläche erfassen kann.

Es braucht nur einen Blick seinerseits um die Frauen zu erkennen, die ohne zu zögern sofort mit ihm nach Hause gehen würden. Er erkennt sie an der Art wie sie sich kleiden und wie sie betont oft lachen oder ihre Hüften kreisen lassen. Nicht einmal der Scham jemanden anzusprechen, muss er sich hingeben. Wobei es egal wäre, wie er sie anspricht. Er könnte zum Beispiel sagen: „Hast du schon mal eine lila Kuh gesehen?“ und sie würden dahin schmelzen und jede Frage mit „ja“ beantworten, jederzeit bereit zu tun, was auch immer er verlangt.

Doch es ist noch viel einfacher, denn die Frauen kommen zu ihm. Eine nach der anderen. Diejenigen, die noch nicht komplett benebelt von dem Alkohol sind, versuchen es mit etwas wie „Hey, du bist mir aufgefallen“ und erzählen ihm dann meistens viel mehr von sich, als er wissen möchte. Andere, welche schon mehr getrunken haben, als ihnen gut tut, stützen sich auf seine Schulter und lallen ihm dicht ans Ohr: „Ist es heiß hier drin oder bist du das?“

Und wieder andere, beweisen wenigstens Witz und etwas Individualität, indem sie ihn provokant fragen: „Weißt du was mir an dir gar nicht gefällt?“

Würde er sich nicht mehrmals die Woche die Nächte in einem Club um die Ohren schlagen, wäre er von der Frage, vielleicht ehrlich überrascht. Doch so antwortet er nur begleitet von einem Augenverdrehen: „Was?“

Daraufhin setzen die Frauen dann einen, ihrer Meinung nach, verruchten Blick auf und antworten: „Dass du Kleider an hast.“

Mehr als ein aufgesetztes Grinsen entlocken sie ihm mit all ihren Maschen jedoch nicht. Er ist nicht interessiert an Frauen, die sich ihm an den Hals schmeißen und wie ein Opferlamm darbieten. Er sucht viel mehr nach etwas Unschuldigem und Reinen. Auch diese Frauen vermag er ohne Probleme zu erkennen. Es sind die, deren schüchternen Augen einen für Sekunden streifen, aber sich sofort abwenden, sobald man ihren Blick erwidert. Danach lässt er seine eisblauen Augen auf ihren Rücken ruhen, bis ihnen die Haut am ganzen Körper kribbelt, heiß wird und sie es nicht länger unterdrücken können ihn anzusehen. Das ist der Moment, in dem er gewonnen hat.

Auch jetzt sucht er den Raum wieder nach der heutigen glücklichen Auserwählten ab. Es dauert einen Moment, bis er es registriert, doch dann trifft ihn die Erkenntnis mit voller Wucht. Etwas ist anders als sonst. Er erhält nicht die Aufmerksamkeit, die er gewohnt ist und ihm gebührt. Ganz im Gegenteil, die Menschen recken ihre Köpfe nach jemand anderem. Selbst die Frauen fahren sich mit den lackierten Fingernägeln über ihre verschwitzen Dekoltées und betrachten dabei, mit einem unbeabsichtigtem Lecken der Zunge über die Lippen, eine Person, welche eindeutig nicht er ist. Noch nie zuvor hat er so etwas erlebt und es verstört ihn zutiefst, erweckt aber gleichzeitig seine Neugier. Wer kann nur anziehender als er selbst sein? Wer vermag die Massen noch mehr zu fesseln? Hektisch gleiten seine Augen über die volle Tanzfläche, folgen den Blicken der Menschen und dann endlich sieht er SIE. Ihr langes blondes Haar fällt wie Seide über ihren nackten Rücken. Der knackige Po wird gerade so von einem winzigen schwarzen Stoffstreifen bedeckt. Die Füße stecken in scharlachroten Pumps. Ihre Bewegungen sind elegant und sexy zugleich. Keine kann hier oder irgendwo sonst mit ihr mithalten. Das wissen sie auch, deshalb halten sie Abstand von der geheimnisvollen Schönheit. Sie ist einmalig.

Ihr gehört ein eigener kleiner Bereich auf der großen voll gequetschten Tanzfläche, auf der es niemand wagen würde ihr zu nahe zu kommen. So sehr er auch ihren wunderhübschen Rücken fixiert, schafft er es nicht sie wie alle anderen dazu zu bewegen sich auch nur einmal umzudrehen und in seine Richtung zu blicken. Sei es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Von dem ersten Moment, in dem er sie sah, wusste er, dass er sie besitzen muss. Daran gibt es keinen Zweifel und so treibt es ihn schier zur Verzweiflung darüber nachzudenken wie er das vollbringen soll. Nie zuvor in seinem mittlerweile Jahrhunderte überdauernden Leben musste er sich die Frage stellen wie er die Aufmerksamkeit einer Frau erregen könnte. Es war immer ein Kinderspiel gewesen, vollkommen belanglos. Nicht im Traum hätte er geglaubt, je in seinem Dasein auch nur einmal noch auf eine Herausforderung zu stoßen, die eine Frau ihm stellt. Doch der Begriff ‚Frau’ wird ihr nicht gerecht. Sie ist nicht wie die anderen. Sie ist wie ein funkelnder Diamant unter grauen Kieselsteinen. Diese oder keine, das steht zumindest für die heutige Nacht fest.

Wenn er nicht auf sie zugeht, dann wird sie ihn nie bemerken, so viel ist Orlando klar. So zerbricht er sich fieberhaft den Kopf darüber, was er nur zu ihr sagen könnte, um sie für sich zu gewinnen. Wie lächerlich! ER, der fünf Frauen an einem Finger pro Hand haben könnte, muss sich Gedanken darüber machen, wie man eine Frau anspricht. Doch auch wenn in seinem Kopf ein Gedanke den anderen überschlägt, sind seine Schritte fest und selbstsicher als er die Tanzfläche betritt und zielstrebig die schöne Fremde ansteuert.

Nur für einen Augenblick bleibt er außerhalb ihres selbstgebildeten Tanzkreises stehen, den bisher niemand zu betreten gewagt hat und sieht fasziniert dabei zu, wie ein Schweißtropfen von ihrem Nacken an ihrer perfekt geformten Wirbelsäule entlang hinab in die Wölbung ihres Pos fließt. Wie gern würde er ihm mit seinem Finger Einhalt gebieten. Kaum, dass er ihr Revier betritt, wirbelt sie zu ihm herum, so als wolle sie empört erfahren, wer es wagt in ihr Reich einzudringen. Jeder Satz, den er sich auf der Zunge zu Recht gelegt hat, ist vergessen. Das Strahlen ihrer Augen hätte ihn selbst am anderen Ende des Raums noch wie vom Blitz getroffen, aber aus so unmittelbarer Nähe macht es ihn schlicht und einfach sprachlos. Wie ein Trottel, der er selbst zu seinen Lebzeiten nie war, steht er da und starrt sie an, schafft es einfach nicht seine Augen von ihr abzuwenden, WILL seine Augen nicht abwenden. Ihr intensiver Blick, welcher geradewegs auf ihn gerichtet ist, würde sein Blut zum kochen bringen, wenn dazu noch die Möglichkeit gegeben wäre.

Er weiß nicht, ob sie einander minutenlang betrachten oder ob es nur Sekunden sind, aber als sie an ihm vorbeistreift und die Tanzfläche verlässt, liegt der Duft von süßen Erdbeeren in der Luft. Begierig die Luft zu inhalieren, schnappt er danach wie ein Ertrinkender und fährt herum, um zu sehen, wie sie gerade den Club durch den Hintereingang verlässt. Es gibt kein Halten mehr, als sein Körper sich vorbei an all den verschwitzen Leibern zum Ausgang drängt. Er konzentriert sich auf ihren süßen Geruch und das rhythmische Klappern ihrer Absätze auf dem Kopfsteinpflaster und folgt ihr durch die schmalen Gassen der Bar Street. Unter bunten Neonschildern drängen sich die Feiernden zusammen und laden ihn ein ihnen beizutreten, doch er ist wie berauscht von dem fremden Duft. Ein Taxi fährt gerade vom Eingang der überfüllten Bar Street, Ecke South Bay, ab. Die blonde Mähne, welche aus dem Fenster weht, reicht ihm als Beweis um die Verfolgung aufzunehmen. Begleitet von einem verärgerten Hupen tritt er mitten auf die befahrene Straße der Vergnügungsmeile und springt in das nächste Taxi, das er so zum Anhalten gezwungen hat. Dass es bereits besetzt ist, spielt unter Einsatz eines 50£-Scheines keine Rolle mehr.

„Folgen Sie dem Taxi“, ist das Einzige was er vor lauter Aufregung wie elektrisiert hervor bringt. Die Autos gleiten durch den spärlichen Stadtverkehr des Hafens von Scarborough in dem sich bunt beleuchtete Motorboote neben Segelschiffen tummeln. Vorbei an den leuchtenden Werbereklamen der Fast Food Ketten, Discounter, Souvenirshops und Modeboutiquen am Strand. Das Leben floriert, doch davon bekommt Orlando nichts mit. Ihn interessiert nur so nah wie möglich an dem Taxi vor ihnen zu bleiben. Schon bald biegen sie von der South Bay mit den eng aneinander stehenden kaminroten Steinhäuser in eine der teureren Wohngegenden ab. Voller Erstaunen erkennt er nach wenigen Häusern, dass es sich um die Manor Road handelt, an deren Ende sich der italienische Garten erstreckt, in dessen Mitte Moundrell Manor thront, sein derzeitiges Zuhause. Ihm stockt der Atem als er die schlanken Beine der kühlen Blonden aus dem Taxi huschen und durch ein Tor in einer von Tannen bewachsenen Auffahrt verschwinden sieht.

„Stop! Anhalten!“, schreit er sofort alarmiert und zerquetscht dabei beinahe die Schulter des Taxifahrers, der eine Vollbremsung hinlegt.

Er drückt ihm einen weiteren 50£-Schein in die Hand und steigt aus dem Auto aus. Dunkel liegt die Auffahrt vor ihm, ohne das ein Ende auch nur in Sicht wäre. Ein Spalt des grauen Eisentores steht offen, durch den er sich hindurch schiebt. Der sandfarbene Kies knirscht unter seinen schwarzen Lederstiefeln. Mit vorsichtigem Schritt folgt er ihrem süßen Duft durch die dunkle Auffahrt. Hell hebt sich das Gebäude von der Nacht ab, obwohl nicht ein Licht im Inneren brennt. Es ist ein großes Anwesen, typisch britisch aus weißen Holzbalken mit braunen Fensterläden. Eine gemütliche Veranda führt zu der Eingangstür aus schwerem Teakholz. Neben dem Haus befindet sich eine Garage, auf dessen Dach ein Anbau mit großen Fenstern angebracht ist. Die Silhouette einer bleichen Gestalt ist hinter den sich im Wind wiegenden Chiffonvorhängen zu erkennen.

Er war zu langsam, hat den Zeitpunkt verpasst, sie anzusprechen. Die Haustür steht einen Spalt offen. Hat sie vergessen sie zu schließen? Für ihn ungewohnt vorsichtig, tritt er auf die Veranda, vorbei an den perfekt in Form geschnittenen Buchsbäumen. Immer noch kein Licht im Haus, aber er stellt fest, dass im Eingang einer der roten Pumps liegt und so die Tür geöffnet hält. Kann das ein Zufall sein? Nein, es kommt einer Einladung gleich! Soll er es wagen? Seine Schuhe quietschen verräterisch als sie den dunklen Holzfußboden des Hausflurs berühren. Er hat das Risiko noch nie gescheut, sondern immer als Nervenkitzel betrachtet.

Der zweite Lackstiletto liegt wie eine Signalfahne am Ende der Treppe. Unachtsam abgestreift, spürt er noch die Hitze ihres pulsierenden Körpers in ihm.

Leise steigt er die von edlen Rosenbouquets gesäumte Treppe empor, wobei er im oberen Teil fast über den schwarzen Hauch von Nichts gestolpert wäre, welches sie als Kleid trug. Ohne Zweifel sie hat ihm eine zuckersüße, aber gefährliche Spur hinterlassen. Nie zuvor ist ihm etwas dergleichen prickelndes Erotisches widerfahren. Bei jedem Schritt knarrt der alte Holzboden unter seinen Füßen und kündigt für jeden hörbar sein Kommen an. Der winzige String aus schwarzer Spitze vor einer der großen weißen Flügeltüren ist die Krönung des Ganzen. Mit einem beherzten Stoß dringt er in das angebaute Zimmer über der Garage ein.

Ihr Körper hebt sich gegen das kühle Mondlicht ab und lässt ihre Haut so weich und weiß wie reinste Milch erscheinen. Er möchte sie kosten, sich an ihr satt trinken. Wenn er sie nicht haben kann, will er auf der Stelle zu Asche zerfallen. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, nur ihr Atem unterbricht die Stille.

Als sie sich zu ihm umdreht, liegt keinerlei Scheu oder Scham in ihrem Blick. Nackt, wie sie auf die Welt kam, steht sie vor ihm und ist in diesem Moment das Schönste und Begehrenswerte, was seine jahrhundertealten Augen je erblicken durften.

Es braucht keine Worte, um zu wissen, was der andere im Sinn hat. Sie wissen beide warum sie hier sind und so treffen ihre Lippen wie von selbst heiß aufeinander. Seine rauen Hände gleiten über ihre zarte und nackte Haut, umschließen ihre festen vollen Brüste und kneifen in ihren prallen Po. Orlandos Kleidung löst sich wie von selbst in blankes Wohlgefallen auf.

In seiner puren Männlichkeit steht er vor ihr, deren Haut in dem seichten Licht des Mondes mit den weißen Lacken des Eisenbettes verschmilzt. Er braucht keine weitere Einladung und so dringt er in sie ein, um augenblicklich von einer sengenden Hitze umschlossen zu werden. Er spürt das Feuer einer anderen Welt, in der Lust und Leidenschaft regieren. Ihr wildes Stöhnen raubt ihm den Verstand und macht ihn zu einem Sklaven ihrer unberechenbaren Willkür. Unvergleichbar, doch es sind ihre fesselnden Augen von denen er den Blick nicht lassen kann.

Erschöpft sinkt er unter ihr zusammen. Einer Königin gleich thront sie auf ihm, während er sich ihr vollkommen willenlos unterworfen und gefügt hat. Eine unabwendbare Müdigkeit zieht ihn hinab in einen traumlosen Schlaf.

Wieder zu sich kommt Orlando erst Stunden später. Bereits halb sieben am Morgen. Wie konnte ihm so etwas nur passieren? Noch nie ist er bei einer Frau zu Hause eingeschlafen, warum bei dieser? Nur ein Blick auf ihren wohlgeformten Körper reicht, um ihm die Frage zu beantworten. Das goldene Haar umschmeichelt in sanften Wellen ihre nackten Brüste, an denen er vor wenigen Stunden noch saugte wie ein Baby. Er möchte sie wecken und das ganze Spiel von vorne treiben, immer und immer wieder, aber die Sonne ist der Spielverderber, der ihn zum Gehen zwingt.

Als er sich aufrichtet, schwirrt ihm der Kopf und ihm wird plötzlich ganz schwarz vor Augen. Richtig schwach und kraftlos fühlt er sich, fast so als wäre jegliche Energie aus seinem Körper gesaugt worden. Ihr Blut wird ihn stärken. Nur ein Biss wird genügen, um sie die ganze Nacht vergessen zu lassen. Bedauerlich, dass er ihr ausgerechnet so etwas Einmaliges nehmen muss. Doch es ist nicht nur zu seinem, sondern auch zu ihrem Schutz. Auch wenn er sich an so gut wie keine Regel der Vampire hält, so gibt es doch die eine, gegen die niemand, nicht mal er, wagen würde zu verstoßen: „Erhalte stets deine Maskerade!“

Niemand darf jemals erfahren was er wirklich ist. Denn auf die Entdeckung steht nicht nur der Tod für den Entdecker, sondern auch für den Entdeckten.

Sanft fahren Orlandos Hände über die helle, so leicht zu verletzende Haut an ihrer Kehle. Fast schmerzt es ihn, dieses perfekte Gesamtbild mit einem Biss zerstören zu müssen. Es werden nur winzige rote Punkte zu sehen sein, doch genug um die Perfektion zu vernichten. Seine Lippen liebkosen ihren schlanken Hals, bevor sich seine spitzen Eckzähne sanft in das weiche Fleisch drücken. Blut sickert in seinen gierigen Mund, nur um ihn röchelnd und hustend zurückweichen zu lassen. Es brennt wie Feuer in seiner Kehle und raubt ihm nicht nur die Sinne, sondern wortwörtlich die Luft zum atmen. Das Blut brennt stärker als jeder hochprozentige Alkohol, fast erscheint es ihm als würde seine gesamte Speiseröhre von einem unsichtbaren Gift verätzt werden. Tränen steigen ihm in die Augen, während er schweißgebadet zu Boden sinkt. Wie ein Fisch an Land, schnappt er nach Luft und übergibt sich, bis der Brand endlich wieder etwas nachlässt. Benommen zieht er sich am Bett empor auf die Beine. Er hat keine Erklärung für das, was hier gerade passiert ist. Es beunruhigt und verunsichert ihn zutiefst. Nicht ein winziges Einstichloch ist auf ihrem weißen Schwanenhals zu sehen, während das Feuer immer noch stechend in seinem Magen wütet. Doch ihm bleibt keine Zeit weiter darüber nachzudenken, die Sonne und der anbrechende Tag treiben ihn zur Flucht. Schwankend wankt er aus dem Zimmer. Nur gut, dass Moundrell Manor nicht weit weg ist. Eine Fahrt durch die Stadt hätte er nicht überlebt.

Nach einer herrlichen Konserve Blut hat sich Orlandos Magen von dem Schock wieder erholt. Als er das Anwesen betrat, herrschte zu seiner Freude bereits die gewohnte tägliche Ruhe. Man hätte ihm seine Verunsicherung angesehen und das hätte nur weitere Fragen aufgeworfen, derer er in diesem Moment nicht fähig gewesen wäre zu antworten. Er versteht nicht was passiert ist, er versteht die ganze Nacht nicht. Es macht ihm Angst, aber weckt auch seine Neugier. Ihre leuchtenden Augen sind das Letzte, was ihm in den Sinn kommt, bevor er erneut einschläft. Niemals könnte er diese Augen wieder vergessen. Er würde sie erkennen unter Millionen. Smaragdgrün und strahlender als die Sonne, doch so kalt wie Eis.

Lia Green

Das Zwitschern von Vögeln dringt durch die geschlossenen Fenster in das noch dunkle Zimmer. Ein kühler Windhauch streicht über Lias nackten Rücken und kitzelt die feinen Härchen. Erholt schlägt sie die Augen auf und gähnt erst mal kräftig, bevor sie sich die dicke Decke bis zum Hals zieht. Vogelgezwitscher im Winter? Wie viel Uhr ist es denn schon? Hat sie vergessen ihren Wecker zu stellen? Einen Blick auf die Uhr revidiert diese Annahme. Erst kurz vor sieben, sie könnte locker noch zehn Minuten schlafen. Es grenzt schon an ein Wunder, dass sie ohne das schrille Klingeln des Weckers erwacht, aber dass sie tatsächlich die Lust verspürt sofort aufzustehen, ist beängstigend. Normalerweise würde sie sich genervt das Kissen über den Kopf ziehen, in der Hoffnung, den Wecker dann später nicht zu hören und so für sich selbst eine Ausrede zu haben, warum sie heute mal wieder nicht in die Schule geht. Sonst hat sie morgens immer Magen- und Kopfschmerzen, wenn sie an ihre Mitschüler denkt und wie diese sie heute wohl wieder quälen werden. Doch gerade fühlt sie sich seltsam befreit und sehnt sich danach ihre Freunde und vor allem Lindsay wieder zu sehen. Sie hat ihr etwas zu erzählen! Ein Lächeln huscht über ihre Lippen.

Die Schikanen der anderen erscheinen plötzlich nur noch halb so schlimm. Sie ist immerhin nur wenige Stunden des Tages in der Schule. Eisblaue Augen und Haare so dunkel wie die Nacht tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Die Haut an ihrem Hals prickelt vor Erregung bei dem Gedanken an die vielen Küsse und Berührungen der letzten Nacht. Verblüfft stellt sie fest, dass sie sich nicht für die Erinnerung daran wie sonst schämt.

Erleichtert schwingt sie ihre Beine aus dem Bett und tapst barfuß in ihre Decke gehüllt über die Holzdielen zu ihrem weißen Holzkleiderschrank und öffnet schwungvoll die Flügeltüren. Der Schrank ist zweigeteilt. Auf der einen Hälfte befindet sich eine Kleiderstange mit den perlgrünen Blazern und Röcken sowie einer Reihe weißer Blusen ihrer Schuluniform. Außerdem noch eine dicke Daunenjacke für kalte Tage und eine verschlissene braune Lederjacke, die das letzte Überbleibsel ihrer Mutter darstellt. Der einzige Beweis, dass sie überhaupt je existiert hat. Denn im ganzen Haus konnte Lia bisher weder ein Foto noch sonst irgendeinen Nachweis ihrer Existenz finden. Seitdem sie laufen kann durchsucht sie bereits sowohl den Keller als auch den Dachboden danach, jedoch ohne jeglichen Erfolg. Sie weiß nicht mal, ob sie ihr überhaupt ähnlich sieht und ihren Vater nach ihr zu fragen, ist zwecklos, da er jedes Mal in eine Art Trance verfällt und dann nur vor sich hin stammelt wie wunderschön sie war, aber das sie gegangen sei. Kein vernünftiges Wort ist in Bezug auf ihre Mutter aus ihm herauszubekommen. Es ist wie mit einer Wand zu reden, sodass Lia ihn oft am liebsten fest an beiden Schultern packen würde, um ihn dann solange zu schütteln, bis er endlich mit Antworten auf ihre vielen Fragen herausrückt.

Die andere Hälfte des Schranks enthält Fächer für private Kleidung, die bei Lia hauptsächlich aus schwarzen und grauen Longtops und dunklen Jeanshosen besteht. Nur im untersten Fach knüllen sich ein paar kurze Minikleider zusammen, an deren Käufe sie sich nur entfernt erinnert. Manchmal ist die Scham am Morgen so groß, dass sie sich eines der Kleider in Wut herauszerrt und eigenhändig mit einer Schere zerschneidet. Doch seltsamerweise gehen die winzigen Fetzen nie aus.

Nachdem sie sich im Badezimmer gewaschen und angezogen hat, stellt sie sich in ihrem Zimmer vor den Spiegel über ihrer mit Schnörkel verzierten Kommode und streicht mit den Fingern über die feine Stickerei des Schulwappens. Ein weißer Leuchtturm auf grünem Grund, das Logo von Scarborough, der ehemaligen Fischerstadt.

Mit einer Bürste kämmt sie sich die Haare und will sie bereits wieder in einem Pferdeschwanz zurückbinden, doch entscheidet sich dann dagegen. Warum sollte sie ihr Haar nicht mal wie jedes andere Mädchen offen tragen? Sollen die anderen doch reden was sie wollen! Sie ist doch nicht auf der Welt, um sich immer nur Gedanken über andere zu machen.

Beschwingt gleitet sie in einem hüpfenden Schritt die Holztreppe hinunter in die Küche. Zu ihrer Überraschung, trifft sie dort auf ihren Vater, der lässig am Tresen lehnt, mit der aktuellen Tageszeitung in den Händen und die heutigen Börsenkurse studierend.

„Guten Morgen, Daddy“, begrüßt sie ihn lächelnd und erntet einen irritierten Blick. ‚Gut’ war ein Morgen schon lange nicht mehr und ‚Daddy’ hat sie ihn zuletzt mit fünf genannt. Er räuspert sich.

„Guten Morgen Liandra. Maria hat heute Morgen frische Pancakes gemacht, bevor sie einkaufen gefahren ist.“

Maria ist ihre spanische Haushälterin, Köchin und einfach Mädchen für Alles. Kurz: Die gute Seele in ihrem Haus. Lia lächelt.

„Wie lieb von ihr, aber ich habe gar keinen Hunger. Kann ich etwas von deinem Kaffee haben?“

Das Verhalten seiner Tochter erscheint Mr. Green immer eigenartiger, so dass er die Zeitung sinken lässt. „Es ist noch eine ganze Kanne da, nimm dir ruhig.“

Mit einem Becher Kaffee lässt sich Lia auf den Stuhl, gegenüber ihrem Vater gleiten und schaut fröhlich hinaus in den schneebedeckten Garten, wo sie einen Vogel dabei beobachtet, wie er den vereisten Boden nach Körnern absucht.

„Wie läuft es in der Schule?“

„Ach das wird schon, ich arbeite dran. Wenn man sich wirklich Mühe gibt, kann man alles schaffen.“

Vor Schock verschluckt sich William Green an seinem Kaffee. Das Mädchen, welches ihm dort gegenüber am Tisch sitzt, kann unmöglich seine pessimistische, stets depressive Tochter sein. Doch ehe er dazu in der Lage ist, sie auf ihre gravierende Veränderung anzusprechen, springt sie von ihrem Stuhl auf, drückt ihm einen Kuss auf die Wange und rauscht durch die Tür. Er weiß nicht, was er davon halten soll. Zwar hat er sich immer gewünscht, dass sie sich endlich ändern und zur Vernunft kommen würde, doch mit so einer plötzlichen Wandlung hat er nicht gerechnet.

Während der Fahrt in ihrem alten VW Golf durch die kahle Alleestraße von der Manor Road zu der Scarborough Grammar School, pfeift der Wind eisig durch das undichte Fenster. Ihr Vater würde ihr jederzeit mit größter Freude ein neueres, schnelleres und allgemein schöneres Auto schenken, doch Lia weiß, dass das nichts weiter als rausgeschmissenes Geld wäre. Denn es wäre schade, wenn das neue Auto bereits nach einem Tag auf dem Schulparkplatz mit Kratzern und Kaugummis ihrer aufmerksamen Mitschüler übersäht wäre. Dem alten Golf schadet das nicht. Die Kratzer im einst schwarzen Lack kann sie schon nicht mehr zählen und das obwohl sie extra schon ein paar Straßen von der Schule entfernt parkt.

Aber davon will sie sich heute nicht ihre gute Laune verderben lassen und so dreht sie das Radio lauter als „Rebel yell“ von Billy Idol läuft, einer ihrer absoluten Lieblingssongs.

„Last night a little dancer

Came dancin' to my door“

Die Blicke der anderen sind unbezahlbar. Damit haben sie nicht gerechnet. Die schwache Lia, die sich von allen demütigen lässt und sich aus lauter Angst in der hintersten Ecke versteckt, gibt es schlagartig nicht mehr. Zwar hat sie immer noch ihren alten Platz, doch sitzt sie nun aufrecht und mit erhobenem Kopf da. Zum ersten Mal seit langer Zeit, ist sie wieder in der Lage Mr. Attkins zuzuhören anstatt den Lästereien von Tracy und Sarah in der Reihe vor sich zu lauschen. Egal wie laut sie heute auch schimpfen, es verletzt Lia nicht mehr. Einzig der Gedanke an schwarz gewellte Haare auf ihrer nackten Haut lässt sie abschweifen und mit einem glückseligen Lächeln wieder aufhorchen.

Mr. Attkins hat ihre Veränderung auch bemerkt. Er ist es nicht gewöhnt, dass irgendjemand wirklich aufmerksam seinen Unterricht verfolgt. Wenn sein Blick den ihren streift, gerät er immer wieder in ein verwirrtes Stottern. Mittlerweile haben sie im Unterricht das Jahr 1914 erreicht, indem im November an der deutschen Westfront ein System aus Schützengräben entstand und der Grabenkrieg begann. Plötzlich schweigt Mr. Attkins und wippt aufgeregt auf seinen Fußballen vor und zurück. Seine Augen wandern über die Klasse, ein erfolgloser Versuch sich die Aufmerksamkeit zu sichern. Unbeirrt fährt er jedoch fort. Im Dezember sei dann etwas Unglaubliches geschehen. Er rechnet nicht damit, dass irgendjemand gut genug zuhört, um sich zu melden und so blinzelt er zweimal ganz irritiert als ausgerechnet Lias Hand in die Höhe schnellt.

„Ja…Liandra?“, fragt er fast scheu. Er erscheint Lia auf einmal gar nicht mehr wie der kleine Giftzwerg vom Vortag, sondern eher wie ein Mann, der auf Grund seiner Größe an mangelndem Selbstbewusstsein leidet.

„Im Dezember war der Weihnachtsfrieden.“

Seine Augen leuchten und funkeln euphorisch, als er erfreut die Hände zusammenklatscht.

„Ganz genau, können Sie uns erklären was damit gemeint ist?“, seine Stimme überschlägt sich fast vor lauter Aufregung und Begeisterung.

„Es war ein kurzzeitiger Waffenstillstand zwischen den deutschen und britischen Soldaten zu Ehren des Weihnachtsfests. Teilweise haben sie sogar Verbrüderungsgesten ausgetauscht.“

Mr. Attkins nickt erst zufrieden, um danach ein betrübtes Gesicht aufzusetzen.

„Ja und das alles nur, um nach Weihnachten mit demselben Krieg fortzufahren, indem die Soldaten nur Werkzeuge waren.“

Er gleitet wieder ab in einen seiner Monologe, doch mit einem viel glücklicheren Gesicht als Lia es in dem ganzen letzten Jahr bei ihm gesehen hätte. Vielleicht ist es ihr nur nie aufgefallen, aber Mr. Attkins Freude ist ansteckend. Geschichte ist viel interessanter als sie dachte. Man kann daraus jede Menge für das heutige Leben lernen. Fehler der Vergangenheit müssen nicht in der Zukunft wiederholt werden. Warum hat sie das vorher nur nie gesehen?

Bevor Mr. Attkins sie alle in die Pause entlässt, wünscht er ihnen schon mal ein schönes Weihnachtsfest. Es ist ihre letzte Geschichtsstunde vor den Winterferien und dem Start ins neue Jahr. Außerdem bittet er sie, sich doch am Weihnachtsfrieden mal ein Beispiel zu nehmen und alte Fehden wenigstens über die Festtage ruhen zu lassen.

Lia trödelt nicht wie gewöhnlich herum, sondern beeilt sich ihre Sachen zusammen zu packen und drängt sich zusammen mit den anderen aus der Klasse. Dabei kann es Tracy sich natürlich nicht verkneifen sie auf ihre Veränderung anzusprechen.

„Du hast es wohl echt nötig! Wie billig sich hier vor der ganzen Klasse beim Lehrer einzuschleimen!“, fährt sie sie herablassend an, wobei Sarah direkt anfängt Lia mit piepsiger Stimme nachzuäffen

„Ja, Mr. Attkins. Ganz ihrer Meinung, Mr. Attkins.“

Bradley grölt vor Lachen und stimmt wie üblich in die Stichelei ein. „Darf ich Ihnen den Schwanz lutschen, Mr. Attkins?“

„Du bist so eine Schlampe!“, empört sich Tracy erneut und schmeißt sich ihre Locken lässig über die Schulter, ohne eine Antwort von Lia zu erwarten.

„Das sagt gerade die Richtige! Gib doch einfach zu, dass du neidisch bist oder klapp Bradley wenigstens mal die Kinnlade hoch, sonst fängt er noch an zu sabbern.“

Es herrscht Totenstille, die nur von einem einzigen herzhaften Lachen unterbrochen wird. Tru klopft Lia auf die Schulter und zwinkert ihr schelmisch zu, bevor sie an ihr vorbei auf den Ausgang zueilt.

Auch Lindsay und Mike sind positiv überrascht als Lia mit den anderen aus der Klasse strömt. Es hebt Lindsays Laune gewaltig, sodass sie sich bei Lia freundschaftlich einhakt und sie in Richtung Cafeteria zieht. Dieses Mal sind sie so früh dran, dass Lia einen Platz am Fenster für sie besetzen kann. Sie ignoriert die Blicke der anderen tapfer, indem sie in den Schulhof blickt und die Blätter dabei beobachtet wie sie von den Bäumen fallen. Der Schnee auf dem Pflasterboden erinnert sie an die kalte Haut des Fremden der letzten Nacht.

Mike konnte es sich durch seine fürsorgliche Ader nicht verkneifen ihr ein Schälchen Obstsalat und eine Cola Lemon mitzubringen. Lia hat jedoch immer noch keinen Hunger und so stochert sie nur in dem Salat herum, wobei sie weiter grinsend aus dem Fenster blickt.

„Ist es nicht herrlich? Frische Luft! Kein Mief von den ekligen Mülltonnen!“, seufzt Lindsay und lässt sich behaglich auf ihrem Stuhl zurücksinken. „Das ist doch ein ganz anderer Lebensstil!“

„Heute scheint einiges anders zu sein. Du siehst fantastisch aus, Lia.“, schließt sich Mike Lindsays Begeisterung an, jedoch dämpft er mit seinen Worten augenblicklich die ihre. Doch es stimmt. Die Augenringe sind verschwunden und ihr Haar erstrahlt in einem gesunden Glanz und wirkt nicht so stumpf und matt wie sonst.

Lia lächelt ihm beschämt zu, doch als ob das nicht genug wäre, muss Mike das Ganze noch mehr betonen.

„Nicht, dass du sonst nicht wunderschön wärst, aber heute eben besonders. Du wirkst so frei und gelöst, einfach glücklich.“, beeilt er sich mit einem breiten Schmunzeln hinzuzufügen.

Lindsay zieht erst über seine Worte einen fuchsigen Schmollmund, doch nach einem musternden Blick auf Lia fängt sie ebenfalls zu grinsen an.

„Ich wage ja kaum zu fragen, aber kann es sein, dass du dich endlich mal wirklich und wahrhaftig verliebt hast?“ Neugierig streicht sie sich ihre pinkfarbene Haarsträhne hinters Ohr und fixiert Lia mit ihren himmelblauen Augen.

„Verliebt vielleicht nicht, aber ich gebe gerne zu einen fantastischen Mann kennen gelernt zu haben.“

Stolz klingt in ihrer Stimme mit. Endlich mal eine Nacht, für die sie sich nicht schämt, obwohl sie es wahrscheinlich sollte, genauso wie für all die anderen Nächte.

Lindsay verfällt in ein mädchenhaftes Kichern. „Easy! Das muss ja ein echter Traummann sein, wenn der es schafft dich so zu verzaubern.“ Sie ist die Einzige weit und breit, die ständig das Wort ‚Easy‘ verwendet. Das macht sie zu einem echten Unikat.

„Er ist besser als jeder Traummann, denn er ist Realität“, entgegnet Lia frech und just in dem Moment steht Mike mit bösem Gesicht und lautem Knarren von seinem Stuhl auf.

„Das ist mir zu blöd, ich gehe schon mal zur Klasse“, bringt er unter seinen zusammengekniffenen Lippen hervor und marschiert angekratzt davon. Auf der einen Seite tut er Lia leid, aber auf der anderen Seite freut sie sich, dass es endlich mal nicht Lindsay ist, die auf sie wütend ist. Sie ist immerhin ihre beste Freundin und fehlt ihr immer mehr, seitdem Lindsay sich in Mike verliebt hat und es deshalb häufig zu Streitereien kommt.

„Mach dir keine Sorgen, der regt sich schon wieder ab. Erzähl mir lieber mehr von dem heißen Typ. Wo hast du ihn kennengelernt und wann siehst du ihn wieder?“

Lia erzählt ihr fast alles bis ins kleinste Detail, nur den Teil bei sich Zuhause lässt sie aus. Seit langer Zeit sind sie wieder ganz normale Mädchen, die schnatternd und kichernd ihre Köpfe zusammenstecken. Die Normalität ist Balsam für Lias Seele.

Als sie zum Ende der Pause zusammen zurück zu ihren Klassenräumen schlendern, ist der Spaß jedoch schlagartig beendet, als Bradley sich mit seinen Freunden ihnen in den Weg stellt. Lüstern ruht sein Blick auf Lias Blusenausschnitt.

„Hast du heute für mich extra einen Knopf mehr aufgelassen?“

Doch die vor Angst bibbernde Lia, die er gewöhnt ist, gibt es nicht mehr. „Nur in deinen Träumen.“

Bradley zieht erstaunt die rechte Augenbraue hoch. „Oha, das sind ja ganz neue Töne. Letzte Nacht hat es dir wohl mal einer ordentlich besorgt.“

„Spar dir deinen Müll für jemand anderen, der sich davon noch beeindrucken lässt.“, zischt Lia ihm abweisend entgegen und will sich an ihm ungerührt vorbeischieben, doch sofort umschließt Bradley mit festem Griff ihr Handgelenk.

„Werd jetzt bloß nicht frech. Du kannst dich hier nicht wie eine Diva aufführen, ohne dass das Folgen hat. Das muss dir doch wohl klar sein.“

Unsanft schupst er sie vor sich her, geradewegs in die Jungentoilette. Seine Freunde folgen ihm und schleifen die furchtsame Lindsay direkt mit. Beißender Uringeruch schießt ihnen in die Nasen.

„Lasst sie doch in Ruhe, wenn ein Lehrer kommt, seid ihr dran.“, versucht Lindsay es auf dem vernünftigen Weg, doch stößt sie bei den Jungs damit auf taube Ohren. Als Bradley mit dem Finger schnippt, reicht einer seiner Kameraden ihm glucksend ein Glas, gefüllt mir einer schleimigen milchigen Flüssigkeit.

„Weißt du was das ist?“, will er von Lia wissen und baut sich bedrohlich vor ihr auf, während sie immer weiter vor ihm zurückweicht, bis sie schließlich gegen die graue Kachelwand zwischen den Waschbecken stößt. Die ängstlich zitternde Lia ist wieder da und hat sich von der mutigen Löwin zurück in das scheue, wehrlose Rehlein verwandelt.

„Das soll dir zeigen wie sehr wir dich schätzen. Es ist ziemlich unverschämt, dass du dich durch die ganze Stadt vögelst und nur uns nicht ranlassen willst. So etwas nennt man Mobbing, Lia. Aber vielleicht musst du erst mal auf den…’Geschmack’ kommen.“ Sein Grinsen ist eiskalt und gehässig, während sein Gefolge ihn nur gespannt beobachtet.

„Das reicht! Ich hole jetzt einen Lehrer!“, schimpft Lindsay aufgebracht, wird jedoch bei dem ersten Schritt in Richtung Tür von einem der Jungen festgehalten, während die anderen sich nun an Lia zu schaffen machen. Auf keinen Fall wird sie sich das einfach so gefallen lassen, egal wie groß ihre Angst auch ist. Aber gegen drei Jungs, die sie an Armen und Beinen festhalten, kann sie einfach nichts ausrichten. Hilflos muss sie mit ansehen wie Bradley ihr mit dem ‚Getränk’ bedrohlich nahekommt. Er sperrt bereits ihren Mund brutal durch Druck auf ihre Kieferknochen auf, als seine Hand plötzlich zurückgerissen wird. Dieses Mal ist es jedoch nicht die taffe Tru, die ihr zur Hilfe eilt, sondern ihr treuer Freund Mike. Er rangelt wild mit Bradley hin und her, nur um am Ende den Kürzeren zu ziehen. Das gesammelte, widerliche Sperma ergießt sich über Mikes dunkelbraunen Lockenschopf. Die Jungs johlen und lachen, so sehr bis ihnen Tränen in die Augen treten. Das sie sich nicht vor Freudengeheul auf dem Boden hin und her wälzen ist auch schon alles.