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Sie stand immer auf der Seite der Schwachen und Entrechteten. Jetzt steht sie knietief im Dispo: Billi Sander, Umweltaktivistin und frisch gefeuerte Enthüllungsreporterin, landet da, wo sie nie wieder hinwollte: zu Hause in der Heide. Um wieder zu Geld zu kommen, heuert Billi im Feuilleton der Lokalzeitung an. Unter Laienschauspielern, Freizeit-van Goghs und korrupten Landespolitikern stellt sie schließlich fest: Die Heide ist tatsächlich eine Kulturlandschaft. Und ihr Exfreund sieht besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte …
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2015
Andrea Hackenberg
Schnucken gucken
Roman
Knaur e-books
Für meinen Freund und Kollegen
Ulrich (1943–2014),
einen wunderbar unangepassten Journalisten,
dem meine Bücher immer ein bisschen zu angepasst waren.
Du wirst immer ein Vorbild für mich sein –
und ich bin mir sicher: Billi hätte dich gemocht.
Grümmstein, 1995
Fesselspiele hatte Billi sich immer ein bisschen anders vorgestellt. Anregender, irgendwie. Und vor allem nicht so kitzelig. Sie saß unter der geöffneten Heckklappe eines Polizeitransporters und kreischte auf, als der uniformierte Mann vor ihr nach ihren Fußgelenken griff.
»Behalt deine Flossen bei dir, Fiete!«
»Der Chef hat gesagt, ich soll dich in Gewahrsam nehmen«, entgegnete er unbeeindruckt. »Und das mach ich jetzt auch. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.«
»Hast du Angst, dass ich weglaufe?«
»Wär ja nicht das erste Mal.«
»Komm schon – wo soll ich mit den Dingern hier hin?« Bedeutungsvoll ließ sie ihre Handschellen gegeneinanderklacken. »Ab zur nächsten Eiche, die Kette durchschubbern?«
»Du hast es fertiggebracht, einen Haufen Ratten da drin auszusetzen«, ereiferte sich der Polizist und zeigte zum Eingang des Parkhotels, wo bis eben noch der Frühlingsball des Lions-Clubs stattgefunden hatte. »Dir trau ich alles zu.«
»Das waren keine Ratten, sondern Hermeline«, korrigierte Billi sofort.
»Was auch immer es war, es hat kollektiv auf die Tanzfläche gekackt! Und dafür kriegen wir dich diesmal dran – und wenn deine Mutter sich bei unserem Chef auch noch so sehr ins Zeug legt!«
Ihr lag schon eine patzige Antwort auf der Zunge, als ein junger Mann im Anzug auf den Transporter zugeschlendert kam. Billis Herzschlag setzte aus. Manolo Clemens. Zwei Wochen waren seit jener Nacht im Protestcamp der Castor-Gegner vergangen. Zwei verdammte Wochen, in denen er kein einziges Mal angerufen hatte. Nicht, dass sie darauf gewartet hätte. Aber trotzdem.
Manolo trat näher und nahm sich ausgiebig Zeit, Billi zu mustern: ihre am Knie zerrissenen Jeans, ihren viel zu großen Schlabberpulli, ihre feuerroten Rastalocken und natürlich die Handschellen.
»Gibt’s Probleme, Fiete?«, erkundigte er sich dann.
»Aber nich doch, alles im Griff.« Der Polizist stand auf und begrüßte den Neuankömmling mit einem herzhaften Schulterklopfen. »Dich hab ich ja ewig nich gesehen. Bist du für die Zeitung hier oder nur zum Spaß?«
»Eigentlich zum Spaß, aber damit war Schluss, als vorhin die Tierplage im Tanzsaal ausgebrochen ist.« Fragend deutete Manolo mit dem Kinn in Billis Richtung. »Die übliche Verdächtige?«
»Auf ihrer üblichen Mission gegen das Establishment.« Fiete verdrehte die Augen. »Mit der Ratten-Attacke wollte sie den Pelzmantelträgerinnen vom Lions-Club eins auswischen.«
»Das waren Hermeline!«, wiederholte Billi entnervt, doch Fiete ging darüber hinweg, als wäre sie Luft.
»Erzähl schon«, forderte er Manolo auf. »Wie hast du’s geschafft, bei der piekfeinen Veranstaltung da drin mitzumischen?«
»Steffi Andresen hat mir die Einladung besorgt.«
»Die Tochter vom Landrat? Ich werd nicht mehr! Läuft da was zwischen euch?«
Manolo grinste. »Du weißt doch, dass ich solche Fragen nicht beantworte.«
»Aaaalter!«, stieß Fiete anerkennend aus. »Wie kriegst du’s hin, ständig an die schärfsten Schnitten ranzukommen?«
»Ich hab da anscheinend gewisse Talente.«
Das verächtliche Schnauben, das Billi daraufhin von sich gab, lenkte Fietes Aufmerksamkeit auf sein eigentliches Problem zurück. »Sag mal, kannst du mir einen Riesengefallen tun? Ich muss den Kollegen helfen, die restlichen Viecher von der Tanzfläche zu klauben. Passt du solange auf die kleine Irre hier auf?«
Manolo zögerte. »Kommt drauf an, wie lange.«
»Keine zehn Minuten. Du kannst doch gut mit Frauen.« Der Polizist drückte ihm die Metallfesseln in die Hand. »Wenn du’s schaffst, ihr diese Dinger um die Füße zu klemmen, spendier ich dir beim nächsten Fußballabend ’ne Lüttje Lage.«
»Leg noch zwei Weizen obendrauf, und ich mach’s.«
»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Ein letzter Schulterklopfer, und Fiete war im Inneren des Parkhotels verschwunden.
Sofort breitete sich Schweigen aus, nur das Gewirr aufgeregter Stimmen aus dem Tanzsaal füllte die Stille. Billi starrte zu Boden und dachte an den Abend vor zwei Wochen zurück. An das Lagerfeuer, die Gitarrenmusik und daran, wie Manolo sich neben sie gesetzt und gefragt hatte: »Was hast du eigentlich gegen diesen Castor-Transport? Erklär’s mir.«
Sie kannten sich seit der Grundschule und hatten sich trotzdem nie richtig unterhalten. Manolo, zwei Jahre älter als sie und mit seinen dunklen Locken schon als Viertklässler der absolute Mädchenschwarm, hatte nur dann Interesse an blassen Rotschöpfen wie ihr gezeigt, wenn er sie auf dem Pausenhof mit Schneebällen bewerfen konnte. Später, am Gymnasium, machte er sich über ihre Batikröcke lustig, nannte sie »Müsli-Hexe« und trat gerne mal von hinten in die Fersen ihrer Birkenstock-Latschen, so dass sie stolperte und der Länge nach hinfiel. Sie hatte ihn dafür gehasst, war gegen sein Cary-Grant-Lächeln und den Anblick seines durchtrainierten Oberkörpers allerdings genauso wenig immun gewesen wie der Rest ihrer Mitschülerinnen. Was auch der Grund dafür war, dass es überhaupt zu diesem verflixten Abend im Protestcamp kommen konnte.
Trotzig sah Billi hoch und stellte fest, dass Manolo den Schlips gelockert und den obersten Knopf seines weißen Hemdes geöffnet hatte. Ihre Blicke trafen sich.
»Na, Bill?«, fragte er leise. »Haste dich mal wieder in die Scheiße geritten?«
Sofort ging sie in die Defensive. »Was geht dich das an?«
»Eine Menge – immerhin ruinierst du mir gerade einen wichtigen Abend. Ich hab fast vierhundert Mark für diesen Anzug hier bezahlt.«
»Nur, um dich bei den Leuten vom Lions-Club anzubiedern?« Verständnislos schüttelte sie den Kopf. »Davon hätte ein afrikanisches Dorf einen Monat lang leben können.«
»Um Afrika mach dir mal keine Sorgen, der Erlös der Tombola heute Abend kommt einem Waisenhaus in Kenia zugute«, erwiderte er aalglatt. »Abgesehen davon biedere ich mich nicht an, ich knüpfe Kontakte. Und die sind nun mal verdammt wichtig, wenn man vorankommen will.«
»Weißt du eigentlich, wie lächerlich du dich damit machst?«
»Auch nicht lächerlicher als du in deinen Handschellen.«
»Ich hab wenigstens ein soziales Gewissen.«
»Was dich nicht daran gehindert hat, verängstigte Hermeline in einem überfüllten Tanzsaal auszusetzen.« Er warf ihr einen verständnislosen Blick zu. »Wo hast du die Tiere überhaupt her?«
»Aus dem Gehege im Otterzentrum Hankensbüttel«, räumte Billi ein.
»Was? Die haben dir freiwillig ihre Hermeline überlassen?!«
»Ich hab sie mir ausgeliehen, okay?«
Manolo starrte sie an. »Und ich dachte, die Aktion während des Castor-Transports neulich wäre der Höhepunkt deines Wahnsinns gewesen.«
»Du hattest kein Recht, mich von den Schienen zu zerren!«, brauste sie auf.
»Nenn mich altmodisch, aber wenn ich schon eine Nacht mit einer Frau im Schlafsack verbringe, seh ich am nächsten Morgen nicht gern dabei zu, wie sie von atomarem Giftmüll überrollt wird.«
Bitterböse funkelte Billi ihn an. Sie wusste noch immer nicht, was sie wütender machte: sein oberlehrerhaftes Verhalten an den Bahnschienen neulich oder sein Artikel, der kurz darauf in der Grümmsteiner Zeitung stand. Alles, was sie Manolo am Lagerfeuer erzählt hatte, war von ihm dazu benutzt worden, sie und die übrigen Castor-Gegner als einen Haufen weltanschaulich verblendeter Spinner darzustellen. Diese sogenannte Protestbewegung bindet unnötig viele Einsatzkräfte der Polizei und kostet den Steuerzahler deshalb ein Vermögen, hatte er geschrieben. Dabei ist längst erwiesen, dass Kernenergie nicht nur sicher und unbedenklich, sondern auch alternativlos günstig ist …
Billi hätte ihn erwürgen können – und sich selbst gleich mit, weil sie diesem reaktionären Idioten in einem Moment der Schwäche erlaubt hatte, ihr näherzukommen.
»Zählt die Nacht im Schlafsack zu den Arbeitsmethoden, die in eurer Redaktion üblich sind?«, fragte sie nun mühsam beherrscht.
Manolo warf ihr ein selbstgefälliges Grinsen zu. »Als investigativ arbeitender Reporter muss man sich gelegentlich mal überwinden.«
»Du hast doch noch nie was Aufregenderes recherchiert als die Speisekarte vom Italiener nebenan«, konterte sie ungerührt. »Abgesehen davon schreibst du erst seit drei Monaten für dieses Käseblatt.«
»Immer noch eingeschnappt, weil der Verlag mich eingestellt und dir eine Abfuhr verpasst hat?«
Kaum merklich zuckte Billi zusammen. In der Tat hatte sie sich zeitgleich mit Manolo um eine Lehrstelle im Lokalressort beworben und war gemeinsam mit ihm zum Probearbeiten angetreten. Doch während man sie schon einen Tag später wieder nach Hause schickte, bot man ihm einen festen Vertrag an – eine Niederlage, an der sie immer noch zu knapsen hatte. »Der Job war mir sowieso zu popelig«, behauptete sie jetzt und hoffte, dass es halbwegs überzeugend klang. »Außerdem hab ich längst was Besseres gefunden.«
»So? Was denn?«
»Ich geh zur ›Hauptstadtzeitung‹ nach Berlin.« Ehrlich gesagt war es nicht mehr als ein unbezahltes Praktikum, was Billi da ergattert hatte, aber das würde sie Manolo ganz sicher nicht auf die Nase binden.
Und tatsächlich – der Bluff zeigte Wirkung. »›Hauptstadtzeitung‹, wie?«, fragte er mit kaum verhohlenem Neid in der Stimme. »Wie biste da denn da drangekommen?«
Betont lässig zuckte Billi die Achseln. »Ich hab da so meine Verbindungen.«
»Aber … Berlin ist ziemlich weit weg.«
»Grümmstein hängt mir eh zum Hals raus«, antwortete sie und wirkte dabei selbstbewusster, als sie sich fühlte. »Der Kleinstadtmief hier erstickt mich. Ich will es in Berlin schaffen und habe nicht vor, jemals wieder hierher zurückzukommen.«
»Große Worte. Aber ich fürchte, deine Abreise verzögert sich noch ein wenig.« Manolo ging in die Knie und schnappte sich ihre Füße. »Denn erst mal musst du für das geradestehen, was du heute Abend verzapft hast.«
»Lass das!«
»Ich denk ja nicht dran!«
»Wenn du mich nicht sofort loslässt, trete ich dir so heftig in die Weichteile, dass Steffi Andresen keine Freude mehr an dir hat!«
Er lächelte verschmitzt. »Eifersüchtig?«
»Auf diese x-beinige Zicke?« Vergeblich versuchte Billi, nach ihm zu treten. »Träum weiter!«
»Stimmt, deine Beine sind hübscher. Aber du traust dich ja nie, sie zu zeigen.«
In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür zum Parkhotel, und Fiete polterte ins Freie, worauf Manolo augenblicklich von Billi abließ.
»Wer hätte gedacht, dass diese Wiesel so aggressiv sind?« Anklagend hielt der Polizist sein blutendes Handgelenk in die Runde. »Eins der Viecher hat mich glatt gebissen, als ich es hinter dem Vorhang hervorziehen wollte.« Sein Blick fiel auf Billis Füße. »Wie, noch immer nicht fixiert?«
»Sie hat geschworen, mich zu kastrieren, wenn ich sie anfasse«, behauptete Manolo.
»Als ob’s da viel zum Wegschneiden gäbe«, zischte sie zurück.
Fiete blickte von einem zum anderen. »Scheint, dass ich gerade rechtzeitig gekommen bin, um eine tätliche Auseinandersetzung zwischen euch zu verhindern.« Kopfschüttelnd zog er Billi hoch und schleifte sie zur Seitentür des Transporters, wo er sie recht hemdsärmelig auf die Rückbank verfrachtete. Dann knallte er die Tür hinter ihr zu und stieß zur Entspannung ein abgrundtiefes Rülpsen aus. »Die Kleine kann einen den letzten Nerv kosten, was?«
»Du hast ja keine Ahnung«, antwortete Manolo aus tiefster Seele.
»Danke, dass du trotzdem auf sie aufgepasst hast.«
»Dafür nicht.«
»Doch, doch, du hast was gut bei mir. Lüttje Lage, ich vergess es nich.« Er hielt kurz inne. »Steffi Andresen, wie?«
»Stimmt genau.«
»Wenn’s einer kann, dann bist du das, Alter!« Fiete stieg ein und ließ den Motor an. »Also dann – ich wünsch dir viel Frequenz heut Nacht!«, sagte er durch das geöffnete Seitenfenster.
»Ich werd mir Mühe geben.«
Manolo blieb zurück, schob die Hände in die Taschen seiner Anzughose und starrte dem Transporter nach, bis die roten Bremslichter aus seinem Sichtfeld verschwunden waren.
Berlin, 2012
Welkes Gemüse quoll aus der Plastiktüte auf Billis Schreibtisch: Der Lauch ließ die Blätter hängen, die Möhren hatten braune Stellen, und der Brokkoli gilbte vor sich hin. Hinzu kam das Aroma einsetzender Fäule, das von den angeschimmelten Kartoffeln ausging und sich langsam, aber stetig im gesamten Büro verbreitete. Man hätte dringend mal durchlüften müssen, doch Billi hatte jetzt wirklich andere Sorgen.
Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, lauschte sie dem Tuten in der Leitung und unterdrückte das Gefühl wachsender Panik. Warum zum Teufel ging da keiner ran? Achtlos schob sie die Tüte zur Seite, schnappte sich ihren Rucksack und leerte den Inhalt auf die Schreibtischplatte. Eine Armada von Kugelschreibern purzelte heraus, dicht gefolgt von einem Notizblock, gebrauchten Papiertaschentüchern, einem Dietrich, sechs Tampons und einer Taschenlampe.
Tuuut. Tuuut. Tuuut.
Verdammter Mist. Da hob noch immer niemand ab. Billi sah sich um und entdeckte ihren Parka über der Stuhllehne. Völlig ausgeschlossen, dass sie in einer ihrer geräumigen Jackentaschen fündig werden würde. Absolut unmöglich. Trotzdem durchwühlte sie jede Falte und förderte resigniert ihr Handy, ein Hustenbonbon und die Clubkarte ihres Fitnessstudios zutage, das sie seit Wochen nicht mehr betreten hatte.
Tuuut. Tuuut. Tuuut. Klack.
Eine Frauenstimme meldete sich.
Endlich.
»Taxizentrale Berlin, was kann ich für Sie tun?«
»Sybille Sander hier, guten Morgen. Ich war vorhin Fahrgast in einer Ihrer Taxen und habe eine Tragetasche liegen lassen. Genauer gesagt …« Sie holte tief Luft. »Genauer gesagt habe ich zwei Tüten vertauscht – also die von Ihrem Fahrer mit … meiner eigenen.«
»Ach. Und wie konnte das passieren?«
»Indem ich meine Tüte in den Fußraum hinter dem Fahrersitz gelegt und dabei übersehen habe, dass da noch eine weitere Tüte lag. Beim Aussteigen habe ich dann nach der falschen gegriffen – ich war in Eile.«
»Verstehe«, sagte die Frauenstimme gedehnt. »Und was befand sich in Ihrer Tüte?«
»Ein Paar Zeitungen und, ähm, nun ja …« Unwillkürlich senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. »Eine Infrarotkamera.«
»Eine was?«
»Eine Kamera zum Erstellen von Nachtaufnahmen.«
»Nacktaufnahmen?!«
»Nachtaufnahmen«, wiederholte Billi und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Bilder, die man macht, wenn das Licht aus ist.«
»Oh. Und in der Tüte unseres Kollegen haben Sie dann was vorgefunden …?«
Billi schloss die Augen und zählte innerlich bis drei. »Gemüse. Nicht gerade frisch.«
»In Ordnung. Wissen Sie die Fahrzeugnummer?«
»Leider nicht. Aber der Herr war etwa Mitte fünfzig, sprach Deutsch mit leichtem Akzent und hatte einen Bierbauch …«
»Den haben bei uns alle.«
»Er müsste sich an mich erinnern«, beharrte Billi. »Er hat mich von Spandau nach Mitte gebracht und ganz gut an der Fahrt verdient.«
»Geben Sie mir bitte Ihre Kontaktdaten, wir kümmern uns darum.«
Erneut nannte Billi ihren Namen, dazu ihre Handynummer, die Durchwahl in der Redaktion der Hauptstadtzeitung sowie die Postadresse des Verlags. »Wie lange wird es dauern, bis ich von Ihnen höre?«
»Schwer zu sagen. Es gibt eine Menge Taxifahrer, die für uns arbeiten.«
»Das verstehe ich, nur … Es ist wirklich wahnsinnig wichtig für mich, diese Kamera zurückzubekommen. Möglichst schnell, wissen Sie?«
»Wir geben alles«, versprach die Frau von der Zentrale.
»Vielen Dank.«
Billi legte auf und ließ sich mit zitternden Knien auf den Schreibtischstuhl sinken.
Mist, verdammter.
Mist, Mist, Mist!
Wieso musste das ausgerechnet jetzt passieren? Wochenlang hatte sie recherchiert, Hintergrundgespräche geführt, belastendes Material gesammelt. Ihre letzten Ersparnisse für eine überteuerte Infrarotkamera hingeblättert und mit dem Einbruch in die Hühnerfarm vergangene Nacht ihre Karriere riskiert. Und das alles für eine beschissene Tüte mit vergammeltem Gemüse?! Wie saudämlich war das denn? Verdammt! Wenn sie heute nicht so von Termin zu Termin hätte hetzen müssen, wäre ihr das garantiert nicht passiert. Wütend schnappte sie sich einen Kugelschreiber und schleuderte ihn gegen die Wand.
»Gibt’s Probleme, Sybille?«
Wie immer, wenn man ihn am allerwenigsten gebrauchen konnte, tauchte Tobias im Türrahmen auf – ungepflegt, glatzköpfig und heiß auf alles, was ihn nichts anging.
»Nö. Wieso?«, fragte sie mit Pokerface zurück.
»Och, man hört da so einiges aus der Onlineredaktion.« Lässig verschränkte ihr Kollege die Arme vor der schwabbeligen Brust. »Angeblich kannst du das Video von der Hühnerfarm nicht liefern, das du so großspurig in der Konferenz angekündigt hast.«
»Was ja zum Glück nicht deine Sorge sein muss.«
»Reg dich nicht auf, ich bin bloß zu einem Plausch vorbeigekommen.« Er trat näher, nahm die gerahmte Fotografie von Billis Mutter und ihren beiden Geschwistern in seine patschigen Pranken und warf dann einen abschätzenden Blick auf ihren verwüsteten Schreibtisch. »Nett hast du’s. Hier lässt sich’s bestimmt entspannter arbeiten als bei uns drüben im Großraumbüro.« Unvermittelt verzog er das Gesicht und schnupperte. »Sag mal – was stinkt denn hier so?«
»Meine tägliche Ration Vitamin C«, versetzte sie, stand auf und nahm ihm die Fotografie wieder ab. »Was willst du, Tobias?«
»Ah, richtig, hätte ich fast vergessen. Der Boss ist aus dem Urlaub zurück.«
»Was?!« Billi stockte der Atem. »Jetzt schon? Ich dachte, er bleibt bis Ende der Woche zum Golfen in Südafrika …?«
»Die Gegendarstellung, die wir deinetwegen auf der Titelseite abdrucken mussten, hat ihm das Ausspannen anscheinend nachhaltig vermiest.« Tobias gab sich keine Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen. »Jedenfalls ist er wohlbehalten wieder da und will dich sprechen.« Bedeutungsvolle Pause. »Sofort.«
Sofort?! Billi traute ihren Ohren nicht. Anselm Bender, der Chefredakteur der Hauptstadtzeitung, wollte sonst nie mit ihr sprechen. Er hatte auch gar keine Zeit dazu, weil er sich ständig von irgendwelchen Autoherstellern zu Testfahrten an die Amalfiküste einladen ließ, die Kanzlerin bei Staatsbesuchen in alle relevanten Schwellenländer begleitete oder schlichtweg keine Lust hatte, sich mit dem redaktionellen Alltagsgeschäft auseinanderzusetzen. »Ihr schafft die Storys ran, ich trage die Verantwortung, also verschont mich mit dem Gedöns dazwischen«, das war sein Credo. Wenn er jetzt plötzlich davon abwich, konnte das nur eines bedeuten: Billi steckte metertief in Schwierigkeiten.
»Kein Wunder«, sagte Tobias, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. »Ich meine, was ist bloß in dich gefahren? Ausgerechnet dem Landwirtschaftsminister mit seinem Bio-Bauernhof vorzuwerfen, dass er Hühner quält! Bisschen sehr gewollt, findest du nicht?«
»Nein, denn ich kann beweisen, dass es so ist.«
»Ich denke, du hast dieses illegal gedrehte Video verbummelt?«
»Verzieh dich einfach, okay?«
»Bin schon weg.« Ein letztes Mal ließ Tobias seinen Blick durch den Raum schweifen. »Dein Büro gefällt mir. Gefällt mir sogar sehr. Ich werd meinen Hut dafür in den Ring schmeißen, wenn du nachher deinen Schreibtisch räumen musst.«
»Raus!«
Sie knallte die Tür hinter ihm zu und lehnte sich mit glühenden Wangen dagegen. Ihre Gedanken rasten. Was, wenn Tobias recht hatte und sie ihren Job verlor? Billis Herzschlag beschleunigte sich. Das konnten die nicht machen – nicht ausgerechnet jetzt, wo ihr dritter Zeitvertrag auslief und sie endlich fest angestellt werden sollte. Nein, ganz bestimmt nicht. Anselm Bender schätzte sie, und wenn sie ihm in Ruhe erklärte, dass die Sache mit der Kamera nur deswegen passiert war, weil sie es ohne Taxi nicht rechtzeitig zum nächsten Termin geschafft hätte, würde er sicher …
Das Telefon schrillte. Ob das schon die Taxizentrale war? Hoffnungsvoll hechtete Billi zum Schreibtisch, nahm ab – und wurde enttäuscht.
Es war die Sekretärin des Chefredakteurs. »Der Boss ist zurück und will dich sprechen«, sagte sie und klang dabei um einige Nuancen kühler als sonst. »Sofort.«
»In Ordnung, ich komme.«
Benommen blieb Billi kurz auf der Schreibtischkante sitzen und sah sich um. Der Raum war höchstens fünfzehn Quadratmeter groß, mit sterilem Neonlicht ausgeleuchtet und bis unter die Decke vollgestopft mit Aktenordnern, Büchern und Zeitungen. Die Wände hätten einen Anstrich vertragen können, der Blick aus dem Fenster zeigte eine Lagerhalle, und die vierspurige Hauptverkehrsstraße davor sorgte für einen konstant hohen Geräuschpegel. Und doch hatte es Billi immer als Auszeichnung empfunden, dass man ihr ein Einzelbüro zugestand. Sie verbrachte mehr Zeit in diesen fünfzehn Quadratmetern als zu Hause, nahm ihre Mahlzeiten vor dem Computerbildschirm ein und übernachtete gelegentlich sogar auf dem durchgelaufenen Teppich, wenn der Job es verlangte.
Dieses Büro war ihr Leben.
Es war alles, was sie hatte.
Wie in Trance legte sie den Telefonhörer auf die Gabel zurück. Ein merkwürdiger Druck lag plötzlich auf ihrer Brust, wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer und drohte, sie zu ersticken. Tief einatmen, befahl sie sich selbst.
Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Aus.
Sie hasste es, Angst zu haben. Angst lähmte, bremste, ließ die Glieder gefrieren. Kurz entschlossen stand Billi auf, straffte die Schultern, ließ den Kopf im Nacken kreisen und ging zur Tür. Ein letztes Durchatmen, dann drückte sie die Klinke nach unten. Noch war nichts verloren. Solange sie in Bewegung blieb, konnte alles gut werden.
Anselm Bender mühte sich mit einer Matte ab, als Billi sein Büro betrat. Genauer gesagt: mit einer Drei-Loch-Golfputtingmatte, die sich nicht flach legen ließ. »Stellen Sie sich da mal drauf«, sagte er statt einer Begrüßung und dirigierte Billi zum einen Ende der Spielbahn, während er versuchte, das gut zwei Meter lange Stück Plastik auf dem Teppich auszubreiten. »Keine Ahnung, warum sich dieses Mistding immer wieder zusammenrollt«, ächzte er. »Dabei soll die Bahn laut Hersteller gleich nach dem Auspacken bespielbar sein …«
Billi räusperte sich. »Ähm – Sie wollten mich sprechen?«
»Wie? Sekunde mal, gleich haben wir’s.« Ohne Vorwarnung legte er sich bäuchlings auf die Matte, wälzte sich hin und her, robbte ein Stück nach vorn und wiederholte den Vorgang. Für einen über Fünfzigjährigen wirkte er dabei erstaunlich wendig. »Was sagen Sie – ist es jetzt besser?«
Die Spielbahn wölbte sich über dem Fußboden. »Na ja«, meinte Billi zögernd. »Es ist durchaus noch ausbaufähig …«
»Bücher!«, rief Anselm aus, erhob sich geschmeidig und eilte zum Regal an der Wand. »Da muss mehr Gewicht auf die Matte. Hier, fassen Sie mal mit an!«
Er stapelte fünf großformatige Bildbände übereinander und drückte sie Billi so schwungvoll in die Arme, dass sie in die Knie ging. »Auf den Teppich damit«, ordnete er an. »Eins neben das andere – wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinkriegen.«
Billi tat, wie ihr geheißen, und sah dann mit wachsender Ungeduld dabei zu, wie ihr Chefredakteur seine restlichen Buchbestände auf dem widerspenstigen Grün verteilte. »Setzen Sie sich«, sagte er schließlich und deutete auf einen Kunstband zu seinen Füßen.
»Auf van Goghs gesammelte Werke?«, fragte Billi entgeistert. »Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Ich hab auch Caspar David Friedrich und das Berliner Telefonbuch im Angebot – Sie haben die Wahl.«
»Dann nehme ich das ›Örtliche‹.«
»Aber schnell, ich will heute noch an meiner Puttsicherheit arbeiten.«
Sekunden später hockten sie nebeneinander und drückten die Matte platt.
»Jetzt zu Ihnen«, sagte Bender.
Billi nickte und wappnete sich für alles.
»Wissen Sie, da sitze ich neulich über einem Grapefruitsaft on the rocks auf der Terrasse meines Golfhotels in Durban, genieße die herrliche Landschaft und den Anblick meines weiblichen Caddies, als plötzlich das Handy klingelt«, holte ihr Chef aus. »Raten Sie, wer dran war.«
»Der Landwirtschaftsminister?«, tippte Billi.
»Exakt. Und der war nicht erfreut darüber, dass Sie ihm unterstellen, seinen Bio-Masthühnerbetrieb nicht anständig zu führen.«
»Ich unterstelle nichts, ich habe Beweise – sonst hätte ich ja wohl nicht darüber geschrieben.«
»Anscheinend waren Ihre Beweise nicht schlagkräftig genug«, wandte Bender ein. »Sonst hätten wir für Ihren Bericht keine Gegendarstellung auf der Titelseite kassiert.«
»Sie wissen doch selbst, dass es nur ein paar juristischer Kniffe bedarf, um so eine Gegendarstellung zu erreichen. Jeder halbwegs ausgeschlafene Anwalt bekommt so ein Ding ins Blatt. Das heißt nicht, dass mein Artikel fehlerhaft war.«
»Trotzdem ist es der Super-GAU für jede Tageszeitung, die was auf sich hält«, entgegnete der Chefredakteur mit Nachdruck. »Um es ganz klar zu sagen, Sybille: So etwas kann ich nicht dulden.«
»Das müssen wir auch nicht auf uns sitzenlassen. Ich bin gestern Nacht losgezogen und hab mir die vermeintliche Vorzeige-Hühnerfarm des Ministers mal aus der Nähe angesehen.«
»Illegal, nach allem, was man hört.«
»Ich hab doch versucht, einen offiziellen Besichtigungstermin zu bekommen«, rechtfertigte sich Billi. »Aber die wollten mich nicht reinlassen.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich wissen will, was Sie da vorgefunden haben.«
»Es war das absolute Grauen.« Die Erinnerung an die vergangene Nacht ließ sie erschaudern. »Etwa dreißigtausend Hühner, zusammengepfercht auf engster Fläche ohne Auslauf. Die Schnäbel waren beschnitten, was bei Bio-Mast gar nicht erlaubt ist. Zahlreiche Tiere wirkten krank oder lagen tot im eigenen Mist …«
»Das ist doch immer so bei Massentierhaltung – wo ist da der Skandal?«
»Hallo?! Der Minister zieht durch die Lande und wirbt für artgerechte Tierhaltung, während er selbst das reinste Hühner-KZ betreibt!«
»Jetzt dramatisieren Sie das Ganze …«
»Durchaus nicht, denn er war da.«
»Wer war da?« Bender runzelte die Stirn. »Der Landwirtschaftsminister?!«
»Höchstpersönlich.«
»Wie geht das denn? Ich dachte, Sie wären mitten in der Nacht bei ihm eingestiegen …?«
»Es war halb zwölf, und er kam wohl gerade von einer Sitzung aus Berlin zurück, denn er trug noch Hemd und Krawatte unter seinem Schutzanzug«, erzählte Billi.
»Und weiter?«
»Ich hab ihn gefilmt.« Sie schlang die Arme um ihren schmalen Oberkörper und fröstelte. »Er muss sich über irgendetwas aufgeregt haben, denn er war total gereizt und hat seine Mitarbeiter ziemlich runtergeputzt. Dann hat er ihnen vorgemacht, wie sie die zur Schlachtung bestimmten Tiere in Transportkisten packen sollen – lebend und so brachial, als wären es Bauklötze.« Sie schluckte. »Ein Huhn ist dabei rausgefallen und in Todesangst um seine Füße herumgeflattert. Da ist er ausgerastet und hat so lange darauf rumgetreten, bis es leblos liegen blieb …«
»Moment mal«, unterbrach der Chefredakteur. »Unser Landwirtschaftsminister trampelt Hühner tot, und das auch noch auf einer Bio-Farm, die gar keine ist?«
Billi nickte.
»Zeigen Sie mir den Film!«
»Das geht gerade nicht«, entgegnete sie kleinlaut. »Mir ist da nämlich ein kleines Missgeschick passiert …« So sachlich wie möglich schilderte sie ihm die Tüten-Verwechslung auf der Taxifahrt vorhin. »Aber ich hab schon alles in die Wege geleitet, damit ich die Kamera so schnell wie möglich zurückbekomme«, schloss sie ihren Bericht. »Kann sich nur um, ähm, ein paar Tage oder so handeln …«
»Tage?«, hakte Bender nach und klang dabei verdächtig sanft.
»Öhm – na ja … vielleicht auch ein paar Wochen.«
»Wochen?«
»Also, maximal ein Monat …« Billi räusperte sich. »Es gibt halt verdammt viele Taxifahrer hier in Berlin, und dummerweise habe ich mir die Fahrzeugnummer nicht gemerkt …«
»Und was ist, wenn besagter Taxifahrer den Minister auf dem Film erkennt und das Material meistbietend an die Boulevardpresse verkauft?«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht …«
»Und sind zu welchem Ergebnis gekommen?«
Zerknirscht senkte sie den Blick. »Zu gar keinem.«
»Wieso waren Sie überhaupt mit dem Taxi unterwegs?«
»Ich hätte es sonst nicht mehr rechtzeitig zu meinem nächsten Termin geschafft …«
Anselm Bender erhob sich mit der Eleganz eines Leoparden, der zum Sprung ansetzt. Ein Griff genügte ihm, um den Sitz seiner faltenfrei gebliebenen Hose zu überprüfen, ein weiterer, um seine golfschlägerförmigen Manschettenknöpfe parallel zum Ärmelsaum neu auszurichten. »Dann wollen wir mal rekapitulieren, Sybille.« Er schlenderte zum Schreibtisch hinüber und schenkte sich ein Glas Perrier ein, bevor er fortfuhr: »Sie sind vergangene Nacht widerrechtlich in Privatbesitz eingedrungen, haben dort ohne Genehmigung gefilmt, unseren Ruf als seriös arbeitende Tageszeitung riskiert und das alles ohne Rücksprache mit Ihrem Chefredakteur, der von der ganzen Aktion nichts wusste. So weit richtig?«
»Äh, also …«
»Selbst wenn man außer Acht lässt, dass Sie die Anweisungen Ihrer Vorgesetzten generell ignorieren, sich regelmäßig im Ton vergreifen und nicht im Entferntesten teamfähig sind, haben Sie bisher immer recht ordentliche Schlagzeilen abgeliefert. Weshalb es mich in diesem konkreten Fall auch zutiefst erstaunt …«
»Ja?«, unterbrach Billi schwach.
»… wieso Sie zu dämlich waren, den Film in die Redaktion zu bringen.«
»Nun ja …« Sie wand sich. »Ich … war in Eile.«
»Und privat ist bei Ihnen so weit alles in Ordnung?«
»Öhm – ja. Warum?«
»Wie alt sind Sie jetzt, Sybille?«
»Achtunddreißig.«
»Achtunddreißig? Als Frau? Macht’s da nicht langsam mal ticktack?«
Sie verzog keine Miene, stand auf und hielt ihm ihr Handgelenk hin. »Meine Armbanduhr ist digital, wie Sie sehen.«
»Lassen Sie den Unsinn, Sie wissen genau, was ich meine.« Ungehalten zerrte der Chefredakteur seine Golftasche unter dem Schreibtisch hervor und nahm einen Schläger heraus. »Hochzeit, Eigenheim, zwei Kinder auf dem Schoß … Meine Freundin ist zehn Jahre jünger als Sie und redet von nichts anderem.«
Billi, deren Privatleben so desolat aussah wie ihr Kontostand, schüttelte den Kopf. »Demnächst steht nichts in der Richtung an. Ich … ich hab ja auch gar keine Zeit für so was.«
»Jetzt schon.«
»Was? Aber – wieso …?«
»Weil wir uns mit sofortiger Wirkung von Ihnen trennen, meine Liebe.«
Sie erstarrte, während Bender unbekümmert weitersprach. »Ihr Zeitvertrag wäre ja ohnehin Ende des Monats ausgelaufen, das erleichtert die Dinge erheblich.« Er stellte sich mitten in den Raum, hielt den Schlägergriff locker zwischen den Fingern und visierte einen imaginären Golfball an. »Fassen Sie diesen Rausschmiss bitte nicht als Niederlage auf. Sondern als Anregung, an sich zu arbeiten …«
»Bitte – tun Sie das nicht«, brachte Billi hervor.
»Sie haben recht, dieses Eisen ist eine Spur zu leicht.« Bender zog einen neuen Schläger aus der Tasche. »Mal sehen, wie es sich mit einem Siebener anfühlt …«
»Ich meinte das mit der Kündigung … Die Kamera taucht bestimmt ganz schnell wieder auf, und an meiner Teamfähigkeit kann ich arbeiten.« In Billis Augen brannten Tränen, ihre Handflächen wurden schweißnass, und von dem Kampfgeist, den sie sich sonst so zugutehielt, war nichts mehr übrig. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen sie sich vollkommen hilflos fühlte, weshalb sie etwas tat, das überhaupt nicht zu ihr passte: Sie bettelte.
»Bitte, Herr Bender – gibt es nicht doch eine Chance, dass ich bleiben kann?«
»Ausgeschlossen.«
»Aber … dieser Job ist mein Leben!«
Anselm, der gerade seine Knie gelockert und zum Rückschwung ausgeholt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Gott, das ist so unnatürlich, wenn Frauen das sagen!«
»Was?!«
»Ich bin mir nicht sicher, ob die Gleichberechtigung wirklich eine so gute Idee ist. Sehen Sie sich doch an – rackern sich seit Jahren ab und stehen jetzt ohne alles da! Wann haben Sie zuletzt an etwas anderes gedacht als an die Arbeit?«
»Ich? Keine Ahnung, aber …«
»Sehen Sie – dann wird es höchste Zeit, Ihre Prioritäten neu zu setzen.« Er tätschelte ihr väterlich die Schulter und schob sie gleichzeitig in Richtung Tür. »Sie haben doch noch Familie in … in … Wo kommen Sie noch mal her?«
»Aus der Lüneburger Heide.«
»Oh, da kenne ich ein ganz ausgezeichnetes Golfhotel.« Bender runzelte die Stirn. »Was haben Sie eigentlich für ein Handicap?«
»Ich spiele nicht Golf.«
»Nicht? Erstaunlich … Wie dem auch sei – nehmen Sie sich die ganze Sache nicht so zu Herzen. Jedes jähe Ende birgt den Zauber des Neuanfangs in sich. Nur eben anderswo.« Demonstrativ sah der Chefredakteur auf die Uhr. »Es war wirklich nett, mit Ihnen zu plaudern, Sybille, aber ich muss weitermachen.« Ohne Umschweife bugsierte er sie hinaus. »Meine Sekretärin dürfte inzwischen Ihre persönlichen Sachen zusammengepackt haben, weshalb ich Sie bitte, die Redaktion umgehend zu verlassen.«
»Aber …«
»Und dass Sie keinerlei Verlagseigentum mitnehmen, versteht sich von selbst, nicht wahr? Alles Gute!«
Die Tür schlug zu, und Billi fand sich einigermaßen verdattert im Vorzimmer wieder, wo die Sekretärin schon mit allerhand Gepäck auf sie wartete.
»Deine Jacke. Dein Rucksack. Deine Fotografien«, zählte die junge Frau auf und schob die Sachen über ihren Schreibtisch.
Billi konnte es nicht fassen. Sollte jetzt wirklich alles vorbei sein – einfach so?
»Deine Kündigungsunterlagen bekommst du in den nächsten Tagen von der Personalabteilung zugeschickt. Und dann wäre da noch das hier.« Mit gerümpfter Nase reichte die Sekretärin ihr eine Plastiktüte. Das verdammte Gemüse. Schon wieder.
Immer noch unter Schock, starrte Billi sie an. »Ähm, könnte ich das nicht irgendwo entsorgen?«
»Du kannst tun und lassen, was du willst, Sybille«, kam die Antwort. »Außerhalb unseres Hauses.«
»Verstehe.« Sie ließ die Schultern hängen. »Auf Wiedersehen.«
»Ich glaube nicht.«
Keiner der Kollegen hob den Kopf, als Billi durch das Großraumbüro auf den Ausgang zuwankte. Niemand kam zu ihr, als sie vor dem Fahrstuhl stand und wartete. Nicht mal Tobias hatte eine kleine Bosheit zum Abschied für sie übrig. Bedrückt fuhr sie die sechs Stockwerke nach unten, legte dem Pförtner ihre Zugangskarte auf den Empfangstresen und schob sich durch die Drehtür ins Freie.
Ein eisig kalter Märzwind schlug ihr entgegen, als sie vor dem Verlagsgebäude stand. Sie wusste nicht, was sie denken, anfangen oder wohin sie gehen sollte. Also blieb sie einfach stehen, umklammerte ihre Gemüsetüte – und weinte.
Grümmstein, vier Wochen später
Wenn Antonia Sander eines hasste, dann waren es Einwände. Besonders, wenn diese von Leuten kamen, die sie bezahlte – nämlich dafür, dass sie das taten, was sie ihnen sagte. Entsprechend ungehalten stand sie vor Malermeister Paul Paulsen und seinen Lehrlingen, klopfte mit der Spitze ihres hochhackigen Pumps auf den frisch verlegten Kachelboden und fragte: »Was zum Teufel ist an Wänden in Bordeauxrot auszusetzen?«
»Nun ja …« Mit ausgebreiteten Armen machte Paulsen eine halbe Drehung nach links. »Sehen Se sich doch mal um, Verehrteste: goldene Fliesen, verschnörkelte Bogenfenster, gedämpftes Licht. Wenn wir die Wände jetzt noch in Bordeaux streichen, sieht’s hier drin aus wie in einem Bumslokal mit orientalischem Einschlag.«
Den Lehrlingen gelang es kaum, ein Prusten zu unterdrücken, doch Antonia verzog keine Miene. Anspielungen dieser Sorte hatte sie in den vergangenen dreißig Jahren schon viel zu oft gehört, um darüber noch zu erröten. Herrgott noch mal, wozu es leugnen? Sie hatte 1976 in einem Erotikfilm namens »Feuchte Nächte im trockenen Gras« mitgespielt. Aber das traf doch wohl auf fast jeden zu, der in den siebziger Jahren halbwegs fotogen gewesen war und eine gute Figur vorweisen konnte. Ihr Sechseinhalb-Sekunden-Auftritt zeigte sie nackt in einem Weinfass beim Traubentreten und war ehrlich gesagt nicht sonderlich spektakulär – zumal man die Sequenz mit ihrem Text (»Flinke Früchte flutschen besser als die Banane von meinem Ferdi!«) im Nachhinein rausgeschnitten hatte. Trotzdem reichte diese Episode zusammen mit ihrem sich anschließenden Lebenswandel aus, um einen gewissen Ruf zu festigen: Nicht nur, dass sie drei Kinder von drei verschiedenen Vätern bekommen hatte und mit keinem dieser Männer lange zusammengeblieben war. Bis heute trug sie ihre Röcke kürzer und die Ausschnitte tiefer, als es bei Frauen ihres Alters üblich war, verließ niemals ungeschminkt das Haus und färbte ihr dichtes, von Natur aus rotes Haar in Nuancen nach, die in ihrer Nachbarschaft als skandalös verschrien waren. Die Menschen in Grümmstein vergaßen darüber gerne, dass Antonia ihre Berufsausbildung mit Bravour abgeschlossen, ihre Meisterprüfung bestanden und als alleinerziehende Mutter den besten Friseursalon im gesamten Landkreis aufgebaut hatte. Manchmal tat ihr das weh – doch in Situationen wie jetzt mit Paulsen fand sie es einfach nur ermüdend, ständig auf eine Phase in ihrem nunmehr 56-jährigen Leben reduziert zu werden, über die sie längst hinausgewachsen war.
»Es bleibt bei Bordeaux«, sagte sie entschlossen. »Das ist die Farbe der Heideblüte, und genau so will ich es haben.«
»Auch auf die Gefahr hin, dass die Räume dann verdammt dunkel wirken?«, hakte der Malermeister nach.
»Ich eröffne hier eine Wellness-Oase«, klärte sie ihn auf. »Die Leute kommen hierher, um zu entspannen, abzuschalten und den Alltag hinter sich zu lassen. Dazu muss die Atmosphäre stimmen – sonderlich hell braucht es nicht zu sein.« Ihr Handy piepte, um sie an einen bevorstehenden Termin zu erinnern. Antonia warf einen kurzen Blick darauf und spürte, wie die Nervosität in ihr hochstieg. Bernd saß bestimmt schon längst im Salon drüben. »Ich will einen sauberen Anstrich, keine Farbflecken auf dem Kachelboden und das alles bis Mitte nächster Woche«, sagte sie an Paulsen gewandt. »Schaffen Sie das?«
»Na klar. Wir sind Profis.«
»Gut, ich verlasse mich darauf.«
Sie nickte zum Abschied, duckte sich unter einer Stehleiter hindurch und verließ den Anbau mit wiegenden Hüften über einen schmalen Flur, der direkt zu ihrem Friseursalon führte. Ihre Schritte hallten in den leeren Räumen nach, und in der Luft hing der Geruch von Aufbruch. Bis zur Eröffnung des Heideblüten-Spas nächsten Monat war noch unendlich viel zu tun, doch Antonia zweifelte nicht daran, dass sie rechtzeitig fertig werden würde. Sie hatte bisher doch immer alles geschafft, was sie erreichen wollte – nun ja, fast alles. Das mit Bernd war ein anderes Thema.
Alle drei Wochen kam der Leiter der Polizeiinspektion Grümmstein zum Haareschneiden – treu, zuverlässig, loyal. Alle drei Wochen durfte Antonia ihn anfassen – professionell, diskret, unaufdringlich. Und weil dies die einzige Form von Sexualleben war, die sie seit langem hatte, runzelte sie verärgert die Stirn, als sie nun ihren Salon betrat und feststellte, dass eines der Lehrmädchen Bernd bereits vor das Waschbecken gesetzt hatte und sich anschickte, ihm den Kopf zu shampoonieren.
»Ich mache das«, sagte sie kühl und scheuchte das Mädchen mit eisigen Blicken weg. Normalerweise überließ sie das Haarewaschen gerne ihren Angestellten, Bernd jedoch bekam eine Rundumbehandlung von der Chefin persönlich.
Er sah sie auf sich zukommen und lächelte. »Ich dachte schon, du hättest mich versetzt.«
»Nein, ich wurde aufgehalten.« Ein wenig außer Atem stellte sich Antonia hinter ihn, drehte den Wasserhahn auf und prüfte die Temperatur. »Ich hab die Maler im Haus und musste erst noch mit Paulsen ausdiskutieren, welche Farbe für die Wände in meinem Heideblüten-Spa geeignet ist.«
»Und?«
»Bordeauxrot, was denn sonst?«
»Bordeaux? Ist das nicht ein bisschen dunkel?«
»Fang du nicht auch noch an.« Sie ließ das inzwischen warm gewordene Wasser über seinen zurückgelegten Kopf rieseln. »Ist das in Ordnung so?«
Er schloss die Augen. »Wunderbar.«
Antonia drehte das Wasser ab. Ihre Hände zitterten, als sie etwas Shampoo aus dem Spender neben dem Waschbecken drückte. Mit Ende fünfzig hatte Bernd noch immer sehr dichtes, leicht gelocktes Haar, das an den Seiten längst ergraut war. Sie schnitt es ihm immer so, dass es im Nacken kurz und gepflegt saß – und ließ es gerade lang genug, dass es in luftigen Wellen über den Oberkopf fallen konnte. Bernd hatte keine Einwände – für ihn gab es niemanden, der sein Haar besser in den Griff bekam als Antonia.
»Wie gehen denn die Arbeiten in deinem Anbau voran?«, erkundigte er sich jetzt.
»Es läuft einigermaßen.« Großzügig verteilte sie das Shampoo auf seinem Kopf und fing an, es einzumassieren. »Der Anstrich fehlt noch, dann werden die Möbel geliefert. Aber bis Anfang nächsten Monats ist das alles erledigt.«
»Klingt, als ob du wie geplant starten könntest.«
»Das muss ich auch, die Einladungen für die Eröffnungsparty sind schließlich schon gedruckt.« Erneut griff Antonia nach der kleinen Handdusche und spülte sorgfältig das Shampoo von Bernds Kopf. »Es ist der Freitagabend in drei Wochen. Ich kann doch mit dir rechnen, oder?«
»Kommt auf meinen Dienstplan an.«
»Kannst du dir als Chef nicht mal einen Abend freihalten?«
»Natürlich kann ich das. Aber das ist nicht immer sinnvoll. Abgesehen davon …« Er schickte ein entschuldigendes Lächeln zu ihr hinauf. »Du weißt doch, dass Partys nicht wirklich mein Ding sind.«
Das wusste Antonia in der Tat nur zu gut. Beim Altstadtfest vor einem Jahr hatte sie all ihren Mut zusammengenommen, ihn zum Tanzen aufgefordert und prompt eine Abfuhr erhalten. Die Erinnerung daran versetzte ihr noch immer einen Stich. Ruckartig stellte sie das Wasser ab, schnappte sich ein Handtuch und rubbelte ihm damit ungehalten über den Kopf. »Setz dich da drüben hin«, sagte sie und deutete auf den abgetrennten Bereich ihres Salons, der für die männlichen Kunden vorgesehen war.
Gehorsam stand Bernd auf, ging zu einem Platz hinüber und wartete, bis Antonia einen Drehstuhl und das kleine Wägelchen mit ihren Scheren, Kämmen und Bürsten neben seinen Stuhl geschoben hatte. »Ich werde mir den Termin auf jeden Fall vormerken«, versprach er dann. »Und danke dir schon mal für die Einladung.«
»Keine Ursache.« Insgeheim wurde sie nicht schlau aus ihm. Seit dem plötzlichen Tod seiner Frau vor acht Jahren lebte Bernd allein, ging wenig aus und machte keinerlei Anstalten, an diesem Zustand etwas zu ändern. Antonia hätte gerne gewusst, ob er als Single wirklich glücklich war und ihr deshalb immer wieder einen Korb gab – oder ob es an ihr lag. Nette Männer wie Bernd Ingwersen hatten sich schließlich noch nie in sie verliebt.
»Stimmt es eigentlich, was man sich in der Stadt erzählt?«, nahm er das Gespräch wieder auf.
»Was erzählt man sich denn?«
»Dass du bei der nächsten Jahreshauptversammlung des Landfrauenvereins für den Vorsitz kandidieren wirst.«
»Ach, das.« Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, schnappte sich einen grob gezinkten Kamm und fuhr damit behutsam durch sein feuchtes Haar. »Ja, das stimmt so weit.«
»Du willst allen Ernstes Ursula Andresen herausfordern?«
»Warum denn nicht?«
»Weil sie seit fast zwanzig Jahren auf diesem Posten sitzt und als Ehefrau unseres Landrats eine stärkere Lobby in der Hinterhand hat als du.«
»Na und? Ich arbeite seit fünf Jahren als Schatzmeisterin des Vereins, bin jünger und führe außerdem den besseren Friseursalon.«
Bernd begriff plötzlich. »Das ist es also. Du willst deiner Konkurrentin eins auswischen.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst …«
»Lass das, Antonia. Den Blick kenne ich.«
Entnervt ließ sie den Kamm sinken. »Es geht mir nicht darum, ihr eins auszuwischen. Ich unternehme lediglich den Versuch, ein paar Dinge in dieser Stadt zu ändern.«
»Ach, und was für Dinge wären das?«
»Nirgendwo steht geschrieben, dass der Landfrauenverein bis ans Ende aller Tage von Ursula geleitet werden muss«, entgegnete Antonia leichthin, drückte seinen Kopf nach unten und fing an, ihm das Nackenhaar zu stutzen. »Außerdem – wer weiß? Wenn ich den Vorsitz erst mal innehabe, überwinden die älteren Damen vielleicht ihre Vorbehalte, was meinen Salon betrifft – und lassen sich ihre Standarddauerwelle bei mir legen statt drüben bei Du-weißt-schon-wem.«
»Als ob diese Rechnung aufgehen würde!«
»Wieso sollte sie nicht?«
Bernds Kopf fuhr nach oben. »Weil niemand, der eine Standarddauerwelle haben will, ausgerechnet zu dir kommt!«
»Ein Fehler, wenn du mich fragst – ich bin schließlich fünf Euro billiger.«
»Jetzt unterbietest du Ursula auch noch? Das hast du doch gar nicht nötig.«
»Nur, was die Dauerwellen betrifft. Außerdem hab ich’s nötig.« Antonia drückte seinen Kopf wieder nach unten. »Irgendwie muss ich den Anbau für mein Heideblüten-Spa schließlich abbezahlen.«
»Ich kapier’s nicht, dein Laden brummt doch«, warf Bernd ein. »Jeder, der etwas Besonderes will, lässt sich einen Termin bei dir geben. Und hast du nicht sogar Kundinnen, die extra aus Celle, Gifhorn und Lüneburg anreisen?«
»Natürlich habe ich die, aber …«
»Aber – was?«
»Es ist nun mal so, dass Frauen sich seltener zu etwas Besonderem durchringen als zu einer Standardfrisur«, klärte sie ihn auf. »Und ich sehe nicht länger ein, mir das Brot-und-Butter-Geschäft entgehen zu lassen, bloß, weil ich hier in Grümmstein auf das Extravagante abonniert bin.«
»Sei doch froh, dass es so ist. Andere brauchen Jahre, um sich einen Namen zu machen – und einige schaffen es nie.«
Antonia unterdrückte ein Seufzen. Ihren Ruf hatte sie schneller weggehabt, als ihr im Nachhinein lieb war, nicht nur in beruflicher Hinsicht. Schon als Teenager hatte sie ihren Teil dazu beigetragen: Haschisch auf dem Schulklo, wilde Knutschereien im Park, ein geklauter Lippenstift aus dem Kaufhaus. Sie wurde viel zu früh schwanger, hatte ständig wechselnde Affären und krönte das Ganze auch noch mit einem Schmuddelfilm – immer wieder sorgte sie für Gesprächsstoff. Doch mittlerweile war sie es leid, die Femme fatale in der Kleinstadt geben zu müssen. Sie sehnte sich nach Normalität, nach Kaffeeklatsch mit Freundinnen, Campingurlauben an der Nordsee und einem verlässlichen Partner, der sonntagabends mit ihr auf dem Sofa saß und den »Tatort« anschaute.
Sie war nicht so naiv zu glauben, dass diese Wünsche sich schlagartig erfüllten, sobald sie dem Landfrauenverein vorstand und Dauerwellen drehte. Doch wenn sie sich ein bisschen mehr für das Normale engagierte – so ihre Hoffnung –, würden Menschen, die das Normale schätzten, sich auch eher zu ihr hingezogen fühlen. Menschen wie Bernd zum Beispiel.
»Als Selbständige muss ich mir nun mal regelmäßig neue Einkommensquellen erschließen«, rechtfertigte sie sich jetzt und fing an, sein Deckhaar zu bearbeiten. »Und Jörn fand auch, dass die Kandidatur eine gute Idee ist.«
»Das wundert mich nicht – dein Sohn hat doch noch nie jemandem widersprochen.«
»Was soll das denn jetzt heißen?«
Im Spiegel warf Bernd ihr einen eindringlichen Blick zu. »Dass er sich vor lauter Harmoniebedürftigkeit selten den Luxus einer eigenen Meinung leistet.«
»Jörn ist Berufspolitiker, da gehört Verbindlichkeit zum Job«, verteidigte Antonia ihren Erstgeborenen. »Außerdem hat ihm sein diplomatisches Geschick maßgeblich dabei geholfen, zum Oberbürgermeister dieser Stadt zu werden.«