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Das Drama ereignet sich in einer nahen Zukunft: Die Entdeckung der Kalten Fusion zur Energiegewinnung hat das Land grundlegend verändert. Ersatz des apokalyptischen Klimawandel-Menetekels und ideologisch ähnlich ausgerichtet ist jetzt der Neue Feminismus, dessen Etablierung mit massivem Engagement durch dessen Vorkämpfer und mit der Wirkung einer neu entdeckten feminisierenden Droge, HL2, gelingt. Durch ihre eigenen Unzulänglichkeiten sowie durch zunächst unbekannte Faktoren gerät die totalitäre Macht der "Großen Feministischen Transformation (GFT)" nach vielen Jahren der Herrschaft jedoch ins Wanken. Aber das ist noch nicht alles: Es gibt "Konterrevolutionäre", die sich der Vernichtung der Droge verschrieben haben, koste es, was es wolle!
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Seitenzahl: 307
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe:978-3-99146-814-1
ISBN e-book: 978-3-99146-815-8
Lektorat:Alexandra Eryiğit-Klos
Umschlagfotos: Ariadna De Raadt, F Baarssen | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Widmung
Für P.
1
Jutta Zita saß in ihrem Lieblingscafé in S2, an einem Herbstnachmittag, mild wie häufig im Oktober, am Großen Fluss. Der milde Spätherbst lud noch einmal auf die Terrasse ein. Der föhnige Wind drehte die bunten Blätter vor dem darunterliegenden Platz des Cafés. Das zumindest war genau wie vor 35 Jahren. Damals hieß die Stadt einfach nur Köln und der Fluss Rhein, doch im Zuge der Großen Feministischen Transformation (GFT) sollte alles Nationalistische und in der alten Zeit Verhaftete verbannt werden. Die Mäzeninnen, die führenden Protagonistinnen der GFT legten Zahlencodes als Städtebezeichnungen fest. Köln, Stadt 2, S2, völlig am echten Leben vorbei und von orwellschen Ausmaßen. Doch die Menschen akzeptierten das nicht, wie schon früher bei ähnlichen Versuchen sprachlicher Exzesse. Jutta, obwohl sie von Anfang an als Aktivistin gegen zu viel Traditionalismus der bürgerlichen Ära war, damals schon nicht mit Leidenschaft und heute überhaupt nicht mehr. Was für ein Blödsinn das doch ist, absolut realitätsentfremdet, dachte sie umso mehr in diesen Tagen. Es wurde seit Kurzem wieder Köln am Rhein zu sagen toleriert, ohne dass die pk-Hüter zum Gespräch „baten“. Vor 35 Jahren, als das hier noch schlicht das Rheinland war, wirkte alles fröhlicher, heute eintönig mit einem deutlichen Hang zum Grau des allgemeinen Niedergangs. Und das, obwohl damals hier überall Regenbogenfahnen wehten und der erklärte Wille aller die Gestaltung einer großen, bunten gesellschaftlichen Vielfalt sein sollte. Das scheint irgendwie nicht geklappt zu haben, dachte sie bitter. Jutta war sich lange sicher, sie hätte mit ihrem politischen Engagement alles richtig gemacht. Sie war ein personifizierter Bestandteil des Systems, welches die neue Ordnung geschaffen hatte. Feminine Gelassenheit statt eines toxischen Chauvinismus und einer martialischen Dominanz; Lebensfreude, Vielfalt und Transparenz sollten bestimmend sein. Aber heute an diesem Platz war ihr wiederholt symbolisch bewusst, dass die Realität anders aussah. So waren an der Terrasse des Cafés dicke Glasscheiben zum darunterliegenden Platz, an dem das Volk saß, installiert. Die Abgrenzung war gewollt, offiziell zur Sicherheit der Hohen Aktivistinnen und ihrer Gäste. In Wahrheit wollte man nur unter sich sein. Mit den Jahren waren anfänglicher Glanz und Enthusiasmus der Erneuerung verschwunden, es gab selbst hier, an diesem zentralen Ort, unübersehbare Zeichen der Degeneration. Eine der Scheiben war vor drei Wochen zerbrochen und nicht ersetzt worden. Das durfte selbstverständlich so nicht sein, aber es fehlte, wie so häufig in den letzten Jahren, sowohl am Willen wie auch an der Substanz. Selbst wenn das Personal des Lokals von Jutta als Stammgast wusste, befleißigten sich die Mitarbeiter nicht, das vermeintliche Sicherheitsproblem zu lösen. Jutta beobachte durch die intakte Scheibe an ihrem Tisch zwei Männer, die im Lokal gegenüber saßen, ziemlich weit auf der Fußgängerzone, somit gut für sie zu beobachten. Der eine war männlich gekleidet, der andere ein PINK. Wie auch immer waren sie an reichlich Alkohol gelangt, der Normale mehr als der PINK. Sie hörte nicht alles durch ihre dicke Scheibe, aber der Normale schimpfte auf „die ganze Scheiße hier“ und was „die“ mit seinem Freund gemacht hätten …
Sie beobachtete das Geschehen anfangs eher teilnahmslos; gerade als sie sich intensiver mit dem Vorfall zu beschäftigen begann, sah sie Karin und Waltraud kommen, sie waren verabredet. Küsschen, von Karin, ihrer Frau, und distanziert artiger Faustgruß, wie es sich für eine Adeptin gehörte, von Waltraud.
Waltraud war schrecklich. Sie bekräftigte in Juttas Anwesenheit ständig und nachdrücklich, dass die Große Feministische Transformation GFT für sie das überwältigendste Ereignis überhaupt gewesen sei, wichtiger als ihre eigene Geburt. Sie selbst von zunehmenden Zweifeln geplagt, war von so viel Enthusiasmus genervt. Aber als Mitglied des 1. Rates der Republik musste sie Karin zuliebe die Möchtesehrgernaktivistin ertragen. Es half nur durchhalten.
Karin war wie immer gut gelaunt. Sie war 15 Jahre jünger, Jutta liebte sie. Sie war so, wie Jutta es früher gerne gewesen wäre, fröhlich, natürlich, weiblich und eher unbeschwert, manchmal sogar etwas leichtsinnig. Nach der Trennung von Dieter, ihrem Heteromann, konnte sie sich als eine der angehenden Größen der Transformationsbewegung den Grundsätzen der GFT nicht einfach entziehen. Jutta lebte nach der Scheidung einige Jahre allein. Anfangs gab es noch keine Pflicht zur Applikation von HL2 für Frauen, lediglich für Männer in Führungspositionen. HL2 ist eine Substanz, die selektiv antiandrogen wirkt und toxische männliche Verhaltensmuster unterdrücken soll. Nach und nach versuchten aber die Aktivistinnen eine Quasipflicht für alle Männer zu erzwingen. Diese beanspruchten nun die von der GFT vehement durchgesetzte Emanzipation auch für sich. Im Ergebnis dieser skurrilen Entwicklung gab es dann eine HL2-Pflicht für alle, durchgedrückt und kontrolliert werden konnte sie letztlich nur für alle Männer und Frauen in leitenden Positionen. HL2 veränderte auch Jutta. Sie hatte das Gefühl, nach Beginn der Injektionen mit dem Antikörper würde ihre Arbeit effektiver, sie wäre ausgeglichener. Deshalb verwarf sie den Gedanken, dass die Wesensveränderungen durch die Wirkung des HL2 gesamtgesellschaftlich zu unnatürlich und zu umfassend sein könnten. Der Alltag unter den Bedingungen der Großen Feministischen Transformation schien für alle leichter und besser zu werden. Echte Gegenwehr gab es daher anfangs nur in einem unerwartet geringen Maße. Warum das so war, wurde Jutta erst später klar, sie war damals viel zu sehr mit ihren persönlichen Erfolgen beschäftigt. Viele, die sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden wollten, wanderten aus oder wurden zur Auswanderung gedrängt. Es gab Repressionen gegen Andersdenkende, die bleiben wollten. Jutta war in ihrer Position verpflichtet, diese durchzusetzen. Sie hatte sich die Überzeugung erarbeitet, dass dies im Interesse aller unabdinglich sei. Restzweifel an den Vorgängen begleiteten Jutta allerdings immer. Einschneidend und wichtig aber für sie war, dass sie mithilfe von HL2 in Karin ihre Partnerin fand.
Karin sagte: „Siehst du die beiden Jungs da drüben, die schimpfen über die Zustände, da gibt’s was. Da vorn ist ’ne Scheibe kaputt, lass uns hingehen, da hören und sehen wir besser.“
Jutta ahnte nichts Gutes. „Nee, wollen wir uns das Elend wirklich antun?“
„Ach komm“, schmachtete Karin.
Waltraud warf ein: „Vielleicht müssen wir ja verantwortungsvoll einschreiten.“
Nervensäge, dachte Jutta. Sie weiß genau, das ist mein Verantwortungsbereich.
Karin erneut: „Och komm, das hieß früher Kabinett oder so. Realsatire trifft’s vielleicht auch.“
„Karin, man macht sich nicht lustig über das Elend anderer Menschen.“
„Wieso, das ist doch hier das wahre Leben, oder? Vielleicht hilft es uns ja bei der Weiterentwicklung der Großen Transf…“
„Karin!!“, unterbrach schneidend Waltraud. „Das ist alles andere als pk!“
Politisch korrekt, pk, war einer der Lieblingsaxiome der sehr linientreuen Adeptinnen.
Jutta musste standesgemäß zustimmen, wenn auch amüsiert.
Deshalb konzilierte sie geschickt: „Also gut, lasst uns an den Platz mit der gebrochenen Scheibe gehen, vielleicht wird es ja doch noch lustig. Wir achten gemeinsam auf ‚politisch korrekt‘.“
Es wurde nicht lustig. Die dem Straßenlokal zugeordneten Amazonen waren bereits informiert. Bis zu deren Eingreifen spielte sich Folgendes ab:
Der „Normale“ rief zornig und leicht lallend: „Ihr seid alle hormonfehlgesteuerte militante Pseudolesben und Pseudoschwuchteln!“
Was die Ursache seiner Entrüstung war, blieb den dreien unklar.
Der Köbes in gerade noch milden, aber schon etwas strengerem Ton: „Bitte mäßigen Sie sich, Gast.“
Der Normale: „Halt’s Maul, du Angepasster. Bist du normal schwul oder nur von HL2 verschwult?“ Sein Zorn hatte etwas von maximalem Enthemmtsein. Der Köbes hatte eindeutig zu viel Kölsch, ein ungebrochen beliebtes Getränk, gereicht. Er fand wohl im Vorfeld, die beiden hätten sich das verdient, und erkannte zu spät den Fehler.
Mittlerweile hatte sich der Normale regelrecht in Rage geredet, er ließ seinen Zornesworten freien Lauf: „Ihr habt meinen Freund hier, früher ein ganz gewöhnlicher Mann, Vater von zwei Kindern, die er liebte, zu einem Vagabunden und, noch schlimmer, zu einem ‚politisch Inkorrekten, gleich PINK‘ (er verhöhnte die gesamte Bezeichnung sprachlich so gut es sei Zustand zuließ), gemacht und in diese Scheiß-Männerburka gesteckt, ihr Fotzen!“
Der Köbes: „Jetzt reicht es!“
Der PINK: „Lass gut sein.“
Er hatte zu Recht Angst, es drohte eine Erziehungsmaßnahme, stationär. Beschwichtigungsversuche, auch von anderen Gästen, scheiterten, ebenso der Versuch, die beiden aus gutem Grund zum raschen Verlassen des Lokals zu veranlassen.
Es erschienen die Amazonen, offensichtlich sehr gut ausgebildete, muskulöse Ordnungshüterinnen in dunkelblauen Overall-Uniformen, durch und durch feminomartialisch auftretend. Sie stellten den Normalen, vermutlich mit dem gefürchteten Sedospray, ruhig und nahmen ihn mit geübten Griffen fest. Der Köbes, sich seiner Verantwortung im Sinne des Humanismus bewusst, erklärte, der PINK habe sich nicht beteiligt. Es schien anfangs so, dass die Amazonen ihm das nicht glauben wollten, schließlich ließen sie aber mit einer eindrucksvollen Drohgebärde von ihm ab. Offensichtlich überzeugte sie der ängstliche Blick aus dem Augenschlitz seiner Verkleidung. Die beiden Amazonen schleiften den Frischverhafteten vom Platz in ihr Bereitschaftsfahrzeug und schwebten von dannen.
„Was für eine Schau!“, sagte Karin in einer Mischung von Faszination, Erstaunen und Entsetzen.
„Ekelhaft“, kommentierte Waltraud.
Dumme Gans, dachte Jutta verdrossen, genau das ist es, was mich zweifeln lässt, der Vorgang fällt letztlich in meinen Aufgabenbereich als Sicherheitsintendantin. Ich bin auch und mit dafür verantwortlich, dass der eine in der unsäglichen Männerburka steckt und der andere das Recht hat, sich darüber zu beklagen. Aber besoffen herumzupöbeln und Aggressionen auf der Straße auszutoben, das Recht hat keiner. So betrachtet werden meine Anweisungen konsequent umgesetzt, ohne dass die Amazonen wussten, ich sehe das Geschehen. Andererseits wird denen klar gewesen sein, sie könnten beobachtet werden, da der Vorgang in unmittelbarer Nähe zu einem Stammcafé von Aktivistinnen stattfand. Egal, wenn beide HL2 genommen und friedlich ihr Kölsch geschlürft hätten, wäre alles gut gewesen.
Oder?
Karin sagte: „Bevor die Anglizismen verboten wurden, war pink eine meiner Lieblingsfarben. PINK für politisch Inkorrekte find ich doof. Außerdem diese Verhüllung, ich weiß nicht …“
Waltrauds Konter ließ nicht auf sich warten.
„War es dir lieber, das obszöne Grinsen der altgeilen PINKs zu ertragen?! Nein, dann schon lieber ein Tuch drüber, was die darunter tun, ist mir egal, Hauptsache ich seh’s nicht. Die nehmen sowieso nie und nimmer HL2, sollen sie doch an ihrer pseudomännlichen Giftigkeit ersticken!“
„Lasst gut sein, Mädels …“, sagte Jutta gestelzt jovial, sie wusste, das Statement war für sie bestimmt und wollte das Generve von Waltraud nicht länger ertragen und ergänzte deshalb: „… und lasst uns über unser eigentliches Thema reden.“
Das eigentliche Thema war belanglos und Jutta wusste, Waltrauds „Thema“ würde sie nicht fesseln, und so versank sie wieder in ihren Gedanken, höchstens mit einem Viertelohr für Waltraud.
Jutta Zita Lindner wurde in das System hineinerzogen. Ihre Mutter war eine Initiatorin der GFT Mitte bis Ende der 2020er-Jahre. Sie benannte ihre Tochter nach einer der Uraktivistinnen. Juttas Vater hatte sie schnell „abgelegt“, wie sie gerne sagte. Jutta hat den Kontakt zum Vater rasch verloren. Er war schwach, hatte viel zu schnell kampflos aufgegeben und sich gebeugt und war dann irgendwie verschwunden. Jutta verlor daraufhin den Kontakt. Sie hörte erst wieder von ihm mit der traurigen Nachricht, er habe sich erhängt. Jutta fühlte sich anfangs an seinem Schicksal mitschuldig. In einer daraus resultierenden Phase der Auflehnung gegen die Mutter lernte sie Dieter kennen und heiratete ihn schnell. Er war anders, anders als der Zeitgeist. Klug, unangepasst, fantasievoll, ein bisschen zu hibbelig, aber nie langweilig. Er hatte aus GFT-Sichtweise später den völlig falschen Beruf ergriffen, er hatte Medizin studiert und war als Mann Frauenarzt geworden. Er meinte, große Krebsoperationen und nachts um halb drei schwierige Entscheidungen bei einer Entbindung zu treffen, sei durchaus auch Männersache. Das fiel ihm auf die Füße. Irgendwann gab Jutta Zita der Generallinie des neuen Feminismus nach. Dieters Einstellungen waren konträr zu den Idealen der GFT, in fast jeder Beziehung. Er musste weg. Der Mann, der sie liebte, musste weg. Seine Argumente gegen das Ganze waren Blasphemie, waren gegen das „Neue Denken“ gerichtet. Irgendwie brach dann die Prägung der Mutter in Jutta wieder durch. Die Möglichkeiten, die sich ihr damals boten, waren außerdem einfach zu verlockend. Sie war talentiert, sie erkannte sehr schnell und selbstbewusst ihre Begabungen und wollte diese ihre Fähigkeiten für Sicherheit und innere Ordnung konsequent einsetzen. Begonnen hatte sie ihre Karriere mit einem Psychologiestudium und dem Ziel, im Polizeidienst zu arbeiten. Und weil sie gut war in allem, was sie in dieser Beziehung tat, und weil wenige Frauen ihr das gleich tun konnten, war sie schnell und überzeugt von der Richtigkeit ihres Handelns im politischen Geschehen etabliert. Mit ein paar Glücksgriffen in ihrem beruflichen Werdegang, ihrem klugen und spätjugendlichen frischen Esprit mit Anfang 30 und der Protektion durch die Mutter kam sie, auch für sich selbst überraschend, ganz oben im politischen Geschehen an. Später erkannte sie, dass Dieter damals keine Wahl blieb, als zu gehen. Es musste schmerzlich für ihn gewesen sein, sie und die Kinder zu verlassen und nach Polen auszuwandern. Er erkannte, Jutta war für ihn verloren. Sie war damals so überzeugt von der GFT, da war kein Platz mehr für ihn. Heterosexuelle Liebe mit traditionellem Familienzusammenhalt zählte nicht mehr. Die Kinder vermissten den Vater sehr. Jutta versuchte sich das immer schönzureden, aber sie wusste im Innersten und als Psychologin, welche Folgen das hatte.
„Wir müssen mehr für die Sicherheit in den westlichen Grenzregionen tun, so weit weg von S2 ist das Ganze ja nicht“, platzte Waltraud in Juttas Erinnerungen.
Richtig war, dass sich aus dem Westen im Zuge der islamischen Orientierung und zunächst unter Missbrauch der völkerverbindenden Idee der GFT Übergriffe auf Kameradinnen und Aktivistinnen häuften. Houellebecq hatte die Veränderungen im Nachbarland hin zu einem Gottesstaat visionär vorausgesehen. Es gab damals eigentlich keine Mehrheit für eine Islamische Republik Frankreich, aber sie kam. Mit dieser Entwicklung wurde der Nährboden geschaffen für das, was sich danach als radikale Gegenbewegung entwickelte, ein aus Sicht der GFT faschistisches Regime. Die „alte Ordnung“ sollte wiederhergestellt werden. In Wahrheit war es aber eine neue Ordnung, die Franzosen erduldeten dies. Entweder sie passten sich an oder hielten es für das kleinere Übel, obwohl die rechte Diktatur menschliche und ideelle Opfer gekostet hatte. Ein Franzose hatte Jutta knapp erklärt: „Entweder Islam oder GFT, da nehm ich lieber Durand.“ Das war der neue, mittlerweile dauerhafte und starke Mann Frankreichs. Der apodiktisch regierende Durand würde keinesfalls freiwillig den Chefsessel räumen, wie fast alle historischen Vorbilder seiner Art. Leider war ihr Sohn Robert der Faszination des autoritären Regimes erlegen, er war einige Jahre nach der Machtergreifung, so wurden die Veränderungen in Frankreich vom 1. Rat definiert, ins Nachbarland übergesiedelt. Glücklicherweise war der Kontakt zu ihm nicht völlig abgerissen.
„Was wirst du tun?“, schnatterte die aufdringliche Waltraud erneut in Juttas Gedanken. Sie merkte, dass Jutta nicht recht bei der Sache war. Offenbar bewertet sie die Vorgänge mit dem Betrunkenen, dachte sie und ärgerte sich, kaum ausgesprochen, über ihre unangemessene, penetrante Nachfrage.
„Wie immer, deeskalieren“, sagte Jutta jetzt wieder selbstsicher wirkend und in angemessener Diktion entsprechend ihrer Funktion als Sicherheitsintendantin der westlichen Distrikte und Untersekretärin für Sicherheit des 1. Rates.
„Der Kontakt zum Pariser Innenminister ist gar nicht so schlecht. Auch wenn er arrogant daherschwadroniert, die Zusammenarbeit war in letzter Zeit bei Problemen immer ganz gut. Für die Übergriffe sind die bekannten großen Familienverbände verantwortlich. Wenn sie aus den bekannten Gründen nicht aus dem Lande vertrieben werden konnten, hat sie Durand in die grenznahen Regionen verdrängt, viele haben sich auch im Elsass niedergelassen. Leider fühlten sie sich trotz all unserer protektiven Maßnahmen eingeladen, unsere Toleranz teils recht dreist auszunutzen. Sie sind uns nach der Machtergreifung leider ungewollt näher gekommen. Und ihre Verwandten in S6, S9, auch S4 und so weiter sind fast nebenan. Trotz unserer intensiven Bemühungen haben auch wir hier in manchen Regionen das gleiche Problem, Waltraud, wenn wir ehrlich sind.“
Waltraud war vorübergehend verwirrt, das Nummernspiel war ihr zu anstrengend, war S6 jetzt das frühere Duisburg oder Essen oder beides? Gott sei Dank waren die Städtenamen wieder zugelassen. Jutta musste aber so reagieren, als Führungsfrau. Stark, dachte sie.
„Du hast recht, Jutta. Glücklicherweise haben die Faschisten in Frankreich keine Expansionstendenzen, sie sind eher wie Pinochet“, politisierte Waltraud.
Wo hat sie das aufgeschnappt? Von alleine ist die da nie draufgekommen. Aber recht hat sie, oder die, von der sie das hat, war Jutta überzeugt.
„Wir leben in keiner einfachen Welt“, warf Karin ein, „und wer geglaubt hat, dass mit der Entdeckung der Kalten Fusion alle Probleme dieser Welt gelöst wären, hat sich wohl gründlich verrechnet.“
Karin hatte sich das ebenso wenig selbst erarbeitet wie Waltraud ihren Pinochet. Aber der eher unpolitischen und alles andere als geltungssüchtigen Karin musste man das nicht übel nehmen. Sie war in allem, was sie tat, ehrlich. Jutta war überzeugt, Karin sei von Natur aus lesbisch, auch ohne HL2. Jutta nicht. Sie mochte Karin sehr, mit HL2 liebte sie sie.
Waltraud plapperte noch allerlei Zeug zum Thema. Jutta flocht gelegentlich geschickt Floskeln ein, wie „sehr interessant“, „ich stimme dir zu“, „danke für die Anregung“ und Ähnliches, sodass sie deren Ausführungen auf das optimale Minimum reduzieren konnte. Irgendwann verabschiedete sich Waltraud offenbar zufrieden mit Botschaften und Plazets, welche sie hier und heute erhalten hatte. Zum Abschied sogar ein Küsschen auch von Jutta. Klasse, triumphierte Waltraud!
Jutta und Karin blieben noch etwas.
„Die eine oder andere HL2-Säumige freut sich durchaus über die eine oder andere eine Attacke der ‚richtigen Kerle‘“, spöttelte Karin in Bezug auf Waltrauds Geschwätz. Jutta lächelte, zumindest etwas war da dran, sie hatte da auch so ihre Erfahrungen, Karin dürfte das allerdings nicht wissen. Alles überhaupt nicht pk. Man sollte sich sehr überlegen, in welchem Kreis man das schon mal so sagen darf, dachte sie, und bitte nicht vertiefen.
Sie fuhren mit der Bahn in ihr Viertel. Individualverkehr gab es schon seit Jahren nur noch in Ausnahmefällen, der Überfluss an Elektrizität hatte auch den städtischen Verkehr revolutioniert. Die Ideen und Entwicklungen waren ursprünglich beeindruckend, aber in den Jahren mit der GFT hatte die Innovationskraft gelitten. Vieles wirkte jetzt wie gelähmt, wurde unansehnlich und sogar häufig marode, auch der früher revolutionäre Nahverkehr. Jutta wusste im Innersten, woran es lag. Sie fuhren durch Straßen mit Häusern, an denen die Fassaden bröckelten, durch schmutzige Tunnel, vorbei an Haltestellen, an denen sich der Müll türmte. Jutta sollte sich an den Anblick gewöhnt haben, aber die Unzulänglichkeiten nahmen zu oder wurden ihr bewusster. Selbst der Grüngürtel, der wild wachsend sein durfte, kam ihr verwahrlost vor. Karin starrte schweigend aus dem Fenster und schien das Gleiche zu denken. Sie schien zu ahnen, was Jutta bewegte.
„Sag bloß nicht, früher war alles besser.“
„Natürlich nicht“, antwortete Jutta, „aber es muss wieder besser werden, sonst fühle ich mich hier nicht mehr wohl.“
„Wir haben es doch schön zu Hause, das zählt am meisten.“
Sie hat ja recht, dachte Jutta. Aber wenn man sich für das alles mitverantwortlich fühlt, nervt der sichtbare Verfall schon sehr.
2
Sie liefen nur wenige Minuten von der Bahnstation zu ihrer Villa in Hahnwald im Eisenweg, die sie sich mit einem Professorinnenpaar teilten, de facto teilen mussten. Auch von Führungskräften wurde erwartet, dass sie sich an die Wohnraumregeln mit Quadratmetern pro Kopf hielten. Allerdings hatten sie Privilegien, auch in dieser Hinsicht.
Beide Paare lebten kinderlos, das widersprach den Grundsätzen zumindest teilweise, denn Jutta hatte ja Kinder. Die Doktrin, jede Frau müsse zwei Kinder haben, war beschlossen worden, als man registrieren musste, dass die natürlichen Rahmenbedingungen der Reproduktion nicht mit den Vorstellungen der radikal feministischen Führung harmonierten. So formulierten Kritiker das irgendwann eher zurückhaltend. Es wurde deshalb zum guten Ton etabliert, alle müssten dazu beitragen, die Bevölkerungspyramide zu stabilisieren. Da die GFT entschieden hatte, dass die Verantwortung für Nachkommen allein weiblich sein müsse, wurden künstliche Befruchtung und die dadurch mögliche Optimierung durch Selektion zu einer gesellschaftlich gewollten Norm. Gleichzeitig nahmen aber in den letzten Jahren natürliche Zeugungsprozesse wieder zu, obwohl der offizielle Anteil von Heterobeziehungen stagnierte. Insgesamt blieb die gesamte Problematik der Reproduktion durch die GFT ungelöst. Eine linke Urthese, Kinder zu haben, sei egoistisch, kollidierte mit der ursprünglichen Philosophie der Bewegung, alles Dasein so natürlich wie möglich zu leben. Dies wiederum passte nicht zum antivirilen Weltbild der GFT. Das von Extremfeministinnen postulierte Löwinnen-Rudel-Modell, nach dem das Maskuline nur für die Befruchtung zuständig wäre, das soziale Leben im Rudel aber weiblich dominiert würde, kollidierte wiederum mit den Thesen der Menschenrechtsaktivistinnen, genauso wie die zur Norm erhobenen In-vitro-Fertilisation mit Embryonen-Selektion. In dieser Hinsicht war sich Jutta schon früh sicher: Was für ein Chaos und was für ein Blödsinn! Und froh, dass sie in diesen Zeiten bereits zwei Kinder hatte. Immer in der Hoffnung, sie nicht in den Wirren des Ganzen verloren zu haben.
Das Professorinnenpaar erschien Jutta und Karin schlicht zu schrill und verquer für Kinder. Kaum einer kam auf die Idee nachzuhaken. Sie hatten insgesamt wenig Kontakt zu den beiden, man ging sich aus dem Wege, ohne dass es dafür einen spezifischen Grund gegeben hätte. Man wollte das jedoch demnächst ändern. Aber beide Paare hatten das Gefühl, die gut geteilte Villa gehörte jeder Partei jeweils allein.
Karin wollte keine Kinder, Jutta wusste das. Ein Leberenzymdefekt könne eine Schwangerschaft zu einer lebensbedrohlichen Sache machen, hatte sie von ihrer Ärztin erfahren. Angeblich, war sich Jutta bewusst. Es könnte schon etwas Wahres dran sein, das wusste sie jedoch auch. Die Medizinerinnen hatten deshalb neulich sogar zu einer HL2-Pause geraten. Jutta war klar, dass monoklonale Antikörper bei wenigen Menschen mit Enzymdefekten lebensbedrohliche Nebenwirkungen haben können. Üblicherweise wurde erwartet, dass Aktivistinnen regelmäßig HL2 applizierten. In leitenden Positionen war das verpflichtend. Karin war in einer Führungsposition des Sicherheitsdienstes vom alleinigen Hersteller von HL2 – 1. Biotechnologie Standort S2 – tätig. Prof. Müller-Schenkentorff, der Entwickler von HL2, Wissenschaftlicher Leiter und Direktor der 1. Bio, hatte Karin höchstpersönlich vor einigen Monaten aus ihrer Verpflichtung zur regelmäßigen Applikation entlassen.
Ihre Wohnung war schlicht und geschmackvoll, Bauhaus, sagte Jutta gerne. Sie mochte die puristische, sachliche Eleganz. Auf einer Anrichte stand, eigentlich gar nicht passend, eine Sammlung tibetischer Klangschalen von Juttas Tochter Frauke. Sie lebte in Tibet, ihr war das Leben hier zu angepasst und widernatürlich. Eigentlich wollte sie nur weg aus der neuartigen Spießigkeit dieser Zeit, in ein Chaos nach ihrem Geschmack mit einer ihr genehmen Grundordnung. Sie war selbstbewusst, aber immer auf der Suche. Sie war selten mit sich und ihrer Umgebung zufrieden. Frauke hatte, wie ihr Vater, Medizin studiert, aber nicht das 3. Staatsexamen abgelegt. Während des Praktischen Jahres brach sie ab. Sie argumentierte, das sei keine Medizin, die da gemacht würde, sondern Heilung nach Kochbuch, dominiert von Gesundheitsmanagerinnen, die wiederum hätten null Ahnung von Krankheiten im medizinischen Sinne. Außerdem gäbe es viel zu viele von denen. Jutta fand das übertrieben, aber Dieter war, bevor er wegging, auch dieser Meinung. Deshalb befürchtete sie, Frauke könnte es zu ihrem Vater nach Polen ziehen. Das aber kam für Frauke keinesfalls in Betracht, weil ihr dort alles zu ordentlich und bürgerlich war. Stattdessen wollte sie angeblich einen Feminismus im Einklang mit Natur und Landschaft. Sie meinte, den im Hochland mit dem tantrischen Buddhismus zu finden, wie auch einige andere der GFT abtrünnige Alternativfeministinnen. Frauke gehörte allerdings nicht richtig zu dieser Gruppierung. Alle zwei bis vier Jahre kam sie besuchsweise zurück. Jutta hoffte allerdings vergeblich auf ihr Bleiben. Der Sohn Faschist, die Tochter durchgeknallt, irgendwas ist in der Erziehung schiefgelaufen, sinnierte Jutta. Wenigstens sah sie die Kinder gelegentlich und konnte mit ihnen reden, das hatten viele andere nicht. Doch die Wehmut nach geordneten Familienverhältnissen, egal wie diese aussehen könnten, war in den letzten Monaten stärker in Jutta geworden.
„Machen wir uns einen schönen Abend?“, unterbrach Karin beherzt Juttas trübe Gedanken. Sie erkannte die melancholische Stimmung ihrer Partnerin und wusste, was half. „Schöner Abend“ bedeutete, gemeinsam und in aller Ruhe kochen, langsam und genüsslich essen und natürlich trinken. Etwas mehr trinken, Alkohol war ihre liebste Sexualdroge, und anregende Filme schauen. Juttas Stimmung besserte sich tatsächlich. Ihr Bedürfnis nach Sex war mit den 50er-Lebensjahren eher stärker als schwächer geworden. Leider, so fand sie, verlief diese Entwicklung konträr zu ihrem Äußeren, sie fand, sie würde schneller alt als in den Jahren zuvor, und sorgte sich, dass sie ihrer attraktiven jüngeren Partnerin irgendwann überdrüssig werden könnte.
Sie lagen auf ihrer „Lustwiese“ und starrten auf den Bildschirm. Was die Mädels da zelebrierten, hätten sich beide nie getraut, oder nicht gewollt, es war aber geil anzuschauen. Karin führte wie immer die Regie hinsichtlich der Auswahl.
„Ich habe was Antikes gefunden, nicht schlecht, Jutta“, sagte sie.
„Ich bin gespannt“, antwortete die.
Und tatsächlich taten die antiken Damen Erstaunliches, es wirkte allerdings nicht wegen ungewöhnlicher Handlungen anregend, sondern eher wegen der spontanen Natürlichkeit. Es war nicht so geschauspielert wie üblich, sondern wirkte authentisch. Doch dann geschah etwas, womit Jutta nicht gerechnet hatte: Es kam ein Mann hinzu, das galt in diesen Tagen für die Branche als obsolet. Karin hatte mutig ausgesucht. Sie redeten nicht über den Kerl und was er tat und mit ihm getan wurde, bis auf das eine oder andere erstaunte „Oh“. Anschließend liebten sie sich, es war besonders intensiv und Jutta hatte den Eindruck, der Mann aus dem Porno war mit im Bett, mehr in Karins Kopf als in ihrem. Karin glaubte lange Zeit, Jutta denkt schon seit Langem nicht mehr in diese Richtung, und das stimmte, Jutta waren heterosexuelle Gedanken viele Jahre fremd. Karin hatte ganz zu Beginn ihrer Beziehung schon einmal das Gefühl, Jutta habe Sehnsucht nach Sex mit einem Mann. Das verschwand seinerzeit leise, aber Karin fühlte sich in letzter Zeit an den Eindruck von damals erinnert. Karin hatte mit beidem recht, ohne je zu erfahren, was ihre Partnerin seit Jahren bewegte.
Jutta selbst konnte für den Moment nicht einordnen, was sich in der letzten Zeit bei ihr verändert hatte, und was bei Karin ohne HL2. Das Zeug hatte der Welt viel Ausgeglichenheit gebracht, aber um welchen Preis. Jutta musste sich eingestehen, dass der Gedanke an den Pornodarsteller ihrem Erleben dieser Nacht einen gewaltigen Kick gegeben hatte. Karin hatte das mehr oder weniger bewusst so beabsichtigt.
Der radikale Feminismus hatte anfangs keine sehr breite Basis, aber die GFT war vor allem wegen der Nutzbarmachung der Kalten Fusion zur Energiegewinnung und vornehmlich der Entdeckung des HL2 möglich geworden. HL2 ist ein Präparat, das typische androgen vermittelte Handlungsweisen unterdrückt. Allerdings reprimiert die Substanz nicht einfach nur alles hormonell Männliche, sondern lediglich die Verhaltensmuster ändern sich. Jutta wusste auch, dass Frauen Androgene brauchten und dass diese in der weiblichen Sexualität eine wichtige Rolle spielten. Es war daher nicht einleuchtend, dass ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit unter HL2 eher stärker wurde. Hems, wie Prof. Heinz-Egon Müller Schenkentorff gerne pragmatisch genannt wurde, wollte ihr die Frage nicht beantworten. Er reagierte lediglich mit einem jovialen Grinsen und ausweichenden Floskeln, dem Motto entsprechend, das verstehst du sowieso nicht. Das war nicht ganz falsch, wer verstand schon die Welt der monoklonalen Antikörper, deren hochkomplexe Herstellung und die Wirkung von Botenstoffen und deren Antagonisten und so weiter? Aber der Mann war einfach nur arrogant. Ein enger Freund und Studienkamerad von Dieter hatte sich nach dem Medizinstudium der Biochemie gewidmet, genauso wie Hems. Er war hochbegabt, aber fast autistisch, daher für die tägliche Arbeit am Patienten eher ungeeignet. Deshalb war die theoretische Medizin für Horst der richtige Weg. Hems war sein Chef am Institut, sie forschten an Hormonen. Horst war besessen von der Entwicklung einer Therapie für Sexualstraftäter. Ihn hatte das Schicksal eines Mädchens beindruckt, dessen Leben von einem pädophilen Gewalttäter zerstört worden war. Dieter erwähnte gelegentlich beiläufig, dass Horst nicht viel von Hems hielt. Wenig Talent und Wissen, große Klappe und mit wohlfeil gesetzten Worten stets beim Institutsleiter um einen perfekten Eindruck bemüht. An seiner Habilitation hatten seine Kollegen mehr oder weniger freiwillig mitgeholfen, vor allem Horst. Im Gegenzug konnte der aber bereits in einer sehr frühen Phase seiner Facharztausbildung für Molekulare und Biochemie im eigenen Labor frei forschen. Im Übrigen galt Hems schon damals als Ferkel, ein Frauenvernascher. Horst meinte, er liebe extreme Pornos, wenn er Kinderpornos bei ihm finden würde, brächte er ihn um. Stets um seinen guten Ruf bedacht und um nicht entdeckt zu werden, trug er gerüchteweise einen Chip mit seinen Lieblingsfilmen meist bei sich, keinesfalls schaute er online. Eines Tages im Institut suchte Hems relativ verzweifelt nach seinem „Stick“, der um Himmels willen nicht in falsche Hände geraten durfte. Horst ahnte, was damit gemeint war. Machte sich deswegen fast in die Hosen, der notgeile Spießer. Er erzählte das amüsiert Dieter, und Dieter Jutta. Für Dieter und Horst war Hems Symbolfigur und beispielhaft für die Dekadenz und den Opportunismus, die aus ihrer Sicht zum Untergang der alten Welt führen würde, wie sie es formulierten. Jutta kam diese eigentlich unbedeutende Episode wieder in den Sinn, als Hems mit der Entwicklung von HL2 geraume Zeit nach Horst Kemmerers Tod plötzlich als Wegbereiter der GFT gefeiert wurde. Müller-Schenkentorff war diese persönliche Verbindung nie bewusst geworden, er sah in Jutta das, was sie augenscheinlich war, eine signifikante Repräsentantin der Neuen Zeit und ging deshalb höflich und charmant mit ihr um. Er war seinerzeit schnell bereit, Karin in das Sicherheitsteam der 1. Bio aufzunehmen. Trotzdem war Jutta dieser Mann von Anfang an suspekt.
„Wer kümmert sich um den Wein am Samstag?“, fragte Karin am nächsten Morgen.
Oh ja, Wochenende, Geselligkeit, dachte Jutta etwas spöttelnd.
Karin ahnte, was sie dachte.
„Och komm, vielleicht wird’s ja doch ganz lustig, zumindest erfrischend!“
„Mit den beiden vertrockneten Tanten von drüben!“, entgegnete Jutta. Sie mussten irgendwann mal versprechen, die beiden Professorinnen einzuladen. Sie hatten sich einen guten Anlass in ausgeglichener Gesellschaft überlegt. Jutta war aber trotzdem skeptisch hinsichtlich des Verlaufes der vermeintlichen Pflichtveranstaltung.
„So übel sind die nun auch wieder nicht, zumindest sind sie klug und irgendwie wirken sie auf ihre Art witzig. Es gibt in unserer so sachlichen ernsten Gegenwart, ‚politisch korrekten‘“, sagte Karin verhöhnend, „insgesamt zu wenig Spaß. Selbst Kabinett wurde verboten. Gemischt mit einem Schwulen- und einem Heteropaar könnte vielleicht ein Höhenflug in Geselligkeit aus Alice und Eligia herausgekitzelt werden. Zumindest wenn der Wein, den du (!) besorgst, die nötigen Prozente hat und süffig ist, Zita!“
Zita sagte sie immer, wenn sie sie anspornend necken wollte.
„Werd mal nicht keck, Kleine“, gab Jutta zurück und griff ihr derb zwischen die Beine. Damit wollte sie wieder Waffengleichheit herstellen.
„Außerdem hieß das nicht Kabinett, was verboten wurde, sondern Kabarett, Herzchen. Und dafür gab es einen guten Grund. In der alten Zeit nahmen Aktivisten die Bürgerlichen auf die Schippe, andersrum hat das nicht funktioniert und war unerträglich, deshalb gibt es das nicht mehr. Man macht sich nicht über unsere Ideale und Errungenschaften lustig“, sagte Jutta nicht sehr ernst.
„Oh, heute Morgen wieder die ganz Linientreue, meine Jutta!“
„Nur weil du wieder mal frech warst und ich dich gelegentlich zur Ordnung rufen muss.“
Karin drehte Jutta eine lange Nase, die drehte zurück.
Schnell waren angesichts dieser guten Laune die Aufgaben für den anstehenden Abend verteilt. Küsschen, Jutta fuhr in ihr Büro, Karin in die 1. Bio.
Jutta saß in der Bahn im Sonderabteil für den gehobenen Dienst, auf dem Weg in die Intendantur. Es war ihren Verdiensten und ihrer Position geschuldet, allein und abgeschirmt von der Masse in der Bahn fahren zu dürfen. Früher rauschten Limousinen mit Sonderzeichen für die führenden Persönlichkeiten durch die Stadt. Wie abgehoben. Das war schon ein Fortschritt, zumindest in der gleichen Bahn mit dem Volk zu sitzen, wenn auch separiert, dachte sie. Doch die gute Laune, von zu Hause mitgenommen, verflog, je näher sie die Bahn ins Zentrum der Stadt brachte. Es ging ihr angesichts dessen, was sie aus ihrem Abteilfenster sah, wieder und wieder durch den Kopf. Sie war der Überzeugung, dass die Veränderungen mit und durch die GFT viel Positives gebracht hatten. Klar, weil sie von der Kraft der Veränderung überzeugt war. Trotzdem waren die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation allenthalben nicht zu übersehen.
Der kurze Fußweg zur Intendantur machte ihre Stimmung heute auch nicht besser. Sie hatte diesen postmodernen Klotz in Gestalt eines misslungenen Abklatsches des von ihr so geliebten Bauhaustils nie gemocht. Völlig überdimensioniert, aber ausdrücklich so gewollt. Demonstrativ, weil die Sicherheitsintendanturen ein wesentliches Machtinstrument der GFT waren. Man musste sich nicht wundern, dass für die wichtigen Dinge des Alltages kein Personal zur Verfügung stand. Die Menschen gingen in Büros. Dort taten sie vermeintlich Wichtiges. Wenn sie an ihren Bereich dachte, fühlte sie sich mitschuldig. Kürzlich hatte sie ein Institut für die Evaluation der Qualitätssicherung von relevanten Sicherheitsstrukturen gegründet. Eigentlich wollte sie das nicht, aber die jungen, aufstrebenden, dynamischen, neuen Aktivistinnen des 1. Rates berichteten mit hochroten Köpfen von den Erfolgen in den Leitintendanturen und brachten den Entschluss durch. Sie fragte sich, wie die Mitarbeiterinnen dieser Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Zufriedenheit in ihrer täglichen Arbeit finden konnten. Konditionierung! Doch wer hatte diese Generation konditioniert? Sie wurde alt, jüngere Mäzeninnen ließen sie das teilweise spüren, meinte sie zumindest. Sie redete sich ein, ihre unterdrückte Kritik an der überbordenden Bürokratie sei die Weisheit des Alters. Die Gegenwart gibt dir nicht recht, verzweifelte sie in ihren Gedanken, du weißt es schon lange. Ich rede wie Dieter vor Jahren, er hatte die Fehlentwicklungen schon damals vorausgesehen. Sowieso Dieter. Sie dachte häufig an ihn. Der Mann im Porno hatte nichts gemein mit ihm, aber er war heute Taktgeber für Erinnerungen an Dieter.
Ihre Gedanken begradigten sich mit dem Eintritt in die Intendantur. Elektronisch angemeldet öffneten sich ihr sofort alle Wege. Respektvoll grüßte sie das gehobene Personal der Institution, der Ameisenschwarm wich ihr devot aus. Tolles Gefühl, ihre Zweifel von eben waren wieder in einer unteren Schublade ihres Bewusstseins.
Heutige Termine, einzig interessant: Caroline Dickendorf, Gerichtsmedizinerin, Ordinaria der Universität und eine der Wissenschaftlichen Vorstände. Sie war irgendwie eine schräge Person, rustikal, burschikos, eindeutig zu viel Testosteron trotz HL2, aber kompetent und ehrlich. Manchmal etwas zu viel schwarzer Humor. Wahrscheinlich war ihr Fachgebiet nur so zu ertragen oder sie hatte einfach nur die richtige Persönlichkeit dafür. Glücklicherweise musste Jutta sich selten mit ihr wegen schlimmer Dinge treffen, aber sie schätzte sie sehr als Beraterin. Thema war der gewaltsame Tod von Constanze Rehling, einem 42-jährigen aufstrebenden Politstar, Abgeordnete des Zentralparlaments, Stellvertretende Vorsitzende der Liberalen Feministinnen, sehr ehrgeizig und Kandidatin für einen Ministerposten. Allerdings war ihr Versuch, Mitglied des 1. Rates zu werden, gescheitert, ihre Karriereabsichten waren dem Gremium zu ambitioniert. Sie war tot in einer Reitanlage gefunden worden, sie galt als passionierte Reiterin. Alles sprach gegen einen Reitunfall, aber alles für einen gewaltsamen Tod. Eine genuine Aufgabe für Prof. Dickendorf. Jutta wies ihre Assistentin Sabine freundlich an, die Professorin keinesfalls warten zu lassen.
Pünktlich kam sie angepoltert, tiefe Stimme, kurze Lachstöße. Angedeutete Umarmung, sie nahm nicht auf dem Sünderstuhl vor Juttas Schreibtisch Platz, sondern gemeinsam mit Jutta am Tischchen mit Kaffeetassen. Die obligate Frage beantwortete die Professorin mit: „Nein, lieber Tee.“
Small Talk war nicht ihr Ding, also ging es nach „Lange nicht gesehen, leider …“ gleich zum Thema.
„Die Sache ist heikel, sehr heikel, Jutta“, kam es in einem unerwartet milden Tonfall.
„Mord?“, fragte Jutta entsetzt.
„Nein“, wurde abgewiegelt. „Die Todesursache war ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf, Conni war aber nicht sofort tot, sie wird wohl einige Minuten danach infolge einer Gehirnblutung bewusstlos geworden sein und ist wahrscheinlich ein bis zwei Stunden später gestorben.“
„Schlag? Von wem und hätte sie nicht Hilfe holen können und warum hat sie den Stall nicht verlassen?“, fragte Jutta.
„Die Verletzung am Kopf war offensichtlich, die Obduktion hat die Todesursache schnell geklärt. Zeichen eines Kampfes gab es nicht. Deine Frage ist berechtigt.“
Sie machte eine Pause, mit bedenklichem Blick. Spuck’s aus, blickte Jutta neugierig zurück.
„Wir Gerichtsmediziner untersuchen immer alles, auch wenn das hier nicht sinnvoll oder notwendig erschien. Ich fand in ihrer auffällig weiten Vagina Sperma, sehr viel davon.“
„Oh!“
Innehalten. Jutta überlegte. Das passt doch nicht. „Kannst du anhand der DNA den Liebhaber ermitteln?“
„Hab ich schon.“
Jutta blickte erneut bohrend fragend.
„Es war Andlangur.“
„Wer?“
„Der Hengst, Connis Lieblingshengst.“
Jutta verschlug es die Sprache. Die stets überlegene Aktivistin Rehling, arrogant, sowohl nach unten wie nach oben gerne streitsüchtig austeilend, übertrieben selbstsicher und hochnäsig, nach außen durch und durch feministisch, braucht einen Schwanz und dann noch völlig überdimensioniert von einem Hengst. Weiter wollte Jutta nicht denken.
„Was, glaubst du, ist passiert?“
„Ich denke, was wir gefunden haben, war ein Gestell, welches den Liebesakt ermöglicht hat. Auf den ersten Blick als solches nicht zu erkennen. Vermutlich hat Andlangur eine Holzbohle unglücklich erwischt und die dann die liebeshungrige Constanze. Ich habe ihre DNA daran gefunden. Bis zum Eintritt der Bewusstlosigkeit hat sie die Spuren ihrer Lust beseitigt. Logischerweise war keiner in der Nähe ihrer Box. Sie wusste schon, wie sie es machen musste, um nicht erwischt zu werden.“
„Das hat sie das Leben gekostet. Wäre das zu verhindern gewesen?“
„Wahrscheinlich ja, mit einer Schädeltrepanation, also einer Entlastungseröffnung des Schädels hätte man sie retten können. Zeit wäre gewesen.“
Schweigen. Unfälle passieren, keine Frage, aber wegen so was sterben? Das war einfach zu doof. Die toughe Constanze! Aber sie war Jutta gleich etwas sympathischer, weil sie ein natürliches Bedürfnis im wahrsten Sinne befriedigt hatte. Das machte die arrogante Hexe gleich menschlicher.
„Kannst du dir erklären, was so eine wie unsere geschätzte Aktivistin zu so einem Handeln treibt? Das ist doch schon extrem.“
„Ich habe keine Ahnung, aber so was hat es früher auch schon gegeben.“
„Wie gehen wir damit um, Caro?“