Schottische Träume - Die Töpferei am Meer - Cara Hay - E-Book
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Schottische Träume - Die Töpferei am Meer E-Book

Cara Hay

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Beschreibung

Freundinnen kann man nicht erben - oder doch?

Die Londoner Keramikkünstlerin Kirsty Woods fällt aus allen Wolken, als sie erfährt, dass ihre Großmutter ihr eine Töpferei auf der schottischen Isle of Mull vererbt hat. Doch die Freundinnen ihrer Großmutter, allen voran Glasdesignerin Cailin Buchanan, sind gar nicht erfreut über Kirstys Ankunft in Tobermory. Dabei ist Kirsty hingerissen von der Insel und den Keramikschätzen, die sie in der Werkstatt entdeckt. Am liebsten würde sie bleiben - zumal sie herausfinden will, warum ihre Eltern nie ein Wort über die Isle of Mull verloren haben. Und dann ist da auch noch der attraktive Pubbesitzer Aidan, dem Kirsty ihr Herz ausgeschüttet hat ... Aber Cailin und die anderen sind Stammgäste in seinem Pub. Liegt es an ihnen, dass auch Aidan Kirsty auf einmal nach London abschieben will?


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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

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ÜBER DAS BUCH

Freundinnen kann man nicht erben – oder doch? Die Londoner Keramikkünstlerin Kirsty Woods fällt aus allen Wolken, als sie erfährt, dass ihre Großmutter ihr eine Töpferei auf der schottischen Isle of Mull vererbt hat. Doch die Freundinnen ihrer Großmutter, allen voran Glasdesignerin Cailin Buchanan, sind gar nicht erfreut über Kirstys Ankunft in Tobermory. Dabei ist Kirsty hingerissen von der Insel und den Keramikschätzen, die sie in der Werkstatt entdeckt. Am liebsten würde sie bleiben – zumal sie herausfinden will, warum ihre Eltern nie ein Wort über die Isle of Mull verloren haben. Und dann ist da auch noch der attraktive Pubbesitzer Aidan, dem Kirsty ihr Herz ausgeschüttet hat … Aber Cailin und die anderen sind Stammgäste in seinem Pub. Liegt es an ihnen, dass auch Aidan Kirsty auf einmal nach London abschieben will?

ÜBER DIE AUTORIN

Cara Hay wurde in Kanada geboren und hat in London gelebt. Mittlerweile wohnt sie mit ihrer Familie im schönen Siegen, aber sie hat immer noch eine Schwäche für Nebel, Jane Austen und den britischen Humor. Sie träumt von Schottland, und wenn sie schon selbst nicht dort leben kann, so kehrt sie doch in ihren Romanen um die fünf Freundinnen aus Tobermory regelmäßig dorthin zurück.

Cara Hay

SCHOTTISCHE TRÄUME

Die Töpferei am Meer

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Laura von Altrock, KölnTitelillustration: © Composition FinePic®, MünchenUmschlaggestaltung: © zero-media.net, MüncheneBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2092-2

luebbe.delesejury.de

1

Kirsty stand an der Reling der Fähre, und genau wie die anderen Passagiere war sie froh über das schöne Wetter. Doch anders als die sechsköpfige Touristenfamilie, die neben ihr an Deck stand, nahm Kirsty das glitzernde Wasser der Meerenge von Mull und den herrlichen Blick auf das Duart Castle, den Leuchtturm und die sonnenbeschienenen Berge kaum wahr. Der Grund, weshalb Kirsty sich über die Nachmittagssonne freute, war ein völlig anderer: Sie würde keine Scheibenwischer brauchen. Die machten sie beim Autofahren wahnsinnig, und außerdem hätte sie im Mietwagen ohnehin nicht den richtigen Hebel gefunden. Es war also ein Glück, dass der Regen ihr fürs Erste erspart blieb.

Seit Tagen machte sie sich wegen der halbstündigen Autofahrt vom Fährhafen in Craignure zur Inselhauptstadt Tobermory verrückt – obwohl es sich quasi um eine Anfängerstrecke handelte. Laut Internet würde genau auf diesem Abschnitt die Straße fast durchgehend zweispurig bleiben. Es war also wirklich halb so wild. Die echten Autofahrer würden nicht hupend über eine Schafweide holpern müssen, um Kirsty endlich überholen zu können. Und Kirsty würde nicht panisch im Rückwärtsgang bis zur nächsten Ausweichbucht kurven müssen, sobald ihr ein anderes Auto entgegenkam. (Was voraussetzen würde, dass sie den Rückwärtsgang überhaupt fand.) Dank des schönen Wetters würde sie nicht einmal im Schlamm stecken bleiben oder mangels Scheibenwischer ein Schaf überfahren. Dennoch fühlte Kirsty sich wie eine tickende Zeitbombe. Die arme Isle of Mull … Evakuiert die Insel, Kirsty kommt!

An der Anlegestelle von Craignure, die sie nun ansteuerten, wartete schon der arglose Mietwagen. Er konnte ja nicht ahnen, dass Kirsty kein einziges Mal Auto gefahren war, seit sie vor elf Jahren ihren Führerschein gemacht hatte. Wofür sie wirklich nichts konnte. Ihre Eltern hatten damals das Auto einfach nach Südafrika mitgenommen. Kirstys Vater arbeitete im diplomatischen Dienst und hatte ständig Hummeln im Hintern. Nur Kirsty zuliebe waren sie während ihrer letzten drei Schuljahre in London geblieben. Und keine halbe Sekunde nach der Abschlussfeier waren ihre Eltern wieder in die große weite Welt abgehauen und hatten Kirsty allein und ohne Auto in London zurückgelassen. Zugegeben, sie hatten ihr zum Schulabschluss einen freundlichen kleinen Gebrauchtwagen schenken wollen. Doch bei dem Gedanken an den damit verbundenen Erwachsenenkram (Kfz-Versicherung, Inspektionen, Reparaturen, Tanken) und die aussichtslose Parkplatzsuche in der City war Kirsty die Lust vergangen. Nein, sie nahm lieber die Londoner Tube.

Eigentlich war die Tube an allem schuld. Ohne diesen launischen, unterirdischen Wurm wäre Kirsty wahrscheinlich inzwischen eine passable Autofahrerin gewesen. Und nur wegen Andrews Bemerkung über die Tube steckte sie jetzt in diesem Mietwagenschlamassel. Bis zu jener Bemerkung hatte Kirsty ihre Reise nach Schottland perfekt autofrei durchgeplant gehabt: von ihrer Wohnung im Londoner East End mit Tube und DLR-Bahn zum London City Airport, Flug nach Glasgow und von dort aus drei Stunden mit dem Zug durch die Highlands gen Nordwesten zum Küstenstädtchen Oban, wo die Fähre zur Isle of Mull ablegte. Auf der Insel verkehrte ein harmloser Linienbus, der sie völlig stressfrei vom Fährhafen in den Norden nach Tobermory befördert hätte.

Hätte. Denn als Andrew letzte Woche in diesem herablassenden Tonfall gesagt hatte: »Dir ist aber hoffentlich klar, dass es auf so einer Insel keine U-Bahn gibt«, hatte Kirsty ja unbedingt erwidern müssen: »Nein, aber Mietwagen.« Sie hätte nur Busse oder Taxis sagen müssen, und alles wäre in bester Ordnung gewesen.

Stattdessen war das Gespräch irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Andrew hatte herumgestichelt, sie hatte zurückgestichelt, und plötzlich war es um Kirstys Defizite im Allgemeinen gegangen. Dass ihr Führerschein genauso unbenutzt in der Schublade herumlag wie ihr Bachelorzeugnis in Banking & Finance. Eine kolossale Verschwendung ihrer Fähigkeiten. Ganz zu schweigen von der Geldverschwendung.

»Jaha, aber es war nicht dein Geld. Und ich habe meinen Dad um nichts davon gebeten. Er hat mich bequatscht, diesen Finanzkram zu studieren.«

»Finanzkram? Dieser Kram ist mein Leben!«

Kirsty hatte die Augen verdreht. »Ich hoffe nicht.«

»Und was ist mit dem BIP?«

»Andrew, kein Wort mehr über das Bruttoinlandsprodukt.«

»Ich denke nun mal an die Allgemeinheit.«

»Es hat die Allgemeinheit nicht umgebracht, dass ich ein paar Jahre länger studiert habe. Und ich habe immer nebenbei gekellnert. Kellner tragen auch zu deinem blöden BIP bei.«

Andrew hatte ein verächtliches Geräusch gemacht. Er kam einfach nicht darüber hinweg, dass Kirsty seiner Welt den Rücken gekehrt hatte. Er benahm sich, als würde sie fremdgehen. Mit Keramikdesign. Wieder und wieder, jeden Tag, direkt vor seiner Nase. Eigentlich nicht wirklich vor seiner Nase. Es kam selten vor, dass Andrew ihr Atelier in Whitechapel betrat. Der ganze »Schlamm«, wie er ihren Ton nannte, machte ihn nervös. Kirsty machte ihn nervös. Das war von Anfang an so gewesen. Sie hätten die Finger voneinander lassen sollen. Leute, die sich bei einem Vorstellungsgespräch kennengelernt hatten, sollten nicht miteinander ins Bett gehen. Und erst recht nicht zusammenziehen. Schon gar nicht, wenn das Gespräch so katastrophal verlaufen war wie in Kirstys Fall.

Während ihres Finanzstudiums hatte Kirsty sich halbherzig um eine Praktikumsstelle in der Investmentbank beworben, für die Andrew schon damals arbeitete. Es hatte ja keiner damit rechnen können, dass sie für dieses winzige Praktikum einem total ernstgemeinten Auswahlgremium gegenübersitzen würde. Und dann war genau das passiert, was eigentlich nur in Albträumen passierte: Kirsty hatte einen Blackout gehabt. Eigentlich hatte sich der Blackout nur auf die erste Frage (etwas mit Zinsen) bezogen, aber Andrews gesamter uferloser Fragenkatalog baute genau auf dieser einen Frage auf. Und Andrew war schon damals … Andrew. Er hatte den ganzen Rattenschwanz durchexerziert, was ohne die Antwort auf die erste Frage einfach nur absurd war. Kirsty hatte noch nie im Leben so oft in Folge »Weiß ich nicht« gesagt, und irgendwann war zwischen den Antworten jedes Mal ein ungläubiges Kichern in ihr hochgeblubbert. Wie kleine Pupse. Alle drei Prüfer einschließlich Andrew hatten peinlich berührt zur Seite geschaut.

Zum Glück war Kirsty an jenem fernen Tag vor acht Jahren nicht allein nach Canary Wharf in die Bankenhölle gefahren. Ihre Freundin Phoebe hatte sie begleitet und geduldig in einem Café auf sie gewartet. Es war schon sechs Uhr gewesen, als Kirsty fix und fertig aus der Bank gekommen war, und Phoebe hatte ihre Freundin schnurstracks in den nächsten Pub bugsiert. »Ach komm, Kirsty, so schlimm kann’s nicht gewesen sein.« Selbst nach einigen Gin Tonics hatte Phoebe sich einfach nicht vorstellen können, dass sie zehnmal in Folge »Weiß ich nicht« gesagt hatte. Da half nur ein Rollenspiel: Phoebe war Kirsty, und Kirsty war Andrew.

Kirsty hatte ihre imaginäre Krawatte zurechtgerückt, wie ein Löwe ihre sehr reale braune Lockenmähne geschüttelt und mit tiefer Stimme durch den halben Pub gebrüllt: »Ms Woods, mein Name ist Andrew Taylor! Ich bin ein großes Tier! Wirklich groß! Apropos Tier. Ms Woods, was ist ein Plumplori?«

Einige Leute hatten sich nach ihnen umgedreht, und Phoebe hatte angesäuselt in ihr Glas gekichert.

»Phoebe, sag deinen Satz!«

»Ach ja: Weiß ich nicht.«

»Nein, so was!«, hatte Kirsty durch den Pub gedröhnt. »Können Sie mir wenigstens sagen, wo Plumploris vorkommen?«

»Weiß ich nicht.«

»Aber Sie werden doch wohl wissen, was Plumploris essen!«

»Nein, weiß ich nicht.«

»Und wo Plumploris schlafen?«

»Weiß ich nicht«, keuchte Phoebe.

»Sind Plumploris nachtaktiv?«

»Hör auf, Kirsty! Wenn du noch einmal dieses Wort sagst, ersticke ich!«

»PLUMPLORI!« Sie hatte zufrieden ihren Gin Tonic heruntergekippt. »Verstehst du jetzt, was ich meine?«

Phoebe war nicht dazu gekommen, ihr zu antworten, denn in jenem Moment hatte sie jemand von hinten angesprochen: »Ms Woods, was ist ein Plumplori?«

Die Freundinnen hatten sich für einen Augenblick erschrocken angestarrt, doch dann hatte Kirsty sich tapfer auf ihrem Barhocker umgedreht und dem unnachgiebigen Andrew Taylor in die Augen gesehen, der ohne seine spießige Krawatte gar nicht so schlecht aussah. Ein bisschen alt vielleicht. (Andrew war elf Jahre älter als Kirsty.) Ohne nachzudenken, hatte sie ihm die erste richtige Antwort des Tages gegeben: »Ein flauschiges Äffchen mit glänzenden Riesenaugen. Total niedlich und hochgiftig. Kaum ein Säugetier ist so giftig. Gucken Sie kein BBC Earth?«

»Darf ich Sie auf einen Drink einladen?«

»Ich glaube, das wäre unmoralisch.«

»Nur wenn Sie das Praktikum bei uns bekommen hätten.«

»Autsch.«

»Vielleicht hätten Sie sich besser im Zoo beworben.«

Andrew hatte es also von Anfang an gewusst: Sie war für die Finanzwelt nicht geschaffen. Dennoch war er aus allen Wolken gefallen, als sie ein Jahr später ihren Traineejob in einer Bank nach wenigen Wochen hingeschmissen hatte, um ein Bachelorstudium in Keramikdesign zu beginnen.

Die ersten drei Jahre hatte er die Zähne zusammengebissen und kaum ein böses Wort über den Schlamm verloren. Wie ein betrogener Ehemann, der sich einredete, die Affäre sei bloß eine Phase. Es geht vorbei. Aber es war nicht vorbeigegangen. Erst recht nicht, als das Unglaubliche passiert war und Kirsty beim renommierten Royal College of Art für den Masterstudiengang Ceramics & Glass angenommen worden war. Da war Andrew langsam unruhig geworden. Warum mussten es denn unbedingt die Künste sein? Man konnte ja auch auf vernünftige Art herumwerkeln, zum Beispiel als Industriekeramikerin. Was die Welt brauchte, waren Ziegel und Fliesen – keine Nachbildung ausgestorbener Korallengruppen in ungebranntem Ton. (Für ihr Great Barrier Reef hatte Kirsty einen Nachwuchspreis gewonnen.)

In letzter Zeit waren Andrew die Argumente ausgegangen. Seit sie ihr eigenes kleines Atelier in Whitechapel hatte, trug Kirsty nicht unerheblich zum Bruttoinlandsprodukt bei. Ihr Instagram-Account hatte sich zu einem Schaufenster mit viel Laufkundschaft gemausert, und Kirsty bot ihren Schaulustigen und Kunden ständig etwas Neues. Sie konnte sich vor Ideen kaum retten und trug in ihrer Handtasche immer einen Skizzenblock und Kinderknete mit sich herum. Den Block hätte Andrew noch toleriert, aber das mit der Knete ging eindeutig zu weit. Einmal hatte er ein paar Tage lang nicht mit Kirsty gesprochen, nachdem sie in Gegenwart seiner Freunde in einem Restaurant mit weißen Tischdecken ihre neonpinke Knete hervorgekramt hatte, um die wunderhübschen Miesmuscheln auf ihrem Teller nachzuformen. Kreativität und Schrulligkeit lagen einfach zu nah beieinander. Dann lieber nicht kreativ sein. Fand Andrew.

Genauso gut hätte er sagen können: Dann lieber nicht atmen. Kirsty konnte nicht anders. Sie arbeitete Tag und Nacht in ihrem Atelier mit den verschiedensten Tonmassen sowie Holz, Draht, Gips, Seil – allem, was ihr in die Finger kam. Ihr Thema war die Natur, und die kam wie im echten Leben in allen Formen und Materialien daher. Manchmal sogar als Tasse. Die Tasse hatte Andrew – nach all den Skulpturen und Installationen – kurz aufatmen lassen. Sie (die Tasse) war mit einem wahnsinnig berühmten Promi in einem Werbespot für eine bekannte Teemarke aufgetreten. Zu Andrews Unmut durfte er es niemandem erzählen. Doch das Schweigegeld war hoch, also war sein Murren nicht allzu laut gewesen. Kirsty hingegen war insgeheim froh über das Werbeverbot. Nichts lag ihr ferner, als »die mit der Tasse« zu werden.

Kirsty und Andrew lebten einfach nicht auf demselben Stern. Anfangs hatte das kaum gestört. Kirsty litt unter der chronischen Abwesenheit ihrer Eltern, und Andrew war … da. Und er stand für alles, wonach Kirsty sich damals gesehnt hatte: Beständigkeit. Andrew dagegen fand Kirsty mit ihrer wilden Lockenmähne und noch wilderen Art heiß. Und jung. Formbar wie Ton. Das hatte er zumindest gedacht. Bis sie selbst angefangen hatte, Dinge zu formen.

Nach nunmehr acht Jahren fragte Kirsty sich manchmal, was sie noch in Andrews Leben zu suchen hatte. Oder er in ihrem. Einmal hatte sie allen Mut aufgebracht und sich beiläufig bei ihm danach erkundigt, während er an der Steuererklärung gesessen hatte. Andrew hatte geistesabwesend geantwortet: »Huh? Liebe?« Liebe? Ihre Antwort wäre gewesen: Es tut ja nicht weh. Es tat wirklich nicht weh. Sie liefen sich ja kaum noch über den Weg, obwohl sie sich offiziell ein Apartment teilten. De facto wohnte Kirsty in ihrem Atelier. Wenn sie es sich recht überlegte, lagen nicht bloß ihr Führerschein und der Finanzbachelor unbenutzt in der Schublade herum, sondern auch ihr Freund …

Vielleicht hatte Andrew dasselbe gedacht. Das hätte erklärt, warum er letzte Woche bei der bloßen Erwähnung des Mietwagens einen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Doch vermutlich war er schlicht sauer gewesen, weil Kirsty ihn nicht nach Schottland hatte mitnehmen wollen. Die ganze Geschichte mit der Isle of Mull war einfach zu mysteriös. Mit Andrew wäre ein stinknormaler Urlaubstrip daraus geworden. Oder, noch schlimmer, ein Businesstrip mit Anwalt und so. Andrew hatte schreckliche Sorge, dass Kirsty das Haus in Tobermory, das sie offenbar von ihrer Großmutter geerbt hatte, unter Wert verkaufen würde. Dabei war das Haus nur ein Vorwand für diese Reise gewesen. Sie wollte herausfinden, wer ihre Großmutter gewesen war. Und warum ihre Mutter niemals ein Wort über sie oder die Isle of Mull verloren hatte. Ihre Mum hüllte sich immer noch in Schweigen. Seit Kirsty vor zehn Tagen diesen seltsamen Anruf aus Tobermory erhalten hatte, ging sie nicht ans Telefon.

Kirsty hatte auf ihre Mailbox gesprochen: »Mum, mich hat gerade eine total unfreundliche, fremde Frau aus Schottland angerufen, Cailin Buchanan oder so, und sie meinte, jetzt sei es zu spät, meine Granny sei mausetot. Ich habe ihr gesagt, dass sie sich verwählt haben muss und meine Granny schon seit über dreißig Jahren mausetot sei, aber da hat sie irgendwas Böses vor sich hin gemurmelt und gemeint, ich werde es mir bestimmt anders überlegen, sobald ich das Haus gesehen habe, das ich geerbt habe. Mummy, ich bin verwirrt, ruf mich an!«

Aber Fiona (Mummy) hatte nicht angerufen. Was völlig untypisch für sie war. Bis zur Scheidung von Kirstys Dad war Fiona zwar selten auf demselben Kontinent wie ihre Tochter gewesen, doch sie war über sämtliche Zeitzonen hinweg immer ans Telefon gegangen – selbst dann, wenn Kirsty aus Schusseligkeit mitten in der Nacht angerufen hatte. Und seit Fiona vor fast zwei Jahren ohne Kirstys Dad nach London zurückgekehrt war, war sie wieder ein fester Bestandteil ihres Alltags. Anders als Andrew kam sie häufig im Atelier vorbei, um Kirstys Werke zu bewundern. Manchmal setzte sie sich sogar selbst an die Töpferscheibe, wie damals, als Kirsty noch ein Kind gewesen war. Dann mussten sie wie früher Fionas Töpfersong hören. Unchained Melody. Sobald dieser Song lief, seufzte Fiona, wie schade sie es fand, dass Kirsty und Andrew niemals, wirklich niemals, heißen Sex an der Drehscheibe gehabt hatten. Immerhin waren sie das reale Pendant von Demi Moore und Patrick Swayze in Ghost – Nachricht von Sam. Wie Demi war Kirsty wunderschön und zumeist von oben bis unten tonverschmiert, und genau wie Sam war Andrew Banker und sagte nie »Ich liebe dich«. Das schrie doch nach heißem Töpfersex.

Es kam selten vor, dass Fiona irgendetwas unkommentiert ließ. Umso bedenklicher war ihr Schweigen in Sachen Granny. Nach zwei weiteren unbeantworteten Mailboxnachrichten war Kirsty besorgt zur Wohnung ihrer Mutter nach Islington gefahren, um nach ihr zu sehen. Sie war nicht zu Hause gewesen, aber die Nachbarin hatte Kirsty versichert, ihre Mum sei am selben Morgen quicklebendig zu einer Shoppingtour in die City aufgebrochen. Da hatte Kirsty ihr eine letzte, verärgerte Nachricht hinterlassen: »Mum, ich fliege am kommenden Donnerstag nach Schottland und treffe Cailin Buchanan, die böse Frau vom Telefon. Die redet wenigstens mit mir.«

Sie war also gerade mit den beiden Hauptpersonen in ihrem Leben ziemlich über Kreuz. Das Wortgefecht mit Andrew war dermaßen eskaliert, dass er am Ende tausend Pfund darauf gewettet hatte, Kirsty würde auf der ganzen Schottlandreise kein einziges Mal Auto fahren. Und sie war einfach nicht dazu in der Lage gewesen, das auf sich sitzen zu lassen. Sie hatte gespielt gelassen beim Mietwagenverleih in Craignure angerufen, und das war’s. Sie brachten einem den wehrlosen Wagen sogar zum Fähranleger …

Und tatsächlich, das bedauernswerte Gefährt wartete bereits auf dem fast leeren Parkplatz auf Kirsty, als sie über den langen Steg von der Fähre an Land ging. Es handelte sich um einen dunkelblauen Kleinwagen, an dem ein schlaksiger, rothaariger Teenager lehnte. Der Junge hatte sie auch bereits gesehen. Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Ein lächelnder Teenager? Jetzt saß sie wirklich in der Falle. An so einem konnte sie sich unmöglich in Richtung Bushaltestelle vorbeischleichen.

»Sind Sie Kirsty Woods?«, erkundigte sich der Junge, als sie mit ihrem Rollkoffer auf ihn zukam, der auf dem Asphalt einen Höllenlärm veranstaltete. Eigentlich kam Kirsty in ihrer Bluejeans, der grünen Regenjacke und den weißen Sneakers tadellos bodenständig daher, aber der goldglitzernde Koffer, den Fiona ihr geschenkt hatte, schrie ganz eindeutig: London!

Ohne ihre Antwort abzuwarten, wedelte der Junge mit ein paar Papieren und den Wagenschlüsseln in der Luft herum. »Ich bin Hamish, und das ist Ihr Wagen.«

Oje, das klang wie eine Drohung … Kirsty klammerte sich mit der einen Hand an den Griff ihres Rollkoffers und mit der anderen an den Träger ihrer Handtasche. Keine Hand frei für die Schlüssel. Und jetzt hörte sie sich mit einer fremden, brüchigen Stimme sagen: »Hamish, Sie müssen mir helfen.«

Er sah sie fragend an.

»Ich kann nicht Auto fahren!«, brach es aus ihr hervor. Sie ließ den Koffer los, um sich ihre windzerzausten braunen Locken aus dem Gesicht zu schaufeln, und stammelte: »Also … Ich traue mich nicht. Ich … Ich bezahle den Mietwagen und Trinkgeld und alles, aber bitte nehmen Sie ihn wieder mit, ja?«

Der Junge starrte sie sprachlos an, und da fiel Kirsty auf, dass dieses Szenario noch viel demütigender war, als wenn sie von vornherein gegenüber Andrew eingelenkt hätte. Du hast den Mietwagen bezahlt und dann den Bus genommen? Sie sah Andrews Gesicht vor sich. Fassungslosigkeit gepaart mit absoluter Überlegenheit. Dagegen waren die tausend Pfund, die sie ihm nach diesem autofreien Trip schulden würde, ein regelrechter Klacks.

»Da wäre noch etwas …« Kirsty räusperte sich. »Könnten Sie vorher vielleicht noch schnell ein Foto von ihm und mir schießen?«

Hamish sah sich verdattert auf dem leeren Parkplatz um. »Von Ihnen und wem?«

»Ihm.« Kirsty zeigte auf den Wagen.

Der arme Junge kratzte sich verwirrt am Hinterkopf, und Kirsty fühlte sich gezwungen, ihm die Situation kurz zu erläutern: »Mein Freund zu Hause ist irgendwie genervt, weil ich meinen Führerschein nicht benutze, und er hat gewettet, ich würde auf dieser Reise kein einziges Mal Auto fahren, und die Sache ist ein bisschen hochgekocht …« Sie räusperte sich erneut. »Hamish, ich bin in einer Zwangslage. Ich brauche ein Beweisfoto.«

Plötzlich kam sie sich furchtbar schäbig vor. Sie war nicht nur eine Wettbetrügerin, sondern zog nun auch noch diesen unschuldigen Jungen mit hinein.

Doch bei Hamish war der Groschen gefallen, und er schien das Ganze kein bisschen schäbig zu finden. Er strahlte sie wieder mit seinem unwirklichen Teenagerlächeln an und meinte: »Keine Sorge, der Mann hat keine Chance. Ich bin immer im Gewinnerteam.«

Er verfrachtete den Papierstapel auf den Autorücksitz, ließ die Schlüssel in seiner Hosentasche verschwinden und streckte mit einem konspirativen Zwinkern die Hand aus. »Geben Sie mir Ihr Handy.«

Die Fotosession, die nun folgte, ließ keine Wünsche offen. Kirsty mit wehender Lockenpracht vor, neben, hinter dem Auto; Kirsty am Steuer, mit einem Bein im Kofferraum, ach, einfach überall. Nur nicht auf der Motorhaube, obgleich Hamish es ganz beiläufig vorschlug.

Dann mehrere Selfies: Hamish, Kirsty und Auto. Zuerst professionell mit ernster Miene, dann grinsend, dann prustend. Gefolgt von einem kurzen Video, in dem Hamish bestätigte, dass Kirsty in exakt diesem vollgetankten Wagen in wenigen Minuten den beschwerlichen Weg nach Tobermory antreten würde. Zuletzt ein weiteres Video, in dem er behauptete, sie befänden sich bereits in Tobermory und Kirsty habe die Strecke nicht nur gemeistert, sondern unterwegs auch noch einen Reifen gewechselt.

»Zu dick aufgetragen?«, fragte Hamish verschmitzt, als er ihr das Telefon zurückgab.

»Nein!«, rief Kirsty und umarmte ihn impulsiv. »Hamish, du bist der Beste!«

Er erwiderte die Umarmung noch ein bisschen impulsiver, und als Kirsty sich befreite, grinste er verwegen. Oh Mann, der hatte es faustdick hinter den Ohren. Jedes einzelne Mädchen auf dieser Insel war in Hamish vom Mietwagenverleih verknallt, so viel war sicher.

Hamish wollte kein Trinkgeld haben. Stattdessen rannte er mit Kirsty und ihrem Koffer zur Haltestelle, wo gerade der harmlose rote Bus einfuhr. Als sie zutiefst erleichtert hineingehüpft war, drehte sie sich noch einmal zu ihm um, und Hamish sagte winkend: »Grüß Maisie von mir.«

Kirsty sah ihn perplex an. »Wen?«

Doch bevor er antworten konnte, schlossen sich die Bustüren hinter ihr.

2

In der festen Überzeugung, dem sicheren Tod in einem Autowrack entkommen zu sein, genoss Kirsty jede Sekunde in dem freundlichen Bus, der sie über das Küstensträßchen nach Tobermory brachte. Es war Frühling, und die Insel blühte. Doch nichts war so bunt wie die roten, blauen, gelben und pinken Häuschen, die am Hafen von Tobermory um die Wette strahlten. Von Weitem wirkte der Ort, der kaum tausend Einwohner hatte, als wäre er einem Comicfilm entsprungen: eine Perlenkette aus Häusern in allen Farben des Regenbogens, mittendrin eine verwitterte graue Kirche, dahinter ein grün bewachsener Hügel unter wolkenlosem Himmel und im Vordergrund das Hafenbecken mit den Segelbooten, die im Wasser auf und ab wippten.

Kirsty war sicher, sie würde sich an diesem bunten Ort in eine Comicfigur verwandeln – in so eine mit Bauchmuskeln und Zauberkräften. Clay Woman. In Tobermory würden ihre Tonfiguren augenblicklich zum Leben erwachen. Artensterben? Nichts da! Clay Woman baut euch den Regenwald wieder auf! Oje. Das klang jetzt ein bisschen nach … Gott. Manchmal war es wirklich ein Glück, dass niemand ihre Gedanken hören konnte. Also, eigentlich immer.

Eine halbe Stunde später war das schöne Gottgefühl jedoch schon wieder verpufft. Gott kannte bestimmt keine Langeweile. Ganz im Gegensatz zu Kirsty. Warten war nicht ihr Ding. Sie wischte sich ihre Hände an der Papierserviette ab und sah auf die Uhr. Es war erst kurz vor sechs. Mit dem leckeren Backfisch hatte sie gerade einmal zehn Minuten totgeschlagen.

Sie und ihr Koffer waren vom Bus geradewegs auf den silbernen Fish & Chips Van zugesteuert, der am Hafenbecken vor sich hin duftete. Und nun war sie satt und immer noch zwei Stunden zu früh dran. Sie hatte Cailin Buchanan mitgeteilt, sie würde die späte Fähre nehmen und erst am Abend in Tobermory ankommen. In der Theorie war ihr das sehr umsichtig vorgekommen. Auf diese Weise würde sie nicht zu viel Zeit mit Grannys böser Nachbarin verbringen müssen und vorab das Örtchen erkunden können. Gegen acht Uhr würde die ältere Dame hoffentlich schon mit einem Bein im Bett stehen und ihr ohne viel Aufhebens den Schlüssel zu Grannys Haus aushändigen.

Aber nun wusste Kirsty nicht so recht, was sie mit diesen zwei überflüssigen Stunden anfangen sollte. Ihr lärmender Rollkoffer eignete sich nicht für Erkundungstouren, und außerdem baumelte das Haus ihrer Großmutter wie ein Würstchen vor ihrer Nase herum. Sie konnte es sehen. Es handelte sich um das Natursteinhaus mit den zwei Dachgauben und den holzvertäfelten türkisfarbenen Schaufenstern, die verträumt auf die Bucht von Tobermory blickten. Es war Teil der bunten Perlenkette am Hafen und wurde von einem niedrigen, knallgelben Häuschen mit pink gestrichenen Schaufenstern zur Linken und einem viergeschossigen, hellblauen Haus mit weißen Fensterläden zur Rechten flankiert. Kirsty war auf ihrem Weg zum Fish & Chips Van bereits daran vorbeigelaufen, doch sie hatte sich nicht getraut stehen zu bleiben. Das Risiko, dass Cailin Buchanan eine dieser Omas war, die mit ihrem Kopfkissen am Fenster saßen und nach Erbschleichern aus London Ausschau hielten, war einfach zu groß gewesen.

Allerdings war jetzt weit und breit keine Oma in Sicht. Und an einem Ort wie diesem, an dem die Welt noch in Ordnung war, wurden Haustürschlüssel bestimmt unter Blumentöpfen aufbewahrt … Kirsty spürte das vertraute Kribbeln, das sie bei wunderbaren Einfällen immer überkam. Genau aus diesem Grund hatte sie Andrew in London gelassen. Es machte einfach keinen Spaß, ihn bei einem Hausfriedensbruch dabeizuhaben. Obgleich das Haus ja irgendwie ihr gehörte …

Kirsty und ihr goldener Rollkoffer flanierten ziemlich laut, aber ansonsten überaus unauffällig am Hafenbecken entlang. Beim Überqueren der Straße trug sie den Koffer auf die altmodische Art und flüsterte ihm zu, er solle nicht so grell glitzern. Doch als sie bei Grannys Haus ankamen, hatte sich die Operation Blumentopf bereits erledigt. Die Ladentür stand sperrangelweit offen.

Sie blieb unschlüssig vor dem Laden stehen und gab vor, die Schaufenster zu besichtigen. Bis ihr auffiel, dass sie leer waren. Oh. Natürlich … Die Ladeninhaberin war gestorben. Was ihre Granny hier wohl verkauft hatte? Mode? Gemüse? Touristenquatsch? Der weiße Schriftzug auf der türkisfarbenen Wand über den Schaufenstern gab nichts preis. Dort stand nur: »Dee’s«.

Dee. Dee wie Dorothy. Ihr Name war so ziemlich das Einzige, was Kirsty über ihre Großmutter wusste: Dorothy Boyd. Womit hatte Dee ihren Lebensunterhalt verdient? Mit einer Bäckerei? Einem Schmuckladen? »Dee’s …« Jemand hatte das zweite Wort mit weißer Farbe überpinselt. Kirsty runzelte die Stirn. Wer tat so etwas? Und warum?

Gedankenverloren trat sie über die Türschwelle. In der Mitte des hellen Raumes standen drei leere Tische, und an den Wänden befanden sich mehrere ebenso leere Regale. Der einzige vorhandene Gegenstand war eine antike Registrierkasse, die mutterseelenallein auf einem Holztisch im hinteren Bereich des Ladens hockte.

Kirsty trat an den Holztisch und ließ andächtig ihre Finger über die verschnörkelten Blumengravuren in dem Messingkörper der Kasse gleiten. Vielleicht hatte ihre Granny dasselbe getan. Jeden Abend, bevor sie den Laden abgeschlossen hatte. Die hölzerne Kassenlade fühlte sich glatt an. Kirsty juckte es in den Fingern, an der Kurbel zu drehen, um hineinzuschauen, aber sie fürchtete das Kling. Warum hatte man den Laden leergeräumt und ausgerechnet dieses Schmuckstück, das bestimmt mehrere Tausend Pfund wert war, hier zurückgelassen?

Neben dem Holztisch an der Rückwand des Ladens befand sich eine Tür. Kirsty drückte die Klinke herunter. Abgeschlossen. Sie hielt inne und roch an ihrer Hand. Messing. Für einen Augenblick überlegte sie, auch noch an der Kasse zu schnuppern, doch sie riss sich zusammen. Sei nicht so schrullig. Andrews Worte.

Erst jetzt bemerkte sie eine Seitentür im vorderen Bereich des Ladens, die einen Spalt weit geöffnet war. Sie ging hindurch und stand in einem kleinen, fensterlosen Flur, der nur durch eine nackte Glühbirne beleuchtet wurde. Die steile Treppe zu ihrer Linken führte vermutlich in den Wohnbereich des Hauses. Man konnte den Flur auch von draußen durch die Haustür betreten, die sich zu Kirstys Rechter befand. Der Eingang durch den Laden war bestimmt Granny vorbehalten gewesen. Anständige Leute hätten vorne geklingelt. Plötzlich fühlte sich dieser Hausfriedensbruch tatsächlich ein wenig verboten an. Vielleicht färbten Andrews ewige Skrupel langsam auf sie ab.

Unentschlossen blieb Kirsty im Flur stehen und sah sich um. Neben der Haustür hingen fünf bronzene Garderobenhaken an der Wand. Bis auf eine gelbe Öljacke mit blau gefütterter Kapuze waren die Haken leer. Ob die Jacke ihrer Granny gehört hatte? Kirsty schluckte. Was war nur los mit ihr? Sie hatte die Frau nicht einmal gekannt … Eben. Sie fuhr sachte mit den Fingern über die glatte gelbe Beschichtung. Mehr davon. Sie wollte alles wissen. Was ihre Granny getragen, gelesen, gemacht und gedacht hatte. Wen sie geliebt hatte.

Leise stieg Kirsty die Holztreppe hinauf, die hier und da unter ihren Sneakers knarzte. Ein paar Stufen unterhalb der Tür zum Obergeschoss blieb sie abrupt stehen. Sie hörte Stimmen. Laut und deutlich.

»Habt ihr unten jetzt alles weggeräumt?«

Oh. Diese Stimme hätte Kirsty überall erkannt. Niemand hatte jemals so offen feindselig mit ihr gesprochen. Cailin Buchanan.

»Yep, nur die Kasse nicht«, antwortete eine andere Frauenstimme. »Wir hatten Angst, sie fallen zu lassen.«

»Das ist in Ordnung, die dürfte sie nicht interessieren«, meinte Cailin Buchanan. »Habt ihr hinten abgeschlossen?«

»Ja. Aber was machen wir, wenn sie fragt, ob sie einen Blick hineinwerfen kann?«

»Dann haben wir keinen Schlüssel, ist doch klar.«

»Das war richtig ätzend«, meldete sich eine dritte, helle Stimme zu Wort.

»Was?«, wollte Cailin wissen.

»Grannys Sachen wegzuräumen. Die gehören in die Schaufenster. Das war so, als hätten wir …« Die helle Stimme bebte. »Granny weggeräumt.«

»Ich weiß, Maisie«, seufzte Cailin. »Wir räumen alles sofort wieder nach vorne, sobald sie weg ist. Es ging wirklich nicht anders. Wenn die Granny Dees Werke sieht, kommt sie womöglich auf die fixe Idee, sich hier auszutoben. Stell dir mal vor, die eröffnet mitten in unserer Reihe eine Filiale ihres Londoner Schickimickishops und reißt hier oben Dees Wände heraus für einen Showroom und … und wer weiß was noch.«

Kirsty hielt die Luft an. Mit »die« war offenbar sie gemeint. Und Cailin Buchanan war alles, aber keine ältere Dame, die um acht Uhr abends schon mit einem Bein im Bett stand. Sie klang wie … wie ein voreingenommenes Landei, das Angst vor Veränderung hatte. Am liebsten wäre Kirsty mitten in die Unterhaltung geplatzt. Doch sie fühlte sich wie gelähmt. Und sie wollte wissen, was diese böse Frau noch über sie zu sagen hatte.

»Vielleicht ist sie ja gar nicht so schlimm«, wandte Maisie ein.

»Glaub mir, das ist sie«, entgegnete Cailin. »Jemand, der die süßeste Granny der Welt hat und sie nicht ein einziges Mal besucht, ist superschlimm. Zumal ihr die Reise jetzt plötzlich nicht mehr zu anstrengend war, nachdem Dee tot ist und das Erbe winkt.«

»Cailin hat recht«, meinte die dritte Stimme. »Das schreit nach Fisch.«

»Was?« Cailin und Maisie hatten gleichzeitig gesprochen.

»Fisch. Habt ihr schon mal diese cleveren Makler im Fernsehen gesehen? Die mit den coolen Luxusvillen?«

»Hailey, was hat das mit Fisch zu tun? Und du guckst Property Porn?«

Maisie kicherte, aber Hailey rief: »Das sind nützliche Sendungen! Wenn ich mein Haus mal verkaufen will, weiß ich, was zu tun ist. Kurz bevor die Interessenten eintreffen, schmeiße ich einfach Keksteig in den Backofen, und dann kriege ich den doppelten Preis.«

»Aber das Haus gehört deinen Eltern«, wandte Cailin ein.

»Ich weiß.« Kirsty konnte förmlich hören, wie Hailey mit den Augen rollte. »Was ich sagen wollte: Was ist das Gegenteil von Keksteig? Alter Fisch! Kapiert?«

Kirsty hörte ein Knistern und dann angewiderte Laute.

»Hailey, mach sofort die Tüte zu!«

Jetzt roch Kirsty es auch. Fischmüll.

Hailey lachte. »Nachher dürft ihr aber nicht so zimperlich sein. Die Tüte kommt unter die Spüle und wird bei Bedarf geöffnet.«

»Bei Bedarf?« Maisie klang nicht begeistert.

»Ja, falls sie es hier irgendwie gut findet.«

»Das wird sie nicht«, versicherte Cailin. »Ich habe oben seit Tagen alle Fenster geschlossen und die Heizung auf Maximum gedreht. Da riecht es auch ohne Fisch fies, und sie wird so was von schwitzen. Von dem Chaos da oben mal ganz abgesehen.«

»Was hast du gemacht?«, wollte Hailey wissen.

»Unordnung. Im großen Stil.«

»Aber nicht …«, keuchte Maisie.

»Nein, Maisie, nicht in der Küche. Hier unten ist alles wie immer. Aber sie will oben übernachten. Also habe ich die Matratzen mal zum Lüften an die Wände gestellt, damit sie die Wollmäuse unter den Betten sieht, und das Bettzeug ist jetzt ganz hinten in dem muffigen Schrank in der Abstellkammer, und im Bad habe ich den Duschvorhang entfernt und …«

»Wenn Granny das wüsste«, warf Maisie mit erstickter Stimme ein.

»Dee ist doch an diesem ganzen Blödsinn schuld.«

Maisie entfuhr ein entsetzter Laut. »So kannst du doch nicht über eine Tote sprechen!«

»Und ob ich das kann«, entgegnete Cailin. »Über Tote sollte man genauso sprechen wie über alle anderen Leute. Sonst sind sie so richtig tot, und das will ja wohl keiner. Dee hätte dir ihren Laden vermachen sollen. Schließlich warst du wie eine Enkelin für sie. Und ihre rechte Hand.«

»Aber ich bin doch erst siebzehn.«

»Und verdammt talentiert.«

»Nicht so talentiert wie sie.«

»Maisie, jetzt fall doch nicht auf Instagram herein.«

»Hast du dir ihre Sachen mal angesehen? Der Hammer. Granny fand sie auch total beeindruckend, vor allem ihren Regenwald aus ungebranntem Ton …«

Cailin machte ein verächtliches Geräusch. »Ich wette, diese Stadtpflanze hat noch nie einen Regenwald von innen gesehen. Und du … Du hättest uns ruhig mal eher was von Dees kleiner Obsession in Sachen Kirsty Woods erzählen können. Erst diese Geheimniskrämerei, und dann soll ich mich um den Nachlass kümmern. So ein Testament gehört verboten.«

»Sie hat es mir doch nur erzählt, weil sie Hilfe mit dem Internet brauchte«, erklärte Maisie kleinlaut. »Es sollte keiner wissen, dass Granny eine Stalkerin war … Oh nein! Hör auf damit, Cailin, deinetwegen komme ich in die Hölle!«

»Dann sind wir wenigstens wieder alle zusammen«, meinte Hailey unbekümmert. »Wo bleibt eigentlich Liv? Wir wollten doch noch die Strategie für die kommenden Tage besprechen.«

»Ich weiß nicht, ob sie mitmacht«, antwortete Cailin. »Sie will das erwachsen angehen.«

»Was heißt das?«

»Liv will sich auf keinen Fall an den nächtlichen Aktionen beteiligen. Und sie will diese Frau erst mal kennenlernen, bevor sie beschließt, sie zu hassen.«

Nächtliche Aktionen? Hass? Kirsty hatte Seitenstechen. Als wäre sie gerannt. Hastig griff sie nach dem Geländer. Sie musste sich hinsetzen. Doch dann würde das Holz knarzen. Sie wollte dringend weg von hier. Und sie würde nie wiederkommen – es sei denn, sie fand kein freies Hotelzimmer. Nein, dann würde sie eben draußen schlafen. Plötzlich sehnte sie sich nach Andrew. Oder vielmehr nach einem stinknormalen Urlaubstrip.

Sie drehte sich um und wäre vor Schreck beinahe auf der Stufe ausgerutscht. Am Fuße der Treppe stand eine Frau und starrte sie an. Kirsty öffnete den Mund, aber es kam kein Laut heraus.

»Sind Sie Kirsty?«, erkundigte sich die Frau leise.

Sie nickte stumm.

»Ich bin Liv.« Sie räusperte sich. »Olivia Greyfriars.«

Die drei Stimmen im oberen Stockwerk waren verstummt. Nichts regte sich – ausgenommen Olivia, die wie ein lautloser Geist in ihrem weißen Leinenkleid das Treppenhaus hinaufgeschwebt kam. Komplett ohne Knarzen. Sie war klein und zierlich, und ihr schmales Gesicht war blass, was durch ihre dunkelbraunen, kinnlangen Haare noch betont wurde. Vielleicht war sie tatsächlich ein Geist. Doch die Hand, die sie Kirsty nun entgegenstreckte, fühlte sich echt an. Kühl, aber echt.

Olivias dunkle Augen waren nicht kühl. Sie waren voller Mitgefühl, als sie sagte: »Es tut mir leid.«

Kirsty blinzelte perplex. »Entschuldigung?«

»Das mit Ihrer Granny«, erklärte Olivia. »Wollen wir reingehen?« Sie deutete auf die Tür, hinter der es immer noch totenstill war. Kirsty nickte wieder stumm und ging voran, durch das Tor zur Hölle.

Die Hölle war ein Flur.

Kirsty wunderte sich häufig darüber, wie randvoll ihr Gehirn war. Randvoll mit falschen Annahmen. Das hier war wieder so ein Fall. Ohne bewusst darüber nachzudenken, hatte sie sich die ganze Zeit vorgestellt, diese drei Hexen würden an einem Tisch sitzen. Stattdessen hockten sie auf dem nackten Fußboden. Sie saßen aufgereiht wie die Hühner auf der Stange unter einem kleinen Flurfenster, das auf den Hinterhof hinausschaute. Zwei von ihnen hatten Bierflaschen auf dem Schoß, und Maisie, die in der Mitte saß, hielt eine Colaflasche in der Hand. Sie sahen aus wie Bauarbeiter, die ihre Pause abhielten. Nur dass sie das glatte Gegenteil eines Bautrupps waren: ein Zerstörungskommando.

Für einen kurzen Moment fragte sich Kirsty, ob sie bei Maisie wieder so eine falsche Annahme getroffen hatte. Doch das war ausgeschlossen. Es gab nur eine Siebzehnjährige in diesem Raum, und zwar das Mädchen mit dem kastanienbraunen Pferdeschwanz, das sie aus erschrockenen grünen Augen anblickte – den größten Augen, die Kirsty je gesehen hatte. Sie fühlte sich wieder wie in einem Comic. Genauer gesagt, in einem Manga. Und dieses Mädchen im karierten Hemd war die Hauptfigur, daran bestand kein Zweifel. Kein Wunder, dass Hamish sie erwähnt hatte.

Was Cailin Buchanan anging, war die Sache schon kniffliger. Der Irrtum mit der mürrischen Oma war zwar vom Tisch – die beiden anderen Tanten auf dem Fußboden waren höchstens so um die dreißig. Aber wer von diesen beiden war denn nun Cailin Buchanan?

Keine von ihnen machte Anstalten, sich vorzustellen. Die ganze Bande schien unter Schock zu stehen. Sie saßen allesamt nur da und starrten Kirsty an. Und Kirsty starrte zurück. Sie nahm an, bei Cailin handelte es sich um die Gestylte in dem hellgrauen Hemdkleid. Sie hatte ihre endlosen Beine auf dem Dielenboden ausgestreckt, und unter ihrem Kleid trug sie die gleichen unverzichtbaren lila Leggins, die Kirsty in ihrem goldenen Koffer dabeihatte. Ihre roten Haare fielen wie ein schimmernder Vorhang über ihre Schultern und ließen auf einen geübten Umgang mit dem Glätteisen schließen. Auch das Gesicht mit den hohen Wangenknochen war mit dezentem Make-up perfekt in Szene gesetzt. Ja, dieses Hochglanzposter musste der Kopf der Bande sein.

Und Hailey – die mit dem alten Fisch – war das zerrupfte Wesen, das links von Maisie mit angewinkelten Beinen auf dem Boden herumlümmelte. Sie trug einen dunkelblauen Jumpsuit. Nein, es handelte sich schlicht um eine Latzhose, die mit verdächtigen weißen Farbkleksen bespritzt war. Bei genauem Hinsehen waren auch ein paar Tropfen Farbe auf ihre kurzen blonden Haare gekleckst. Ihre graublauen Augen, die Kirsty kühl fixierten, waren fast so groß wie Maisies. Klare Sache: In einem Manga für Erwachsene wäre sie die Heldin gewesen.

Olivia war neben Kirsty in den Flur getreten und fragte kopfschüttelnd: »Was macht ihr denn hier auf dem Boden?«

Das zerrupfte Wesen räusperte sich. »Maisie kann’s immer noch nicht.«

Oh. Wirklich? Die Bekleckste in der Latzhose war Cailin Buchanan.

Olivia seufzte und sah Maisie an. »Nicht einmal im Wohnzimmer? Da hat sie doch so selten gesessen.«

Maisie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz durch die Luft flog. »Ich setz mich hier nirgendwo hin und ihr auch nicht. Da liegen überall Kissen herum, auf denen noch ihr Poabdruck drauf ist. Die sind noch warm.«

»Wir können die Kissen doch woanders hinlegen«, schlug Olivia vor. »Ganz vorsichtig.«

Maisie ignorierte den Vorschlag und fixierte Kirsty. »Die Zimmer oben sind mir egal, da war ich nie. Aber hier unten lassen Sie bitte alles so, wie es ist, ja? Vor allem in der Küche. Nicht den Kessel anrühren. Den hat sie dort hingestellt.«

Kirsty schluckte. Schlagartig wurde ihr bewusst, was es Maisie gekostet haben musste, den Laden leerzuräumen. Unvermittelt fragte sie: »Aber warum hast ausgerechnet du im Laden alles weggeräumt?«

Cailin und Hailey warfen einander alarmierte Blicke zu, aber Maisie antwortete offenherzig: »Die anderen hätten mir da unten nur alles durcheinandergebracht. Der Laden war meine Sache, Granny saß ja meistens hinten im Atelier und hat …« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Sorry.«

Cailin zuckte mit den Achseln und meinte unverblümt, ohne Kirsty anzusehen: »Sie hat sowieso alles gehört.«

Olivia stemmte die Hände in die Hüften. »Sagt mal, wo sind eigentlich eure Manieren? Jetzt steht endlich auf und begrüßt Kirsty wie normale Menschen.«

Die Einzige, die der Aufforderung folgte, war Hailey. Trotz der hohen Absätze ihrer grauen Stiefeletten sprang sie mit katzenhafter Leichtigkeit vom Boden auf und reichte Kirsty die Hand. »Ich bin Hailey, und das nette Mädchen auf dem Fußboden ist meine Cousine Maisie. Also, eine meiner Cousinen. Wir sind die Camerons, uns gibt’s hier wie Sand am Meer, aber Maisie und ich gehören zum Unternehmen …«

»Hailey«, zischte Cailin. »Was soll das?«

Bevor Hailey sich für ihre Freundlichkeit entschuldigen konnte, klingelte Kirstys Telefon in ihrer Jackentasche. Hastig griff sie hinein und zog es hervor. Vielleicht handelte es sich ja um den langersehnten Rückruf ihrer Mum … Sie blinzelte. Auf dem Bildschirm erschien ihr eigenes lachendes Gesicht und das von …

»Ist das Hamish?«, platzte Hailey heraus, die neben ihr stand und neugierig auf das Display schaute.

Kirsty antwortete nicht, sondern nahm verdutzt den Anruf entgegen. »Ja?«

»Kirsty?«, rief Hamish.

»Hamish?« Sofort wünschte Kirsty, sie hätte das Klingeln ignoriert. Maisie war bereits bei der ersten Erwähnung seines Namens vom Boden aufgesprungen. Sie hatte genauso lange Beine wie ihre Cousine. Zwei Türme.

»Ich habe deine Nummer vom Verleih und wollte nur kurz hören, ob wir gewonnen haben!«

Musste der so schreien? Kirsty war sicher, dass alle ihn hören konnten.

»Oh … Ich hab’s Andrew noch nicht geschickt.«

»Oh Mann.« Hamish klang enttäuscht. »Aber das musst du machen! Nimm das Video mit dem platten Reifen!«

»Okay«, murmelte Kirsty.

»Erzählst du mir dann, ob er’s geschluckt hat?«

»Okay«, wiederholte sie tonlos.

Hamish zögerte. Offenbar war ihm ihre Einsilbigkeit aufgefallen. Schließlich fragte er unsicher: »Bist du sauer, weil ich meine Nummer auf deinem Handy gespeichert habe? Tut mir leid, vorhin kam mir das irgendwie lustig vor, mit den Selfies und allem …«

»Nein, Hamish, ich bin nicht sauer.«

Seltsamerweise traf das zu. Ob unverschämt oder nicht – Hamish war ihr einziger Freund auf dieser blöden Insel. Am liebsten hätte sie noch hinzugefügt, dass es schön war, seine Stimme zu hören. Aber Maisies mörderischer Blick hielt sie davon ab.

»Hast du Maisie schon von mir gegrüßt?«

»Sie steht neben mir. Willst du sie sprechen?«

»Oh, ach so …« Jetzt stammelte Hamish. »Nee, lass mal. Wir hören uns!«

Und weg war er. Kirsty war wieder allein. Mit vier misstrauischen Augenpaaren.

»Schöne Grüße von Hamish«, sagte sie an Maisie gewandt.

Maisies Katzenaugen verengten sich zu Schlitzen. »Woher kennen Sie Hamish?«

»Vom Mietwagenverleih. Und anscheinend hat er gewusst, dass ich zu Dees Haus wollte und dich hier treffen würde.«

»Ich habe ihm von Ihnen erzählt«, warf Cailin ein, die als Einzige immer noch auf dem Fußboden saß.

»Weil er die Bremsen am Mietwagen manipulieren sollte?«, entfuhr es Kirsty.

»Genau deshalb«, konterte sie trocken.

»Und was hat es mit dem Video auf sich, von dem Hamish gesprochen hat?«, wollte Hailey wissen.

Aus irgendeinem Grund hatte Kirsty das Bedürfnis, ihnen zu zeigen, was für eine harmlose Angelegenheit das Ganze war. Diese Bande hielt sie bereits für die Zicke aus London, die ihre Granny nie besucht hatte. Und nun war sie in ihren Augen auch noch die teenagerfressende Hexe. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Kirsty öffnete die Foto-App auf ihrem Telefon und drückte es der verblüfften Maisie in die Hand.

Nun sprang auch Cailin vom Boden auf. Selbst Olivia trat näher und reckte ein wenig den Hals. Die vier Freundinnen scharten sich um Kirstys Telefon. Kirsty lehnte abseits im Türrahmen und hörte, wie Hamish ihre vermeintlichen Fahrkünste anpries. Als sie dort stand und die verwirrten Gesichter der anderen beobachtete, wurde ihr plötzlich bewusst, dass dies ein Fehler gewesen war.

Sie hatten ihr Telefon.

Maisie hatte ihr Telefon. Als das erste Video zu Ende war, tippte sie unvermittelt auf das zweite. Danach betrachteten sie die peinliche Fotoserie von Kirsty mit dem Mietwagen. Und die Selfies mit Hamish. Wie das aussehen musste … Sie wollte »Das reicht!« rufen, aber irgendwie brachte sie es nicht über die Lippen. Sie stand nur da und ließ es geschehen.

Irgendwann sagte Cailin ihren Satz: »Das reicht.«

Sie nahm Maisie das Telefon aus der Hand und gab es Kirsty zurück.

»Was war das?«, wollte Cailin wissen. »Ist Ihnen klar, dass Hamish erst achtzehn ist? Er geht in Maisies Klasse.«

Die vier Augenpaare waren wieder auf Kirsty gerichtet. Und zu ihrem Entsetzen begann sie, ihnen ihr Autoproblem und die Wette mit Andrew von A bis Z zu erläutern. Sie konnte nicht anders. Sie wollte so sehr nicht die teenagerfressende Hexe aus London sein. Zu sehr. Sie verhaspelte sich in jedem Satz, und irgendwie klangen ihre Worte völlig verrückt. Wie sollte sie diesen Leuten in wenigen Sätzen Andrew erklären? Die provozierende Art, wie er stichelte. Seine Verachtung für die Kunst, die fast jedem Streit zugrunde lag und der wahre Grund war, weshalb Kirsty nicht hatte nachgeben können. Künstler können sehr wohl Auto fahren. Wir sind lebensfähig. Und lebenswichtig. Wie sollte sie so etwas hier und jetzt auf den Punkt bringen? Es ging nicht.

Als sie geendet hatte, entstand eine kurze Pause. Dann stellte Cailin fest: »Hamish hat Ihnen also dabei geholfen, Ihren Freund zu belügen und die tausend Pfund zu gewinnen.«

Kirsty schluckte. Wenn man es so ausdrückte … Sie sah in die Runde. Selbst die milde Olivia warf ihr einen skeptischen Blick zu.

»Da Sie gerade so fleißig beim Geldverdienen sind«, fuhr Cailin fort, »habe ich einen Vorschlag für Sie. Ich mache Ihnen einen guten Preis für das Haus, und Sie steigen morgen früh wieder in den Bus und fahren zurück in Ihr schönes London mit der bequemen Tube und Ihrem wahnsinnig sympathischen Freund und allem. Außerdem können Sie Ihrer Mutter, die mich nicht zurückruft, ausrichten, sie braucht mir nur ihre Kontoverbindung mitzuteilen. Dann erhält sie zu gegebener Zeit ihren Pflichtteil.«

Kirsty legte den Kopf schief und musterte Cailin Buchanan. Kein Wunder, dass ihre Granny diese Frau mit der Abwicklung des Nachlasses betraut hatte. In dem beklecksten Blaumann steckte eine knallharte Geschäftsfrau. Und zwar eine, die es auf Grannys Haus abgesehen hatte.

Na warte. Ihr wollt die Zicke aus London? Kein Problem.

»Einverstanden«, erwiderte Kirsty mit ihrer geschäftlichen Stimme, die immer ein bisschen aufgesetzt klang. »Für eine Million Pfund können Sie das Haus haben.«

»Eine Million? Lady, Sie sind hier nicht in London.«

»In London würde dieses Haus mindestens das Dreifache kosten, meine Liebe«, entgegnete Kirsty kühl. »Vielleicht hätten Sie vorher auch mal ein bisschen Property Porn schauen sollen, so wie Ihre Freundin hier.«

Hailey errötete und warf einen verstohlenen Blick auf die Tüte mit dem Fischmüll, die unter dem Fenster an der Wand lehnte und auf ihren Einsatz wartete.

»Vielleicht sehen Sie sich das Haus erst mal an, bevor Sie hier über Preise reden.« Cailins Geschäftsstimme klang nicht halb so aufgesetzt wie Kirstys.

»Nichts lieber als das«, meinte Kirsty. »Zuerst hätte ich gern den abgeschlossenen Raum hinter dem Laden gesehen. Grannys Atelier, wie ich annehme.« Sie sah in die Runde. »Und kommt mir jetzt nicht mit dem verlorenen Schlüssel, ich bin nicht von gestern.«

3

Das Wort, das Cailin an der Ladenfront mit weißer Farbe überpinselt hatte, lautete ganz offenkundig: »Pottery«.Dee’s Pottery. Granny war eine Kollegin gewesen. Nach Maisies Bemerkungen über ihren Instagram-Account und Grannys Atelier hatte Kirsty es bereits geahnt, aber es mit eigenen Augen zu sehen, verschlug ihr buchstäblich den Atem. Beim Betreten des Ateliers hatte Kirsty das Gefühl, sich hinsetzen zu müssen. Schon zum zweiten Mal heute. Und diesmal tat sie es. Zum Glück wusste sie es besser, als sich auf einen der beiden gepolsterten Stühle oder – Gott bewahre – auf Grannys Töpferhocker fallen zu lassen. Stattdessen ließ sie sich auf den staubigen Dielenboden sinken, direkt vor das Regal mit den Sake-Bechern. Gerade noch rechtzeitig.

Für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen. Es war ihr unbegreiflich, warum sie so heftig auf das Ganze reagierte. Andrew würde sagen: Das tust du doch immer. Doch das hier war kein Kollaps wegen einer toten Maus bei den Mülltonnen. Auch kein zu lauter Schluchzer im Kino. So ein herkömmlicher Gefühlsausbruch wäre ihr jetzt vergleichsweise willkommen gewesen. Aber für normale Gefühlsausbrüche brauchte man … Luft.

Wahrscheinlich hatte sie irgendwie gekeucht. Jedenfalls schien Cailin kurz vergessen zu haben, dass Kirsty der Feind war, und stürmte davon, um ihr aus der Küche eine Tüte zum Hineinatmen zu besorgen. Unterdessen schnappte Maisie sich eine Keramiktasse aus einem der vollgestopften Regale und holte Wasser an dem Waschbecken, das neben der Tür an der Wand hing. Sie kniete sich neben Kirsty auf den Boden und hielt ihr die Tasse hin. Kirsty nahm sie dankbar entgegen und trank einen Schluck. Die Tasse saß wie ein kleiner brauner Spatz in ihrer Hand und fühlte sich stumpf an. Fast wie Naturstein. Innen war sie mit einer hellgrauen Glasur versehen. Verstohlen fuhr Kirsty mit der Zunge über den Tassenrand. Das Innere und das Äußere fühlten sich unterschiedlich an. Wie im wahren Leben …

Als sie aufblickte, bemerkte sie, wie Maisie sie beobachtete. Sie waren allein. Cailin war noch nicht zurückgekehrt, und Hailey und Olivia waren oben geblieben, um »das Schlafzimmer herzurichten«. Was auch immer das bedeutete. Kirsty hatte das unbestimmte Gefühl, als wäre Maisie froh über die Abwesenheit der anderen. In ihrem Blick lag etwas Erwartungsvolles.

»Geht es wieder?«, erkundigte sie sich fast schüchtern.

»Ja, danke«, murmelte Kirsty. »Es ist nur … Das hier haut mich um.«

Sie zeigte vage auf den japanischen Traum, der sie umgab. Eine schlichte Töpferwerkstatt hätte vermutlich schon gereicht, um sie aus der Bahn zu werfen, aber das hier … Hätte sie heute Nachmittag nicht die Highlands mit ihren Burgruinen und dem spiegelglatten Loch Lomond an ihrem Zugfenster vorbeiziehen sehen, hätte sie geglaubt, sich in Japan zu befinden. Oder in einem Atelier in London. Jedenfalls nicht hier, im schottischen Nirgendwo.

Bei den unzähligen Schalen und Schälchen, Tellern und Platten, Tassen, Bechern, Vasen, Teekannen und Sake-Sets, die sich auf den Regalen und Tischen in Grannys Atelier türmten, handelte es sich größtenteils um … feinste japanische Handwerkskunst. Kirsty konnte es einfach nicht fassen. Sie kannte sich ein bisschen mit japanischer Keramik aus. Das war eine Kunst für sich, die sie schon seit Langem faszinierte. Vor ein paar Jahren war sie mit Fiona nach Japan gereist und hatte gleich mehrere Präfekturen abgeklappert, um so viel wie möglich über die japanischen Öfen zu lernen. Und Grannys Atelier erinnerte sie an eine japanische Töpferwerkstatt. Wie konnte das sein? Hatte ihre Granny diese Stücke etwa importiert?

»Ich komme mir vor, als wäre ich in Tokoname«, sagte Kirsty wie zu sich selbst, während sie Maisies Beispiel folgte und sich langsam vom Fußboden erhob.

Gerade wollte sie hinzufügen, dass Tokoname eine Stadt in Japan mit einer fast tausend Jahre alten Keramiktradition war, als Maisie leise meinte: »Da wollten Granny und ich im nächsten Jahr hin. Sie wollte mir alles zeigen.«

Sie sah erstaunt auf. »War sie nicht zu krank dazu?«

»Krank?« Maisie klang ebenso erstaunt. »Granny war nicht krank.«

Kirsty seufzte innerlich. Falsche Annahmen. Wie wurde sie diese miese Angewohnheit nur los?

»Aber woran ist sie denn dann gestorben?«, fragte sie und fühlte sich im selben Moment schrecklich. Sie war tatsächlich die Erbschleicherin aus London. Besichtigte das Haus und wusste nicht einmal, woran ihre Großmutter gestorben war. Sie hatte Cailin nicht danach gefragt. Zugegeben, die beiden Telefonate waren nicht gerade ein Spaziergang gewesen. Und sie hatten jeweils kaum fünf Minuten gedauert. Cailin hatte sie nur darüber informiert, dass ihre Granny keine Beerdigung gewollt hatte. Asche zu Asche und fertig. Sie hatte ausschließlich über die Tote gesprochen. Ihr Testament. Das Erbe. Das Leben vor dem Tod war kein Thema gewesen.

Kirsty konnte Cailin jedoch keinen Vorwurf machen. Nicht sie war es gewesen, die ihr den lebendigen Teil ihrer Großmutter vorenthalten hatte. Ihre Mum war der Bösewicht. Fiona, die angeblich aus Glasgow stammte und ihre Eltern lange vor Kirstys Geburt verloren hatte. Anfangs hatte sie sich gewünscht, dass es sich einfach um eine Verwechslung handelte. Cailin hatte die falsche Kirsty Woods erwischt, und Fiona war keine Lügnerin. Ihre Mum hätte nur ans Telefon gehen und sagen müssen: Kirsty, das ist eine Verwechslung. Dann wäre sie niemals auf diese Insel gekommen. Aber Fionas Schweigen kam einem Geständnis gleich. Und dieses Atelier … Dieses Atelier war wie das gefürchtete Ergebnis eines Omaschaftstests. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind Enkelin!

Endlich begriff Kirsty, warum ihr die Luft weggeblieben war: Granny Dee war tatsächlich ihre Großmutter. Und das bedeutete zwangsläufig, dass irgendetwas Fundamentales mit ihrer Familie nicht stimmte – etwas, wogegen die Scheidung ihrer Eltern eine Nichtigkeit war.

Maisie riss sie aus ihren Gedanken. »Sie hatte einen Autounfall.«

Kirstys Augen weiteten sich. Oh nein. Da war sie nichtsahnend hier hereingetrampelt und hatte der armen Maisie nach zwei Minuten einen Stapel Bilder in die Hand gedrückt, auf denen sie mit einem Auto posierte. Und an die Autowette und Hamish mochte sie gar nicht denken. Es war ein Wunder, dass Maisie überhaupt noch mit ihr sprach.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Maisie besorgt.

»Nein, überhaupt nicht«, platzte Kirsty heraus. »Ich kann nicht fassen, dass ich euch diese bescheuerten Fotos mit dem Mietwagen gezeigt habe.«