Schuld, die nicht vergeht - Kurt Schrimm - E-Book

Schuld, die nicht vergeht E-Book

Kurt Schrimm

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Beschreibung

»Gerechtigkeit gibt es nicht - wir können nur versuchen, noch so viele wie möglich zu kriegen.«

Ohne sie wäre das Vernichtungssystem nicht möglich gewesen: die KZ-Aufseher, Wachleute, Buchhalter, Helfer — die kleinen Rädchen im großen Mordgetriebe.
Ohne ihn wären sie nie zur Verantwortung gezogen worden: Kurt Schrimm, Staatsanwalt und langjähriger Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen. Sein halbes Leben hat er der Aufgabe gewidmet, NS-Verbrecher wie Josef Schwammberger, Alfons Götzfrid oder John Demjanjuk vor Gericht zu bringen.
Jetzt berichtet Schrimm, wie er den Tätern auf die Spur kam, und erzählt von den bewegenden Begegnungen mit KZ-Überlebenden, die er als Zeugen befragt hat. Und es wird unabweislich klar, warum es auch über 70 Jahre nach dem Ende des NS-Staats notwendig ist, jeden einzelnen dieser Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

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Ein halbes Jahr nachdem Deutschland kapituliert hatte, begannen am 20. November 1945 die Nürnberger Prozesse. Auf der Anklagebank: die Hauptkriegsverbrecher, Männer wie Hermann Göring und Alfred Rosenberg. Die große Masse der Übrigen wurde von der Justiz jahrzehntelang nicht zur Rechenschaft gezogen, manche wurden gar begnadigt, manche konnten untertauchen, einige lebten unauffällig weiter, als wäre nichts geschehen – die letzten überlebenden Täter sind bis heute auf freiem Fuß.

Der Staatsanwalt und langjährige Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Kurt Schrimm, hat erstmals systematisch die kleinen Rädchen im großen Mordgetriebe ins Visier genommen, ohne die das ganze Vernichtungssystem nicht funktioniert hätte.

Sein halbes Leben hat er der Aufgabe gewidmet, die Rolle dieser Täter ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, sie aufzuspüren und zur Verantwortung zu ziehen. Er erhielt weltweit Zugang zu Archiven, führte zahllose Gespräche mit Überlebenden und Zeitzeugen und ging vor allem in Osteuropa und Südamerika, wohin sich einige der Mörder und Mordgehilfen nach Kriegsende abgesetzt hatten, neuen Hinweisen nach.

Eindrucksvoll schildert er die Suche nach den letzten lebenden NS-Verbrechern, erzählt von seinen größten Fällen, berichtet von Erfolgen und Misserfolgen und setzt sich mit der Frage auseinander, ob es bei der Verfolgung von NS-Verbrechen überhaupt Gerechtigkeit geben kann.

Ein spannendes Stück Zeitgeschichte, ein Plädoyer für den Kampf gegen das Vergessen.

Kurt Schrimm, geboren 1949 in Stuttgart, studierte Rechtswissenschaften und war seit 1979 im Justizdienst des Landes tätig, zunächst als Staatsanwalt in Stuttgart. Ab 1982 war er im Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart für Verfahren wegen Mordes im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zuständig. Ende September 2000 wurde ihm die Leitung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg übertragen. Kurt Schrimm, inzwischen im Ruhestand, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Er wurde mit dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.

KURT SCHRIMM

SCHULD,

DIE NICHT

VERGEHT

DEN LETZTEN

NS-VERBRECHERN

AUF DER SPUR

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Originalausgabe 10/2017 Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Anja Freckmann Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von ullstein bild – Reuters/Enrique Marcarian Sat

Für meine Eltern Werner und Hildegard Schrimm und meine Frau Brigitte Schrimm, die mir mein Zweitstudium und damit meinen Wunschberuf ermöglichten.

INHALT

PROLOG

1. KAPITEL

VORSTELLUNG DES AUTORS

2. KAPITEL

WARUM WERDEN MEHR ALS SIEBZIG JAHRE NACH ENDE DES NATIONALSOZIALISMUS NOCH IMMER NS-VERBRECHER GESUCHT?

3. KAPITEL

ERMITTLUNGEN FRÜHER UND HEUTE

4. KAPITEL

GRÖSSTE ERFOLGE

Josef Schwammberger

Julius V.

Alfons Götzfrid

John Demjanjuk

5. KAPITEL

GRÖSSTE MISSERFOLGE

6. KAPITEL

GIBT ES DEN TYPISCHEN NS-VERBRECHER?

7. KAPITEL

SCHWIERIGKEITEN BEI DER WAHRHEITSFINDUNG

8. KAPITEL

GIBT ES BEI DER VERFOLGUNG VON NS-VERBRECHERN GERECHTIGKEIT?

9. KAPITEL

KANN UNSERE ARBEIT DAZU BEITRAGEN, KÜNFTIG VERBRECHEN GLEICHER ODER ÄHNLICHER ART ZU VERHINDERN?

FAZIT

ANHANG

ANMERKUNGEN

LITERATURAUSWAHL

PROLOG

Es war wahrscheinlich schon die dreißigste Vernehmung in diesem Ermittlungsverfahren, dennoch lag wie immer eine gewisse Spannung in der Luft, als wir an einem heißen Julitag des Jahres 1989 im 27. Stock in den Räumlichkeiten des Generalkonsulats in der 57. Straße in New York auf eine Zeugin warteten. Wir, das waren der stellvertretende Generalkonsul, der die Vernehmung leiten sollte, Rechtsanwalt König als Verteidiger des noch in Argentinien inhaftierten Beschuldigten Josef Schwammberger, der Dolmetscher, der außer Englisch, Deutsch und Polnisch auch Jiddisch beherrschte, und ich als ermittlungsführender Staatsanwalt. Vielleicht war die Spannung sogar noch etwas größer als sonst, denn aus den Vorakten wussten wir, dass die ältere Dame, auf die wir warteten, nicht nur Augenzeugin schrecklicher Verbrechen gewesen war, sondern bei der Auflösung des Arbeitsghettos der polnischen Stadt Przemyśl durch die SS im September 1943 ihre gesamte Familie, elf Geschwister und die Eltern, zum letzten Mal gesehen hatte. Mehrere Tausend Menschen – niemand weiß die genaue Zahl – wurden an jenem Tag entweder an Ort und Stelle erschossen oder in verschiedene Lager verbracht, aus denen sie nicht mehr zurückkehrten.

Wie würde die Zeugin reagieren, wenn sie Einzelheiten darüber erfuhr, wer wir waren und was wir wollten? Würde die 72-Jährige sich noch erinnern? Würde sie überhaupt mit uns sprechen wollen? Würde sie sich weigern, das über Jahrzehnte hinweg verdrängte Geschehen noch einmal zu rekapitulieren und sich damit all das Schreckliche noch einmal zu vergegenwärtigen? Solche und weitere Reaktionen hatte ich anlässlich früherer Zeugenvernehmungen bereits erlebt, und oftmals musste ich, unterstützt vom einfühlsamen Dolmetscher, meine ganze Überredungskunst aufwenden, um den anfangs misstrauischen Zeugen zu einer Aussage zu bewegen.

Begonnen hatten die Vernehmungen etwa achtzehn Monate zuvor, nachdem Schwammberger, der als ehemaliger Ghettokommandant in die meisten der dort begangenen Verbrechen verwickelt war, nach jahrzehntelanger Suche im November 1987 festgenommen worden war. Seither befand er sich in Buenos Aires in Haft, da die Gerichte über die beantragte Auslieferung nach Deutschland noch nicht abschließend entschieden hatten. Schon kurz nach seiner Festnahme hatte ich begonnen, die Anklage vorzubereiten, indem ich nach und nach die Zeuginnen und Zeugen vernahm, die seinerzeit schon bekannt waren. Da die Zeugen die wichtigsten Beweismittel waren, hatte ich mir vorgenommen, sie alle selbst zu hören, um ihre Aussage richtig einschätzen zu können. Dies sollte sich als ein sehr ehrgeiziges Ziel herausstellen, da zahlreiche Zeugen Hinweise auf früher nicht bekannte Überlebende gaben und sich etliche von ihnen nach Aufrufen in jüdischen Medien, insbesondere in den Vereinigten Staaten und Kanada, auch bei mir meldeten. Ich musste sehr schnell lernen, dass sich diese Vernehmungen völlig anders gestalteten als bei Ermittlungen in aktuellen Strafverfahren. Aufgrund der langen Zeit zwischen dem Tatgeschehen und der Vernehmung und aufgrund des manchmal schon hohen Alters des Gegenübers musste ich zunächst möglichst behutsam in Erfahrung bringen, ob der Zeuge überhaupt in der Lage war, taugliche Aussagen zu tätigen. Dies geschah häufig auch dadurch, dass ich den Betreffenden nach Einzelheiten aus seiner Vergangenheit fragte, die mir aus den Akten bekannt waren. Viele reagierten darauf mit Empörung und der Frage, ob sie hier denn der oder die Angeklagte seien. Oftmals konnte mir in dieser Situation der Dolmetscher helfen, der als Landsmann und Glaubensgenosse der aus Polen stammenden Juden leichter in der Lage war, deren Vertrauen zu erwerben.

So warteten wir gespannt auf die Aussage dieser Zeugin, die für mich so wichtig war, weil es die Rolle Schwammbergers bei der Deportation aufzuklären galt. Es erschien pünktlich eine ihrem Alter entsprechend aussehende Frau, die von der Phalanx von vier ihr gegenübersitzenden Männern zunächst sichtlich beeindruckt war. Auf die Frage, in welcher Sprache – Polnisch, Jiddisch, Englisch – sie sich äußern wollte, entschied sie sich für letztere. Auf die weitere Frage, ob sie wisse, weshalb man sie hergebeten habe, antwortete sie sinngemäß: »Nicht so genau.« Der stellvertretende Generalkonsul klärte sie darüber auf, dass es sich um ein deutsches Strafverfahren handle, bei dem sie als Zeugin zu einem noch zu schildernden Geschehen aussagen solle, dass man als Vernehmungsort New York gewählt habe, um ihr – zunächst – eine Reise nach Deutschland zu ersparen und dass sie jederzeit die Vernehmung abbrechen und nach Hause gehen könne. Nachdem sie sich zur Aussage bereit erklärt hatte, übernahm ich die Verhandlungsleitung, klärte sie darüber auf, gegen wen, nämlich Schwammberger, ich ermittelte, was das Ziel dieser Ermittlungen war, nämlich eine Anklage, und welche Rolle ich als Staatsanwalt in diesem Verfahren spielte. Die Antwort bestand zunächst in einem langen, langen Schweigen. Es war unübersehbar, dass es in der Dame heftig arbeitete. Schon fürchtete ich, dass sie sich als Zeugin verweigern würde. Aber schließlich gab sie mir eine Antwort, die mich wie kaum eine andere beeindruckte und für meine weitere Arbeit prägte: »Auf den Tag, dass sich ein offizieller Vertreter des deutschen Staates bei mir meldet und sich für das interessiert, was in jenen Tagen geschehen ist, habe ich über vierzig Jahre gewartet. Ich habe meine Geschichte meinen Kindern und meinen Enkelkindern erzählt, aber das ist nicht dasselbe. Ich hatte Angst, dass sich in Deutschland niemand mehr für unser Schicksal interessiert. Aber nun sind Sie hier und wollen mir zuhören. Das ist alles, was ich will. Es ist mir egal, ob Sie den Schwammberger einsperren oder nicht. Ich kann jetzt ruhig sterben.«

Diese Antwort machte mir klar, dass meine Arbeit auch dann einen Sinn hat, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommt.

KAPITEL 1

VORSTELLUNG DES AUTORS

»Wir fliegen ja im Herbst zusammen nach Israel und in die USA, um dort Zeugen zu vernehmen.«

Mit diesen Worten begrüßte mich der Vorsitzende Richter der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Stuttgart Dr. Neumaier im Sommer 1982 im Flur des Gerichtsgebäudes. Ich war damals Richter an einer Jugendkammer und beabsichtigte, im September zur Staatsanwaltschaft Stuttgart zurückzukehren, wo ich 1979 meine juristische Laufbahn bei der baden-württembergischen Justiz begonnen hatte. Mein Ziel war es, Staatsanwalt auf Lebenszeit zu werden. Unabdingbare Voraussetzung hierfür war es, vor der Ernennung für mindestens ein Jahr als Richter tätig gewesen zu sein.

Von dieser Ankündigung völlig überrascht, erklärte ich Dr. Neumaier, dies müsse ein Irrtum sein, ich wisse nichts von einer solchen Reise, geschweige denn von der angedeuteten Verwendung meiner Person nach der Rückkehr zur Staatsanwaltschaft. Mit einem Lächeln erwiderte der Richter, er selbst habe sich beim Leitenden Oberstaatsanwalt erkundigt und zur Antwort erhalten, ich sei als Nachfolger für den ausscheidenden Staatsanwalt mit der Zuständigkeit für nationalsozialistische Gewaltverbrechen vorgesehen. Dieser habe am Ende seiner Amtszeit noch Anklage gegen einen ehemaligen Aufseher des Konzentrationslagers Auschwitz wegen mehrfachen Mordes erhoben. Der Prozess stehe zur Verhandlung an und es müssten zunächst in den genannten Ländern noch Zeugen vernommen werden, die aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage seien, vor dem Gericht in Stuttgart zu erscheinen.

So erfuhr ich aus heiterem Himmel von der Entscheidung meiner Vorgesetzten, die meinen beruflichen Werdegang wesentlich, mein Privatleben nicht unerheblich beeinflussen sollte. Ich war zwar von jeher an der Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert, hätte es mir jedoch niemals träumen lassen, dass ich einmal von Berufs wegen an der Erforschung und Aufklärung eines Teilabschnitts dieser Geschichte mitwirken würde.

Noch kurz vor dem Abitur hatte ich noch keine richtige Vorstellung davon gehabt, in welche Richtung sich mein weiterer Werdegang entwickeln sollte. Weniger aus Überzeugung als mangels Alternative folgte ich dem Vorschlag meines Vaters, beim Finanzamt eine dreijährige Ausbildung zum Steuerinspekteur zu absolvieren, um danach vielleicht ein Studium der Volkswirtschaft aufzunehmen, möglicherweise mit dem Ziel, mich später als Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer niederzulassen. Von Anfang an machte mir das angeblich so trockene Steuerrecht großen Spaß, und ich habe meine Entscheidung nicht einen Tag bereut. Allerdings verlor ich nie das Ziel eines an die Ausbildung anschließenden Studiums aus den Augen. Die Freude am Rechtskundeunterricht, der Teil der Ausbildung war, bewog mich jedoch, nicht wie geplant Volkswirtschaft, sondern stattdessen Rechtswissenschaften zu studieren. Mein neues Ziel war nunmehr, nach Abschluss des Studiums in den höheren Finanzdienst einzutreten. Noch während der Studienzeit jedoch entwickelte sich bei mir mehr und mehr eine Neigung zum Strafrecht. Nachdem ich dann als Rechtsreferendar eine viermonatige praktische Ausbildung bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart durchlaufen hatte, war mir klar: Der endgültige Berufswunsch heißt Staatsanwalt. So überraschte ich dann meine Familie mit der Ankündigung, mich nicht für den höheren Finanzdienst, sondern für den höheren Justizdienst bewerben zu wollen.

Meine Freude war daher groß, als ich bei der Einstellung erfuhr, dass ich zunächst der Staatsanwaltschaft Stuttgart und dort der Abteilung 1 zugewiesen werden würde. Die Tätigkeit in dieser Abteilung war allgemein begehrt. Sie galt als spannend, weil sie für Mord, Totschlag und andere Kapitalverbrechen zuständig war. Dort verbrachte ich zwei äußerst interessante Jahre, weshalb ich der Abordnung zum Landgericht Stuttgart für ein Jahr nur ungern gefolgt war.

Die überraschende Neuigkeit von meiner zukünftigen Zuständigkeit für NS-Gewaltverbrechen vernahm ich daher mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Einerseits erfüllte sich mein Wunsch nach Rückkehr zur Staatsanwaltschaft Stuttgart, andererseits konnte ich aufgrund der neuen Zuständigkeit meine frühere Tätigkeit nur eingeschränkt ausüben. Als ich meinen Abteilungsleiter hierauf ansprach, gab er mir eine Antwort, in der sich ein grundlegender Irrtum widerspiegelt, ein Irrtum, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Verfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen zieht: »Machen Sie diese Arbeit getrost, in drei, vier Jahren redet hierüber sowieso niemand mehr!«

Mit Hochdruck begann ich, mich in die Anklage und damit auch in die für mich bis dahin völlig fremde Materie einzuarbeiten. Diese Art von Verbrechen hatte mit dem, was wir an der Universität gelernt hatten, und mit dem, womit ich bisher als Richter oder Staatsanwalt befasst gewesen war, nichts gemeinsam. Ich wusste aus dem dürftigen Schulunterricht und aus der Presseberichterstattung über frühere Prozesse lediglich, dass Auschwitz ein Massenvernichtungslager gewesen war. Nähere Einzelheiten zur Errichtung der Konzentrationslager im Allgemeinen und des Lagers Auschwitz im Besonderen, zur Organisation, zum Lagerbetrieb und vor allem zu den dort begangenen Massentötungen musste ich mir in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit aneignen. Einerseits erfüllte mich die Tatsache, dass man mir als einem in der Materie völlig unerfahrenen Staatsanwalt diese Aufgabe anvertraute, mit Stolz. Andererseits erschreckte mich diese Aufgabe aber auch, da ich nicht wusste, ob ich in der Lage sein würde, mir das erforderliche Wissen zu erarbeiten.

Dies umso mehr, als der Angeklagte von einem Rechtsanwalt verteidigt wurde, der über große Erfahrung verfügte und als einer der besten in Stuttgart und darüber hinaus galt.

Zu meinem Glück beschäftigte sich die von meinem Vorgänger verfasste Anklageschrift, wie in NS-Verfahren üblich, ausführlich nicht nur mit dem Tatvorwurf als solchem, sondern auch mit der Geschichte der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der Juden während des Naziregimes, mit der Entstehungsgeschichte der Konzentrationslager und der Verantwortlichkeit für das dortige Geschehen. Im Verlauf meiner weiteren Prozessvorbereitung hatte ich auch erstmals Kontakte mit der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, kurz: Zentrale Stelle, mit Sitz in Ludwigsburg. Von meinem Abteilungsleiter erfuhr ich, dass diese Stelle 1958 von den Justizministern der damals elf Bundesländer gegründet worden war. Sie hatte – und hat – die Aufgabe, in all denen Fällen, in denen der Verdacht einer nationalsozialistisch motivierten Straftat bestand, selbstständig zu ermitteln und das Verfahren dann an eine Staatsanwaltschaft abzugeben. Nur diese konnte dann entscheiden, ob Anklage zu erheben oder das Verfahren einzustellen war.

Gleich nach meinem erneuten Dienstantritt bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart suchte ich die Kollegen (Kolleginnen gab es noch nicht) in Ludwigsburg auf, um eine erste Anleitung für die Bearbeitung der einschlägigen Fälle zu bekommen. Als ich das von einer hohen Mauer umgebene Gebäude betrat – es handelte sich um ein ehemaliges Frauengefängnis –, wäre mir niemals der Gedanke gekommen, dass ich diese Dienststelle einmal fünfzehn Jahre lang leiten würde.

Wichtigster Bestandteil der Anklage war natürlich der Tatvorwurf. Bei dem Angeklagten handelte es sich um den damals 66 Jahre alten Karl Wilhelm Pöllmann, der zuletzt als Hausmeister in einer Möbelfabrik tätig gewesen war. Am Tag seiner Versetzung in den Ruhestand wurde er festgenommen und befand sich seither in Untersuchungshaft.

Der Vorwurf lautete auf Mord in drei Fällen. Laut Anklage war Pöllmann von Frühjahr 1943 bis zum 18. Januar 1945 ein sogenannter Kommandoführer in Auschwitz. Auschwitz war zwar das größte Vernichtungslager des Naziregimes, daneben jedoch auch ein riesiges Arbeitslager für diejenigen Häftlinge, die bei der Ankunft noch arbeitsfähig waren. Unter anderem gehörten zum Lager ausgedehnte landwirtschaftliche Versuchsflächen, auf denen Pflanzen gezüchtet wurden, die dem raueren Klima in den eroberten Ostgebieten angepasst sein sollten. Bewirtschaftet wurden die Flächen von Häftlingen, die täglich in Gruppen von jeweils 50–100 Personen am Lagereingang abgeholt, zum Arbeitsplatz geleitet, dort bewacht und schließlich am Abend zurückgebracht wurden, sogenannte Arbeitskommandos. Die Verantwortlichen wurden Kommandoführer genannt, die Bewachung bestand aus drei bis fünf bewaffneten Wachsoldaten. Weder der Kommandoführer noch die Angehörigen der Begleitmannschaft durften das Lager selbst betreten. An einem nicht mehr genau benannten Tag im Februar/März 1944 sollte der Beschuldigte als Führer des »Arbeitskommandos 7«, dem zu diesem Zeitpunkt 30–40 weibliche jüdische Häftlinge angehörten, auf dem Rückweg von Straßenbauarbeiten auf dem Gebiet des Konzentrationslagers Auschwitz und dem ehemaligen Wirtschaftshof Budy eine etwa 20-jährige Jüdin mit seiner Pistole erschossen haben, nur weil sie sich aus der Reihe gestellt und sich gebückt hatte, um sich die Schuhe zu richten. Danach sollte er dem jüdischen Häftling Chaim Grünberg befohlen haben, »den Haufen« aus dem Weg zu räumen. Weiter warf die Anklage Pöllmann vor, an einem Spätnachmittag im Sommer 1944 den etwa 19-jährigen polnisch-jüdischen Häftling Zwi Hirsch und einen weiteren etwa 24-jährigen Mann auf einem bei Auschwitz gelegenen Feld willkürlich und eigenmächtig aus Freude am Töten mit seiner Pistole durch Genickschuss getötet zu haben.

Je näher der Gerichtstermin rückte, umso mehr beschäftigte mich die Frage, was für ein Mensch denn dieser Angeklagte wohl war. Ich war im Umgang mit Mördern nicht unerfahren, hatte ich doch schon vor meiner Abordnung zum Landgericht mehrere Mordfälle bearbeitet und die Anklage vor dem Schwurgericht vertreten. So zum Beispiel gegen den 21-jährigen Jimmy S., der in einem Stuttgarter Freibad an einem Abend kurz vor Beendigung des Badebetriebs in die Damen-Umkleidekabinen eindrang, dort eine ebenfalls 21-jährige Frau erwürgte und sich danach an der Leiche sexuell verging. Oder der Fall von zwei Mitgliedern eines Einbrechertrios, die versuchten, ihren Komplizen vom Balkon im vierten Stock eines Wohnhauses zu stürzen, weil er gedroht hatte, sie alle auffliegen zu lassen. Nachdem der erste Versuch misslungen war, ertränkten sie ihn kurzerhand im Neckar. Oder die beiden Auftragsmörder, die im Auftrag eines Zuhälters eine für diesen tätige Prostituierte erschossen, weil sie versucht hatte, ihn mit ihrem Wissen um seine Rauschgiftgeschäfte zu erpressen. Und da waren die drei Italiener – wie es sich später herausstellte Mitglieder der ’Ndrangheta – die in einem illegalen Spielklub zwei Personen erschossen, die sich ihrem Vorhaben, Anteile am Klub zu erwerben, widersetzt hatten.

Die Pöllmann vorgeworfenen Taten hatten mit diesen Verbrechen nichts gemein. Hier hatte ich es mit einem Mann zu tun, der ins Räderwerk einer Mordmaschinerie bisher nicht gekannten Ausmaßes integriert gewesen war und – so die Anklage – seine Machtstellung dazu ausgenutzt hatte, willkürlich Menschen zu erschießen, wohl wissend, dass er hierfür nicht zur Verantwortung gezogen würde.

Ich hatte nicht die geringsten Zweifel daran, dass Pöllmann schuldig war. Die Anklage stützte sich auf zahlreiche Zeugen, die nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager Auschwitz nicht in ihre ursprüngliche Heimat, nämlich Thessaloniki in Griechenland, zurückgekehrt waren. Einige wenige waren nach Nordamerika ausgewandert, die meisten jedoch nach Israel. Die dort noch lebenden Zeugen waren während des Ermittlungsverfahrens von der dort für NS-Verbrechen zuständigen Polizei, teilweise in Anwesenheit von Beamten des Landeskriminalamts Baden-Württemberg und meines Vorgängers, vernommen worden. Nach ihren übereinstimmenden Aussagen konnten keine Zweifel daran bestehen, dass er der Täter war. Es fanden sich auch nirgendwo Hinweise darauf, dass es möglicherweise noch weitere Zeugen gab, die noch nicht vernommen worden waren.

Pöllmann selbst, so erfuhr ich aus den Akten, beteuerte verzweifelt seine Unschuld. Ja, so sein Einwand, er sei Kommandoführer in Auschwitz gewesen und habe über mehrere Monate hinweg griechische Frauen zur Arbeit und zurück zum Lager geleitet. Aber niemals habe er eine dieser Frauen erschossen oder sonst irgendwie getötet. Das Ganze müsse vielmehr eine Verwechslung sein. Einen solchen Vorfall habe es nämlich tatsächlich gegeben. Täter sei allerdings ein anderer Kommandoführer mit ähnlich klingendem Namen gewesen, der später an die Front versetzt worden und dort gefallen sei. Die Zeugen, allesamt der deutschen Sprache nicht mächtig, seien nicht in der Lage, die lautmalerisch täuschend ähnlichen Namen zu unterscheiden. Die Überprüfung diese Aussage im Ermittlungsverfahren hatte ergeben, dass der von Pöllmann genannte Kommandoführer tatsächlich in Auschwitz gewesen und von der Ostfront nicht zurückgekehrt war. Da die übrigen Beweise jedoch erdrückend erschienen, gingen Polizei und Staatsanwaltschaft davon aus, dass es sich bei dieser Erklärung des Tatverdächtigen um den üblichen Versuch handelte, die Schuld einem Toten in die Schuhe zu schieben. Außer Pöllmann selbst schien nur einer von seiner Unschuld überzeugt zu sein: sein Verteidiger Rechtsanwalt Dieter König. Schon anlässlich der ersten Kontaktaufnahme erklärte er mir, er glaube seinem Mandanten die Geschichte mit der Namensverwechslung und werde versuchen, dies in der Verhandlung zu beweisen. Schon damals stand Rechtsanwalt König in dem Ruf eines ausgezeichneten, grundsoliden Verteidigers. Ich kannte ihn zu dieser Zeit noch nicht gut genug, um zu wissen, dass hinter seiner Aussage seine volle Überzeugung steckte. Später kam ich zu der Überzeugung, dass er niemals einen Mandanten als unschuldig bezeichnen würde, wenn er selbst Zweifel daran hätte. Deshalb hielt ich seine Versuche, die Glaubwürdigkeit der Zeugen infrage zu stellen, für das bloße Taktieren eines engagierten Rechtsanwalts.

Nur wenige Tage nach meiner Rückkehr zur Staatsanwaltschaft traten wir die von Dr. Neumaier angekündigte Dienstreise nach New York an. Die Kollegen waren natürlich längst informiert, und so wurde ich bei meinem Dienstantritt in der alten und zugleich neuen Dienststelle teilweise beglückwünscht, teilweise aber auch bedauert. Beglückwünscht zu dem Umstand, dass einem Staatsanwalt, zumal einem jungen Staatsanwalt, die Gelegenheit geboten wurde, auf Staatskosten in die USA und nach Israel zu reisen. Bedauert von denjenigen Kollegen und Kolleginnen, die das aufregende Geschäft des aktuellen Tötungsdelikts mit all seinen Begleiterscheinungen wie Anwesenheit am Tatort oder Leichenfundort, Teilnahme an Beschuldigten- oder Zeugenvernehmungen sowie polizeilichen Einsatzbesprechungen, Durchsuchungen von Wohnungen und Vorführung eines Beschuldigten beim Haftrichter als Höhepunkte staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit ansahen. Sie konnten es sich nicht vorstellen, eine Tätigkeit auszuüben, die viel Bürokratie und schon damals wenig Erfolg versprach. Auch ich hatte anfangs durchaus ein ambivalentes Gefühl gehabt, aber bereits nach wenigen Tagen der Beschäftigung mit der neuen Materie begriff ich, dass ich hier die Chance hatte, eine Arbeit zu verrichten, die zwar vorrangig die Strafverfolgung mit dem Ziel der späteren Bestrafung des Täters anstrebte, gleichzeitig aber der historischen Aufklärung eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte diente.

Selbstverständlich fieberte ich den Reisen entgegen. New York, Jerusalem, Städte, die für mich in meiner Jugendzeit weit, weit außerhalb des Erreichbaren schienen. Als ich das erste Mal in Jerusalem aus dem Bus ausstieg, konnte ich es kaum fassen, dass ich mich nun im Mittelpunkt des Landes befand, in welchem Römer, Juden, Araber und Christen so zahlreich ihre Spuren hinterlassen hatten. Ebenso erging es mir in New York, als ich vom Flugzeug aus erstmals im Original die weltbekannte Skyline von Manhattan sah, von der Stadt, die in meinem Englischbuch als melting pot bezeichnet worden war. Jede Attraktion sog ich gierig auf, nicht ahnend, dass diese faszinierende Stadt im Laufe meiner Dienstzeit noch 27-mal Ziel meiner Reisen sein würde.

Nachdem die Zeugenvernehmungen abgeschlossen waren, begann – in meinen Augen endlich – die Gerichtsverhandlung. Der Schwurgerichtssaal war bis auf den letzten Platz besetzt, die Presse hatte den Prozess in großer Aufmachung angekündigt. Als der Angeklagte hereingeführt wurde, empfand ich zunächst eine Mischung aus Überraschung und Enttäuschung. Mir gegenüber saß ein einfach gekleideter Mann mit kurzen, grauen Haaren und tiefen Falten. Mit seinen hochgezogenen Schultern und seinem Blick, der geradezu hektisch zwischen den Zuhörern und mir hin- und herwanderte, sah er wesentlich älter aus als 66 Jahre. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er Angst hatte vor dem, was auf ihn zukommen sollte.

Natürlich hatte ich keinen Angeklagten erwartet, dem man die Brutalität von Weitem ansehen würde, aber dieser Mann entsprach so gar nicht der Vorstellung, die man sich von einem Mitglied der größten Tötungsmaschinerie der Geschichte macht. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war ich genauso aufgeregt wie der Angeklagte. Zwar war ich nicht unerfahren in Schwurgerichten, aber ich war mir durchaus bewusst, dass dieser Prozess nicht nur lokales Interesse erwecken, sondern in der gesamten Bundesrepublik, in den USA und vor allem auch in Israel akribisch mitverfolgt werden würde. Gott sei Dank wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die Anklage in sich zusammenbrechen und am Ende ein Freispruch des Angeklagten stehen würde. Nach diesem Freispruch nahm ich mir vor, niemals in einem NS-Verfahren eine Anklage zu erheben, wenn ich nicht zuvor alle maßgeblichen Zeugen selbst vernommen und auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft hatte. Als ich später – der Not gehorchend – ein einziges Mal gegen diesen Grundsatz verstieß, war die Gerichtsverhandlung prompt ein erneuter Misserfolg. Aber dies sowie der weitere Verlauf des Verfahrens gegen Pöllmann werden Gegenstand des fünften Kapitels sein.

Nach dem Abschluss des Verfahrens gegen Pöllmann kehrte bei mir mehr oder weniger der staatsanwaltliche Alltag ein. Zwar gab es noch zahlreiche weitere NS-Ermittlungsverfahren, doch diese waren unspektakulär, eine erneute Anklage oder gar Gerichtsverhandlung war nicht in Sicht. Ich konnte wieder gelegentlich ein »normales« Tötungsdelikt bearbeiten, hinzu kamen Verfahren gegen Polizeibeamte und Anzeigen im Zusammenhang mit Großereignissen, so zum Beispiel die in den 1980er-Jahren häufig stattfindenden gewalttätigen Demonstrationen und Kasernenblockaden. Schon nach wenigen Jahren avancierte ich zum stellvertretenden Abteilungsleiter, da mein Vorgänger zum Oberstaatsanwalt befördert wurde und ich zu diesem Zeitpunkt das dienstälteste Abteilungsmitglied war.

Im Jahr 1987 wendete sich das Blatt erneut. Völlig überraschend war in Argentinien der Aufenthaltsort des über Jahrzehnte hinweg gesuchten ehemaligen Ghettokommandanten Josef Schwammberger verraten und er selbst festgenommen worden. Bis zu seiner späteren Verurteilung durch das Landgericht Stuttgart am 18. Mai 1991 sollte dieser Fall den absoluten Mittelpunkt meiner beruflichen Tätigkeit mit vielen Höhen und Tiefen darstellen. Auch hierauf werde ich später noch ausführlich eingehen.

Während der gesamten Zeit blieb ich zusätzlich stellvertretender Abteilungsleiter, auch dann noch, als ich 1992 zum Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stuttgart ernannt wurde. Dieses Amt übte ich beinahe fünf Jahre lang aus, es gehört zu den interessantesten, das eine Großstadtstaatsanwaltschaft am Sitz der Landesregierung zu bieten hat. Der Pressesprecher, der dem Behördenleiter direkt unterstellt ist und diesen insoweit eigenverantwortlich vertritt, ist, zumindest im Idealfall, über alle wichtigen Vorgänge in der Behörde informiert. Es ist aber auch ein Amt mit vielen Risiken, das Erfahrung und Fingerspitzengefühl verlangt. Ein falsches Wort zur falschen Zeit – vor allem in Angelegenheiten mit politischem Bezug – kann weitreichende Folgen für die Behörde, den Behördenleiter, gar für den vorgesetzten Minister und nicht zuletzt auch für den Pressesprecher selbst haben. Es gelang mir, diese Hürde ohne größere Unfälle zu nehmen mit der Folge, dass ich 1997 zum kommissarischen, 1998 zum etatmäßigen Leiter einer anderen Abteilung ernannt und zum Oberstaatsanwalt befördert wurde. In diese Zeit fielen zwei weitere NS-Prozesse vor den Landgerichten Stuttgart und Ravensburg, bei denen ich die Anklage verfasste und vertrat. Auf sie werde ich an anderer Stelle näher eingehen.

Als im Jahr 2000 die Position des Leiters der Zentralen Stelle neu zu besetzen war, kam es mir nicht in den Sinn, dass die Wahl hierbei auf mich fallen könnte. Es war in der Vergangenheit üblich gewesen, dass beim Ausscheiden des Chefs sein bisheriger ständiger Vertreter in dieses Amt nachrückte. Nahezu alle, darunter auch die örtliche Presse, glaubten, dass es auch dieses Mal so sein würde. Überraschend wählte das Ministerium jedoch einen anderen Weg.

Das Kriegsende lag 55 Jahre zurück, und niemand wusste mehr so richtig, wie es mit der Verfolgung von NS-Verbrechern und damit auch der Existenz der Zentralen Stelle weitergehen sollte. Bei der Entscheidungsfindung spielten auch neue Gedanken, neue Ideen eine Rolle, und deshalb verfiel man auf den Gedanken, mich als quasi Externen an die Spitze der Behörde zu berufen.

Wie schon 1982, als man mich bei der Staatsanwaltschaft zum Sachbearbeiter für NS-Verbrechen kürte, war meine Freude über diese Ehre nicht ganz ungetrübt. Das Auftreten im Gerichtssaal, der Schlagabtausch mit den Verteidigern, die enge Zusammenarbeit mit der Polizei, dies alles war bis zu diesem Zeitpunkt für mich untrennbar mit der Tätigkeit eines Staatsanwalts verbunden. Darauf würde ich über Jahre hinweg verzichten müssen, da die Zentrale Stelle ja ihre Fälle nicht selbst vor Gericht vertreten durfte. Auf der anderen Seite schlägt man die angebotene Stelle eines Behördenleiters, die mit viel Vertrauensvorschuss und neuen Herausforderungen verbunden ist, ohne triftigen Grund selbstverständlich nicht aus. Zumal ich – wieder einmal – davon ausging, dass die Arbeit der Zentralen Stelle in wenigen Jahren beendet sein und ich an meine Heimatdienststelle, die Staatsanwaltschaft Stuttgart, zurückkehren würde. Es kam zwar ganz anders, aber im Nachhinein betrachtet habe ich keinen Grund, meine Entscheidung zu bereuen. Dies umso mehr, als die Leitung der Zentralen Stelle mir im Jahr 2009 die Beförderung zum Leitenden Oberstaatsanwalt einbrachte.

An die Stelle der oben geschilderten reizvollen Aufgaben eines Staatsanwalts traten andere. Ich wurde als Leiter der Ludwigsburger Behörde mehr und mehr ein gefragter und geschätzter Ansprechpartner für verschiedene Institutionen und Medien. Ich erhielt Einladungen zu Vorträgen und Diskussionsrunden von Universitäten, Parteien, Stiftungen, Kirchen und wissenschaftlich orientierten Gruppierungen. Anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Gründung der Zentralen Stelle besuchten nicht nur der damals amtierende Bundespräsident Horst Köhler, sondern auch führende Köpfe aus Politik und Wissenschaft die Festveranstaltung. Sie kamen aus dem Inland, aus den USA, aus Österreich, den Niederlanden und Polen. Auf unseren Dienstreisen wurden wir von den Botschaften der Bundesrepublik in Washington, Santiago de Chile, Montevideo, Moskau und Athen sowie von zahlreichen Generalkonsuln empfangen. Als Argentinien die nach der Diktatur erlassenen Amnestiegesetze aufhob, wurden der frühere Bundespräsident Joachim Gauck und ich gebeten, junge argentinische Staatsanwälte mit Vorträgen in der Verfolgung lange zurückliegender Straftaten zu schulen. Aus vielen zunächst dienstlich bedingten Kontakten im In- und Ausland wurden Freundschaften. Auch den jahrzehntelangen Kontakt mit den vielen jungen Menschen, vor allem Schülern und Studenten, möchte ich keinesfalls missen.

Dies alles hat mich über die Tatsache, kein »richtiger« Staatsanwalt mehr zu sein, mehr als hinweggetröstet.

KAPITEL 2

WARUM WERDEN MEHR ALS SIEBZIG JAHRE NACH ENDE DES NATIONALSOZIALISMUS NOCH IMMER NS-VERBRECHER GESUCHT?

Zwei Fragen werden mir am häufigsten gestellt: Warum werden siebzig Jahre nach Kriegsende immer noch Nazi-Verbrecher gesucht? Welchen Sinn hat es, alte, gebrechliche Männer und Frauen zu verfolgen, die auf der Krankentrage in den Gerichtssaal gebracht werden und dabei auch noch Mitleid erwecken?

Um es vorweg zu betonen: Rechtlich betrachtet ist die Antwort einfach. Im deutschen Strafrecht kann es sich der Staatsanwalt nicht aussuchen, welche Straftaten er verfolgt und welche nicht. Die einschlägigen Gesetze, nämlich das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung, schreiben dies genau vor, einen Ermessensspielraum gibt es nicht. Einem Mordvorwurf muss die Staatsanwaltschaft immer nachgehen, ob es ihr gefällt oder nicht. Gleiches gilt für das Gericht. Ist es von der Schuld eines Angeklagten überzeugt, muss es ihn verurteilen. Ausnahmen hiervon gibt es nur im Bereich der Kleinkriminalität, die bei unserem Thema jedoch keine Rolle spielt. Es geht hier also lediglich darum, ob eine Strafverfolgung auch heute noch ethisch und moralisch vertretbar und wünschenswert ist.

In vielen Fällen verstecken sich hinter den oben gestellten Fragen auch Vorwürfe, die da lauten: Warum habt ihr euch nicht früher ernsthaft um eine effektive Strafverfolgung bemüht? Wäre es nicht höchste Zeit, damit aufzuhören, jetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem schon aus Altersgründen nur noch diejenigen verfolgt werden können, die am unteren Ende der Befehlskette standen? Nicht selten wird der Vorwurf formuliert, man habe es in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts aus welchen Gründen auch immer versäumt, die Gräueltaten, die während der Naziherrschaft begangen worden waren, mit dem nötigen Nachdruck zu verfolgen. Um auf diesen Vorwurf einzugehen, ist es nötig, zunächst die Geschichte der Strafverfolgung der NS-Verbrechen zu betrachten und einige grundlegende Zahlen zu nennen.

Niemand kann auch nur annähernd sagen, und das gilt auch für die Zukunft, wie viele Täter und wie viele Opfer es während der Naziherrschaft gab. Die immensen Schwierigkeiten des Versuchs einer Eingrenzung beginnen schon bei der Definition der Tat. Nach Schätzungen forderte der Zweite Weltkrieg 50–60 Millionen Tote. Hinzu kommen Abermillionen anderer Straftaten wie Körperverletzungen oder Freiheitsberaubungen. Wie viele dieser Toten kamen durch Verbrechen um, wie viele durch nach Kriegsrecht »legale« Tötungen? Wie viele Opfer wurden von Deutschen oder auf deutschen Befehl umgebracht und wie viele durch ausländische Täter? Über die Frage der sogenannten »legalen« Tötung gehen die Rechtsmeinungen weit auseinander. Während ein Teil der Strafjuristen und Völkerrechtler der Auffassung ist, die Tötung von Partisanen und die Erschießung von Geiseln sei unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich zulässig gewesen, lehnen andere jede Art von Legitimation rundweg ab. Je nachdem, welcher Meinung man sich anschließt, kommt man zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Niemand weiß, wie viel Unrecht überhaupt begangen wurde. Ich bin überzeugt, dass eine große Zahl der im Krieg begangenen Verbrechen nicht nur nicht aufgeklärt, sondern niemals auch nur bekannt wurde.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass in vielen Punkten heute eine andere Rechtsauffassung vertreten wird als noch vor einigen Jahrzehnten. So ging man etwa aufgrund eines Urteils des Bundesgerichtshofs seit den 1970er-Jahren davon aus, dass ein Angehöriger einer KZ-Wachmannschaft nur dann wegen Beihilfe zum Mord bestraft werden kann, wenn er in irgendeiner Form direkt an der Tötung eines Menschen beteiligt war, beispielsweise durch Selektion an der Rampe oder durch Einleitung von Giftgas in die Gaskammern. Im Verfahren gegen John Demjanjuk vertrat die Zentrale Stelle erstmals die Auffassung, dass jeder, der in irgendeiner Form zum Funktionieren der Todesmaschinerie in einem Konzentrationslager beigetragen hatte, als Mordgehilfe anzusehen ist. Das Schwurgericht München und zwischenzeitlich auch andere Landgerichte haben sich dieser Rechtsmeinung angeschlossen. Aufgrund der ursprünglichen Rechtsprechung entgingen allein circa 6 000 ehemalige Aufseher im Konzentrationslager Auschwitz einer Bestrafung. Die mir so oft gestellte Frage: Wie viele Täter laufen heute, nach siebzig Jahren, noch frei herum?, kann somit nicht einmal auf dem Wege der Schätzung beantwortet werden.

Schon während des Krieges, als sich der spätere Sieg abzeichnete, stellten die Alliierten, allen voran die USA, Großbritannien und die Sowjetunion, Überlegungen darüber an, wie die von den Deutschen begangenen Verbrechen geahndet werden könnten. Nach kontrovers geführten Debatten einigte man sich schließlich auf die strafrechtliche Variante, das heißt, die Täter sollten gerichtlich abgeurteilt werden. Mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Besatzungsmächte kam die öffentliche deutsche Verwaltung zunächst völlig zum Erliegen. Alle Gesetze, die nationalsozialistisches Gedankengut beinhalteten, wurden aufgehoben und die deutschen Gerichte bis zur Genehmigung ihrer Wiedereröffnung geschlossen. Noch mitten im Krieg waren die Alliierten übereingekommen, die Beseitigung des Nationalsozialismus und die Bestrafung seiner Machthaber nach Kriegsende in eigene Regie zu nehmen. Nach dem Willen der drei im Kampf gegen Deutschland verbündeten Großmächte USA, Großbritannien und UdSSR sollten die an den NS- und Kriegsverbrechen Beteiligten von den Gerichten der Staaten abgeurteilt werden, auf deren Territorium sie die Verbrechen begangen hatten. Ausgenommen wurden die Hauptkriegsverbrecher, deren Taten sich nicht auf einen geografisch eingrenzbaren Bereich beschränkt hatten; sie sollten aufgrund einer gemeinsamen Entscheidung der Regierungen der alliierten Mächte bestraft werden. So kam es, nachdem Frankreich in den Kreis der Siegermächte aufgenommen worden war, am 20. November 1945 zum Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg. Der ursprüngliche Plan der Alliierten, weitere Prozesse vor diesem Tribunal gegen solche Personen zu führen, die während der Zeit des Nationalsozialismus leitende Stellungen in Deutschland innehatten, wurde danach fallen gelassen. Man kam überein, dass künftige Aburteilungen von den Gerichten der jeweiligen Besatzungsmächte vorgenommen werden sollten. In der Folgezeit fanden vor dem amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg bis Mitte 1949 zwölf große Prozesse statt, unter anderem der sogenannte Ärzteprozess, der sogenannte Juristenprozess und der sogenannte Einsatzgruppenprozess. Insgesamt wurden vor amerikanischen Militärgerichten Prozesse gegen 5 238 Personen geführt, von denen 2051 verurteilt wurden. Britische Militärgerichte führten nicht nur in der britischen Besatzungszone, sondern auch im Ausland, so in Italien und den Niederlanden, Strafverfahren gegen deutsche Staatsangehörige. Insgesamt wurden 4 492 Personen angeklagt und 1 564 verurteilt. Die Gesamtzahl der von Militärgerichten in der französischen Besatzungszone angeklagten Personen beträgt 2 912. Verurteilt wurden von diesen Gerichten 2 107 Angeklagte.

Hinsichtlich des Umfangs der von sowjetischen Gerichten gegen Deutsche geführten Strafprozesse liegen keine zuverlässigen Informationen vor. Mit Sicherheit darf jedoch davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Verurteilten um ein Vielfaches höher liegt als die Zahl der von Gerichten der westlichen Besatzungsmächte verurteilten Personen zusammengenommen. Unbekannt ist auch die relativ große Zahl der in Jugoslawien verurteilten Deutschen. In Polen wurden laut eigenen Angaben in der Zeit von 1944 bis 1977 insgesamt 5358 Personen deutscher Nationalität wegen Beteiligung an NS-Verbrechen verurteilt.

In Belgien, Dänemark, Luxemburg und den Niederlanden kamen nach nicht amtlichen Schätzungen circa 500 Personen vor Gericht. In einer von den DDR-Behörden im Januar 1965 herausgegebenen Broschüre wurden in einer Statistik für die Zeit von 1945 bis 1964 insgesamt 12 807 Verurteilungen durch Gerichte der DDR vermeldet. Volksgerichte in Österreich, die bei den Oberlandesgerichten Wien, Graz und Innsbruck eingerichtet waren, verurteilten von Ende 1945 bis Ende 1955 insgesamt 13 607 Personen.

Für die deutschen Gerichte wurden in jüngsten Forschungen folgende Zahlen festgestellt: Seit 1945 wurden 36 393 Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen eingeleitet, die sich gegen 172 294 namentlich bekannte Personen richteten. Angeklagt wurden 16 740 Personen, verurteilt 6 656.

Die obengenannten Zahlen erheben nach meiner Auffassung weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Richtigkeit. Sie beruhen nicht auf einer einheitlichen, kontinuierlich fortgeschriebenen Statistik, sie stützen sich vielmehr auf zahlreiche – zwar sorgfältig recherchierte – Quellen, die jedoch teilweise lückenhaft sind. Es scheint aber festzustehen, dass es eher mehr Verbrechen als weniger waren. Ich nenne diese Zahlen hier an dieser Stelle, um zu untersuchen, ob der Vorwurf, die deutsche Justiz habe bei der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen »kläglich versagt«, zutrifft. So etwa äußerte sich Bundesjustizminister Heiko Maas, ein Mann also, der kraft seines Amtes mit überragender Sachkompetenz in Verbindung gebracht wird, in der Sonntagabend-Talkshow Günther Jauch im Jahr 2015. Die Zahlen zeigen, dass bereits Zehntausende, darunter alle ermittelten und noch lebenden Haupttäter von ausländischen Gerichten verurteilt worden waren, als der deutschen Justiz am 1. Januar 1950 die alleinige Verantwortung für die Weiterverfolgung von NS-Tätern übertragen wurde. Wer uns heute den Vorwurf macht, wir würden nur noch untergeordnete Täter verfolgen, übersieht, dass es die Hauptverantwortlichen schon aus Altersgründen seit Jahrzehnten nicht mehr gibt.

In den ersten beiden Jahrzehnten nach Kriegsende wurden objektiv folgenschwere Fehler gemacht, auf deren Gründe ich nachfolgend eingehen werde. Aber haben die Deutschen deshalb »kläglich versagt«?

Nicht nur in der Bundesrepublik, nahezu in der gesamten westlichen Hemisphäre machte sich zu Beginn der 1950er-Jahre zunehmend eine Schlussstrichmentalität breit.

Die politische Gesamtlage hatte sich grundlegend verändert. An die Stelle der großen Allianz gegen Deutschland waren zwei Machtblöcke getreten, ein westlicher, bestehend vor allem aus den ehemaligen Westalliierten und der Bundesrepublik, und ein östlicher, bestehend aus der Sowjetunion und ihren Vasallenstaaten. Um die Bundesrepublik nachhaltig in das Bündnis zu integrieren, politisch, wirtschaftlich und später auch militärisch, ließ man gegenüber dem ehemaligen Feind Milde walten. Dies kam nicht zuletzt auch verurteilten NS-Verbrechern zugute. Zahlreiche zunächst zum Tode Verurteilte waren in den späten 1940er-Jahren zunächst zu lebenslanger Freiheitsstrafe begnadigt, wenige Jahre später aus der Haft entlassen worden. Nach 1954 saßen nur noch wenige Täter im Gefängnis.

Nach dem 1955 geschlossenen Überleitungsvertrag war es den bundesdeutschen Ermittlungsbehörden verwehrt, die von den Alliierten vor Gericht gestellten Täter erneut anzuklagen, auch wenn sie sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht hatten. Mit dieser Regelung sollte verhindert werden, dass deutsche Gerichte in einem zweiten Prozess mildere Strafen verhängten. Dabei hatte sie in der Praxis den gegenteiligen Effekt zur Folge: Auch wenn später neue Straftaten bekannt wurden, war eine erneute härtere Verurteilung nicht mehr möglich. So kam es, dass sich die Ermittlungsverfahren mehr und mehr nur noch gegen die Befehlsempfänger richteten, während die Befehlsgeber, inzwischen auf freiem Fuß, den Prozessen als Zuschauer beiwohnten oder sogar als Zeugen auftraten. Dass diese Rollenverteilung den Ermittlungseifer eher dämpfte, liegt auf der Hand.

Um ein anderes Beispiel zu nennen: Die italienischen Behörden leiteten unmittelbar nach dem Kriegsende zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Angehörige der Wehrmacht und der Waffen-SS ein. Gegenstand dieser Verfahren waren vor allem Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung in Oberitalien nach dem Abfall Italiens aus der »Achse«. Aufgrund der geschilderten Schlussstrichmentalität wurde auch hier die Ermittlungstätigkeit nach und nach eingestellt. 1960 wurden die noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahren in einem Schrank archiviert und dieser mit der Öffnung zur Wand, zusätzlich mit einem Gitter gesichert, in den Räumen der italienischen Militärgeneralstaatsanwaltschaft abgestellt. Die Italiener nennen ihn »Schrank der Schande«. Erst 1994 wurden die Akten wiederentdeckt und die Ermittlungen teilweise fortgeführt. Die deutschen Behörden wurden hiervon nicht unterrichtet.

Nicht zuletzt das Gefühl, ungleich und damit ungerecht behandelt zu werden, dürfte den Eifer der bundesdeutschen Ermittler nicht gerade gefördert haben. Obwohl auch die Alliierten Verbrechen begangen hatten, wurde kaum einer von ihnen während des Krieges oder nach dem Krieg deshalb vor Gericht gestellt. Dies gilt nicht nur für die Rote Armee, sondern ebenso – wenn auch in weit geringerem Maße – für US-Amerikaner und Kanadier. Es gilt heute als gesichert, dass vor allem nach der Invasion am 6. Juni 1944 zahlreiche deutsche Soldaten, die sich ergeben hatten, von den landenden Truppen erschossen wurden. Entweder aus Wut über den hartnäckigen Widerstand, der viele Angreifer das Leben gekostet hatte, oder einfach deshalb, weil man sie als Angehörige der Waffen-SS erkannt hatte.

Erwähnt seien hier auch die alliierten Bombenangriffe, denen schätzungsweise über 600 000 Zivilisten, vornehmlich Frauen und Kinder, zum Opfer fielen. Sobald die Rote Armee sowjetisches Territorium verlassen hatte, fanden die Kommandeure es selbstverständlich, dass alle Deutschen und Kollaborateure kollektiv zu bestrafen seien. Die Bestrafung für Männer war Erschießen, die Bestrafung für die Frauen war die Gruppenvergewaltigung. Weder mit den Jungen noch mit den Alten hatte man Erbarmen. Das Schwesternpersonal in den Krankenhäusern wurde massenhaft vergewaltigt. Nonnen in Frauenklöstern wurden buchstäblich in einer Reihe aufgestellt und missbraucht. Hier kann nicht eingewendet werden, schließlich hätten ja die Deutschen den Krieg angezettelt und schwerste Verbrechen vor allem auch in der Sowjetunion begangen. Ein Kriegsverbrechen ist ein Kriegsverbrechen, egal von welcher Seite es begangen wird. Die Tatsache, dass diese Verbrechen auf alliierter Seite nahezu ungesühnt blieben, erweckte bei vielen Deutschen das Gefühl, einer Siegerjustiz ausgeliefert zu sein.

Ein weiterer Grund für die, im Nachhinein betrachtet, unbefriedigende Strafverfolgung von NS-Verbrechen war die Neuartigkeit der zu bewältigenden Aufgabe. Die ab dem 1. Januar 1950 für die Ahndung der Verbrechen allein zuständige deutsche Justiz sah sich vor eine gigantische Herausforderung gestellt, ohne dass sie sich dessen zunächst bewusst war. Man betrat Neuland, für welches weder Polizei noch Staatsanwaltschaft geschult waren. Man muss sich vor Augen halten, dass es sich hier um Formen von Organisationsverbrechen handelte, zu deren Aufklärung allgemein-kriminologische Erkenntnisse und Lebenserfahrungen nicht ausreichten. Nicht die Fähigkeit einer gründlichen Spurensuche am Tatort, die Feststellungen und Auswertung von Fingerabdrücken, das Identifizieren eines Tatwerkzeugs sind gefragt, sondern vielmehr die Kenntnisse um Befehlswege und Organisationsstrukturen, von soziologischen und politischen Hintergründen und nicht zuletzt die Kenntnisse der Tarnsprache, die innerhalb der mit der Durchführung der Organisationsverbrechen befassten Stellen verwendet wurde.

Auch die äußeren Umstände waren denkbar ungünstig. Halb Europa lag noch in Trümmern, schriftliche Unterlagen waren vernichtet, verbrannt, verschwunden. Die meisten Tatorte lagen im sogenannten Ostblock, vor allem in Polen und in der Sowjetunion, und waren für die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden nicht frei zugänglich. Niemand wusste, wie viele Zeugen überlebt hatten und wo diese sich aufhielten. Die wenigsten Überlebenden waren in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt, sondern stattdessen ausgewandert, die meisten von ihnen nach Nordamerika, viele aber auch nach Palästina, später Israel. Eine gezielte Suche dort war undenkbar, da der junge Staat selbst um sein Überleben kämpfte und zur Bundesrepublik keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Dies alles zeigt, dass von einer systematischen Strafverfolgung nicht die Rede sein konnte, es im Grunde mehr oder weniger dem Zufall überlassen blieb, welche Täter vor Gericht gestellt werden konnten.

Auch mussten die Ermittler die ihnen gestellte Aufgabe mit Gesetzen bewältigen, die den aktuellen Bedürfnissen der Strafverfolgung nur unzureichend gerecht wurden. Die Schöpfer der beiden für die Strafverfolgung wichtigen Gesetze, des Strafgesetzbuches vom 15. März 1871 und der Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877, konnten nicht ahnen, was sich beginnend 1933 auf deutschem Boden und ab 1939 auf europäischem, vor allem osteuropäischem Boden abspielen sollte. Beide Gesetze waren vom Reichstag erlassen worden und galten – von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen – auch in den Jahren 1933 bis 1945 beziehungsweise gelten bis heute fort. Nicht nur, dass Straftaten gegenüber bestimmten Schichten oder Gruppen der Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945 nicht mehr strafrechtlich verfolgt wurden. Heute wie vor dieser Zeit war und ist unvorstellbar, dass diese Straftaten staatlich organisiert und schließlich angeordnet und befohlen wurden. Binnen weniger Jahre hatte der Staat, die Obrigkeit selbst, die ja eigentlich für die Einhaltung auch der Strafgesetze Sorge tragen sollte, es fertiggebracht, Massenmorde nicht nur zu dulden, sondern sie zu organisieren und zu befehlen. So und nur so konnte es geschehen, dass Millionen Opfer von Straftaten wurden und dabei die Täter nicht nur nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, sondern vor allem entgegen dem Gesetz, aber mit Wissen und Wollen der Obrigkeit handelten.

Diese Probleme lösten die Alliierten dadurch, dass sie für ihre Strafverfolgung der NS-Verbrechen Gesetze schufen, die dem Geschehenen Rechnung trugen, insbesondere die Tatbestände des Kriegsverbrechens und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Dies war den deutschen Ermittlungsbehörden weitgehend verwehrt, denn Artikel 103 des Grundgesetzes enthält den rechtsstaatlich gebotenen Grundsatz, dass eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn deren Strafbarkeit vor ihrer Begehung gesetzlich bestimmt war. Dies bedeutete für die deutschen Ermittlungs- und Justizbehörden, dass sie auf diejenigen Strafbestimmungen angewiesen waren, die schon zur Tatzeit, also schon während der NS-Diktatur, existierten.

Ein weiterer Umstand hat besonders stark zu einer nicht wiedergutzumachenden Verzögerung der Ermittlungstätigkeit geführt. Nach der Strafprozessordnung ist eine Staatsanwaltschaft dann zuständig, wenn entweder die Tat in ihrem Bezirk begangen wurde oder sich der Tatverdächtige in ihrem Bezirk aufhält. Dies bedeutet, dass in all den Fällen, in denen die Tat im Ausland begangen wurde und der Tatverdächtige oder sein Aufenthaltsort unbekannt war, keine originäre Zuständigkeit einer deutschen Staatsanwaltschaft besteht. Und da in der Bundesrepublik die Staatsanwaltschaften das Anklagemonopol besitzen, gab es in diesen Fällen keinen zuständigen Ankläger. Diese Lücke führte 1958 letztendlich zur Gründung der Zentralen Stelle. Dieser Behörde übertrug man die Aufgabe, Ermittlungen unabhängig vom Tatort und unabhängig vom jeweils aktuellen Aufenthalt eines mutmaßlichen Täters aufzunehmen.

Warum diese Lücke erst dreizehn Jahre nach Kriegsende aufgedeckt wurde, ist bis heute nicht restlos geklärt. Als Zwischenbilanz ist festzuhalten, dass sowohl objektive als auch subjektive Fehler dazu geführt haben, dass die Strafverfolgung in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht mit Effizienz vorangetrieben wurden, die wir uns im Nachhinein betrachtet gewünscht hätten.

Der Vollständigkeit halber muss auch festgestellt werden, dass das Ausland ein gerütteltes Maß an Schuld an der lückenhaften Strafverfolgung trifft, und zwar aus verschiedenen Gründen. Hier ist an allererster Stelle die ehemalige DDR zu nennen. Sie reklamierte für sich, dass von den beiden deutschen Staaten nur sie allein ernsthaft gewillt sei, nationalsozialistische Verbrechen zu ahnden. Die Bundesrepublik hingegen sei faschistisch unterwandert und decke die Täter weitgehend. Diese These konnte natürlich nur so lange aufrechterhalten werden, wie die Bundesrepublik nicht allzu große Ermittlungserfolge aufweisen konnte. Aus diesem Grund wurden westlichen Staatsanwaltschaften und Gerichten nur selten die Unterstützung und Hilfe zuteil, um die sie ersucht hatten. Weitaus die meisten Anfragen blieben einfach unbeantwortet. In einem eigenen Fall habe ich dies hautnah erlebt. Im Bestreben, die im Fall Pöllmann begangenen Fehler nicht zu wiederholen, legte ich im Verfahren gegen Schwammberger Wert darauf, schon im Zuge der Ermittlungen jede mögliche Quelle aufzuspüren und auszuschöpfen. Also wandte ich mich im Jahr 1989 an den damaligen Generalstaatsanwalt der DDR mit der Bitte um Mitteilung, ob sich dort Unterlagen über Josef Schwammberger befänden. Eine Antwort blieb erwartungsgemäß aus. Als ich nach der Wende 1989/90 uneingeschränkten Zutritt zu den Akten der DDR-Generalstaatsanwaltschaft hatte, nahm ich selbst eine Sichtung vor und stieß dabei auf vier Seiten zum Thema Schwammberger. Das erste Blatt war das Original meiner Anfrage. Angeheftet war ein Zettel mit dem Vermerk: »Urschriftlich in MfS mit der Bitte um Weisung.« Blatt 3 enthielt die Weisung: »Urschriftlich zurück an den GenSTA. Derzeit keine Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit der BRD.« Anschließend auf Zettel Nummer 4: »Weglegen.«

Ein anderes Beispiel: Die Bundesregierung erließ unter dem Damoklesschwert der damals noch drohenden Verjährung von Mord nach zwanzig Jahren am 20. November 1964 einen öffentlichen Aufruf an – ich zitiere – »alle Regierungen, Organisationen und Einzelpersonen im In- und Ausland«, das in deren Hand befindliche, in der Bundesrepublik nicht bekannte Material über NS-Verbrechen und NS-Verbrecher zur Verfügung zu stellen. Die Reaktion – man könnte besser von einer Nicht-Reaktion sprechen – war verheerend. Nur die damalige Volksrepublik Polen reagierte eingeschränkt positiv, was in den Folgejahren trotz des damals schwelenden Ost-West-Konflikts zu einer bis heute andauernden fruchtbaren Zusammenarbeit führte.

Eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit den schwachen Erfolgen bei der Ahndung von NS-Verbrechen in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende spielen die United Nations War Crimes Commission-Akten (UNWCC). In der Deklaration von St. James vom 13. Januar 1942 schlossen sich Exilpolitiker von neun von Deutschland besetzten Staaten zur Inter-Allied Conference of the Punishment of the War Crimes zusammen. Ziel war die gerichtliche Ahndung der deutschen Kriegsverbrechen. Zur gleichen Zeit vereinbarten die USA und Großbritannien die Bildung einer Kommission, die Kriegsverbrechen untersuchen sollte. Diese Kommission ging am 20. Oktober 1943 aus der Inter-Allied Commission hervor und bekam den Namen United Nations War Crime Commission. Sie hatte vordringlich die Aufgaben, Beweise für Kriegsverbrechen zu sammeln, zu dokumentieren und, wenn möglich, die Verantwortlichen zu benennen sowie den betroffenen Regierungen die Fälle mitzuteilen, in denen die entsprechenden Beweise weiterhelfen könnten. Im Januar 1944 nahm die Kommission offiziell ihre Arbeit auf, sie existierte bis zum Frühjahr 1948. Die beteiligten Regierungen übermittelten der Kommission die Informationen, die sie in ihren Ländern über Kriegsverbrechen gesammelt hatten. Insgesamt wurden 8 178 Akten angelegt, die Vorwürfe gegen 36 810 Verdächtige enthielten, von denen 34 270 Deutsche waren. Ein Fundus also, von dem man auf den ersten Blick hätte meinen können, dass er die Grundlage für eine systematische und effektive Strafverfolgung bilden könnte. Die Sache hatte nur einen Haken: Diese Akten wurden den deutschen Ermittlungsbehörden erst Mitte der Achtzigerjahre zur Verfügung gestellt. Sie wurden zunächst der Zentralen Stelle übermittelt, dort nach bestimmten Kriterien aufgeteilt und sodann den örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften weitergeleitet. Die nachfolgenden Ermittlungen, zu denen ich auch die Polizei einschaltete, erwiesen sich als äußerst mühselig, aufwendig und – weitgehend erfolglos. Vierzig Jahre nach Kriegsende war es nur noch in Ausnahmefällen möglich, die Zeugen und Hinweisgeber zu finden und die notwendigen Beweise zusammenzutragen. Ich habe mich als Staatsanwalt nahezu zwei Jahre lang mit den UNWCC-Akten befasst, in keinem Fall kam es zu einer Anklage. Ich wage nicht, mir auszudenken, welchen Erfolg wir gehabt hätten, wenn wir dreißig Jahre früher im Besitz dieser Informationen gewesen wären.

In vielen Fällen erklärt sich die große zeitliche Verzögerung ihrer Aufarbeitung auch durch ihre spezifischen Umstände. Der Vollständigkeit halber möchte ich daher einige Beispiele erwähnen, bei denen niemand die Schuld an der späten Bearbeitung trifft.

Im Fall Schwammberger etwa war dessen Tätigkeit als Kommandant verschiedener Zwangsarbeiterlager in Polen von August/September 1942 bis Kriegsende Gegenstand des Ermittlungs- und später Strafverfahrens gegen ihn. Ihm wurde vorgeworfen, zahlreiche Menschen ermordet beziehungsweise Beihilfe zum Mord geleistet zu haben. Schwammberger und seine Verbrechen waren im Nachkriegsdeutschland lange nicht bekannt. Am 20. Juli 1945 war er in Innsbruck von der damaligen Regierungspolizei für Tirol festgenommen worden. Im Laufe des Verfahrens räumte er ein, Mitglied der SS gewesen zu sein. Er wurde der französischen Besatzungsmacht übergeben und im Kriegsgefangenenlager Oradour, später in der Festung Kufstein und schließlich wieder in Oradour inhaftiert. Von dort gelang ihm in der Nacht vom 2. zum 3. Januar 1948 mit fremder Hilfe die Flucht. Nachdem ihm von einer kirchlichen Institution das Fluchtgeld vorgeschossen worden war, gelangte Schwammberger von Genua aus auf einem französischen Liberty-Schiff am 19. März 1949 nach Buenos Aires. Fest steht, dass er bis zu seiner Flucht im französischen Gewahrsam war, jedoch auch die österreichischen Behörden zumindest zeitweilig gegen ihn ermittelten. Der genaue Verlauf des Verfahrens und der Inhaftierung konnte nicht mehr rekonstruiert werden, da die französischen Akten unauffindbar waren und die einschlägigen Akten des Landgerichts Innsbruck insoweit Lücken aufwiesen.

In der Bundesrepublik begann die Strafverfolgung Schwammbergers mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Kaiserslautern am 5. Dezember 1959, also beinahe fünfzehn Jahre nach Kriegsende. Zuvor waren der Staatsanwaltschaft Kaiserslautern die Akten des Landesgerichts Innsbruck übermittelt worden, sodass den deutschen Behörden zu diesem Zeitpunkt erstmals die Aussagen Schwammbergers gegenüber den österreichischen Behörden aus den Jahren 1945 bis 1947 vorlagen. Weshalb das Landesgericht Innsbruck der Staatsanwaltschaft Kaiserslautern die Akten übersandte, konnte nicht mehr mit absoluter Sicherheit festgestellt werden. Parallel zur Staatsanwaltschaft Kaiserslautern bemühte sich die in die Ermittlungen eingeschaltete Zentrale Stelle um die Auffindung von Zeugen. Diese Bemühungen mündeten in einem ersten Ersuchen an das Bezirksgericht Tel Aviv vom 1. Juli 1960.

Gleichzeitig begann jedoch ein Gerangel um die örtliche Zuständigkeit für die weiteren Ermittlungen. Dieses Gerangel bedeutet nicht automatisch, dass die damit befassten Behörden lediglich versuchten, ein unliebsames Verfahren loszuwerden. Die Zuständigkeit eines Gerichts und damit auch einer Staatsanwaltschaft bestimmt sich nach Kriterien, die in der Strafprozessordnung verbindlich festgelegt sind. Oftmals werden diese Kriterien erst im Verlauf des Verfahrens ermittelt. Eine sorgfältige Prüfung der Zuständigkeit ist in jedem Fall erforderlich, da die Entscheidung eines unzuständigen Gerichts in der Regel zur Aufhebung des Urteils durch den Bundesgerichtshof führt. Der Fall muss dann neu aufgerollt werden. Am 12. Dezember 1960 teilte das Bundesgericht Innsbruck der Staatsanwaltschaft Kaiserslautern mit, »dass mit Rücksicht auf die nicht österreichische Staatsangehörigkeit des Josef Schwammberger eine Zuständigkeit eines österreichischen Gerichts« nicht in Betracht komme. Zwischenzeitlich war in Kaiserslautern bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart ein Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Gestapo-Angehörige in Przemyśl eingeleitet hatte. Die Staatsanwaltschaft übersandte daher am 11. Juli 1961 die Akten an ihre Kollegen nach Stuttgart mit der Bitte »um Übernahme zu den dort anhängigen Ermittlungsverfahren«. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart gab die Akten am 7. September 1961 mit den Bemerken zurück, das Verfahren gehöre wohl zu einem Komplex, den die Staatsanwaltschaft Waldshut gegen Angehörige der Bewachungsmannschaften der Arbeitslager in Galizien ermittle. Am 26. September 1961 lehnte auch die Staatsanwaltschaft Waldshut eine Übernahme ab. Nun war es Sache des Bundesgerichtshofes zu entscheiden, welche Staatsanwaltschaft zuständig war. Mit Beschluss vom 12. Dezember 1961 wurden die Untersuchung und Entscheidung der Sache dem Landgericht und damit auch der Staatsanwaltschaft Stuttgart übertragen. Warum es noch über unglaubliche dreißig weitere Jahre dauern sollte, bis Josef Schwammberger verurteilt werden konnte, werde ich an späterer Stelle ausführlich schildern.

In einem anderen Fall wurde die betreffende Person nie rechtskräftig verurteilt und hat deshalb von Gesetzes wegen als unschuldig zu gelten. Aus diesem Grund nenne ich sie nicht bei vollem Namen. Im Frühjahr 1998 erreichte mich bei meiner damaligen Dienststelle, der Staatsanwaltschaft Stuttgart, eine Postkarte. Sie befand sich in einem Briefumschlag, Absender war die Zentrale Stelle in Ludwigsburg. Diese teilte in einem Begleitbrief mit, das Simon-Wiesenthal-Center in Wien habe ihr die Karte in einem Briefumschlag übersandt. Da der dort genannte Tatverdächtige angeblich im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Stuttgart wohne, habe man keine eigenen Vorermittlungen durchgeführt, sondern die Anzeige sofort weitergeleitet. Die Postkarte selbst war an Simon Wiesenthal in Wien gerichtet. Der Absender teilte mit, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie sein damaliger Vorgesetzter, ein SS-Offizier, Ende März 1945 in der Nähe von Theresienstadt sieben jüdische Arbeitshäftlinge erschossen habe. Es folgten der Name dieses Offiziers und dessen offizielle Anschrift, der Name des Absenders und eine Adresse sowie Telefonnummer in Kanada. Zwei Tage überlegte ich, wie ich mit dieser Information umgehen sollte. Es kam immer wieder vor, dass Menschen ihre Bekannten, Nachbarn oder gar ihre eigenen Familienangehörigen zu Unrecht irgendwelcher NS-Verbrechen bezichtigten. Die Gründe hierfür waren vielfältig. Manche stellten eine bloße Vermutung als erlebte Tatsache dar. Andere wollten eine alte Rechnung begleichen und der ungeliebten Person die Polizei ins Haus schicken, wiederum andere waren dement und glaubten selbst an die von ihnen erhobenen Vorwürfe. Wie dem auch sei: Die Information war zu eindeutig, um sie einfach zu ignorieren, und zu dünn, um sie als Grundlage für weitere Ermittlungen nutzen zu können. Zwei Tage lag die Postkarte stets in meinem Blickfeld auf dem Schreibtisch. Dann griff ich zum Telefon und wählte einfach die angegebene Nummer. Schon nach dem ersten Klingelton meldete sich der Anschlussinhaber, und zwar mit dem Namen, der auf der Karte angegeben war. Ich stellte mich vor und fragte ihn in deutscher Sprache, ob er eine Postkarte an Simon Wiesenthal geschickt habe. Er bejahte dies in perfektem Deutsch, ebenso wie meine nächste Frage, ob denn der Inhalt so stimme. Weiter erklärte er, er sei emeritierter Professor für Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Universität Montreal und halte dort noch Gastvorlesungen. Auf meine wichtigste Frage in diesem ersten Gespräch, weshalb er 43 Jahre mit dieser Information zurückgehalten habe, gab er zu verstehen, dies sei eine lange und komplizierte Geschichte, die man am Telefon nicht erörtern könne. Kurzum, seine Antworten waren so vernünftig und in sich schlüssig, dass ich zum Ergebnis kam, seinen Hinweis nicht einfach ignorieren zu können. Ich fragte ihn deshalb, ob er bereit sei, zu einer ausführlichen Vernehmung nach Deutschland zu kommen. Dies bejahte er unter der Bedingung, einen Vorschuss für die Reisekosten zu erhalten. Wir vereinbarten sodann einen Vernehmungsort und einen Vernehmungstermin, und ich machte die Zusage, dass am Reisetermin am Schalter der Lufthansa in Montreal ein Flugticket hinterlegt sein würde. So kam 43 Jahre nach der Tat ein Ermittlungsverfahren in Gang, das nach großem Ermittlungsaufwand zu einem positiven Ergebnis, wenn auch nicht zur rechtskräftigen Verurteilung führen sollte.

Zwei außergewöhnlichen Zufällen und dem Jagdinstinkt eines zur Zentralen Stelle abgeordneten Richters ist es zu verdanken, dass John Demjanjuk 2009 vor ein Landgericht gestellt und verurteilt werden konnte. »Erinnerst du dich noch an den Namen John oder Iwan Demjanjuk?« Mit dieser Frage betrat im Februar 2008 besagter Kollege mein Dienstzimmer. Ich musste intensiv nachdenken, bevor mir nach und nach einfiel, dass dies der Name des ehemaligen SS-Mannes und KZ-Aufsehers war, der in den 1980er- und 1990er-Jahren in Israel zunächst durch das Bezirksgericht Jerusalem zum Tode verurteilt und auf seine Berufung hin später vom Obersten israelischen Gericht in Jerusalem freigesprochen wurde. »Ich bin beim Surfen im Internet rein zufällig auf den Namen gestoßen«, so mein Mitarbeiter. Dies war also der erste Zufall. Der zweite war, dass der Kollege schon über sechzig Jahre alt war und deshalb das Geschehen in Israel verfolgt und im Gedächtnis behalten hatte. Ein jüngerer hätte den Namen Demjanjuk wohl kaum einordnen können. »Die Amis wollen ihn wieder ausbürgern und loswerden, das könnte doch bedeuten, dass sie neue Beweise gegen ihn in petto haben. Soll ich mal etwas tiefer einsteigen?« Aus diesem Anstoß meines Kollegen entstand also einer der wichtigsten Fälle der Zentralen Stelle, den ich an späterer Stelle ausführlich beschreiben werde.

Im Zusammenhang mit der Verfolgung von NS-Verbrechen wird immer wieder die Frage laut, wie sinnvoll eine Suche nach Tätern nach über siebzig Jahren noch sein kann.

Heribert Prantl schrieb zu diesem Thema am 16. Juni 2008 in der Süddeutschen Zeitung: »Bloßes Alter kann und darf vor einem Schuldspruch nicht schützen. Der Schuldspruch ist, selbst wenn es dann nicht mehr zur Strafverfolgung kommen sollte, der Prozess der Gesellschaft gegen Unmenschlichkeit und Barbarei. (…) Die Opfer haben einen Anspruch darauf, dass ihre Mörder nicht ohne staatlich festgelegte Schuld aus dem Leben scheiden.«

Die Bilder von dem scheinbar schwerstkranken Demjanjuk aus dem Münchener Gerichtssaal bestärkten die Anhänger der Gegenauffassung in ihrem Motto: »Irgendwann muss Schluss sein!« Als Befürworter einer fortdauernden Strafverfolgung ist man versucht, sich einfach der Argumentation des Journalisten anzuschließen und einen Anspruch des Opfers zu statuieren. Nun ist es aber eine juristische Grundweisheit, dass ein Anspruch nicht dadurch entsteht, dass man seine Existenz behauptet. Das Strafrecht ist ein Instrumentarium mit unter Umständen existenzbedrohenden Folgen für den Betroffenen. Derartige Folgen dürfen also nicht nur einem – noch so hohen – Wunschdenken entspringen, sie müssen vielmehr notwendige Folgen gesetzlicher Regelungen sein.

Ein in den letzten Jahren zunehmend vorgebrachtes Argument gegen eine weitere Strafverfolgung ist die Tatsache, dass zweifelsfrei begangene alliierte Kriegsverbrechen – wie einige wurden weiter oben bereits beispielhaft erwähnt – ohne Sanktion bleiben. Dies ist, rechtlich betrachtet, eine Folge von Nachkriegsverträgen, an welche die Bundesrepublik gebunden ist, mag man dies gutheißen oder nicht. Aber selbst wenn man dies bedauert oder gar als unerträglich empfindet, ein Grund für die Einstellung aller NS-Verfahren ist dieser Umstand nicht. Denn Gleichheit im Unrecht gibt es nicht. Allein die Tatsache, dass ein Verbrechen, aus welchem Grund auch immer, nicht verfolgt werden kann, rechtfertigt nicht eine Trotzreaktion dergestalt, dass man nun eben den Mantel der Verschwiegenheit über alle gleich gelagerten Taten deckt.

Und genau so verhält es sich mit dem Vorwurf, es sei ungerecht, dass nunmehr nur noch einige wenige Täter verfolgt werden könnten, viele aber infolge von Beweisschwierigkeiten straffrei blieben. Auch nicht alle in der Gegenwart begangenen Straftaten können aufgeklärt werden, im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität liegt die Aufklärungsquote teilweise unter fünfzig Prozent. Niemand käme ernsthaft auf die Idee, deshalb Straffreiheit für alle zu fordern.

Sehr ernst zu nehmen ist der Einwand, der lange Zeitablauf verhindere oftmals eine sichere Überführung der Tatverdächtigen. Der Gefahr einer ungerechten Verurteilung kann durch eine konsequente Anwendung des Grundsatzes »Im Zweifel für den Angeklagten« begegnet werden.