SCHULD! SEID! IHR! - Michael Thode - E-Book
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SCHULD! SEID! IHR! E-Book

Michael Thode

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  • Herausgeber: Lübbe
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ihr habt mein Leben mit Füßen getreten.
Ihr habt mir das Liebste genommen.
Jetzt ist die Zeit meiner Rache gekommen.
Und ich nehme euch alles.

In der Lüneburger Heide nehmen sich ein obdachloser Mann und ein pensionierter Polizist unter größten Qualen das Leben. Was verbindet diese beiden Männer? Und welche Bedeutung haben die Tarotkarten, die neben den Toten gefunden werden?

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Seitenzahl: 394

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungPrologErster AktKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Zweiter AktKapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Dritter AktKapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Vierter AktKapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Kapitel 74Kapitel 75Kapitel 76Kapitel 77Kapitel 78Fünfter AktKapitel 79Kapitel 80Kapitel 81Kapitel 82Kapitel 83Kapitel 84Kapitel 85Kapitel 86Kapitel 87Kapitel 88Sechster AktKapitel 89Kapitel 90Kapitel 91Kapitel 92Kapitel 93Kapitel 94Kapitel 95Kapitel 96Kapitel 97Kapitel 98Kapitel 99Kapitel 100Kapitel 101Kapitel 102Kapitel 103Kapitel 104Zwei Wochen späterKapitel 105Kapitel 106Nachbemerkungen

Über dieses Buch

Ihr habt mein Leben mit Füßen getreten.

Ihr habt mir das Liebste genommen.

Jetzt ist die Zeit meiner Rache gekommen.

Und ich nehme euch alles.

In der Lüneburger Heide nehmen sich ein obdachloser Mann und ein pensionierter Polizist unter größten Qualen das Leben. Was verbindet diese beiden Männer? Und welche Bedeutung haben die Tarotkarten, die neben den Toten gefunden werden?

Über den Autor

Michael Thode, 1974 in Heide/Holstein geboren, studierte Jura und Fachjournalismus in Bayreuth, Göttingen, Kiel und Berlin.

Er veröffentliche zahlreiche Kurzkrimis, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. »Das stumme Kind« ist sein erster Roman.

Michael Thode lebt mit Frau, Hund und zwei Pferden in der Lüneburger Heide.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieser Titel wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © plainpicture/B.O.A

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0371-0

luebbe.de

lesejury.de

Für meine Eltern

Prolog

Vierhöfen,22 Jahre zuvor

Er konnte Liv zwar nicht hören, aber er sah sie: Sie stand in einem weißen T-Shirt und einer engen Jeans in der Stahltür zur großen Werkstatt und winkte ihm zu.

Sein Herz schlug vor Freude heftig. Er schaltete die Holzfräse und die Staubabsaugung aus und nahm die Ohrenschützer ab. Doch statt Liv entgegenzustürmen, klopfte er sich unsicher die Holzspäne von den Ärmeln seiner Jacke ab. Liv schien sich nicht daran zu stören. Sie schloss die Tür hinter sich und kam strahlend auf ihn zu. »Wow, ich hätte gar nicht erwartet, dass euer Betrieb so groß ist! Und der Geruch! Ich liebe Holz!«, rief sie begeistert.

»Mein Vater hat das alles in den letzten zwei Jahrzehnten aufgebaut«, erwiderte er und schluckte schwer.

Liv legte den Kopf schräg und sah ihn an. »Ich bin hier schon oft vorbeigefahren. Hätte ich gewusst, dass du hier wohnst, dann …«

Die offensichtliche Bewunderung half ihm, seiner Anspannung etwas entgegenzusetzen. Er lehnte sich gegen die Holzfräse und kreuzte die Arme vor seiner Brust. »Was dann?«, frage er mit neckischem Grinsen.

»Ähm … dann … na ja.« Zuerst zuckte sie mit den Schultern, dann begann sie zu lachen. »Keine Ahnung. Sag du es mir!«

Er ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Er war unsicher, ob er sie küssen sollte, doch darum musste er sich keine weiteren Gedanken machen. Sie presste ihre Lippen so fest auf seine, dass er beinahe vergaß zu atmen.

»Die ganze Woche ohne dich habe ich kaum ausgehalten«, sagte sie, als sie sich voneinander lösten.

»Ging mir genauso, aber du weißt ja. Mein Vater …«

»Das ist jetzt egal, jetzt bin ich ja hier …« Liv schaute ihn mit einem übermütigen Blitzen in den Augen an.

Ihm schoss das Blut ins Gesicht. Sie hat recht!, dachte er gleichzeitig. Sein Vater konnte ihm in diesem Augenblick völlig egal sein!

Er räusperte sich und deutete mit einer einladenden Armbewegung durch die Werkstatt. »Darf ich dir mein kleines Reich zeigen?«

»Nichts lieber als das!« Auf Livs Gesicht lag das breite Lächeln, in das er sich bei der ersten Begegnung schlagartig verliebt hatte.

Am vergangenen Wochenende hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen, und am liebsten hätte er es sofort wiederholt.

Hier und jetzt!

Er wollte aber nichts überstürzen und führte sie erst einmal durch die Werkstatt. Er nahm wahr, dass sie sich für ihn und seine Arbeit wie noch kein anderer Mensch bisher interessierte. Er saugte diese bedingungslose Zuneigung auf wie ein Schwamm. Als er seine Erklärungen beendet hatte, ging er zu einer der Werkbänke und holte eine Holzfigur, die etwa zwei Handteller groß war. »Das habe ich für dich gemacht!«, sagte er und gab sie ihr.

Liv strich ungläubig über das Holz. Es war pechschwarz und fein gemasert. Dabei war sie so vorsichtig, als könne es jederzeit zerbrechen. Schließlich murmelte sie: »Ein vierblättriges Kleeblatt.«

»Das soll dir Glück für deine Abiturprüfungen bringen.«

Liv hielt inne und wollte gerade auf ihn zugehen und ihn umarmen, als die Stille jäh unterbrochen wurde.

»Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch!«, schallte eine Männerstimme barsch aus Richtung der Stahltür.

Er fuhr herum. »Vater? Ich dachte, du …«

»Der Transporter hat Kühlflüssigkeit verloren, also musste ich umkehren.«

»Das ist …«

Sein Vater kam näher und gestikulierte dabei wütend mit den Armen. »Warum laufen die Maschinen nicht?«

»Ich … ähm … ich mache gerade eine Pause.«

»Du bist also der Meinung, dass du dir das leisten kannst?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sein Vater nach. »Ich will den Kunden nicht erklären müssen, dass du schon wieder einen Termin vermasselt hast!«

Was sollte er jetzt machen?

Eine aussichtslose Diskussion mit seinem Vater führen, die doch nur in Streit und maßlosen Demütigungen gegen ihn endete?

Liv bitten zu gehen? – Und damit riskieren, dass ihre Beziehung endete, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte?

Gemeinsam mit Liv die Tischlerei verlassen? Vielleicht für immer?

Seine Gedanken überschlugen sich. Er sah, wie Ablehnung und Härte die Augen seines Vaters endgültig verdunkelten. Ihm blieb keine Zeit, weiter nachzudenken. Er musste eine Entscheidung treffen, doch er war unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen.

In diesem Moment ging Liv auf seinen Vater zu und streckte ihm ihre Hand entgegen: »Hallo! Ich bin Liv!«

Der blickte sie grimmig an und kratzte sich an der Wange.

Sie hielt es durch, ihre Hand nicht zurückzunehmen.

Endlich erwiderte sein Vater den Gruß. Auch er gab ihr die Hand, jedoch ohne sich vorzustellen. Stattdessen hob er das Kinn und wies damit auf Livs andere Hand. Darin hielt sie das hölzerne Kleeblatt. »Hat er das gemacht?«

Liv blickte unsicher auf den Glücksbringer. Sie setzte gerade zu einer Antwort an, als er ihr zuvorkam. »Ja, das habe ich gemacht.«

»Darf ich?« Ohne Livs Antwort abzuwarten, nahm sein Vater ihr das Kleeblatt aus der Hand. Er hielt es in die Luft und inspizierte es gegen das Sonnenlicht, das durch ein Oberfenster fiel. »Du hast das teure Ebenholz dafür genommen?«

»Ja«, erwiderte er knapp und spürte, wie sich seine Kehle wieder zuzog.

»Und warum hast du dir keine Mühe gegeben?«

»Ich … Ich …«, stammelte er schwach. In seinem Inneren aber loderte eine unbändige Wut wie ein heißes Eisen.

»Wenigstens für deine kleine Freundin hättest du dich anstrengen können!«, zischte sein Vater scharf.

Livs Blick ging zwischen den beiden Männern hin und her. Schließlich streckte sie die Hand nach dem Kleeblatt aus. »Ich würde es gerne wiederhaben.«

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Dieser Betrieb besteht seit über zwanzig Jahren, und unsere Kunden sind höchste Qualität gewohnt. Dieser Schrott wird diese Halle nicht verlassen.« Dann holte er aus und schleuderte das Kleeblatt durch die Halle.

Liv legte eine Hand auf den Oberarm ihres Freundes. »Es tut mir so leid«, sagte sie, »ich gehe jetzt besser.«

Er sah sie an, doch sie drehte sich weg und beeilte sich, die Stahltür zur erreichen.

Nein!, schoss es wie ein Peitschenhieb durch seinen Kopf. Sein Blick traf auf den seines Vaters. Dessen Genugtuung war offensichtlich.

Von einem Augenblick zum anderen war nur noch blanker Hass in ihm. Er griff nach dem kantigen Stuhlbein aus massivem Eichenholz, an dem er zuvor gearbeitet hatte.

»Lass das!«, hörte er Liv schreien, die sich noch mal umgewandt haben musste. Doch ihr Rufen kam zu spät!

Im nächsten Moment krachte das Holz mit voller Wucht gegen den Schädel seines Vaters. Blut schoss durch die Luft. Es war ein erlösendes Gefühl, und all die aufgestaute Wut in ihm brach sich Bahn. Das Blut spritzte bis zu Liv hinüber, die sich schreiend die roten Flecken von den nackten Unteramen und vom T-Shirt wischen wollte.

»Nein!«, hörte er sie noch einmal wie hinter einer Glaswand, doch da prallte das Holz schon wieder mit voller Wucht auf den splitternden Schädel seines Vaters.

Erster Akt

Sonntag, 12. Mai bis Montag, 13. Mai

Historisch sind weder der Zeitpunkt noch der Ort der Entstehung der Tarotkarten geklärt. Je nach Quelle werden die Wurzeln in Asien, Nordafrika oder Italien vermutet.

Die ersten Nachweise für die Existenz der Karten gehen auf das 15. Jahrhundert zurück. Aus der Zeit zwischen 1420 und 1450 sind rund zweihundertfünfzig fantasievoll gearbeitete und teilweise mit Blattgold hinterlegte Exemplare erhalten, die die Kunst der frühen italienischen Renaissance widerspiegeln.

Die Karten stammen aus verschiedenen Spielen. Da diese Spiele sich allesamt im Besitz des Herzogs von Mailand Filippo Maria Visconti und seiner Familie befanden, werden sie auch als »Visconti-Spiele« bezeichnet.

Heute werden die Karten in der Pinacoteca di Brera in Mailand, in der Beinicke Rare Book and Manuscript Library in New Haven, in der The Morgan Library & Museum in New York sowie in der Accademia Carrara in Bergamo aufbewahrt.

Kapitel 1

DERGEHÄNGTE

Winsen (Luhe),Parkhaus am Bahnhof,Sonntag, 12. Mai, 20:45 Uhr

Der Gehängte, wie er sich selbst nannte, schloss den BMW auf und stieg ein. Er hatte diesen Wagen erst am Tag zuvor angemietet, da sein eigener Opel Astra aufgrund eines Motorschadens ausgefallen war. Dies war eine erhebliche Abweichung von seinem eigentlichen Plan, und es war ungewiss, ob er den Wagen zurückgeben würde.

Aber das sollte jetzt nicht sein Problem sein!

Glücklicherweise hatte der junge Angestellte der Autovermietung nicht genau hingesehen. Daher waren ihm die gefälschten Dokumente, die der Gehängte für die Anmietung des BMW genutzt hatte, nicht aufgefallen.

Nun ging es um die wesentlichen Dinge, denn endlich waren die vielen Jahre des Planens und die kräftezehrenden Monate des Vorbereitens vorbei. Was in den nächsten Tagen folgen sollte, war ein Theaterstück mit sechs Akten. Es war sein Theaterstück, und es trug den Titel, den er dafür ausgewählt hatte.

SCHULD! SEID! IHR!

Es sollte ein meisterliches Rachewerk werden! Detaillierte Vorbereitung und exaktes Vorgehen – und gleichzeitig Improvisationskunst und höchste Spannung für alle Beteiligten. Nur der Ausgang der einzelnen Akte war nicht variabel. Jeder Akt hatte seinen eigenen tragischen Helden, und für jeden würde am Ende seines Aktes der Vorhang fallen. Die sechs wussten noch nicht, dass ihr Auftritt unmittelbar bevorstand, doch sie sollten es schon bald erfahren.

Er würde immer wieder eingreifen müssen, damit keiner der Darsteller das gewünschte Ziel verfehlte. Seine Flexibilität und sein Einfallsreichtum würden permanent auf dem Prüfstand stehen, und er war bereit, diese Herausforderung anzunehmen.

Wenn alles so eintraf, wie er es geplant hatte, würde er in einer Dreiviertelstunde auf Martin Stelter treffen – den Darsteller des ersten Aktes.

Und von da an sollte es kein Zurück mehr geben.

Kapitel 2

DIEANDEREN

Buchholz in der Nordheide,Fußgängerzone,Sonntag, 12. Mai, 21:30 Uhr

»Komm schon, Bosko!«, sagte Martin Stelter und schaute auf seinen Golden Retriever hinab. Der Anblick des Hundes schmerzte ihn. Er war zwar erleichtert, dass sein Begleiter den vergangenen Winter überstanden hatte. Doch nun musste er sich langsam mit dem Gedanken abfinden, dass es wohl der letzte gemeinsame Sommer sein würde.

»Los jetzt, Bosko!«, animierte er seinen Hund erneut. »Bis zum Bahnhof ist es nicht mehr weit!« In den vergangenen zwölf Jahren hatte Martin Stelter die Abwärtsspirale, die sein Leben genommen hatte, gemeinsam mit seinem Hund durchlebt. Bosko war ihm als einziger Freund geblieben, als sein Leben endgültig aus den Fugen geraten war.

Er umfasste die Tragegriffe der beiden Plastiktüten noch fester und ging langsam weiter. Nach einigen hundert Metern schloss ein Passant zu ihnen auf, der ein Fahrrad neben sich herschob. Stelter nahm ihn zwar wahr, ignorierte ihn aber.

»Entschuldigen Sie bitte«, hörte er den Mann sagen, doch er schenkte ihm keine Beachtung. »Ich habe Sie auf meinem Weg nach Hause schon öfter hier entlanggehen sehen.«

Stelter bemerkte sehr wohl, dass die Worte des Mannes freundlich klangen, anders als die Beschimpfungen und Anfeindungen, mit denen er üblicherweise konfrontiert war. Dennoch setzte er seinen Weg unbeirrt fort.

»Ich kann mir gut vorstellen, wie hart es ist, wenn man sich auf der Straße jeden Tag aufs Neue behaupten muss.«

Stelter blieb stehen und wandte sich dem Fremden zu. Er musterte ihn von der Schuhsohle bis zum Scheitel, dann rotzte er auf den Asphalt. »Einen Scheißdreck kannst du!«

Der Mann schien kurz nachzudenken, dann nickte er mit einem Ausdruck von Verlegenheit und Mitgefühl. »Wahrscheinlich haben Sie recht.«

Auch jetzt erschien es Stelter, als würde sein Gegenüber es tatsächlich ernst meinen. Trotzdem hatte er keinerlei Interesse an einem Gespräch – zum einen zog die Kälte unwirtlich durch seinen Parka, zum anderen wollte er den Zug erreichen. »Dann verpiss dich!«

»Ich bin Maschinenbau-Ingenieur und übernehme ab übernächsten Monat einen Job auf einer Ölplattform im Golf von Mexiko«, sagte der Mann weiter.

Martin Stelter hielt inne und sah den Mann an.

Kapitel 3

DERGEHÄNGTE

Buchholz in der Nordheide,Fußgängerzone,Sonntag, 12. Mai, 21:30 Uhr

In dem Moment, als er die Umrisse von Martin Stelter in der Abenddämmerung entdeckte, drängte sich ihm ein Gedanke auf.

Stelter ist der lebende Beweis dafür, dass es auf dieser Welt doch noch Gerechtigkeit gibt!

Der speckige Parka, die ausgebeulte Cordhose, die gebückte Haltung, der hölzerne Gang, die prall gefüllten Plastiktüten und der halbtote Hund – in den letzten Wochen war Stelters Anblick immer gleich gewesen.

Obwohl Stelter noch weit von ihm entfernt war, musste er die Nase rümpfen. Schweiß, Zigarettenrauch, Alkohol und öffentliche Toiletten waren die Gerüche, die er mit ihm verband.

Der Gehängte presste seinen Oberkörper fester in die winzige Lücke, die zwischen den Gebäuden der Blumenhändlerin und des Immobilienmaklers klaffte, und vergrub seine Hände tief in den Jackentaschen. Noch immer hielt er seinen Blick auf Stelter geheftet. Dieser war gemeinsam mit seinem Hund auf dem Weg zum Bahnhof. Wie immer würde er um zweiundzwanzig Uhr fünf in den Zug Richtung Bremen steigen, um drei Minuten später am Bahnhof in Sprötze wieder auszusteigen. Von dort aus brauchte er eine knappe Dreiviertelstunde, bis er seinen Schlafplatz erreichte. Falls die Luft trocken war und der Hund Schritt halten konnte, würde Stelter um kurz vor dreiundzwanzig Uhr in dem Waldstück ankommen, bei nasskaltem Wetter ein paar Minuten später.

Er wandte seinen Blick in die andere Richtung. Von dort kam ein junges Pärchen auf ihn zu. Beide gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Auf Höhe eines Juweliers verlangsamte die Frau das Tempo. Der Mann legte seinen Arm um sie und schien sie zum Weitergehen drängen zu wollen. Sie machte einen Schritt zur Seite und löste sich von ihm. Vor dem Schaufenster blieb sie stehen und deutete auf die Auslage. Er schien genau zu wissen, was sie meinte. Flüchtig blickte er in das Schaufenster, dann seufzte er. Rasch legte der Mann seinen Arm wieder um die Frau und bugsierte sie zurück auf den Weg. Zuerst protestierte sie halbherzig, dann ließ sie sich ohne Widerstand von ihm weiterführen. Im Vorbeigehen warfen beide einen flüchtigen Blick in das Nachtcafé, dann verschwanden sie in einer Seitenstraße.

Nun waren sie wieder allein: er, Martin Stelter und dessen Hund. Stelter hatte seinen Blick direkt vor sich auf die Pflastersteine geheftet.

Nachdem Stelter und sein Hund ihn passiert hatten, trat der Gehängte in den Schein der Straßenlaternen und ging zu dem Fahrradständer, in dem ein Mountainbike abgestellt war. Der Jugendliche, dem das Fahrrad gehörte, traf sich sonntagabends regelmäßig mit seinen Freunden im Nachtcafé, um dort Billard zu spielen. Sie verließen die Kneipe selten vor Mitternacht, und damit passten sie hervorragend zu dem Plan, den er für die nächsten Minuten entworfen hatte.

Weiterhin kam ihm zugute, dass der Besitzer des Fahrrads zwar eine ordentliche Summe für den Kauf des Fahrrads investiert hatte, nicht jedoch für eine angemessene Diebstahlsicherung.

Er hatte das Kettenschloss, das der Jugendliche nutzte, nachgekauft und zu Hause herausgefunden, wie es sich am schnellsten knacken ließ. Dank der erbärmlichen Qualität der Kettenglieder war es nun ein Leichtes gewesen, es mit einem einfachen Bolzenschneider zu öffnen.

In Gedanken schickte er seinen Dank an den jungen Mann in dem Nachtcafé, dann nahm er das Fahrrad aus dem Ständer und blickte auf die dunklen Druckbuchstaben, die auf den Aluminiumrahmen aufgebracht waren: »Habichtjagd«.

Ich bin ein Habicht, dachte er, und ich bin auf der Jagd.

Der Gehängte lächelte und folgte Stelter. Rasch holte er ihn ein. »Entschuldigen Sie bitte.« Da Stelter ihn nicht beachtete, fuhr er fort: »Ich habe Sie auf meinem Weg nach Hause schon öfter hier entlanggehen sehen. Ich kann mir gut vorstellen, wie hart es ist, wenn man sich auf der Straße jeden Tag aufs Neue behaupten muss.«

Stelter blieb stehen und taxierte sein Gegenüber, dann rotzte er ihm direkt vor die Füße. »Einen Scheißdreck kannst du!«

Sehr schön, dachte er. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so schnell ins Gespräch kommen würden. Er machte eine längere Pause, schließlich stimmte er zu. »Wahrscheinlich haben Sie recht.«

»Dann verpiss dich!«

Das werde ich ganz bestimmt nicht machen, dachte er und ging weiter neben Stelter her. Im Laufe seiner Recherchen hatte er sehr viele Details über dessen Leben erfahren. Die Zeit, die ihn sicherlich am meisten geprägt hatte, waren die Jahre auf einer Bohrinsel gewesen. Er war sicher, dass dieses Thema ihn auch heute noch interessierte.

»Ich bin Maschinenbau-Ingenieur und übernehme übernächsten Monat einen Job auf einer Ölplattform im Golf von Mexiko«, log er. »Keine Ahnung, wie lange ich auf der Plattform bleiben werde. Jedenfalls räume ich meine Sachen gerade in einen Container, der dann per Schiff in die Vereinigten Staaten geht. Ende des Monats gebe ich meine Wohnung hier in Buchholz ab.«

Während er dies sagte, blieb Stelter stehen. Der Hund legte sich erschöpft neben ihm ab. Stelter drehte den gesamten Körper, denn sein Hals war steif. Sein Kopf war auf eine ungewöhnliche Weise nach links gedreht und abwärtsgerichtet. Es wirkte, als würde er sein Gegenüber von unten herauf anblicken. »Warum erzählst du mir das?«, wollte Stelter wissen. Seine Stimme klang immer noch distanziert, doch sie hatte die Feindseligkeit verloren.

»Mein Fahrrad passt nicht in den Container, und ich muss es hierlassen. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis hat niemand Interesse, es zu übernehmen, und dann habe ich an Sie gedacht. Wie gesagt: Sie sind mir in der Vergangenheit schon häufiger aufgefallen.« Er lächelte und blickte zu dem Hund hinab. »Und dieser hübsche Kerl natürlich auch.«

Martin Stelter setzte eine der Plastiktüten ab und kratzte sich hinter dem Ohr. »Und wo steht die Plattform?«

»In Viosca Knoll, mitten im Petronius-Ölfeld. Rund zweihundert Kilometer südöstlich von New Orleans.«

Stelter schien nachzudenken. »Da hat es beim Bau einen Zwischenfall gegeben.«

Er wusste, was Stelter meinte. Als er sich vorbereitet hatte, hatte er davon gelesen. »Richtig, ein siebzig Millionen Dollar teures Bauteil ist während der Montage von der Bohrinsel gestürzt und im Meer versunken.«

»Schöne Scheiße.«

Der Gehängte lachte laut auf. »Das können Sie laut sagen! Ich hoffe, dass mir so etwas erspart bleibt.«

Wieder schienen Stelters Gedanken zu kreisen. Schließlich sagte er: »Ich lasse mir nichts schenken. Du kannst dein Fahrrad behalten.«

»Das passt. Ich habe nicht vor, das Fahrrad zu verschenken.«

Stelter setzte nun auch die zweite Plastiktüte ab und griff in die Taschen seines Parkas. Als er die Hände wieder herauszog, hielt er in der Linken ein Stück Papier. »Mein Schwerbehindertenausweis. Damit dürfen Bosko und ich kostenlos Zug fahren.« In der rechten Hand hielt er eine kleine, transparente Schnapsflasche, aus der er offensichtlich noch nicht getrunken hatte. »Mehr Wertsachen habe ich nicht.«

»Einverstanden«, sagte der Gehängte und deutete mit dem Kinn auf die Flasche. »Ich nehme den Schnaps, Sie bekommen das Fahrrad.«

Stelter steckte den Ausweis zurück in den Parka und rieb sich die Stirn. »Ehrlich?«

Er streckte ihm die Hand entgegen, um die Flasche in Empfang zu nehmen, und lächelte. »Absolut!«

»Danke«, nuschelte Stelter und gab die Flasche aus der Hand. Wenige Augenblicke später streifte er die Plastiktüten über die Griffe des Lenkers und sagte zu seinem Hund: »Komm Bosko. Es wird Zeit.«

* * *

An diesem Abend war im Nachtcafé nicht viel los, daher entdeckte er die Jugendlichen sofort. Während sie ihn nur flüchtig von einigen Abenden kannten, die er hier mit einem heißen Tee an einem Nebentisch verbracht hatte, waren sie für ihn wie gute Bekannte: Der Besitzer des Fahrrads war Anfang zwanzig. Er hatte auffallend rote Haare, sein Körper war durchtrainiert, und sein Aussehen verlieh ihm reichlich Selbstbewusstsein. In der Clique, die aus einem knappen Dutzend Jugendlichen bestand, war er zweifellos der Anführer. Sie trafen sich sonntagabends in wechselnder Zusammensetzung im Nachtcafé, spielten Billard und tranken Bier.

Vor einiger Zeit war er Zeuge geworden, als der Rothaarige einer Gruppe Gleichaltriger mit einem einzigen Fausthieb klargemacht hatte, wem der Billardtisch sonntags gehörte. Das hatte ihm gefallen, und in diesem Moment war der Rothaarige Teil seines Plans geworden.

Als der Gehängte das Lokal jetzt betrat, war die Stimmung ausgelassen. Der Rothaarige hatte sich weit über den Billardtisch gebeugt, der im hinteren Bereich stand. Die tief hängenden Lampen leuchteten jedes Detail seines Gesichts aus. Die anderen Jugendlichen standen um den Tisch herum. Ihre Gesichter waren in der spärlichen Beleuchtung des Nachtcafés nur schemenhaft zu erkennen. Der Rothaarige ließ den Billardstock mehrmals sanft vor- und zurückschwingen, hielt dann kurz inne und stieß die weiße Kugel behutsam an. Sie rollte einige Zentimeter über das hellgrüne Tuch, touchierte eine der farbigen Kugeln und versenkte sie in der nächstliegenden Ecktasche. Er richtete sich auf und hob die Arme seitlich in die Höhe. Es sah aus, als würde er Applaus erwarten. Darauf wartete er vergeblich.

»Gehört jemandem von euch ein Mountainbike mit der Aufschrift Habichtjagd?«

»Warum?«, wollte der Rothaarige wissen. Seine Miene verfinsterte sich.

»Weil ein Penner das Rad gerade gestohlen hat.«

Der Rothaarige schmiss den Billardstock auf den Tisch und lief zum Ausgang. Er warf einen Blick aus der Tür, dann drehte er sich um und brüllte: »Wo ist das Arschloch?«

»Auf dem Weg zum Bahnhof.«

Der Rothaarige und seine Clique hatten es plötzlich sehr eilig, das Nachtcafé zu verlassen. »Wir zahlen später!«, rief er noch in Richtung Tresen.

Kapitel 4

DIEANDEREN

Lüneburg,Klosterkamp,19 Jahre zuvor

Martin Stelters Arbeitsplatz befand sich nicht in Lüneburg, sondern auf einer Sandbank inmitten des norddeutschen Wattenmeers. Ein Mineralölkonzern hatte in den achtziger Jahren eine Bohr- und Förderinsel vor der schleswig-holsteinischen Nordseeküste errichtet, und Stelter hatte dort im Rahmen seines Geologie-Studiums während der Bauphase ein Praktikum absolviert. Als junger Ingenieur war er dorthin zurückgekehrt, und seitdem überzeugte er immer wieder mit seiner Sachkenntnis und seiner Intuition, wenn es um die Erschließung neuer Rohstoffvorkommen ging. So war es vor allem ihm zu verdanken, dass das schwarze Gold aus Lagerstätten gewonnen wurde, die in bis zu acht Kilometern Entfernung von der künstlichen Insel lagen.

Seit nunmehr einem Jahrzehnt bestimmte nicht nur das raue Wetter der Nordsee Stelters Leben, sondern auch der spezielle Rhythmus, der hier herrschte: zwei Wochen Arbeit in Zwölf-Stunden-Schichten, danach drei arbeitsfreie Wochen bei voller Bezahlung. Was anfangs nach Freiheit und Abenteuer geklungen hatte, war in den vergangenen Jahren körperlich und seelisch immer mehr zu einer Belastung geworden. Daher hatte er im Frühjahr gemeinsam mit seiner Familie den Entschluss gefasst, dass es Zeit für eine Veränderung sei. Stelter hatte sich in den letzten Monaten nach Alternativen umgesehen. Er hatte Bewerbungsschreiben an das Geologische Landesamt in Hamburg und an mehrere Ingenieurbüros sowohl in Lüneburg als auch in Hamburg verschickt.

Vergangene Woche war er von der letzten Schicht im Wattenmeer zurückgekehrt. In seinem Kalender waren zahlreiche Termine vermerkt, die ihm kaum Zeit zum Durchatmen ließen. Dazu zählte auch ein Bewerbungsgespräch beim Ingenieurbüro Schmitz & Märker, das am übernächsten Tag stattfinden sollte.

»Ich bin zurück!«, rief Stelter, als er den Flur betrat und die Haustür hinter sich schloss.

»Bin auf der Terrasse«, antwortete seine Frau. »Ich habe einen Apfelkuchen gebacken. Der Kaffee ist auch fertig.«

Ohne zu antworten, zog er sein Jackett aus und hängte es an die Garderobe. Dann schaute er in den Spiegel über dem Schuhschrank, schloss die Augen und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Währenddessen überlegte er, ob er in dem Innenfach seines Koffers noch eine Schachtel Zigaretten hatte.

Hinter ihm polterte es, und seine Tochter Nina kam die Treppe hinabgelaufen. »Tschüss Papa, tschüss Mama!«

»Wo willst du hin?«

Nina lief eilig an ihm vorbei und nahm ihre Windjacke vom Haken. »Mensch Papa, mit Anzug und Krawatte hätte ich dich beinahe nicht wiedererkannt. Schick, schick, solltest du öfter tragen.«

»Wo du hinwillst, habe ich dich gefragt!«

»Zu Sonja. Wir wollen zuerst in den Stall zu ihrem Pferd. Danach machen wir Hausaufgaben. Ich habe Physik letzte Woche nicht kapiert.«

»Ich fahre dich mit dem Wagen.«

»Hä? Und wie soll ich dann von Sonja aus zum Stall und wieder zurückkommen?«

»Ich möchte nicht, dass du allein mit dem Fahrrad unterwegs bist.«

»Ich fahre immer mit dem Fahrrad! Bis zu Sonja sind es nur zwanzig Minuten!«

»Wir können Sonja gerne abholen, und dann fahre ich euch beide in den Stall. Dann warte ich da und fahre euch anschließend wieder zurück.«

Nina schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Papa, aber für so einen Quatsch habe ich keine Zeit. Echt jetzt!«

Stelter machte eine kurze Pause, dann sprach er leiser als gewöhnlich. Dabei betonte er jedes einzelne Wort: »Nina! Es ist nicht ungefährlich, als Vierzehnjährige allein mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Ich fahre dich und hole dich wieder ab!« Er nahm seinen Anorak von der Garderobe und zog ihn an.

»Mama?«, rief Nina wütend in Richtung Terrasse. »Ist mit Papa irgendetwas nicht in Ordnung?«

Stelters Gesicht lief rot an. Bevor seine Frau antworten konnte, brüllte er: »Ich will nicht, dass du allein durch diese gottverdammte Wallapampa fährst!«

Kapitel 5

DIEANDEREN

Buchholz in der Nordheide,Wohnung von Hauptkommissar Rolf Degenhardt,Montag, 13. Mai, 09:30 Uhr

Hauptkommissar Rolf Degenhardt strich mit dem Rasierpinsel über sein Kinn, bis alle Bartstoppeln mit weißem Schaum überzogen waren. Seine Gedanken kreisten um die Verabschiedungsfeier seines langjährigen Kollegen Oberkommissar Jens Vorberg, die in einer Viertelstunde in der Polizeiinspektion Nordheide stattfinden sollte. Für sämtliche Kollegen war von Anfang an klar gewesen, dass nur Rolf Degenhardt in Frage kam, um die offizielle Rede für den scheidenden Oberkommissar zu halten.

Er hob den Kopf, um seinen Hals zu straffen. Dann drückte er die Klinge unterhalb des Kinns auf die Haut und zog sie mit einer gleichmäßigen Bewegung an der Halsschlagader entlang. Eilig streifte er den scharf geschliffenen Stahl an einem Baumwolltuch ab. Er dachte zurück an die vergangenen Dienstjahre, die er gemeinsam mit Jens Vorberg verbracht hatte, und er wusste nicht, was er sagen sollte. Sollte er seinen Dank allgemein formulieren, oder sollte er konkrete Beispiele nennen? Dann müsste er auf jeden Fall das vergangene Jahr ansprechen, in dem Jens Vorberg viel Energie hatte aufgebringen müssen, um Rolf Degenhardts zunehmende Zerstreutheit auszugleichen.

Der Hauptkommissar war sich bewusst, dass verschiedene Dinge bis heute an seinen Nerven zehrten: seine Frau und seine Kinder, die aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen waren; das Schicksal des autistischen Mädchens Anna, das im letzten großen Fall die Schlüsselfigur zweier spektakulärer Morde gewesen war; die ständigen Albträume, in denen sein früherer Kollege Bernd Köhnke in seinen Armen verblutete; und nicht zu vergessen die tiefsitzende Angst vor der Hilflosigkeit, durch die er bereits an zwei Tatorten die Kontrolle über sich selbst verloren hatte.

Degenhardt blickte auf seine Armbanduhr: Er musste sich beeilen, um es pünktlich in die Polizeiinspektion zu schaffen. Er beugte seinen Oberkörper über das Waschbecken und begutachtete seinen Hals. »Meine Güte«, fluchte er und legte das Rasiermesser beiseite. Ungeduldig nahm er den Rasierpinsel und drehte ihn so lange in der Seifendose umher, bis an den Borsten wieder ausreichend weiße Masse haftete. Noch einmal trug er Schaum auf die unsauber rasierte Halspartie auf und zog die Klinge über die Haut.

Als er mit dem Ergebnis zufrieden war und das Bad gerade verlassen wollte, klingelte sein Handy. Er nahm es von der Waschmaschine und blickte auf das Display. Ulrike stand dort in großen Lettern. Er überlegte kurz, ob er jetzt mit ihr sprechen wollte, dann schüttelte er den Kopf und legte das Handy zurück auf die Waschmaschine.

Seitdem Ulrike ihn verlassen hatte und mit den gemeinsamen Kindern Alexandra und Tobias in ihren Heimatort Egestorf zurückgezogen war, lebte Rolf Degenhardt allein. Er hatte eine Wohnung gemietet, die nur wenige Meter vom Dienstgebäude der Polizeiinspektion Nordheide entfernt lag: drittes Stockwerk, drei Zimmer, achtzig Quadratmeter, eine schlichte Einbauküche, ein kleines Wohnzimmer, ein riesiges Schlafzimmer mit Balkon. Normalerweise nutzte er sie nur, um nachts ein paar Stunden zu schlafen. Die Wohnung war karg eingerichtet, denn sie war nicht als Ort zum Wohlfühlen gedacht.

Degenhardt hatte sich für diese Wohnung entschieden, weil sein Arbeitsplatz von hier aus zum Greifen nahe war: Er leitete das Erste Fachkommissariat des Zentralen Kriminaldienstes und führte die Ermittlungen in sämtlichen Fällen von »Delikten am Menschen«. Es war ihm wichtig, innerhalb weniger Minuten im Büro am Schreibtisch sitzen zu können.

Diese räumliche Nähe kam ihm auch jetzt zugute, denn nur wenige Minuten später betrat er den Besprechungs- und Konferenzbereich des Ersten Fachkommissariats. Die Sonne schickte ihre Strahlen durch die großzügigen Glasfronten. Unzählige Kollegen der gesamten Polizeiinspektion waren zur Verabschiedung von Jens Vorberg erschienen und sorgten für ein grelles Stimmengewirr. Ein üppiges Buffet war am Rand des Raumes aufgebaut und wartete auf die offizielle Eröffnung der Feier.

Degenhardt blinzelte gegen das Sonnenlicht und lenkte seinen Blick über die Menschenmenge. Schließlich entdeckte er die Person, nach der er suchte. Oberkommissar Jens Vorberg, mit dem er seit vielen Jahren eng zusammenarbeitete, stand am anderen Ende des Raumes und war in ein Gespräch vertieft.

Degenhardt schloss die Hand fest um den langen, dünnen Gegenstand, den er in Zeitungspapier eingewickelt hatte, und konzentrierte sich auf die Worte, die er an Jens Vorberg richten wollte.

In dem Moment, als er Luft holte und sich Aufmerksamkeit verschaffen wollte, spürte er eine Hand, die sich auf seine Schulter legte. Im gleichen Moment hörte er den Polizeidirektor Achim Meislahn, der die Polizeiinspektion Nordheide leitete, sagen: »Herr Degenhardt, ich möchte Ihnen den Kriminalrat Dirk Kaiser vorstellen. Herr Kaiser hat heute seinen ersten Tag bei uns und wird die Leitung des Zentralen Kriminaldienstes übernehmen.«

»Jetzt nicht«, erwiderte Degenhardt, ohne Achim Meislahn und Dirk Kaiser anzusehen. Dann dröhnte seine Stimme durch den Raum: »Meine Damen und Herren, darf ich um Ruhe bitten!«

Der Boss, wie man den Hauptkommissar hinter vorgehaltener Hand nannte, hatte Gehör gefordert, und augenblicklich kehrte Stille ein. Sämtliche Blicke wandten sich ihm zu. Achim Meislahn und Dirk Kaiser standen neben ihm und wirkten wie eine überflüssige Dekoration. »Jens, du weißt, dass ich kein Mann großer Worte bin. Daher werde ich mich kurzfassen. Du hast dich beim Landeskriminalamt in Hannover beworben, um dich dort mit der Operativen Fallanalyse zu beschäftigen. Ich lasse dich ungern gehen, das weißt du, aber natürlich unterstütze ich deinen Wunsch nach Veränderung. Damit du möglichst häufig an uns denkst, haben wir zusammengelegt und dir ein Abschiedsgeschenk besorgt.« Degenhardt hielt einen mit Zeitungspapier umwickelten Gegenstand in die Höhe und winkte Jens Vorberg damit zu sich.

»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte der Oberkommissar, während er sich einen Weg durch das Gedränge der Kollegen bahnte. »Oder wollt ihr mir den Abschied extra schwer machen?«

Degenhardt seufzte. »Rede jetzt bloß keinen sentimentalen Mist.«

Gelächter ging durch den Raum. Auch Achim Meislahn und Dirk Kaiser bemühten sich um eine heitere Miene.

Als Jens Vorberg den Hauptkommissar erreichte, drückte dieser ihm das Geschenk in die Hand und nickte. Jens Vorberg hatte das Bedürfnis, etwas hinzuzufügen. »Vielen Dank an euch alle. Ihr könnt mir glauben, dass ich mir die Entscheidung nicht leicht gemacht habe. Ich habe mich hier bei euch wahnsinnig wohlgefühlt, aber jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, andere Wege zu gehen.« Vorberg räusperte sich, dann wandte er sich direkt an Degenhardt: »Besonders dir möchte ich danken! Du hast …«

»Vielen Dank«, unterbrach Degenhardt seinen langjährigen Partner, »deine Redezeit ist leider vorbei. Du darfst das Geschenk jetzt auspacken.«

Wieder kam Gelächter auf.

Jens Vorberg unternahm keinen Versuch, seine Rede fortzusetzen. Stattdessen wickelte er den länglichen Gegenstand aus und hielt kurz darauf ein Transportrohr für eine Angelrute in der Hand. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, während er das Rohr öffnete und eine Fliegenrute herausholte. »Ihr seid verrückt«, rief er mit leuchtenden Augen, »das ist eine Winston Boron!«

Degenhardt nickte zufrieden. »Ich hoffe, dass du an uns denkst, wenn du an dem ein oder anderen Wochenende im Harz fischen gehst oder im Herbst nach Alaska fliegst, um Forellen zu angeln. Darf ich davon ausgehen, dass das Buffet jetzt eröffnet ist?«

»Klar!«, rief Jens. »Und jetzt lasst es euch schmecken!«

Während die übrigen Kollegen zu den kalten Platten drängten, bewegte Degenhardt sich nicht von der Stelle. Polizeidirektor Achim Meislahn und Kriminalrat Dirk Kaiser standen noch immer neben ihm. Rolf Degenhardt ging davon aus, dass Meislahn nun den nächsten Versuch unternehmen würde, ihm den neuen Leiter des Zentralen Kriminaldienstes vorzustellen. Er ließ den Blick schweifen und hörte dem Gespräch zu, das seine beiden Vorgesetzten über das kriminaltechnische Labor der Polizeiinspektion führten.

Er spürte, dass sein Handy in der Gesäßtasche vibrierte, holte es heraus und blickte auf das Display.

Ulrike.

Einige Sekunden lang pendelte sein Daumen zwischen den beiden grünen und roten Feldern, die im Display leuchteten. Gerade wollte er das Gespräch annehmen, als sich Achim Meislahn an ihn wandte: »Herr Kaiser und ich sind in zehn Minuten zurück. Sind Sie dann noch hier? Es wäre schade, wenn Sie beide sich heute nicht mehr kennenlernen würden.«

Degenhardt blickte kurz auf. »Kein Problem.«

In dem Moment, als er auf das grüne Feld drückte, sprang die Anzeige um. »Anruf in Abwesenheit.« Er seufzte und steckte das Handy wieder in die Hosentasche. Er würde Ulrike nach der Veranstaltung zurückrufen.

Kapitel 6

DERGEHÄNGTE

In der Nähe von Sprötze,WaldlichtungMontag, 13. Mai, 10:00 Uhr

Er spürte eine tiefe Befriedigung, als er Martin Stelter entdeckte. Die Jugendlichen aus dem Nachtcafé hatten die Regieanweisungen, die er für sie vorgesehen hatte, am Abend zuvor hervorragend umgesetzt: Auf Stelters Stirn klaffte eine Platzwunde. Zahlreiche rotbraune Flecken auf dem Parka zeugten davon, dass eine Menge Blut geflossen war. Das rechte Auge war dunkel gefärbt und zugeschwollen.

Stelter saß vor einem kleinen Zelt auf einem weißen, ausgeblichenen Plastikstuhl, er hatte die Hände im Schoß gefaltet und den Kopf in den Nacken gelegt. Seine Augen waren geschlossen, von Zeit zu Zeit stöhnte er.

Schräg versetzt zu dem Zelt war eine Plane aufgespannt, unter der ein weiterer Plastikstuhl, ein Klapptisch, Brennholz, Wasserkanister, Kochgeschirr und Aluminiumkisten mit Büchern, Kleidung sowie Lebensmitteln lagerten. Der Hund lag zwischen dem Zelt und der Plane. Vorhin, als er näher herangekommen war, hatte der Golden Retriever den Kopf gehoben und kurz mit dem Schwanz gewedelt.

Linker Hand befand sich eine Feuerstelle, die mit faustgroßen Steinen abgegrenzt war. Darüber hing ein Teekessel an einem Dreibein.

Auf der rechten Seite war eine Wäscheleine zwischen zwei Bäumen gespannt. Auf ihr trockneten Unterhosen, T-Shirts und Socken.

Der Gehängte ging zu der Plane und stellte seine Sporttasche davor ab. Er holte ein Paar Latex-Handschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Er konnte sich nicht erlauben, Fingerabdrücke oder DNA-Spuren zu hinterlassen, denn sie waren in den Datenbanken der Polizei gespeichert. Die Handschuhe waren transparent und lagen so eng an, dass sie wie eine zweite Haut wirkten. Über mehrere Wochen hatte er verschiedene Exemplare bei Onlineshops gekauft und ausprobiert. Entscheidend war dabei zum einen gewesen, dass er damit die Touchscreens seines iPads und seines Smartphones bedienen konnte, zum anderen sollten die Handschuhe auf den ersten Blick unauffällig sein. Beides hatte er ausgiebig getestet und sich für Handschuhe eines amerikanischen Fetisch-Händlers entschieden. Solange niemand auf seine Hände achtete, blieben die Handschuhe unsichtbar.

Er zog den Plastikstuhl unter der Plane hervor und nahm ein Radio aus einer der Aluminiumkisten. Er platzierte es auf dem Stuhl und suchte in seiner Sporttasche nach den Batterien und der CD. Er legte beides in das Radio ein und ging zu Stelter. »Schön haben Sie es hier!«

Dieser öffnete die ramponierten Augen, so weit es möglich war, und brauchte einige Augenblicke, bis er die Situation erfasst hatte. Dann schnellten seine Hände zu den Armlehnen, und er versuchte, sich hochzustemmen. Im nächsten Moment schrie er auf und ließ seinen Körper zurück in den Plastikstuhl fallen. Er krümmte sich und presste die Hände gegen den linken Rippenbogen.

»Schmerzen?«, fragte der Gehängte.

Ein röchelndes Husten war die Antwort.

Der Gehängte ging zurück zum Radio und startete Giuseppe Verdis Oper Nabucco.

Stelter begann zu würgen, was er jedoch rasch wieder unter Kontrolle hatte. Er schnappte nach Luft. »Was soll das? Wer …«

»Wenn Sie mir einen Namen geben möchten, nennen Sie mich bitte Clemens Gerber.«

Stelters Lippen öffneten sich, brachten aber keinen Laut hervor.

»Ich fürchte, dass Sie sich gestern Abend eine Gehirnerschütterung zugezogen haben. Brechreiz ist ein eindeutiges Zeichen dafür. Wie sieht es aus mit Schwindelgefühlen? Kopfschmerzen? Sehstörungen?«

Keine Antwort.

Der Gehängte drehte den Lautstärkeregler etwas weiter auf. »Ich weiß, dass Sie klassische Musik lieben. Erinnern Sie sich noch an die Nabucco-Aufführungen, die Sie gemeinsam mit Ihrer Frau besucht haben? Sie waren in der Wiener Staatsoper, in der Mailänder Scala, in der Deutschen Oper Berlin und in der Semperoper in Dresden, nicht wahr?«

Stelters Lippen begannen zu zittern.

»Soweit ich weiß, ist Ihre Frau vor drei Jahren bei einer Gasexplosion ums Leben gekommen.«

»Was …«, stammelte Stelter, dann brach seine Stimme.

Der Gehängte öffnete die Bücherkiste und nahm das Fotoalbum heraus. In den vergangenen Wochen hatte er es, wenn Stelter mit Bosko unterwegs gewesen war, wiederholt durchgeblättert. Die Aufnahmen zeigten Martin Stelter, seine Frau und seine Tochter. Glückliche Momente, soweit er das beurteilen konnte. Er nahm es und ging zu seiner Sporttasche.

Stelter schluckte schwer, hatte sich aber offensichtlich gefangen. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Ich habe mich intensiv auf unser Treffen vorbereitet und bin dabei auch auf Ihr Fotoalbum gestoßen. Haben Sie die letzten beiden Seiten absichtlich frei gelassen?«

»Können Sie vielleicht … die Musik … die Musik ausmachen?«

Die Frage ignorierend, nahm derGehängte einen Klebestift, einen Zeitungsartikel und zwei Fotos aus seiner Sporttasche.

»Die Musik …«, stöhnte Stelter. »Bitte!«

»Ich habe im Archiv des Lüneburger Kuriers einen sehr interessanten Bericht über die Explosion gefunden. Demnach haben Sie im Keller Ihres Hauses mit einem Gasgrill und einer Propangasflasche hantiert. Zuerst ist es zu einer Explosion gekommen, und anschließend ist das Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Ihre Frau, Ihre Tochter und Sie selbst haben sich schwere Brandwunden zugezogen. Ihre Frau ist am darauffolgenden Tag verstorben. Ich denke, dass wir diesen Zeitungsartikel auf der vorletzten Seite des Albums einkleben sollten.«

Stelters Muskeln spannten sich. Die Energie schien in seinen Körper zurückzukehren.

»Ich habe mich übrigens mit dem Redakteur unterhalten, der später über den Gerichtsprozess berichtet hat. Sie wurden wegen fahrlässiger Tötung, Brandstiftung, fahrlässiger Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Der Redakteur hat mir einige Fotos von dem Prozess zur Verfügung gestellt. Ich denke, dass die Bilder hervorragend auf die letzte Seite des Albums passen würden.«

Stelter drückte sich aus dem Stuhl hoch.

»Sie sollten vorsichtig sein. Mit Ihren Verletzungen ist nicht zu spaßen!«

Als Stelter sich vollständig erhoben hatte, schwankte er. Er riss die Augen auf und versuchte, sein Gegenüber zu taxieren. Unbeholfen machte er einen Schritt nach vorne, dann begann er zu taumeln.

»Da wir gerade bei dem Thema Verletzungen sind. Ich hätte zwei weitere Fragen: Sind meine Informationen korrekt, dass Sie seit der Explosion nicht mehr so gut zu Fuß sind, weil Sie sich dabei einen Hüftbruch zugezogen haben? Mussten zwei Ihrer Halswirbel tatsächlich versteift werden?«

Stelter holte mit dem Arm aus und versuchte, nach ihm zu schlagen, doch er war zu weit entfernt. Dabei verlor er das Gleichgewicht und prallte gegen einen Baumstamm.

Zuerst mit der Schulter, dann mit dem Kopf.

Die dunkelbraune Kruste, die die Platzwunde auf der Stirn eben noch verschlossen hatte, riss wieder auf. Ein roter Sturzbach tränkte seine Brauen und tropfte dann in die Tiefe. Sein Körper rutschte am Baumstamm entlang auf den Waldboden. Dann lag er still da.

Während derGehängte auf ihn hinabblickte, dachte er kurz nach, ob er die Unterhaltung behutsamer hätte führen sollen.

Nein! Auf gar keinen Fall!

Stelter hatte genau das bekommen, was er verdiente. Außerdem gönnte er sich jetzt eine Erholungspause. Die stand ihm eigentlich nicht zu.

SCHULD! SEID! IHR!

Während er den Zeitungsartikel und die beiden Fotos in das Album einklebte, stellte er für sich fest, dass der erste Akt hervorragend begonnen hatte.

Kapitel 7

DIEANDEREN

Buchholz in der Nordheide,Polizeiinspektion Nordheide,Montag, 13. Mai, 10:15 Uhr

Hauptkommissar Rolf Degenhardt stand am kalten Buffet und entschied sich für ein Käsebrötchen. Als er aufblickte, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn er sah, dass die Kommissarin Jana Liebisch auf ihn zukam. Sie hatte das Bachelorstudium »Polizeivollzugsdienst« an der Polizeiakademie in Nienburg an der Weser vor einiger Zeit erfolgreich abgeschlossen. Im Rahmen des Studiums hatte sie ein dreimonatiges Praktikum im Ersten Fachkommissariat der Polizeiinspektion Nordheide geleistet. Sie hatte Degenhardt von ihren Fähigkeiten überzeugt, und er hatte sich für sie eingesetzt, als sie sich während ihres Praktikums durch Leichtsinn in Schwierigkeiten gebracht hatte.

Nach diesem Praktikum hatte Degenhardt ihren Weg weiterverfolgt, denn Oberkommissar Jens Vorberg hatte Kontakt mit ihr gehalten und regelmäßig über ihren Werdegang berichtet. Degenhardt hatte nie nachgefragt, welche Art von Verbindung zwischen ihnen bestand – und Jens Vorberg hatte sich hierzu bedeckt gehalten. Jedenfalls überraschte es ihn nicht, sie hier zu sehen.

»Hallo, Herr Degenhardt«, begrüßte Jana Liebisch ihn und strahlte dabei über das ganze Gesicht.

»Frau Liebisch, schön Sie wiederzusehen. Wie geht’s?«

Sie strich sich zögerlich eine Strähne ihres roten Haars aus dem Gesicht, dann antwortete sie: »Ganz gut eigentlich. Jens hat mir erzählt, dass Sie letzte Woche an der Polizeiakademie ein Seminar gegeben haben.«

Degenhardt nickte. »Ich war in Hannoversch Münden und habe mich bemüht, den Kommissaranwärtern die Grundlagen der Tatortarbeit näherzubringen. Bis Freitag bin ich hier in der Inspektion, und nächste Woche halte ich das gleiche Seminar in Nienburg.«

»Haben Sie mit Ihren Bemühungen denn Erfolg gehabt?«

»Ich bin zufrieden. Leider sind nicht alle Anwärter so talentiert wie Sie.«

»Hören Sie auf, sonst werde ich rot!«

Degenhardt hob die Augenbrauen. »Meinen Sie, dass ich das noch schaffe?«

»Wir sollten es besser nicht auf einen Versuch ankommen lassen.«

»Schade, ich dachte, ich könnte das bei Ihnen noch einmal ausprobieren.« Dem Hauptkommissar war nicht verborgen geblieben, dass Jana Liebisch zu Beginn des Gesprächs gezögert hatte, auf eine seiner Fragen zu antworten. Das ließ ihm keine Ruhe: »Jetzt habe ich genug erzählt. Sie sind dran, wie geht’s Ihnen?«

Sie wiegte den Kopf hin und her. »Na ja, eigentlich geht es mir gut.«

»Und was fehlt, damit es Ihnen auch uneigentlich gut geht?«

»Vielleicht könnte es noch ein bisschen runder laufen. Das würde schon reichen.«

»Dienstlich oder privat?«

»Privat ist alles bestens.«

»Aha.« Degenhardt nickte. »Jens hat erzählt, dass Sie nach dem Studium zur Bereitschaftspolizei versetzt worden sind. Ich kenne einige Kollegen dort. Die passen sehr gut in die Welt.«

»Ja, genau«, erwiderte Liebisch und schaute zu Boden.

Der Hauptkommissar hob die Augenbrauen. »Und womit sind Sie unzufrieden? Der Ort? Die Aufgaben? Oder etwas anderes?«

»Ich denke, dass ich einfach nur verwöhnt bin.«

»Inwiefern?«

»Sie sind schuld.«

»Ich verstehe nicht, was Sie mir damit sagen wollen.«

»Egal«, erwiderte sie und zuckte mit den Schultern. »Bei der Bereitschaftspolizei ist es nicht schlechter oder besser als in Buchholz. Es ist einfach nur anders.«

Mit einer kurzen Kopfbewegung gab er ihr zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte. Als sie abseits der Kollegen einen Platz gefunden hatten, sagte er: »Können Sie sich vorstellen, demnächst in einer anderen Verwendung eingesetzt zu werden?«

»Wie meinen Sie das?«

»Bei mir im Ersten Fachkommissariat wird eine Stelle frei.«

»Wann?«

»Ab sofort.«

Jana Liebisch blickte ihn überrascht an. »Sie meinen die Stelle von Jens?«

»Genau die meine ich.«

Sie schwieg einige Augenblicke, dann erwiderte sie: »Die Entscheidung können Sie nicht treffen.«

»Doch, das kann ich.«

»Wie viel Bedenkzeit habe ich?«

»Keine. Ihr Bauch entscheidet, nicht Ihr Kopf. Wollen Sie oder wollen Sie nicht?«

Kapitel 8

DERGEHÄNGTE

In der Nähe von Sprötze,Waldlichtung,Montag, 13. Mai, 10:15 Uhr

Martin Stelters Golden Retriever hatte sich mittlerweile unter eine mächtige Eiche gelegt, die direkt an der Lichtung stand. Die Sonne schien ihm auf das Fell.

DerGehängte ging auf die Knie, um den Hund zu streicheln. Stelter ließ er dabei nicht aus den Augen. Der war noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen.

Während seine Hände durch das Fell des Tieres fuhren, schallte Verdis Nabucco nach wie vor aus den Lautsprecherboxen. Die Aufnahme stammte aus dem Jahr 1965. Lamberto Gardelli dirigierte das Orchester der Wiener Staatsoper, Tito Gobbi gab den Nabucco und Elena Souliotis die Abigail. Die kraftvolle Stimme der Sopranistin, die sich mühelos gegen das Orchester und den Chor durchsetzte, war zu hören.

Er schaute auf den Hund. »Abigail, diese Schlange! Hörst du, wie arrogant und hämisch sie ist? Ihr ist jedes Mittel recht, um den Thron zu besteigen. Dafür betrügt sie und lässt ihren eigenen Vater einkerkern. Sie schreckt nicht einmal davor zurück, ein ganzes Volk ermorden zu lassen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich Menschen wie Abigail verachte!«

Der Hund hob den Kopf und schnappte nach einer Fliege.

Er streichelte den Golden Retriever behutsam. »Feiner Bosko«, raunte er.

Der Hund schmatzte zufrieden.

»Diese Oper ist zwar schon alt, aber sie erzählt uns heute noch so unendlich viel. Über grenzenloses Streben nach Ruhm, über krankhaften Ehrgeiz und über gnadenlose Selbstzerstörung.«