Schuld und Menschlichkeit - Constantin Himmelried - E-Book

Schuld und Menschlichkeit E-Book

Constantin Himmelried

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Beschreibung

Die Fälle, die hier erzählt werden, beruhen auf wahren Begebenheiten. Sie ermöglichen Ihnen einen tiefen Einblick in die Justizvollzugsanstalten und in das deutsche Rechtssystem. Ein Killer feuert in der Öffentlichkeit neun Mal in das Gesicht seines Opfers. Seine Strafe: sechs Jahre Haft. Ein unscheinbarer Gefangener muss am Tag seiner Freilassung zurück ins Gefängnis und begeht Selbstmord. Ein Vergewaltiger will seine Tat nicht eingestehen und akzeptiert eine höhere Strafe, die er ohne Bewährung bis zum Schluss absitzt. Dann trifft er einen alten Freund. Ein Schleuser, der acht Frauen unter lebensgefährlichen Umständen nach Deutschland geschleppt hatte, kommt mit einer Geldstrafe davon. Aus der Presse entnehmen Sie nur die Schlagzeilen: den Beginn des Prozesses, den Verdacht der Staatsanwaltschaft und am Ende die Verurteilung. Nicht immer bestätigt sich der Verdacht der Staatsanwaltschaft, nicht immer findet eine tatsächliche Verteidigung statt. Dieses Buch wird Ihnen einen Einblick in den Alltag von Strafprozessen und der Handhabung von Urteilen geben. Und Sie werden erstaunt sein, vielleicht erschrocken, wie das Justizsystem tatsächlich funktioniert. Schuld & Menschlichkeit erzählt die Geschichte hinter der Geschichte. Der Leser erfährt, was wirklich geschah. Warum die Strafen so ausgefallen sind. Und dass hinter jedem einzelnen Schicksal weit mehr steckt, als nur die Schlagzeile in der Zeitung. Begleiten Sie den Autor in die Parallelgesellschaft "Knast" und erleben Sie hautnah diese "geschlossene" Gesellschaft. "Fesselnd, spannend, hoch emotional und kurzweilig. Tauchen Sie ein in eine real existierende Welt, verborgen hinter hohen Mauern und Gerichtssälen!"

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Seitenzahl: 240

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Die Fälle, die hier erzählt werden, beruhen auf wahren Begebenheiten. Sie ermöglichen Ihnen einen tiefen Einblick in die Justizvollzugsanstalten und in das deutsche Rechtssystem.

Aus der Presse entnehmen Sie nur die Schlagzeilen: den Beginn des Prozesses, den Verdacht der Staatsanwaltschaft und am Ende die Verurteilung.

Nicht immer bestätigt sich der Verdacht der Staatsanwaltschaft, nicht immer findet eine tatsächliche Verteidigung statt.

Dieses Buch wird Ihnen einen Einblick in den Alltag von Strafprozessen und der Handhabung von Urteilen geben. Und Sie werden erstaunt sein, vielleicht erschrocken, wie das Justizsystem tatsächlich funktioniert.

Schuld und Menschlichkeit erzählt die Geschichte hinter der Geschichte. Der Leser erfährt, was wirklich geschah. Warum die Strafen so ausgefallen sind. Und dass hinter jedem einzelnen Schicksal weit mehr steckt, als nur die Schlagzeile in der Zeitung.

Begleiten Sie den Autor in die Parallelgesellschaft „Knast“ und erleben Sie hautnah diese „geschlossene“ Gesellschaft.

„Fesselnd, spannend, hoch emotional und kurzweilig. Tauchen Sie ein in eine real existierende Welt, verborgen hinter hohen Mauern und Gerichtssälen!“

„Meine Vorstellung von Recht und Gerichten war Kinderglaube"

*Norbert Blüm, früherer CDU-Sozialpolitiker und Arbeitsminister(2014 im Tagesspiegel)

"In Deutschland kann man, statt einen Prozess zu führen, ebenso gut würfeln.“

Bundesverfassungsrichter a.D. Prof. Willi Geiger (zitiert aus Deutsche Richterzeitung 9/1982, S. 325)

Constantin Himmelried

Schuld und Menschlichkeit

Justizfälle über Moral und Gerechtigkeit

© 2017 Constantin Himmelried

Lektorat/Korrektorat: Lektorat Seitzmayer, Mainz

Buchcover: Coverkitchen

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback

ISBN 978-3-7345-9349-9

Hardcover

ISBN 978-3-7345-9761-9

e-Book

ISBN 978-3-7345-9351-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Neun Schüsse ins Gesicht

Der Toastdieb

Der Vergewaltiger

Der koreanische Schleuser

Besonderer Dank geht an meine Familie, die mich

sehr unterstützt hat. Aber auch an Renate und Konstantin, die zu einer Zweitfamilie für mich geworden sind. Und Wolfgang, der aus dem Nichts kam und mich völlig selbstlos unterstützte.

Ohne diese und viele weitere Menschen, wäre dieses Buch nie entstanden.

Ich danke euch von ganzem Herzen.

PROLOG

Das Licht

Die Farben verblassten. Die Welt verschwamm. Er war von ihnen gegangen und hinterließ seine Familie, Verwandte, Bekannte und Freunde. Viele Tränen wurden vergossen. Die Trauer war groß. Sie mochten ihn. Sie liebten ihn. Er war ihr Freund, ihr Vertrauter, Vater, Ehemann und Sohn. Viele suchten seine letzte Ruhestätte auf; zu Beginn noch regelmäßig, aber mit der Zeit ließen die Besuche nach. Da war zu viel Trauer und zu viel Schmerz. Sie wollten ihn vergessen. Nur seine Eltern kamen regelmäßig und legten Gaben nieder. Aber auch sie schieden nach Jahren aus dem Leben.

Seine Frau und die beiden Kinder hatten die Trauer nach vielen Jahren überwunden und einen neuen Ehemann und Vater gefunden. Sie dachten nicht mehr zurück. Es tat zu weh. Seine Freunde und Bekannten hatten ihn vergessen. Das Leben musste weitergehen. Die Trauer und das Vermisst werden lassen mit der Zeit nach.

Doch eines Tages geschah es. Ein Tor öffnete sich. Er sah das Licht. Das gleißende, helle Licht. Es blendete seine Augen. Farben strömten auf ihn ein, Geräusche.

Schützend hielt er die Hand vor die Augen und blickte um sich. Er suchte seine Familie, seine Freunde, die Verwandten und Bekannten. Er wollte doch mit ihnen feiern: sein Leben, seine Wiederauferstehung.

Doch er war alleine. Alleine im Licht. Niemand war da. Niemand kam. Niemand hieß ihn willkommen. Enttäuschung breitete sich in ihm aus. Trauer. Verzweiflung. Sollte es so sein? Wieder zurück im Leben und doch alleine? Wurde ihm tatsächlich alles genommen? Sein Leben, seine Familie, seine Freunde und Bekannten?

Er drehte sich um und las die gebogene Inschrift aus großen, metallenen Buchstaben über dem Tor:

JUSTIZVOLLZUGSANSTALT

Neun Schüsse ins Gesicht

Die Pressemeldungen auf den Titelseiten vieler Tageszeitungen schockierten:

„Kaltblütiger Mord auf dem Parkplatz“, „Killer erschießt Mann im Auto“.

Eine Tageszeitung fasste es passend zusammen: „Mit neun Schüssen ins Gesicht hingerichtet“. Darunter verpixelte Bildaufnahmen eines mit Blut verschmierten Fahrzeuginnenraums.

Yusuf bekam diese Titelseiten nicht mit. Er wurde gerade mit angelegten Handschellen von der Polizei in die JVA gefahren. Sie hatten ihn auf frischer Tat ertappt. Die Pistole noch in der Hand. Ein Lächeln im Gesicht. Ein kaltblütiger Killer. Die Polizisten waren nervös. Sie hatten ihre Schutzwesten noch an und die Hand an der Pistole. In der JVA wurde er von sechs Beamten empfangen und in eine Zelle gebracht. Ein rotes Schild wurde von außen unter der Zellennummer angebracht. Damit wusste jeder, dass hier jemand gefährlich war. Einzelhaft. Sie mussten ihn erst kennenlernen.

Nach sechs Wochen wurde er in den Haupttrakt verlegt und bekam eine Zelle auf dem Gang zwischen all den anderen Gefangenen: Drogendealer, Totschläger, Mörder, Betrüger, Kleinkriminelle. Der Inkubator des Bösen. Er aber war ein Killer. Ein eiskalter Killer. Die anderen Gefangenen wussten sofort, wer er war. Der Knast ist eine Welt für sich. Nichts bleibt geheim. Die Beamten hatten schon Tage vorher verlauten lassen, dass der Parkplatzkiller bald hierher verlegt werde.

Beim ersten Hofgang mit den anderen Gefangenen traute sich kaum jemand, ihn anzusprechen. Ein paar Landsleute – Yusuf war Deutscher, hatte aber türkische Wurzeln – grüßten ihn ehrfürchtig. Er grüßte zurück. Nach ein paar Wochen hatten sie sich an ihn gewöhnt. Er war nett. Sogar souverän. Ein angenehmer Mithäftling. Um ihn herum bildete sich eine kleine Gruppe Landsleute und sie kochten gemeinsam und lachten. Im Knast fragt man den anderen nicht nach seiner Tat. Hier sind alle gleich. Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen.

Yusuf bekam einmal im Monat Besuch von seiner Frau und seinen beiden Kindern. Ihm war klar, dass er lebenslänglich bekommen würde. Fünfundzwanzig Jahre würde er im Knast verbringen. Auch seiner Frau hatte er das klargemacht. Die Kinder verstanden es noch nicht. Der Sohn war vier, die Tochter gerade zwei geworden. „Irgendwann werden sie es begreifen”, sagte er zu seiner Frau und streichelte seiner kleinen Tochter dabei zärtlich über den Kopf, während sein Sohn in der Spielecke des Besucherzimmers mit den Bausteinen spielte. Wenn seine Frau mit den Kindern kam, wurde der Besucherraum für andere gesperrt. Er war ein Killer und Killer sind gefährlich. Die Beamten – vier an der Zahl standen im Besucherzimmer verteilt – waren aber trotzdem sichtlich berührt von der Herzlichkeit, die in dieser kleinen Familie herrschte. Beim Abschied flossen stets Tränen. Seine Frau konnte sie nicht halten und ging dann weinend mit der Tochter im Arm und dem Sohn an der Hand aus der einen Tür des Besucherzimmers, während er, eskortiert von den vier Beamten, den Raum durch die gegenüberliegende Tür verließ.

Für den Staatsanwalt war es ein einfacher Fall. Mord. Kaltblütiger Mord. Die Beamten hatten sauber ermittelt. Zeugen befragt. Klassischer Mord aus niedrigen Beweggründen. Yusuf hatte beim Opfer, einem stadtbekannten Geldhai mit großem Vorstrafenregister, Geld geliehen und konnte es nicht zurückzahlen. Daher – so das Ergebnis der Ermittlungen – brachte Yusuf ihn um. Fall gelöst.

Die einzige Besonderheit hier schien das hohe Maß an Brutalität der Tat zu sein: am helllichten Tage mit einer Pistole bewaffnet auf einem gut besuchten Parkplatz eines Supermarktes auf das im Auto wartende Oper zuzugehen und durch das geöffnete Fenster der Fahrerseite neun Schüsse ins Gesicht abzufeuern. Menschen warfen sich vor Angst auf den Boden, als sie die Schüsse hörten. Kinder weinten. Und Yusuf stand nur da. Starrte sein Opfer an. Das Blut, das im Fahrzeuginneren verteilt war. Knochen und Gehirnfetzen klebten am Beifahrerfenster und auf dem Sitz.

Die Polizei traf einige Minuten, nachdem Schüsse gemeldet worden waren, mit quietschenden Reifen am Tatort ein. Yusuf stand unbewegt und starrte in das Fahrzeug auf sein Opfer. Die Polizisten, die zuerst am Tatort waren, stellten ihren Wagen quer und versteckten sich mit gezogene Pistolen hinter dem Fahrzeug und schrien:

„Waffe runter! Sofort auf den Boden legen!”

Sie mussten es ein paar Mal wiederholen, bis Yusuf offensichtlich wieder zu sich kam. Er blickte sich um, schaute die Polizisten an, blickte auf die Waffe in seiner Hand und ließ sie erschrocken fallen. „Als würde er aus einem Traum erwachen“, gab einer der Polizisten später zu Protokoll. Sofort legte er sich auf den Boden und streckte Arme und Beine aus. Er ließ sich widerstandlos festnehmen.

Die Ermittlungen waren abgeschlossen. Die Anklage fertiggestellt, alles innerhalb von nur vier Monaten. Der Prozess würde in den nächsten Monaten beginnen. Es würde ein kurzer Prozess sein. Die Sachlage war klar. Eindeutig.

Dr. Becker wurde Yusuf als Pflichtverteidiger beigeordnet. Bemüht versuchte er, Yusuf zu überreden, ein psychologisches Gutachten erstellen zu lassen, um die Strafe wenigstens ein bisschen abzumildern. Aber Yusuf winkte ab. „Ich bin kein Irrer“, sagte er ihm.

Stattdessen erzählte Yusuf ihm von seiner Frau. Wie sie sich kennengelernt hatten. Ihre und seine Eltern kamen aus dem gleichen Dorf. Über diesen Zufall berichtete er Dr. Becker bei jedem Besuch, als könnte er es immer noch nicht glauben, dass dieser Zufall die Bestimmung für sie beide war. Sie hatten sich zufällig im Supermarkt kennengelernt und sich sofort ineinander verliebt. In dem Supermarkt, auf dessen Parkplatz er einen Menschen hinrichtete. Eine Tat, welche die beiden nun für mindestens fünfundzwanzig Jahre trennen würde.

Yusuf wollte nicht über die Tat sprechen. Dr. Becker fragte ihn, ob die Ermittlungsergebnisse korrekt seien, ob er den Mann umgebracht habe, weil er Schulden bei ihm habe. Yusuf bejahte. „Das Schwein hat seine gerechte Strafe bekommen. Jetzt bekomme ich meine.“ Damit war der Fall für Yusuf erledigt.

Dr. Becker schrieb einen einzigen Satz, adressiert an die Staatsanwaltschaft: „Mein Mandant räumt die Tat vollumfänglich ein.” Doch als er das Schreiben gerade unterzeichnen wollte, hielt er inne. Er glaubte Yusuf nicht.

Er hätte seinen ersten großen Fall locker durchziehen können. Es war ein einfacher Fall. Die Presse würde über ihn als Anwalt des Parkplatzkillers berichten, was seiner Karriere als Strafverteidiger sicher gutgetan hätte. Wenig Arbeit, tolle Publicity.

Aber er entschied sich, den Fall zu lösen. Er wollte wissen, welches Geheimnis Yusuf verbarg.

Der Prozess begann sechs Monate nach Yusufs Inhaftierung. Er wurde mit Handschellen und Fußfesseln in den Gerichtssaal geführt. Die Richterin – eine besonnene und erfahrene Juristin – verfügte, ihm die Handschellen und Fußfesseln während des Prozesses abzunehmen. Von einem kurzen Einwand der Beamten ließ sie sich nicht überzeugen und blieb bei ihrer Anordnung.

„Aus meinem Gerichtssaal ist noch keiner geflohen und so wie ich die Sache sehe, hat er das auch nicht vor”, sagte sie und blickte Yusuf an. Er nickte leicht und es war klar, dass man sich verstand.

Der Staatsanwalt verlas die Anklage. Dr. Becker erklärte, sein Mandant mache von seinem Schweigerecht Gebrauch – wenigstens darauf hatte sich Yusuf eingelassen, obwohl ihm der Prozess eigentlich lästig und unnötig erschien. Ihm war seine Strafe klar und daran hatte er nichts auszusetzen.

Die Termine für die folgenden Verhandlungstage wurden besprochen. Einschließlich der Zeugenvernehmungen – die festnehmenden Beamten, der Gerichtsmediziner, - der das Opfer obduziert hatte, und ein „Mitarbeiter” des Opfers, legte die Richterin vier Verhandlungstage fest. Dr. Becker behielt sich vor, noch weitere Zeugen zu benennen. So wurden insgesamt fünf Verhandlungstage angesetzt.

Am zweiten Verhandlungstag erzählten die beiden Polizisten, die zuerst am Tatort eintrafen, wie Yusuf mit starrem Blick dastand, die Waffe in der rechten Hand. Erst nach mehrmaliger Aufforderung ließ er die Waffe fallen und sich widerstandlos festnehmen.

Dr. Becker wollte von den Beamten wissen, welchen Eindruck sie von Yusufs Verfassung hatten, als er so dastand und in das Fahrzeug auf sein Opfer blickte.

„Er war nicht bei Sinnen”, sagte der eine Beamte.

„Blutrausch”, schlussfolgerte der andere.

„Das Gericht wird sich eine eigene Meinung bilden“, ermahnte die Richterin den Polizisten.

"Was haben die Ermittlungen in Bezug auf die Verwendung der Geldmittel, die sich der Angeklagte beim Opfer geliehen hatte, ergeben?", fragte Dr. Becker.

"Dazu liegen keine Erkenntnisse vor", war die Antwort.

Der Staatsanwalt fügte hinzu: "Es ist offensichtlich, dass mit dem Geld irgendetwas angestellt worden ist, womit sich das Schweigen des Angeklagten erklären lässt."

Damit war der Verhandlungstag geschlossen.

Am dritten Verhandlungstag beschrieb der Gerichtsmediziner ausführlich die Schussverletzungen des Opfers. Die Schüsse wurden aus nächster Nähe abgegeben. Bereits die erste Kugel tötete ihn. Die darauffolgenden acht zerfetzen die linke Schädeldecke und die linke obere Gesichtshälfte.

Er führte aus, dass er schon viele Opfer als Gerichtsmediziner untersucht habe, aber diese Art der Grausamkeit habe er noch nicht gesehen. „Wie eine Hinrichtung", sagte er.

Niemand hatte Fragen. Der Zeuge wurde entlassen.

Nächster Zeuge war ein „Mitarbeiter" des Opfers. Ein Kleinkrimineller, der Botengänge für das Opfer erledigte und manchmal den Chauffeur spielte.

Er erzählte dem Gericht, wie Yusuf in das Büro des Opfers kam und um Geld bat. Er erhielt es, konnte es dann aber nicht pünktlich zurückzahlen und bat um Aufschub. Letztlich wollte er das Geld am Tag der Tat zurückzahlen. Als Treffpunkt war der Parkplatz des Supermarktes ausgemacht.

Für den Staatsanwalt war der Fall klar. Er hatte keine Fragen.

„Wofür wollte der Angeklagte das Geld?“, fragte Dr. Becker. Yusuf schaute erbost zu ihm. Es war nicht abgesprochen, dass er Fragen stellte.

„Für seinen Laden. Da lief es nicht mehr so. Er hatte uns erzählt, dass seine Kunden ihm Geld schuldeten, und sobald er das habe, könne er zurückzahlen.“

Yusuf betrieb mit seiner Frau einen kleinen Lebensmittelladen in der Nähe des Supermarktes. Türkische Lebensmittelspezialitäten.

„Wissen Sie, wofür genau er das Geld brauchte?“

„Er sagte irgendwas von Lieferanten bezahlen, sonst bekomme er keine Ware mehr.“

„Haben Sie Yusuf am Tag vor der Tat gesehen?“

Yusuf wurde unruhig. Er schaute Dr. Becker mit bösem Blick an, dieser blickte aber souverän auf den Zeugen.

„Nein.“

Yusuf beruhigte sich wieder etwas.

„Keine weiteren Fragen.“

Der Verhandlungstag war abgeschlossen.

„Was sollte die Fragerei?“, fragte Yusuf sichtlich erbost darüber.

„Lassen Sie mich bitte meinen Job machen. Ich bin Ihr Anwalt und ich vertrete Ihre Interessen. Können wir das so festhalten?“

„Ist ja gut. Aber ich habe einfach keine Lust mehr. Die sollen das Urteil sprechen und fertig. Was gibt es da so viel zu reden?“

„Wir sehen uns nächste Woche.“

„Sagen Sie meiner Frau bitte, dass ich sie liebe! Und die Kinder!“

Yusuf wollte nicht, dass seine Frau als Zuschauerin im Gerichtssaal anwesend war. Sie sollte das nicht mitbekommen.

Der nächste Verhandlungstag war wichtig. Dr. Becker wollte vor Gericht einen Zeugen laden lassen. Er hatte mit dem Zeugen bereits gesprochen. Er war kurzfristig verfügbar.

Der vierte Verhandlungstag. Yusuf war sichtlich unruhig. Dr. Becker verwickelte ihn in ein Gespräch über das Knastleben. Yusuf schien aber etwas zu spüren.

„Yusuf, Sie erinnern sich an unsere Abmachung? Ich bin Ihr Anwalt, ich vertrete Ihre Interessen. Sie lassen mich machen! Okay?“

„Jaja, alles okay. Machen Sie, was Sie wollen. Ich bin heute nur irgendwie komisch drauf. Habe schlecht geschlafen. Entschuldigen Sie bitte.“

Die Richterin betrat den Sitzungssaal. Alle erhoben sich.

Das ist so üblich. Der Anwalt und Staatsanwalt tragen Roben. Ein Raum des gegenseitigen Respekts: der Ankläger, der Verteidiger, das Gericht. Beide Seiten werden gehört. Beide Seiten versuchen, ihren Job so gut wie möglich zu machen. Dann wird gerichtet. Gerichtet über einen Menschen. Über seine Tat. Über sein Leben. Seine Vergangenheit und seine Zukunft.

Die Richterin begrüßte die Anwesenden und schaute zu Dr. Becker.

„Ihre Zeugin ist bereits da?“, fragte sie ihn.

„Jawohl, Frau Vorsitzende.“

„Na, dann.“ Sie griff zu ihrem Mikrofon auf dem Richtertisch und drückte einen Knopf. „Ich rufe Frau Yilmaz in den Zeugenstand.“

Yusuf erschrak. Er blickte um sich, wusste gar nicht, was er tun sollte, und da ging die Tür zum Verhandlungssaal auf. Seine Frau kam herein.

Dr. Becker hatte sie vor einigen Wochen in seine Kanzlei bestellt. Er hatte ihr erklärt, dass sie mindestens fünfundzwanzig Jahre von ihrem Mann getrennt sein werde. Die Kinder ohne Vater aufwachsen würden. Daraufhin wurde ihr wirklich bewusst, was es bedeutete. Sie brach in Tränen aus und erzählte ihm, was tatsächlich passiert war.

Yusuf stand auf und wurde laut: „Das geht nicht! Was machst du hier? Geh nach Hause! Das könnt ihr nicht machen!“

„Setzen Sie sich sofort hin“, ermahnte ihn die Richterin in bestimmenden Ton.

Er schaute sie an, die Hände auf den Tisch gestützt, Tränen in den Augen.

„Das können Sie nicht machen!“, schluchzte er leise.

Der Staatsanwalt verstand die Welt nicht mehr. Die Richterin war auch überrascht.

„Was können wir nicht machen, Herr Yilmaz?“

„Sie können nicht einfach so meine Frau hierherholen!“

„Das können wir sehr wohl, Herr Yilmaz, und wenn Ihre Frau etwas beitragen kann und aussagen möchte, dann darf sie das auch. Ihre Frau entscheidet das.“ Sie wandte ihren Blick zu Yusufs Frau.

„Frau Yilmaz, möchten Sie aussagen?“

„Ja.“

„Dann nehmen Sie bitte Platz.“

Yusuf setzte sich, riss Dr. Becker am Arm und flüsterte ihm laut zu: „Was soll das? Waren Sie das? Das dürfen Sie nicht! Das geht nicht!“

„Bitte, Herr Yilmaz, beruhigen Sie sich. Ich mache nur meinen Job!“

Yusuf blickte zu seiner Frau, sie schaute ihn an, Tränen in den Augen. Ein Taschentuch in der rechten Hand. Sie schüttelte langsam mit dem Kopf, als wollte sie sagen, es wird nicht so enden, wie Yusuf es für sich beschlossen hatte. „Ich liebe dich“, flüstert sie.

Yusuf hatte ebenfalls Tränen in den Augen. Er senkte den Kopf.

Die Richterin stellte ihre Personalien fest und belehrte sie darüber, die Wahrheit zu sagen. Außerdem teilte sie mit, dass auf Wunsch der Verteidigung die Öffentlichkeit für diese Zeugenvernehmung ausgeschlossen wurde.

Dr. Becker erhielt das Fragerecht.

„Frau Yilmaz, ich möchte mit Ihnen über den Tag vor der Tat sprechen. Bitte sagen Sie mir, wo Sie an dem Freitagabend ab zwanzig Uhr waren.“

„Ich war zu Hause. Mit den Kindern.“

„War Ihr Mann auch da?“

„Ja.“

„War noch jemand da?“

„Ja, Burak und Mohamed.“

„Ist Burak das Opfer?“

„Ja.“

„Und Mohamed?“

„Es ist ein Mitarbeiter von Burak. Ich weiß nicht, wie er weiter heißt.“

„Würden Sie Mohamed wiedererkennen?“

„Ich glaube schon.“

Er holte ein Foto aus der Ermittlungsakte. Darin war Mohameds Strafregister enthalten, mit Fotos von ihm. Er ging zum Zeugentisch und zeigte ihr die Fotos.

„Ist das Mohamed?“

„Ja.“

Er brachte die Fotos zum Richtertisch. Der Staatsanwalt stand auf und lief auch an den Richtertisch, um sich die Fotos anzusehen.

Natürlich wusste Dr. Becker, um wen es sich handelte. Es war Mohamed Serdar, der Zeuge, der beim letzten Verhandlungstag ausgesagt hatte, er habe Yusuf am Tag vor der Tat nicht gesehen.

Der Staatsanwalt winkte einem der Gerichtsdiener – Beamte in Uniform, die während des Prozesses an den Ein- und Ausgängen stehen, um Fluchtversuche eines Angeklagten zu verhindern. Er ging mit ihm zur Anklagebank und tuschelte, während er hastig etwas niederschrieb. Dann blickte er kurz zur Richterin. Sie nickte ihm wortlos zu. Der Gerichtsdiener verließ daraufhin, mit dem Zettel in der Hand, eilig den Gerichtssaal.

Dr. Becker fuhr mit der Befragung fort.

„Wussten Sie, dass Ihr Mann bei Burak Geld geliehen hatte?“

„Ja.“

„Wissen Sie auch, warum?“

„Wir haben einen kleinen Lebensmittelladen. Einige unserer Kunden haben nicht viel Geld. Daher geben wir ihnen manchmal die Waren und sie bezahlen dann später, sobald sie wieder Geld haben. Einige taten dies, viele aber nicht. Es hat sich über die Jahre aufgestaut. Uns fehlte immer mehr Geld, um Waren einzukaufen. Wir hatten Schulden bei den Lieferanten und sie wollten uns erst wieder mit Ware beliefern, wenn wir die offenen Rechnungen bezahlen. Wir versuchten, das Geld bei den Kunden einzutreiben, aber sie haben uns vertröstet. Bei der Bank wollte man uns nichts geben. Yusuf hatte von Burak gehört, dass man bei ihm Geld leihen könne. So ging er zu ihm. Wir haben damit die Rechnungen der Lieferanten bezahlt und wurden wieder beliefert. Wir gingen davon aus, dass wir das Geld von unseren Kunden bekommen und so Burak zurückgeben können.“

„Konnten Sie Burak das Geld zurückgeben?“

„Einen Teil. Yusuf hatte sich zwanzigtausend Euro von ihm geliehen. Viertausend Euro haben wir zurückbezahlt. Aber Burak nahm sehr hohe Zinsen.“

Der Staatsanwalt schrieb fleißig mit, auch die Schöffen am Richtertisch.

„Wie hoch waren die Zinsen?“

„Zweitausend Euro pro Woche.“

„War Ihrem Mann bewusst, dass die Zinsen so hoch sein würden?“

„Nein! Er verstand das mit den Zinsen nicht, als er das Geld von ihm bekam. Als Mohamed nach einer Woche in den Laden kam, um die Zinsen zu kassieren, war Yusuf erschrocken. Er bezahlte ihm aber die zweitausend Euro. Eine Woche danach gab Yusuf Mohamed wieder zweitausend Euro. Danach ging es nicht mehr. Wir hatten einfach das Geld nicht.“

„Lassen Sie uns weiter über den Vorabend der Tat sprechen. Sie sagten, Sie waren zu Hause. Die Kinder auch. Und Yusuf. Burak und Mohamed waren auch da. Ist das so korrekt?“

„Ja.“

„Wo waren Sie?“

Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augen und holte tief Luft.

„In der Küche. Die Kinder waren im Kinderzimmer.“

Er wusste, dass er jetzt behutsam vorgehen musste mit seinen Fragen. Er durfte sie nicht überfordern.

„Warum waren Burak und Mohamed bei Ihnen zu Hause an dem Abend?“

„Sie wollten das Geld haben.“

„Die Zinsen?“

„Alles. Sie wollten insgesamt achtunddreißigtausend Euro haben.“

„Wissen Sie, wie diese Summe zustande kam?“

„Ja, die zwanzigtausend Euro, die Yusuf sich geliehen hatte, und Zinsen für neun Wochen. Für zwei Wochen hatten wir die Zinsen ja bezahlt.“

„Es war also elf Wochen her, dass Yusuf sich das Geld geliehen hatte bei Burak?“

„Ja.“

„Also, die Summe ergab sich aus den geliehenen zwanzigtausend Euro, den zweiundzwanzigtausend Euro Zinsen aus elf Wochen abzüglich der viertausend Euro, die Sie bereits bezahlt hatten. Ist das korrekt?“

„Ja.“

„Vielen Dank, Frau Yilmaz. Sie machen das sehr gut. Bitte lassen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen, um meine folgenden Fragen zu beantworten.“

Er blickte kurz an den Richtertisch. Er hatte die volle Aufmerksamkeit der drei Berufsrichter und der beiden Schöffen. Sie warteten gespannt auf seine nächsten Fragen.

Yusuf starrte seine Frau mit ausdruckslosem Blick an. Er war wie ohnmächtig. Er ahnte, was nun kommen würde.

„Sind Sie bereit, Frau Yilmaz?“

„Ja“, sagte sie und schniefte kurz in ihr Taschentuch.

„Bitte erzählen Sie uns, wie dieser Abend abgelaufen ist.“

„Burak und Mohamed kamen. Wir hatten sie nicht erwartet. Als ich die Tür öffnete, drückte Mohamed sie einfach auf und sie kamen herein. Mohamed schloss die Tür. Burak forderte Yusuf auf, sich auf den Küchenstuhl zu setzen. Dann hielten sie ihn fest und banden ihm die Hände hinten und die Füße an den Stuhlbeinen mit Kabelbinder zusammen. Er wehrte sich anfangs, aber sie hielten ihn fest.“

„Wo waren Sie?“

„Ich stand da und habe einfach nur Angst gehabt.“

„Sie haben Yusuf also an den Stuhl gefesselt. Was geschah dann?“

Sie schluchzte. Ein paar Tränen liefen die Wangen herunter.

„Dann hat Burak rumgeschrien. Was Yusuf denn glaube. Ob er ihn für einen Idioten halte, den man einfach so hinhalten könne.“

Er ging behutsam mit seinen Fragen vor. Nicht zu schnell. Ein Detail nach dem anderen. Er musste auf sie achtgeben. Es durfte jetzt nichts schiefgehen.

„Wo war Mohamed?“

„Er hatte sich vor die Tür gestellt.“

„Vor die Haustür? Von innen?“

„Ja.“

„Machte es für Sie den Eindruck, dass er dort stand, um Sie an der Flucht aus dem Raum hindern zu können?“

„Ja.“

„Mohamed war also die ganze Zeit im Raum anwesend?“

„Ja.“

„Wie hat Yusuf auf das Geschrei von Burak reagiert?“

„Yusuf sagte ihm, dass es ihm leidtue. Dass er das Geld einfach gerade nicht habe. Dass er ihn nicht für einen Idioten halte und ihm dankbar sei, dass er unserer Familie mit seinem Darlehen geholfen habe, dass er ihn um mehr Zeit bitte.“

„Haben die Kinder das Geschrei von Burak mitbekommen?“

„Ja, bestimmt. Das Kinderzimmer ist direkt neben der Küche. Die Tür war zwar zu, aber es ist sehr hellhörig. Abends flüstern wir, damit wir die Kinder nicht stören.“

„Die Kinder haben also alles mitbekommen, was in der Küche geschah?“

Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Staatsanwalt stand sofort auf und gab ihr ein Taschentuch. Er ließ die Packung gleich auf dem Zeugentisch liegen. Dr. Becker ging zum Zeugentisch. Er nahm einen Stuhl und setzte sich neben sie. Er hielt ihre Hand. Yusuf hatte seinen Kopf zwischen seinen verschränkten Armen vergraben.

„Frau Vorsitzende“, richtete er seinen Blick zur Richterin, „ich bitte um Erlaubnis, die Befragung am Zeugentisch neben der Zeugin fortzuführen.“

„Selbstverständlich“, antwortete die Richterin, sichtlich berührt von der Szene.

Er gab ihr ein paar Minuten.

„Okay“, sagte sie schluchzend, wieder etwas gefasst.

„Die Kinder haben also alles mitbekommen, was in der Küche geschah?“

„Ja.“

„Bitte erzählen Sie uns, wie Burak auf das Flehen Ihres Mannes reagierte.“

Er verwendete das Wort „Flehen“ ganz bewusst. Hier im Saal saß der Parkplatzkiller. Ein kaltblütiger Mörder. Das Meinungsbild von Yusuf war durch die Presse erschaffen worden und in den Köpfen aller Beteiligten, vor allem in den Köpfen der Schöffen.

Die Presseberichterstattung war allen bekannt. Sie hatten ein Bild von Yusuf. Dieses Bild würde sich jetzt ändern.

„Burak lachte laut. Er beschimpfte Yusuf.“

„Wie beschimpfte er ihn? Was sagte er zu ihm?“

„Er sagte, er sei ein Schlappschwanz und ein Schwächling.“

„Wie reagierte Yusuf?“

„Er senkte den Kopf. Er sagte, es tue ihm leid.“

„Was tat Burak dann?“

Wieder weinte sie. Es dauerte ein paar Sekunden.

„Burak ... Burak hat ...“ Eine lange Pause. Sie schluchzte, konnte den Satz nicht beenden.

„Burak hat dann gesagt: ‚Jetzt zeigen wir dem Schlappschwanz mal, wie man das richtigmacht’, und dann hat Burak ...“, sie brachte den Satz nicht zu Ende.

„Und dann hat Burak Sie vergewaltigt“, sagte Dr. Becker sanft, aber so laut, dass es alle Anwesenden klar verstehen konnten.

Sie hielt weinend die Hände vor ihr Gesicht und nickte.

„Ist schon gut. Sie machen das sehr gut. Gleich haben wir es geschafft“, flüsterte er ihr zu und legte den rechten Arm um sie. Er hatte vorher mit ihr besprochen, wie er sie befragen würde. Aber trotzdem überkam es sie. Sie weinte bitterlich.

„Frau Yilmaz“, fuhr er fort. „Keiner hier im Raum kann ermessen, was Sie durchgemacht haben. Aber jeder empfindet höchste Anerkennung für Ihren Mut, uns das mitzuteilen. Das, was Sie uns heute erzählen, wird diesen Raum nicht verlassen.“

Den Satz hatte er sich lange überlegt. Nach dem Gespräch mit ihr in der Kanzlei war ihm bewusstgeworden, warum Yusuf darüber nichts erzählen wollte. Es war ihm peinlich. Er hatte Schuldgefühle. Er fühlte sich verantwortlich für das, was seiner Frau angetan worden war. Er wollte dieses Geheimnis für sich bewahren, seine Frau schützen. Dieser Satz sollte ihm zeigen, dass sein Geheimnis hier im Raum blieb, und es keinen Grund gab, es peinlich zu finden. Dass alle Anwesenden schützend über seinem Geheimnis standen.

Er blickte kurz zu Yusuf. Auch er weinte. Er schaute seine Frau an.

Dr. Becker blickte zur Richterin. Sie verstand sofort. „Herr Yilmaz, gehen Sie zu Ihrer Frau“, sagte sie. Yusuf stand schnell auf und rannte zum Zeugentisch. Er fiel ihr in die Arme. Sie hielten sich einfach nur fest. Ganz fest. Keiner verlor ein Wort.

Nach ein paar Minuten ließ Yusuf sie los, griff sie sanft an den Armen und blickte sie an. „Es tut mir so leid. Ich liebe dich so sehr.“

Ein Gerichtsdiener brachte Yusuf einen Stuhl. Er saß nun neben seiner Frau. Hielt ihre Hände. Den Kopf gesenkt.

Man sieht es nicht alle Tage, dass während der Verhandlung der Angeklagter neben einem Zeugen am Zeugentisch sitzt. Aber in diesem Prozess war auf einmal alles anders. Niemand hatte etwas dagegen. Es schien ganz normal. Selbst der Staatsanwalt, der bekannt war für eine harte Linie, sagte kein Wort.

Dr. Becker fuhr fort.

„Frau Yilmaz, das Folgende frage ich mit allerhöchstem Respekt für Ihren Mut. Ich glaube Ihnen jedes Wort. Aber in einem Prozess muss natürlich sichergestellt sein, dass alles, was Sie sagen, der Wahrheit entspricht.“

Die Richterin schaute etwas verdutzt. Der Staatsanwalt horchte auf. Natürlich hatte er sich schon gefragt, ob das nicht ein Schauspiel sei. Aber er hatte vorher, bei der Begutachtung der Fotos von Mohamed, sofort dessen Festnahme veranlasst. Nur für den Fall. Er hatte ein Gespür dafür, ob jemand bei Gericht ein Schauspiel vorführte oder nicht. Und er hatte bei Yusufs Frau nicht den Eindruck, dass es gespielt war. Mohamed würde sich wahrscheinlich schon in Gewahrsam befinden. Natürlich war Mohamed ein schlechter Zeuge. Als Mittäter von Burak – er schaute tatenlos bei den Vergewaltigungen zu hatte er ein Zeugnisaussageverweigerungsrecht. Er musste nicht auf Fragen antworten. Mohamed war als Zeuge also nutzlos. Das wusste Dr. Becker. Er hatte aber noch ein Ass im Ärmel.

„Das verstehe ich“, sagte Yusufs Frau.

„Sie sagten, dass die Kinder alles mitbekommen haben. Und dass Mohamed, der die ganze Zeit in der Küche an der Tür stand, alles mitbekommen hat. Ist das so richtig?“

„Ja.“

„Gibt es vielleicht noch weitere Zeugen oder Beweismittel für das, was Sie uns hier berichtet haben?“

Er kannte die Antwort. Aber in einem Strafprozess basiert alles auf eindeutigen Beweisen. Er wollte die Fragen des Staatsanwaltes vorwegnehmen. Denn genau da würde dieser ansetzen.

„Eine Kamera.“

Yusuf blickte seine Frau an. Die Richterin hob den Kopf.

„Es gibt also eine Aufzeichnung von dem Vorfall, über den Sie uns gerade berichtet haben?“

„Ja.“

„Wo stand die Kamera?“

„Auf dem Kühlschrank. Versteckt zwischen den Cornflakes-Packungen der Kinder.“

„Wer hat die Kamera dort installiert?“

„Ich. Es war eine Kamera aus dem Laden.“

Jetzt musste er wieder vorsichtig fragen.