Schule der Meisterdiebe 4: Die schwarze Festung - J. J. Arcanjo - E-Book

Schule der Meisterdiebe 4: Die schwarze Festung E-Book

J. J. Arcanjo

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Schule für alle mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die eines Tages die Welt in Ordnung bringen wollen

Im vierten Jahr an der Schule der Meisterdiebe bekommen Gabriel und seine Freunde das neue Fach Umgebungskunde und lernen, unbemerkt an einen anderen Ort zu gelangen. Das hilft, denn dieses Mal gewinnt den Gaunerpokal, wer es schafft, in die berüchtigte Festung Tor Malan einzubrechen und eine der kostbarsten Ketten der Welt zu stehlen. Leider sind hinter dieser Kette auch die mächtigsten Verbrecher der Unterwelt her, die Namenlosen. Und um sich an Gabriel zu rächen, schmieden sie einen üblen Plan ... Nur mit Einfallsreichtum und Hilfe von unerwarteter Seite können Gabriel und seine Bande es schaffen.

Kurze Kapitel und Hochspannung pur garantieren den Lesespaß

»Schule der Meisterdiebe ist eine tolle Freundschaftsgeschichte mit schlauen Kindern und viel Zusammenhalt. Einer der Schüler von Crookhaven sagt es so: Allein kann man außergewöhnlich werden, zusammen unaufhaltsam.« CRUSES Buchhandlung

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Im vierten Jahr an der Schule der Meisterdiebe bekommen Gabriel und seine Freunde das neue Fach Umgebungskunde und lernen, unbemerkt an einen anderen Ort zu gelangen. Das hilft, denn dieses Mal gewinnt den Gaunerpokal, wer es schafft, in die berüchtigte Festung Tor Malan einzubrechen und eine der kostbarsten Ketten der Welt zu stehlen. Leider sind hinter dieser Kette auch die mächtigsten Verbrecher der Unterwelt her, die Namenlosen. Und um sich an Gabriel zu rächen, schmieden sie einen üblen Plan ... Nur mit Einfallsreichtum und Hilfe von unerwarteter Seite können Gabriel und seine Bande es schaffen.

Zum Autor

J. J. Arcanjo ist ein portugiesisch-englischer Schriftsteller, der an der Algarve und in Devon aufgewachsen ist. Er hat einen Abschluss in Kriminologie und Psychologie an der Aberystwyth-Universität sowie einen Master in Kreativem Schreiben und Publizieren an der City University, London, vorzuweisen und arbeitet derzeit bei Bloomsbury Publishing. Er hat zwei Kriminalromane für Erwachsene veröffentlicht. Sein Kinderbuchdebüt führt in ein Geheiminternat für Diebe mit besonderen Talenten, die das Herz am rechten Fleck haben.

J. J. Arcanjo

Schule der Meisterdiebe

Die schwarze Festung

Aus dem Englischen von Maren Illinger

SCHNEIDERBUCH

Deutsche Erstausgabe

© 2025 Schneiderbuch in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

Originaltitel: »Crookhaven. The Impossible Fortress«

Erschienen bei Hodder Children’s Books, an imprint of Hachette Children’s Group, UK

Text © 2025 by J. J. Arcanjo

Covergestaltung und -abbildung von Timo Grubing

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783505152856

www.schneiderbuch.de

Facebook: facebook.de/schneiderbuch

Instagram: @schneiderbuchverlag

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheber/Urheberinnen und des Verlags bleiben davon unberührt.

Für meinen Bruder Marcus Arcanjo, der jedes meiner Bücher gleich mehrfach gekauft hat, obwohl er sonst (grundsätzlich) keine Geschichten liest. Das ist wahre Bruderliebe.

Kapitel Eins

Gabriel Avery und seine Bande waren wieder einmal einem wohlbekannten Feind auf der Spur.

Nachdem Adria Vivas und Luciano Lopes Anfang des Sommers auf dem Transport in ein Hochsicherheitsgefängnis entkommen waren, waren die beiden untergetaucht. Gabriels Bande hatte überall nach den Anführern der Namenlosen gesucht – online und offline –, doch ohne Erfolg. Es gab keinen einzigen Hinweis. Das war nicht weiter überraschend, da die Namenlosen mit V1XEN eine der fähigsten Hackerinnen der Welt an ihrer Seite hatten. Wenige Wochen vor dem lauen Sommerabend, an dem sie nun unterwegs waren, hatten die Brüder Crim dann allerdings doch etwas gefunden – Informationen über eine Agentin der Namenlosen, die sich in den letzten zwei Jahren außer Landes aufgehalten hatte. Eine ehemalige Schülerin aus Crookhaven, die erst kürzlich nach England zurückgekehrt war und die die Bande in einer kleinen, nichtssagenden Stadt in Nord-Devon aufgespürt hatte.

Isabella Sonorov.

»Ade, Ede«, flüsterte Gabriel über Funk. »Wissen wir, wohin sie geht?«

»Schleichi hat sie im Visier«, antwortete Ade, »aber die ganzen Schornsteine machen es nicht gerade leichter.«

»Wer hat heutzutage überhaupt noch einen funktionierenden Schornstein?«, grummelte Ede. Dann fügte er mit Cockney-Akzent hinzu: »Schornsteinfegen für zwei Pence, Mister? Ich polier Ihnen auch gleich noch die Schuhe!«

Gabriel musste sich das Lachen verkneifen, zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und bog um die Ecke. Es war dunkel, aber die hellblonden Haare der Zielperson auf dem Bürgersteig vor ihm waren gut zu erkennen. Er hielt etwas Abstand, ließ eine Lücke entstehen, in die sich Passanten schoben, und bewegte sich möglichst unauffällig.

»Nur weil die meisten Leute keinen Kamin mehr benutzen«, bemerkte Penelope, »heißt es nicht, dass die Schornsteine abgerissen werden. Außerdem ist Schleichi heute nur zur Unterstützung da. Amira, Villette, wenn euch das Viech da oben in die Quere kommt, könnt ihr es gerne vom Himmel holen!« Penelope war ebenfalls am Boden im Einsatz, eine Straße weiter als Gabriel.

»Wenn ihr was passiert«, knurrte Ade, »gibt es eine Doppelbeerdigung, Crook. Deine und Schleichis!«

»Eine Beerdigung für ein Stück Blech?«, schnaubte Villette. »Ohne mich.«

Gabriel musste seine Freunde dringend zur Konzentration rufen, bevor die Lage außer Kontrolle geriet. »Amira, Villette, wie sieht es da oben aus?«

Über den Sommer war etwas Seltsames passiert – Amira und Villette hatten sich angenähert. Niemand hatte es kommentiert, zumal keine der beiden viel über Gefühle sprach, aber sie hatten begonnen zusammenzuarbeiten und dabei ihren eigenen Rhythmus gefunden. Insgeheim führte Gabriel diese Veränderung auf einen entscheidenden Moment beim Einbruch der Ganoven im vergangenen Schuljahr zurück, als Amira von Villette verlangt hatte, ihr das Messer zu geben, mit dem sie Alessandra Giuliano bedroht hatte – die Frau, die die Namenlosen geschickt hatten, um Villette zu töten und ihre Bande auseinanderzureißen. Hätte Amira Villette die Waffe einfach aus der Hand gerissen, wäre dieses neue Band nicht entstanden, vermutete er. Aber Amira hatte darauf vertraut, dass Villette die richtige Entscheidung treffen würde, und mit dieser Entscheidung hatte Villette sich auch für ein neues Leben entschieden. Je mehr Gabriel darüber nachdachte, desto weniger wunderte es ihn, dass das Mädchen, das häufig unterschätzt wurde, und das Mädchen, das häufig missverstanden wurde, eine gemeinsame Basis gefunden hatten.

»Alles ruhig«, vermeldete Amira von ihrem Aussichtspunkt auf dem Dach. »Sieht nicht so aus, als hätte Isabella jemanden bei sich.«

»Oder sie wollen uns genau das glauben machen«, sagte Villette, die einen Platz auf dem Dach daneben eingenommen hatte.

Schweigen in der Leitung.

Die Bande war den ganzen Sommer über extrem nervös gewesen. Einige von ihnen – Villette und Amira – sprachen nie über ihre Ängste, doch Gabriel wusste, dass sie alle sie empfanden. Die anderen – Penelope und die Zwillinge – sprachen von nichts anderem.

»Jetzt, wo deine Schurkeneltern auf freiem Fuß sind«, flüsterte Ede, »müssen wir auf alles gefasst sein. Gabe, was meinst du?«

Gabriel heftete den Blick auf Isabella Sonorovs Hinterkopf, während die große blonde Legatin ruhig an einem jungen Paar vorbeiging, das mit seiner kleinen Tochter »Engelchen Flieg« spielte. »Es kann kein Zufall sein, dass Sonorov nach all der Zeit wieder im Land ist. Das ist die einzige Spur, die uns zu Adria und Luciano führt, und ich finde, wir sollten ihr folgen. Aber nur, wenn alle dafür sind.«

»Ich bin dafür«, sagte Penelope, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, genau wie Gabriel erwartet hatte.

»Ich auch«, ergänzte Villette.

Amira, Ade und Ede stimmten ebenfalls zu.

Gabriel nickte. »Gut. Isabella ist gerade abgebogen. Amira, sie kommt dir entgegen.«

»Gabriel, siehst du die ganzen Menschen?«, fragte Penelope. »Was, um alles in der Welt, machen die um diese Uhrzeit hier?«

»Ich … glaube, ich kenne die Antwort«, sagte Ede besorgt. »Das ist Ades schlimmster Albtraum.«

»Oh nein«, stöhnte Ade, dem zu dämmern schien, was sein Bruder meinte. »Nein, nein, nein. Ist da etwa … ein Jahrmarkt?«

Villette kicherte boshaft. »Du hast nicht ernsthaft Angst vor einem Jahrmarkt!«

»Nicht ernsthaft …«, wiederholte Ade schaudernd. »Er kommt am Abend in die Stadt, erhebt sich über Nacht und verbringt dann Wochen damit, die Kinder mit seinen grellen Lichtern, seiner nervtötenden Musik und seinem zuckersüßen Essen anzulocken wie ein funkelnder Rattenfänger. Ganz zu schweigen davon, dass die Fahrgeschäfte nur einen Brüder-Crim-Hack davon entfernt sind, zusammenzubrechen und in dem See da drüben zu landen. Braucht kein Mensch so was.«

»Vielleicht sollte ich erwähnen, dass Ad mal auf einem Jahrmarkt verloren gegangen ist«, erklärte Ede. »Mum hat ihn ewig gesucht, und als sie ihn endlich fand, versteckte er sich im Bällebad vor einem …« Er räusperte sich, um sicherzustellen, dass sie ihn gut hörten. »… einem Killer-Huhn!«

Gedämpftes Gelächter in der Leitung.

»Ey, macht euch nicht lustig«, knurrte Ade. »Ich sage euch, der Typ im Hühnerkostüm hat mich mit einem Spieß über den ganzen Jahrmarkt gejagt. Wenn mich das Bällebad nicht gerettet hätte, hätte Ed keinen großen Bruder mehr.«

»Eins will ich wissen«, sagte Penelope. »War es zufällig ein Hähnchenspieß?«

»Alter, glaubst du, ich hatte Zeit nachzuschauen?«, fauchte Ade.

Penelope seufzte. »Ade, der Typ im Hühnerkostüm wollte dir höchstwahrscheinlich ein Schaschlik spendieren.«

»Crook, der hat mich über den ganzen Jahrmarkt gejagt! Meinst du, das hat er nur gemacht, damit ich seinen schlecht gewürzten Fraß probiere? Nee, Mann. Der hatte es auf mich abgesehen!«

»So gerne ich mir die ganze Geschichte in allen Einzelheiten anhören würde«, warf Gabriel ein, »wir müssen eine Entscheidung treffen. Isabella ist gerade auf den Jahrmarkt gegangen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie den Ort als Deckung nutzt, um sich mit jemandem zu treffen, vielleicht sogar mit Luciano und Adria. Warten wir draußen oder gehen wir rein und …«

»Wir gehen rein«, unterbrach ihn Penelope.

»Wir sind uns ja nicht oft einig, Crook«, sagte Villette, »aber in dem Punkt stimme ich dir zu. Wir müssen rausfinden, was Isabella hier treibt.«

»Äh, machen wir uns keine Sorgen, dass wir möglicherweise den beiden diabolischsten Menschen der Welt begegnen könnten?«, fragte Ade mit zitternder Stimme.

»Funkelnde Lichter … diabolische Menschen«, neckte Ede seinen Bruder. »Du klingst ja schon wie Penelope Muriel Crook, Ad.«

»Mein zweiter Vorname ist nicht …« Penelope brach ab und seufzte. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie sich schon wieder hatte provozieren lassen. »Ihr zwei bleibt sowieso draußen, also lasst die großen Mädels die Arbeit machen, okay?«

Amira und Villette lachten.

»Das ist eher eine Beleidigung für Gabe als für uns«, bemerkte Ade. »Aber für mich ist das völlig in Ordnung. Du würdest mich nicht mal auf diesen Jahrmarkt kriegen, wenn du mir deine Fälschung der Mona Lisa versprechen würdest.«

»Träum weiter«, entgegnete Penelope. »Außerdem sind Mum und Alexander in der Nähe, falls etwas passiert.«

Villette stöhnte. »Ich hasse es, überwacht zu werden. Sogar von Maravel hoch zwei.«

»Maravel hoch zwei …« Ede dachte darüber nach. »Ey, das gefällt mir. Schreib das auf, Ad.«

Im vergangenen Schuljahr hatte die Bande herausgefunden, dass es sich bei dem legendären Maravel, der für seine unmöglichen Raubüberfälle berüchtigt war, nicht um eine einzelne Person handelte. Lange Zeit war Alexander Belmont, der Bootsmann der Schule, Maravel gewesen, aber nach einer schweren Verletzung hatte er den Titel völlig unerwartet an jemand anderen weitergegeben – an Carmen Crook, Penelopes Mutter. Und beide waren an diesem Abend in der Nähe, nur für den Fall …

Gabriel räusperte sich, um seine Bande zum gefühlt zehnten Mal zur Ordnung zu rufen. »Isabella ist gerade am Autoscooter vorbei und geht Richtung … Amira, was ist das für ein Gebäude?«

»Eine Sekunde«, sagte Amira.

Gabriel blickte auf und sah eine schwarze Gestalt, die sich dem sich drehenden Riesenrad näherte. Mühelos zog sie sich an dem weißen Metallrahmen hoch und kletterte elegant über die Streben auf seine unbewegliche Mitte zu. Ohne eine Sekunde zu zögern, sprang Amira von dort aus ab und landete lautlos auf einem Gebäude, das wie ein Hindernisparcours für Kinder aussah. Es war mehrere Stockwerke hoch, und das Licht, das es ausstrahlte, war unangenehm grell, sodass Amira kaum mehr als ein schwarzer Punkt am Himmel war.

»Das ist ein … Spiegellabyrinth.«

Ade schnalzte mit der Zunge. »Klares Nein von mir, Leute.«

»Gehen Killerhühner da etwa auch rein?«, stichelte Villette, und Gabriel konnte hören, dass sie grinste.

»Das ist eine interessante Frage«, gluckste Ede. Dann, als hätte sein Bruder ihm einen warnenden Blick zugeworfen, redete er schnell weiter: »Sieht so aus, als gäbe es drei Eingänge. Einen vorne – da ist ein Schild ›Wegen Wartungsarbeiten geschlossen‹ –, einen hinten und einen Notausgang an der Ostseite. Was sagst du, Gabe?«

Gabriel bahnte sich einen Weg durch die Menge und stellte sich zwischen zwei Buden gegenüber dem Gebäude. Überall um ihn herum blitzten Stroboskoplichter, aus den Imbissständen entwich Dampf, und Kinder und Eltern kreischten aufgeregt beim Spielen und Karussellfahren. Doch Gabriel blieb konzentriert. »Penelope, du übernimmst die Vordertür.«

»Wird gemacht«, sagte Penelope, glitt an ihm vorbei und schlenderte unauffällig neben den Eingang. Sie setzte sich auf eine Bank und biss in einen Hotdog, von dem Gabriel gar nicht mitbekommen hatte, dass sie ihn gekauft hatte.

»Wo hast du den denn her?«, fragte Ede. »Wir verhungern hier und du stopfst dich voll?«

Penelope nahm einen weiteren herzhaften Bissen. »Der ist nur zur Tarnung.« Aber Gabriel konnte sehen, dass sie grinste.

»Amira«, sagte er leise. »Du gehst nach hinten.«

»Dachte ich mir, dass du das sagen würdest«, flüsterte sie ihm zu, als sie an ihm vorbeiging. Amira trug jetzt Jeans und einen hellblauen Kapuzenpullover, ihr schwarzes Outfit musste sie irgendwo versteckt haben.

»Sehr beeindruckend«, gab Gabriel zu.

Amira ging um das Gebäude herum und verschwand.

»Villette, du übernimmst …«

»Die Ostseite?«, fragte Villette. Eine blonde Gestalt lugte hinter dem Gebäude hervor. »Bin schon da.«

»Hui, wir werden ja richtig gut«, schwärmte Ade. »Ich geb’s zu, als die Schurkin dazukam, war mir nicht ganz wohl bei der Sache. Aber jetzt seht uns an. Wir arbeiten zusammen wie eine echte Bande und … aha, Villette hat ihren Ohrhörer rausgenommen. Natürlich.«

»Ich gehe jetzt rein«, sagte Gabriel. »Wenn Isabella sich mit den Namenlosen trifft, müssen wir hören, was sie sagen. Das ist unsere einzige Chance, ihnen einen Schritt voraus zu sein.«

»Was auch immer du tust«, sagte Penelope, »lass dich nicht schnappen und lass dich nicht auf einen Kampf ein. Wir wissen nicht, was sie dir antun werden.«

»Mir werden sie gar nichts antun«, sagte Gabriel und lächelte, als er Penelopes Blick auffing. »Dafür werden sie sich an allen rächen, die mir wichtig sind. Ihr solltet also alle auf der Hut sein.« Er zwinkerte ihr im Vorbeigehen zu und stieg die Treppe zum Gebäude hinauf.

»Oh, ist das … gruselig«, murmelte Ade.

Drinnen war es dunkel und seltsam kühl. Gabriel hielt den Atem an und wagte sich tiefer ins Gebäude, während er auf der Hut blieb.

Etwas glitt dicht an seinem Gesicht vorbei, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien. Was ist das?! Er streckte die Hand aus und bekam etwas Weiches zu fassen.

Ein Vorhang, dachte er erleichtert. Nur ein Vorhang.

Als er den Vorhang beiseiteschob, sah Gabriel einen unheimlichen weißen Lichtpunkt in dem ansonsten stockdunklen Raum, dessen Ausmaße er nicht einschätzen konnte. Auch konnte er nicht erkennen, ob es dahinter weiterging. Er konnte sich nur auf das Licht konzentrieren, das nadelstichgroß an der gegenüberliegenden Wand leuchtete. Als er jedoch näher trat, schien es zurückzuweichen. Ferner, näher, dann wieder ferner.

Die anderen redeten in seinem Ohr und baten um Meldung, aber er konnte nicht riskieren, gehört zu werden. Es war gut möglich, dass seine Eltern in unmittelbarer Nähe waren.

Gabriel stand reglos da. In der erstickenden Schwärze um ihn herum rührte sich nichts. Niemand sprach ein Wort. Der einzige Beweis an diesem seltsamen, stillen Ort, dass er wach war und nicht träumte, war das weiße Licht, das keine Sekunde zur Ruhe kam.

Dann flackerte es plötzlich auf … und erlosch.

Die Dunkelheit nahm ihm jegliche Orientierung. Gabriel drehte sich um sich selbst und streckte die Hände aus, konnte jedoch nichts ertasten.

»Na, wie fühlt sich das an, so ganz allein in der Dunkelheit?«, zischte Adria Vivas.

Die Stimme war so nah, dass Gabriel sich unwillkürlich die Ohren zuhielt. Er wirbelte herum, sein Herz hämmerte in seiner Brust.

»Hast du etwa Angst?«, flüsterte sie. Jetzt war ihre Stimme weiter entfernt.

Gabriel drehte sich im Kreis und blinzelte angestrengt, um irgendwelche Schemen auszumachen, die sich in der Finsternis bewegten. Aber alles war schwarz. Er tippte sich ans Ohr. »Leute, sie sind hier drin. Hört ihr mich? Lauft weg. Sofort!«

»Das bringt nichts«, sagte eine tiefere, zornige Stimme, »V1XEN hat das Signal gestört. Sie können dich nicht hören. Du bist allein, Sohn.«

»Ohhh«, seufzte seine Mutter affektiert. »Er versucht, seine kleinen Freunde zu beschützen. Aber das kannst du nicht, Gabriel. Sie werden sich schon bald Sorgen machen und sich fragen, warum sie nichts von dir hören. Dann werden Nikki und die kleine Crook hereinplatzen, um dich zu retten … und uns hier vorfinden.«

Wut stieg in Gabriel auf. Nicht nur auf seine Eltern – auch auf sich selbst.

Er hatte seine Bande direkt in die Falle geführt.

Das weiße Licht flackerte wieder auf und da sah er sie. Seine Eltern. Ihr Bild wurde in Dutzenden Spiegeln reflektiert.

Luciano Lopes’ Augen – genauso bernsteinfarben wie Gabriels – verengten sich. »Du hattest recht, als du sagtest, dass wir dir nichts antun würden. Dass wir uns stattdessen diejenigen vornehmen würden, die du liebst. Und weißt du auch, warum?« Sein Vater lächelte, und es war anders als jedes Lächeln, das Gabriel je gesehen hatte. Es war grausam und böse und voller Verachtung. Es war das Lächeln eines Menschen, der vor langer Zeit vergessen hatte, wie man lächelt. »Weil man nur so jemanden wirklich verletzt. Man entreißt ihm alle, die ihm wichtig sind, und lässt ihn mit nichts zurück. Mit niemandem. Das ist meine Art der Rache.«

Gabriels Knie zitterten so heftig, dass er sich an der Wand abstützen musste, um sich auf den Beinen zu halten. »Ich werde nicht zulassen, dass ihr meinen Freunden wehtut!«

Seine Mutter lachte spöttisch. »Oh, Luce. Ist er nicht ein Schatz?« Sie seufzte wehmütig. »Was aus uns dreien hätte werden können, wenn du dich uns angeschlossen hättest, als ich dich darum gebeten habe, Gabriel. Es wäre wunderschön geworden. Die mächtigste Bande der Welt – angeführt von einer Familie. Aber …« Ihr Gesicht verzog sich, wurde scharf und hässlich. »Du musstest uns ja hereinlegen. Uns wie Ungeziefer in die Falle locken und einsperren. Zusammen mit Idioten wie Carmen Crook und Alexander Belmont – oh ja, wir wissen über Maravel Bescheid –, um uns zu Fall zu bringen. Uns!« Sie verschränkte die Arme und ihr Spiegelbild schien zu wachsen. »Offenbar eilt unser Ruf uns nicht mehr voraus, Luce. Was sollen wir dagegen tun?«

Lucianos Spiegelbild flackerte durch den Raum, als er einen langsamen Schritt nach vorne machte. Gabriel stutzte und fuhr herum, unsicher, aus welcher Richtung er kam.

»Vielleicht brauchen wir ein neues Markenzeichen«, sagte Luciano mit seinem unmenschlichen Lächeln. »Damit sich die Leute ganz genau daran erinnern, wer wir sind.« Er drehte den Kopf und blickte zur Seite, als könnte er durch die Wände hindurch Penelope, Villette und Amira sehen. »Vielleicht sollten wir mit deiner kleinen Bande anfangen.«

»Noch mal: Ich werde nicht zulassen, dass ihr ihnen wehtut. Niemals!«, schrie Gabriel.

»Dafür hast du es uns aber sehr leicht gemacht, an sie heranzukommen«, entgegnete seine Mutter und wich aus seinem Blickfeld, die Augenbrauen tief über die boshaften Augen gezogen. Sie tauchte in einem anderen Spiegel auf, hob langsam einen Finger und zeigte auf Gabriel. »Du hast sie direkt hierhergeführt … zu uns.«

Diesmal verschwand sein Vater, was Gabriel dazu veranlasste, sich im Kreis zu drehen, bis er ihn wieder entdeckte, aber das Spiegelbild war verzerrt und sein Gesicht sah kaum noch menschlich aus. »Die Arroganz der Jugend.« Luciano lächelte, und seine Lippen wurden breiter und breiter, bis Gabriel nur noch dieses abscheuliche Lächeln sehen konnte. »Deine Arroganz, mein Sohn. Du dachtest, du könntest hierherkommen und … was? Uns noch ein zweites Mal in die Falle locken? Das schaffst du nicht noch mal. Es ist an der Zeit, dass wir dich für deinen Verrat bezahlen lassen. Fangen wir bei deiner sogenannten … Bande an.«

»Wagt es nicht, euch ihnen zu nähern«, warnte Gabriel, während seine Eltern sich durch den Raum bewegten. Er wirbelte herum und folgte ihren sich windenden Körpern, die ihn wie zwei blutrünstige Haie umkreisten.

»Dafür ist es leider zu spät«, kicherte seine Mutter.

Dann gingen die Lichter aus, und Gabriel hörte überall um sich herum Türen zuschlagen.

Es stimmte. Er hatte seine Freunde in die Falle geführt. War es wirklich zu spät? Oder hatten Penelope, Amira, Villette, Ade und Ede … es geschafft?

Ich werde nicht zulassen, dass sie meine Freundeentführen.

Etwas in Gabriel zerbrach, und er stürzte vorwärts, suchte nach einem Ausgang, schrie und kratzte, heulte und schlug. Ein Tornado der Gewalt. Glas splitterte. Licht flackerte. Und über allem schrillte das Lachen seiner Mutter, hoch und spöttisch.

Gabriel wusste nicht, wie lange er gekämpft hatte, um zu entkommen, um zu seinen Freunden zu gelangen, aber als das Licht anging, war er auf den Knien, am Ende seiner Kräfte, und seine Kleidung war nass vor Schweiß.

Dann ertönte das schönste Geräusch, das er je gehört hatte.

»Gabriel!« Penelope streckte den Kopf durch eine Seitentür. Schon spürte er, wie Amira und sie neben ihm knieten, sah Villettes Umriss hinter ihnen.

Er konnte die Augen nicht von ihnen abwenden. »Seid ihr … wirklich hier? Ich dachte … ich dachte …« Er hatte nicht die Kraft zu sprechen, geschweige denn die Arme zu heben und sie an sich zu ziehen. »Meine Eltern …«

»Was ist mit ihnen?«, fragte Amira besorgt. »Wir haben auf dich gewartet. Isabella kam raus – du aber nicht …«

»Sie waren hier …«, flüsterte er verzweifelt. »Ich habe sie gesehen.«

»Waren wir wirklich hier?«, dröhnte die Stimme seines Vaters über ihnen, und die Mädchen schnellten hoch, erstarrt in ihren Kampfposen.

Gabriel schaute sich hektisch um, doch er konnte nur Villette, Amira und Penelope entdecken. Dann sah er es. Überall auf dem Boden lag Glas. Die Spiegel – eine ganze Wand voll – hatten Sprünge oder waren vollständig zerbrochen und die Scherben bedeckten den Boden wie eine dünne Schneeschicht.

Seine Eltern waren nicht im Raum gewesen. Sie hatten ihn getäuscht. Mit Lautsprechern und Hologrammen und mit Isabella als Köder, von dem sie gewusst hatten, dass er ihm nicht widerstehen könnte …

»Gabriel«, sagte Penelope mit weit aufgerissenen Augen. »Deine Hände!«

Gabriel schaute nach unten. Blut strömte aus seinen zerkratzten Handflächen, Splitter steckten tief in seiner Haut. Da erst merkte er, dass seine Kleidung gar nicht von Schweiß getränkt war. Sondern von Blut.

»Wir müssen ihn sofort hier rausschaffen«, sagte Villette. Sie hatte selbst eine tiefe Wunde über dem linken Auge. Offensichtlich hatte sie versucht, Isabella aufzuhalten.

Dann ist sie also entkommen, dachte Gabriel.

»Wie schade, dass wir nicht persönlich vor Ort sein konnten«, schaltete sich Adria ein. »Aber es ist schön, zu wissen, wie leicht wir an euch herankommen … wenn wir wollen.« Das kleine weiße Licht flackerte ein letztes Mal auf und verschwand.

»Ignorier sie einfach«, knurrte Villette und half Penelope und Amira dabei, Gabriel auf die Füße zu ziehen.

Seine Beine fühlten sich wackelig an, und sein Kopf war wattig – der Blutverlust machte sich bemerkbar. Die Mädchen hängten sich Gabriels Arme über die Schultern und halfen ihm, durch den Spiegelsaal zu humpeln.

»Wir werden deine kleine Bande und dich schon bald wiedersehen, mein Sohn«, rief sein Vater. »Versprochen!«

Kapitel Zwei

Gabriel bemerkte den Verdächtigen fünf Minuten nach ihrer Ankunft auf dem Markt. Am letzten Sonntag im August fand in der kleinen Stadt Lorcombe, kaum eine fünfzehnminütige Autofahrt von Torbridge entfernt, ein Spätsommermarkt statt, der Einheimische und Touristen gleichermaßen anzog. Gabriel hatte er immer gefallen. Nicht wegen der vielen Stände mit Backwaren und hausgemachten Pralinen – obwohl er nichts gegen eine kleine Kostprobe hatte, wenn die Verkäufer sie anboten –, sondern weil es der perfekte Spielplatz für Langfinger war.

Ein Paradies für Taschendiebe.

Die meisten Besucher trugen zu dieser Jahreszeit Shorts und T-Shirts, sodass es nur wenige Taschen zu plündern gab. Aber das machte einen erfolgreichen Diebstahl umso befriedigender. Dennoch sorgte Gabriel immer dafür, dass die Gegenstände zu ihren Besitzern zurückfanden. Er war nicht darauf aus, einfache Leute zu beklauen, jedenfalls nicht mehr, seit er in Crookhaven war. Außerdem war es oft eine noch größere Herausforderung, die Dinge wieder an ihren Platz zu bringen, als sie zu stehlen.

In diesem Jahr musste sich Gabriel jedoch mit Würstchen im Schlafrock und Brownies begnügen. Seine bandagierten Hände waren immer noch geschwollen, und er war nicht in Form für Taschendiebstähle. Als Grandma ihn in dem Zustand gesehen hatte, hatte sie die Augen verdreht und gesagt: »Zwei Sommer in Folge kommst du mit verbundenen Händen nach Hause! Was sollen wir nur mit dir machen, mein lieber Junge? Man könnte meinen, dass körperliche Züchtigung in deiner vermaledeiten Schule immer noch an der Tagesordnung ist!«

Gabriel hatte gelacht und behauptet, er habe sich im Feriensportkurs die Handflächen an einem Kletterseil verbrannt, aber er merkte, dass Grandma skeptisch war. Er war es leid, seine geliebte Großmutter anzulügen. Und jetzt, da die ungewisse Rache der Namenlosen auch sie und ihren Mann Harry in Gefahr bringen konnte, fiel es ihm noch schwerer.

Trotzdem brachte Gabriel es nicht über sich, ihr zu sagen, was wirklich passiert war. Nicht nur, weil es Meriten wie ihm in Crookhaven streng verboten war, ihren Angehörigen die Wahrheit zu erzählen, sondern auch, weil es seiner Grandma das Herz brechen würde, wenn er ihr von seiner Gaunerschule und seinen Machenschaften in den letzten drei Jahren berichtete. Und zumindest in diesem Moment wollte Gabriel, dass Grandma und Harry Hand in Hand über einen sonnenbeschienenen Markt in einem Städtchen am Ende der Welt schlendern konnten und sich um nichts Sorgen machen mussten. Schließlich waren sie frisch verheiratet.

»Oh, Harry, ist der nicht hübsch?«, sagte Grandma und nahm einen kleinen geschnitzten Hirsch in die Hand.

»Wenn du ihn schön findest, kannst du ihn haben«, brummte Harry mit einem Schulterzucken.

Grandma schürzte die Lippen und warf ihm einen Blick zu, ging dann aber einen Stand weiter, an dem bunte Kerzen aus recyceltem Wachs verkauft wurden. Sie griff nach einer gelben Kerze namens »Gänseblümchentraum«, schnupperte daran und hielt sie Harry hin. »Die würde gut ins Café passen, oder? Damit es nicht immer so nach Speck riecht.«

Harry gähnte. »Recht hast du, mein Liebling. Dann kaufen wir sie.«

Grandma seufzte. »Ich will doch nicht jedes Kinkerlitzchen kaufen, das ich sehe, du fetter Oger.«

Harry runzelte sichtlich verwirrt die Stirn. »Warum zeigst du es mir dann?«

»Na, weil ich wissen will, was du davon hältst! Deshalb geht man doch auf Märkte. Um zu gucken. Gabriel versteht das, nicht wahr, mein lieber Junge?«

Aber Gabriel war von dem seltsamen Mann am anderen Ende des Markts abgelenkt, der sie unter dem Schirm seiner blauen Kappe hervor beobachtete. Sein Blick machte Gabriel Angst. Nicht weil er auf ihn gerichtet war, sondern weil er ständig zwischen Harry und Grandma hin und her huschte. Lauernd, als wartete er auf eine günstige Gelegenheit.

Gabriel riss sich zusammen und sah in Grandmas erwartungsvolles Gesicht. »Stimmt genau, Grandma. Und deshalb möchte ich … äh … mir da drüben ein paar Schuhe anschauen. Ich bin in fünf Minuten zurück, ja?«

»Hast du das gesehen?«, sagte Grandma zu Harry. »Gabriel ergreift die Initiative. Ich wünschte, alle Männer in der Familie wären so zupackend.«

Das Letzte, was Gabriel hörte, bevor er in die Menge tauchte, waren Harrys Worte: »Also, wenn du wirklich wissen willst, was ich denke: Ich denke, dass eine Kerze, die den Geruch von Bacon überdeckt, in einem Café, das für seine Bacon-Sandwiches berühmt ist, die schlechteste Idee ist, die du je hattest, das denke ich! Und zwar noch schlechter als dein Versuch, mich zu unserer Hochzeit in einen malvenfarbenen Anzug zu stecken!«

Gabriel ging langsam durch die ihm entgegenkommende Menschenmasse und inspizierte gelegentlich ein paar Gläser oder einen Hut. Der seltsame Mann ließ sich einen Augenblick lang von einem Kind ablenken, das ihn anrempelte. Gabriel schaffte es, aus seinem Blickfeld zu verschwinden und mit einem ausgeliehenen schwarzen Hut auf dem Kopf um einen intensiv riechenden Käsestand herumzuhuschen. Er spähte um die Ecke und sah, wie der Mann die Augen zusammenkniff und die Stirn runzelte, weil er bemerkt hatte, dass Gabriel verschwunden war. Gabriel sah ihn vor sich hin fluchen und ein paar Schritte vortreten, um seine Augen wieder von links nach rechts wandern zu lassen. Keine großen Bewegungen, nichts, was ihn verraten könnte. Der Typ wusste, was er tat. Diesmal hatten die Namenlosen keine ihrer Nachwuchskräfte geschickt. Diesmal war es ein Ehemaliger aus Crookhaven. Da war sich Gabriel sicher.

Er beobachtete, wie sich der Mann mit ruhigen, unauffälligen Bewegungen mehrfach anders positionierte. Ohne unnötig Aufmerksamkeit zu erregen, nahm er immer wieder unterschiedliche Blickwinkel ein. Als er Gabriel trotzdem nicht in der Menge entdeckte, sah er mit verengten Augen zum anderen Ende des Marktes.

Dann setzte er sich langsam in Bewegung.

Er geht zu Grandma und Harry, dachte Gabriel.

Was der Mann vorhatte, wusste er nicht. Aber er wollte nicht warten, bis er es erfuhr.

Sekunden später war Gabriel wieder in die Menge getaucht und schlich hinter dem Fremden her. Der Mann stieß mit einer älteren Dame mit lila Sonnenhut zusammen und ging weiter, ohne sich zu entschuldigen.

Schwerer Fehler, Kumpel. In Gabriels Kopf reifte ein Plan.

Der Mann blieb an einem Stand mit handbemaltem Weihnachtsschmuck stehen, nahm einige Kugeln in die Hand, begutachtete sie beiläufig und legte sie wieder zurück. Als er sich zum Gehen wandte, rempelte Gabriel ihn an und trat ihm dabei fest auf den Turnschuh.

»Oje, das tut mir leid«, sagte Gabriel mit einem Akzent aus dem West Country und sehr viel lauter als nötig. »Jetzt schauen Sie mal, was ich Ihren nagelneuen weißen Schuhen angetan habe! Die sind hinüber. Kommen Sie, lassen Sie mich helfen.«

Gabriel hielt den Kopf gesenkt, damit der Mann sein Gesicht unter dem Hut nicht sehen konnte, und bückte sich, um den Schmutz mit einem Taschentuch zu entfernen. Dabei packte er den Knöchel des Mannes und hielt ihn mit einer Hand fest, während er mit der anderen am Schuh herumwischte.

»Das ist nicht nötig«, knurrte der Mann und versuchte, seinen Fuß wegzuziehen. Sein Akzent klang zwar nicht ausländisch, stammte aber ganz sicher nicht aus der Gegend.

»Es war meine Schuld«, sagte Gabriel in entschuldigendem Ton. »Ich bestehe darauf.«

»Das ist wirklich nicht nötig«, bellte der Mann. »Gib schon her, ich mach das.« Er entriss Gabriel das Taschentuch und bückte sich, um den dunklen Abdruck von seinem hellen Turnschuh zu wischen.

In der Zwischenzeit waren mehrere Menschen stehen geblieben, um zuzuschauen, wie Menschen es oft tun, wenn ein lauter Tumult sie aus ihrem Trott reißt. Darauf hatte Gabriel gehofft.

Er richtete sich wieder auf, hielt kurz inne und deutete auf ein kleines, teuer aussehendes Portemonnaie, das neben dem Mann auf dem Boden lag. »Wem gehört das Portemonnaie?« Eine weitere Pause entstand und die Menschen begannen zu tuscheln. »Moment mal … Sir, haben Sie das gestohlen?«, fragte Gabriel.

Der Mann hörte auf zu wischen und schaute verwirrt auf das Portemonnaie neben seinem Fuß. »Was? Nein, natürlich nicht.«

»Das ist meins!«, schrie die Frau mit dem lila Sonnenhut. Sie löste sich aus der Menge und kam sofort angerannt. »Hab ich’s doch gewusst! Ich wusste schon, dass etwas nicht stimmte, als Sie mich angerempelt und sich nicht mal entschuldigt haben! Sie … Sie Dieb!« Sie blinzelte erschrocken, als hätte sie das Wort nie zuvor ausgesprochen. Dann fasste sie sich und riss die Augen auf. »Ein Dieb! Ein Dieb! Jemand muss die Polizei rufen!«

Die Menge stürzte sich auf den Mann, und Gabriel freute sich, dass sein Zaubertrick funktioniert hatte. Er zog sich unbemerkt zurück und bemühte sich, nicht vor Schmerz das Gesicht zu verziehen – es hatte wehgetan, mit der verletzten Hand das Portemonnaie zu stehlen. Deshalb hatte er sich ungeschickt angestellt, viel ungeschickter als sonst, aber es hatte sich gelohnt. Innerhalb weniger Sekunden wurde der Mann von einer Flut an Marktbesuchern beschimpft, während Gabriel unbehelligt zu Grandma und Harry zurückschlenderte.

»Was ist denn da drüben los?«, fragte Harry, als Gabriel bei ihnen ankam.

»Ich glaube, da hat jemand ein Portemonnaie geklaut«, sagte Gabriel schulterzuckend.

»Was habe ich dir gesagt?« Grandma warf Harry einen bedeutungsvollen Blick zu. »Taschendiebe gibt es heutzutage überall. Steht auch in der Zeitung.« Sie drückte ihre Handtasche an sich und spähte an Gabriel vorbei.

»Vielleicht ist ja auch gar nichts dran«, sagte Gabriel beruhigend. »Aber ich finde, wir sollten trotzdem langsam nach Hause fahren. Ich bin am Verhungern. Und ich weiß nicht, warum, aber ich habe einen Riesenappetit auf ein Stück von deinem Rhabarberkuchen, Harry.«

Harrys Augen leuchteten auf. »Ja, wirklich? Na, mein Junge, dann ist es entschieden. Auf zum Rhabarberkuchen!«

So gelang es Gabriel, Grandma und Harry vom Markt zu lotsen und sicher zurück nach Torbridge zu bringen. Selbstverständlich erst nachdem er den geliehenen Hut unauffällig wieder am Verkaufsstand abgelegt hatte.

Kapitel Drei

Am Morgen, an dem Gabriel aufbrach, um sein viertes Jahr in Crookhaven anzutreten, war es nicht Aufregung, die in seiner Brust kribbelte. Es war Angst.

Im vorletzten Jahr hatte Val bei Grandma und Harry gewohnt und auf sie aufgepasst, und im letzten Jahr hatte Gabriel Beweise gehabt, mit denen er seine Eltern erpressen konnte. Jetzt gab es nichts und niemanden mehr, der sie beschützte. Harry und Grandma waren in großer Gefahr, und das Schlimmste war, dass sie es nicht einmal wussten.

Ade und Ede waren unter dem Vorwand eines gemeinsamen Schulprojekts für ein paar Tage zu Besuch gekommen und hatten das Café, die Wohnung und die nähere Umgebung heimlich mit Kameras ausgestattet. Die Kameraüberwachung von Crookhaven aus wäre ohne die Sondergenehmigung von Caspian Crook nicht möglich gewesen – die Schule war gegen Signale von außen gesichert –, aber zum Glück hatte der Schulleiter in diesem Fall eine Ausnahme gemacht. Caspian hatte sich sogar bereit erklärt, jede Woche einen ehemaligen Crookhavener nach Torbridge zu schicken, um nach dem Rechten zu sehen. Gabriel vermutete, dass Caspian nur deswegen so hilfsbereit war, weil er wusste, dass Gabriel selbst einen wichtigen Anteil daran hatte, dass Caspians Frau Carmen im vergangenen Jahr nach langer Zeit endlich nach Hause gekommen war.

Grandma und Harry würden von alldem nichts mitbekommen. Und das sollten sie auch nicht.

Als Gabriel sich seinen Rucksack über die Schulter warf und den Bahnsteig des Torbridger Bahnhofs betrat, quälte ihn die Frage: Habe ich auch nichts vergessen?

Ihm kam ein Gedanke und er drehte sich hastig um. »Grandma, das Fenster im ersten Stock hat einen wackeligen Riegel, achte darauf, dass er immer richtig verschlossen ist, ja?«

Grandma lächelte, aber in ihren Augen lag auch Sorge. »Hast du jemals erlebt, dass deine alte Grandma ein Fenster offen gelassen hat? Du kennst mich doch, mein lieber Junge. Bevor ich ins Bett gehe, schaue ich immer nach dem Wasserkocher, nach dem Herd und nach den Türen und Fenstern. Ich habe genügend Häuser geputzt und genügend Brände und Diebstähle erlebt.« Sie verschränkte die Arme. »Und das ist schon das dritte Mal, dass du mich an diesen Riegel erinnerst. Was ist denn los mit dir?«

Gabriel schüttelte den Kopf. »Ach, nichts. Das liegt bestimmt an diesen ganzen True-Crime-Sendungen im Fernsehen. Ich will nur dafür sorgen, dass du in meiner Abwesenheit in Sicherheit bist, das ist alles.«

Grandmas Gesicht wurde sanft. »Oh, mein lieber Junge. Wenn sich irgendjemand ins Haus wagt, bekommt er es mit Harry zu tun.« In diesem Augenblick erschien Harry in einer geblümten Küchenschürze und mit einem Nudelholz in der Hand. »Schau dir den fetten Oger doch nur an. Er würde jeden Eindringling wie einen Käfer zerquetschen. Sogar mit Blümchenschürze!«

Harry schwang das Nudelholz wie einen Knüppel. »So ist es, mein Liebling.« Er runzelte die Stirn und ließ das Nudelholz sinken. »Wen genau soll ich denn zerquetschen?«

Gabriel lächelte traurig. Wenn die wüssten …

Bevor Grandma oder Gabriel antworten konnten, schnippte Harry mit den Fingern. »Ach, das wollte ich dich noch fragen: Dieser Reis, den deine Freunde mitgebracht haben, Junge – wie heißt der noch gleich?«

Gabriel grinste und dachte an Harrys große Augen nach dem ersten Bissen. »Jollof-Reis.«

Harry nickte. »Richtig.« Er beugte sich verschwörerisch vor. »Meinst du, ich könnte das Rezept bekommen? So was habe ich noch nie zuvor gegessen. Das Zeug ist magisch.«

»Ich kann sie gerne fragen, aber ich weiß, dass sie das Rezept ihrer Mum wie ihren Augapfel hüten. In der Schule haben sie sich mit dem Reis eine goldene Nase verdient.«

Harry sah tief enttäuscht aus. »Das hätte ich mir denken können. So etwas Himmlisches kosten zu dürfen und dann darauf verzichten zu müssen …« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Na, damit muss ich wohl leben.«

Grandma schnalzte spöttisch mit der Zunge. »Musst du immer so dramatisch sein? Wenn Gabriel das Rezept nicht bekommen kann, kann er dir vielleicht zumindest Nachschub besorgen.«

Gabriel zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe nie gesagt, dass ich es nicht besorgen kann.« Nun beugte er sich verschwörerisch vor und Harry neigte sich zu ihm. »Du passt gut auf Grandma auf und ich besorge dir das Rezept. Abgemacht?«

Harrys Augen wurden groß. »Verdammt, ja! Abgemacht.«

Grandma boxte Harry in die Seite und warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Keine Schimpfwörter, ja?« Sie wandte sich an Gabriel. »Hast du alles, mein lieber Junge?«

Gabriel nickte. Doch er zögerte immer noch, als sein Blick über Grandmas und Harrys lächelnde Gesichter glitt. Es konnte auf der ganzen Welt keine zwei warmherzigeren Menschen geben. Und obwohl er wusste, dass er alles getan hatte, was in seiner Macht stand, um sie vor denen zu schützen, die ihnen schaden wollten, war das vielleicht nicht genug …

Grandma legte den Kopf schief, Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, mein lieber Junge?«

Dass Gabriel zur Antwort lächelte und es schaffte, ein letztes »Macht’s gut« herauszupressen, lag nicht an einem plötzlichen Anflug von Zuversicht. Er wollte nur keine weitere Lüge mehr von sich geben.

Als der Zug in den Bahnhof von Moorheart einfuhr, schob Gabriel seine sorgenvollen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das, was er vor sich sah – den überwucherten Bahnsteig, die schweren Efeuranken, die das verlassene Bahnhofsgebäude immer fester in ihren Griff nahmen, die rostige Statue, die den Chip bereithielt, mit dem sich das Tor öffnen ließ, auf das sie zeigte. Das starke Metalltor, das den Chip schluckte und sich zum Waldweg hin öffnete, der …

Gabriel blieb verblüfft stehen. Hinter dem Tor hielt eine Gärtnerin Wache.

»Hallo, junger Mann«, sagte sie fröhlich. »Darf ich bitte Ihre Karte sehen?«

Gabriel zögerte verwirrt. Kurz überlegte er sogar, ob das ein Test war, um zu sehen, wie leicht sich die Schüler fraglos einer solchen Aufforderung fügten. Aber die Frau trug eindeutig eine Gärtneruniform, und in ihren Händen hielt sie zweifellos das Gerät, mit dem Mickey, der Bootsmann, die Ausweise der Schüler scannte, bevor er sie an Bord seiner Gondel nahm. Gabriel griff langsam in seine Tasche und zog die weiße Karte heraus, die seine Daten enthielt. 

»Natürlich«, sagte er und hielt sie ihr entgegen. »Aber … darf ich fragen, warum?«

Die Frau war mittleren Alters und hatte freundliche braune Augen, die Gabriel sofort Vertrauen einflößten. Er vermutete, dass Täuschen ihr Spezialgebiet war – in Crookhaven und darüber hinaus. »Oh, das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir wollen gewährleisten, dass Crookhaven so sicher wie möglich ist. Das ist alles.« Obwohl sie lächelte, hatte Gabriel das Gefühl, dass er keine weitere Frage stellen sollte. Mehr würde er nicht von ihr erfahren.

Er bedankte sich und machte sich auf den Weg durch den Wald. Vor ihm tanzten Libellen und Schmetterlinge in den Strahlen der warmen Spätsommersonne, die durch das Blätterdach fielen, und der süße Duft der Wildblumen am Wegrand hob seine Stimmung. Noch mehr freute ihn jedoch, was als Nächstes kam.

Oben auf der Hügelkuppe saßen zwei Gestalten auf einem wohlbekannten Ast und keiften einander an.

»Valentin Knight«, zeterte eine scharfe Stimme, »das hier ist mein Platz, und zwar seit meiner Geburt. Kannst du dasselbe von dir behaupten?«

»Erstens«, erwiderte die andere Stimme, »habe ich dir verboten, meinen vollen Namen auszusprechen. Das ist jetzt die neunte Verwarnung. Eine zehnte wird es nicht geben. Und zweitens hast du doch sicher schon von der goldenen Gaunerregel gehört: Gefunden ist gefunden, wiederholen ist gestohlen. Das könnte ebenso gut das vierte Prinzip von Crookhaven sein.«

Penelope Crook verdrehte die Augen. »Ich spreche fünf Sprachen, aber ich fürchte, Schwachsinn gehört nicht dazu!«

»Hey, den Spruch hast du schon mal gebracht«, rief Gabriel. Penelope und Val drehten sich um und ihre Augen leuchteten auf. Gabriel fuhr fort: »Und wir haben längst festgestellt, dass du in Schwachsinn sogar ziemlich gut bist, Penelope Crook.«

»Da isser ja!«, rief Val, stieß sich vom Ast ab und landete ungeschickt auf dem Boden. »Und läuft rum wie ’n halber Zombie. Willste von jetzt an jedes Jahr mit eingewickelten Händen zur Schule kommen? Wie du wieder aussiehst, Kumpel!«

Penelope folgte ihm, wenn auch weitaus eleganter. Sie funkelte Val an und zischte: »Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt, dass du seine Hände nicht erwähnen sollst.«

Eine vertraute Wärme durchströmte Gabriel und er lächelte. »Ich hab euch vermisst!«

Penelope wandte hastig das Gesicht ab, als wolle sie ein Lächeln verbergen, und Val tätschelte ihm die Schulter. Die kurzgeschorenen Haare des jüngeren Meriten waren gewachsen und zu kleinen braunen Locken geworden, die ihm gut standen. »Sosehr ich dich liebe, Gabe, wissen will ich vor allem, wie’s dem ältesten Brautpaar aller Zeiten geht?«

»Bestens«, sagte Gabriel und schlug den Weg zum See ein. »Die Flitterwochen sind erst mal auf Eis gelegt, aber sie wollen irgendwann später noch wegfahren. Oh, und Harry ist süchtig nach Ades und Edes Jollof-Reis und ich muss ihm irgendwie das Rezept besorgen.«

Penelope ging neben ihm her. Früher waren sie gleich groß gewesen, aber mittlerweile war Gabriel ein paar Zentimeter größer, was seiner ehrgeizigen Freundin überhaupt nicht gefiel. »Das Rezept? Na, viel Glück. Als ich sie letztes Jahr danach gefragt habe, wollten sie nicht mal zugeben, dass das Rezept Reis enthält. Bei einem Gericht namens Jollof-Reis!«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Gabriel seufzend. Dann stellte er die Frage, die ihn schon den ganzen Weg über beschäftigt hatte. »Sag mal, was hat es mit der Gärtnerin am Tor auf sich? Das ist ja was ganz Neues.«

Penelope und Val wechselten einen besorgten Blick. Penelope sagte: »Na ja … die beiden Anführer der Namenlosen sind aus dem Gefängnis entkommen und wollen sich rächen. Da ist es doch naheliegend, dass die beiden Schulleiter die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen.« Sie zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Interessant, dass du nur eine Gärtnerin bemerkt hast. Insgesamt sind es vier – eine als Eingangskontrolle und drei in den Bäumen und am Zaun. Gabriel Avery, du lässt nach.« Sie lachte und rieb sich die Hände. »Die Chancen steigen, dass ich mir dieses Jahr meinen Gaunerpokal zurückhole.«

»Deinen Gaunerpokal?«, entgegnete Gabriel. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er bis Montagmorgen noch mir gehört!«