Schulfrei - Mark Hagelt - E-Book

Schulfrei E-Book

Mark Hagelt

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Beschreibung

In einem elitären Gymnasium stirbt ein Schüler. Zuerst deutet alles auf einen Unfall hin. Der zuständige Kriminalbeamte Hecht stößt auf Ungereimtheiten, die zu Ermittlungen im schulischen Milieu und höheren gesellschaftlichen Kreisen führen. In diesem Umfeld wirkt der aus einfachen Verhältnissen stammende verstorbene Schüler Benjamin wie ein Fremdling. Hecht verspürt bei aller professionellen Distanz durchaus Sympathie für den Verstorbenen, erlebt aber die Abwertung und Ausgrenzung des Jungen durch dessen schulisches Umfeld noch nach dessen Tod. Dies spornt den ermittelnden Beamten noch mehr an, konfrontiert ihn aber auch mit seiner eigenen Biografie. Auch er stammt aus einfachen Verhältnissen und erlebt die Grenzen seiner unfertigen Persönlichkeit, in der die Zwänge einer pflichtorientierten Leistungsgesellschaft tiefe Spuren hinterlassen haben. Dann verliebt sich Hecht auch noch. In diesem Chaos von Ereignissen, die seine Gefühle und seinen Verstand durcheinanderwirbeln, führen ihn schließlich überraschende Ermittlungen auf eine heiße Spur.

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Kapitel

Kapitel 1.1

Kapitel 2.1

Kapitel 3.1

Kapitel 4.1

Kapitel 5.1

Kapitel 6.1

Kapitel 7.1

Kapitel 8.1

Kapitel 9.1

Kapitel 10.1

Kapitel 11.1

Kapitel 12.1

Kapitel 13.1

2. Kapitel

Kapitel 1.1

Kapitel 2.1

Kapitel 3.1

Kapitel 4.1

Kapitel 5.1

Kapitel 6.1

Kapitel 7.1

Kapitel 8.1

Kapitel 9.1

Kapitel 10.1

Kapitel 11.1

Kapitel 12.1

Kapitel 13.1

Kapitel 14.1

3. Kapitel

Kapitel 1.1

Kapitel 2.1

Kapitel 3.1

Kapitel 4.1

Kapitel 5.1

Kapitel 6.1

Kapitel 7.1

Kapitel 8.1

Kapitel 9.1

Kapitel 10.1

Kapitel 11.1

Kapitel 12.1

4. Epilog

Nachwort

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielen Dank für deine Entscheidung, dieses Buch zu kaufen und damit an meinem literarischen Schaffen teilzuhaben. Ich hoffe, es wird dir ein großes Lesevergnügen bereiten.

Sollte dem so sein, dann freut es mich, wenn du auf dir sinnvoll erscheinenden Wegen digitaler und analoger Art für Schulfrei wirbst und meinem Roman so Gehör verschaffst. Als Freelancer möchte ich mich ohne einen traditionellen Verlag am Markt behaupten und jede Stimme, die für meinen Roman wirbt, unterstützt damit mein literarisches Schaffen.

Zudem freue ich mich auf dein Feedback auf meinem Internetblog „https://markhagelt.org“.

Ich freue mich darauf, mit dir in einen Dialog zu treten.

Viel Spaß beim Lesen

Mark Hagelt

1. Kapitel

1

Kühl, angenehm kühl empfing mich die Aula des Mozart-Gymnasiums an einem extrem heißen Sommertag, der für Hamburg ganz ungewöhnlich war und selbst uns Hanseaten in Wallung brachte, die wir doch für unsere stoische, norddeutsche Haltung bekannt waren. Für einen Augenblick freute ich mich, der Mittagshitze des Polizeiwagens entronnen zu sein, und genoss das Frösteln auf der Haut, das sich sofort einstellte, als ich vom glühend heißen Teerparkplatz in die Kälte der abgedunkelten Aula des Gymnasiums trat.

Ein Toter im Mozart-Gymnasium war mir telefonisch angekündigt worden. Der Name der Schule kam mir irgendwie bekannt vor, aber nichts Weiteres fiel mir zum Namen des, wie ich später erfuhr, renommierten Hamburger Gymnasiums ein. Mein Kopf war an diesem Samstag noch nicht richtig bei der Arbeit.

„Was für ein Unglück“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir. Zielstrebig kam ein kleiner, drahtiger, mittelalter Mann auf mich zu.

„Sind Sie hier der leitende Beamte?“

Ich richtete mich etwas auf und begegnete dem selbstgewissen Blick des Anderen.

„Ja. – Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„…Ach so, natürlich! Ich gehe immer davon aus, dass mich hier in meiner Schule sowieso jeder kennt. Zwangsdorff – ähm – Dr. Zwangsdorff, um es genau zu sagen. Ich bin der Rektor dieser Schule.“

„Hauptkommissar Hecht“, stellte ich mich dem Schulleiter vor, der seinen Redeschwall fortsetzte, ohne mir die Möglichkeit zum Weitersprechen zu geben.

„Ja, das ist ein Unglück, mit dem keiner von uns gerechnet hat. Und ausgerechnet Benjamin muss so etwas passieren. Dabei hat es der Junge auch sonst schon schwer genug gehabt. Wissen Sie, seine Familie – und die Schule ist nicht leicht für ihn gewesen. Ich dachte noch, wenn ich ihm eine Chance im Theaterkurs gebe, dann hat selbst er vielleicht auch mal ein Erfolgserlebnis. Schnell hat er die ganze Beleuchtungsanlage bedient. Das ist ja auch eine große Verantwortung in einem Theaterkurs und eine beachtliche Leistung für seine Verhältnisse. Heute wollte er vor der Probe noch die Scheinwerfer ein…“

„Sagen Sie Herr äh…“

„…Dr. Zwangsdorff…“

„…ja Herr Dr. Zwangsdorff, können wir das Gespräch nicht etwas später fortsetzen? Ich muss mir erst einmal ein Bild von der Situation machen, bevor ich Ihnen weitere Informationen geben kann. Ich bin gerade erst…“

„…also Herr Hecht, ich muss darauf bestehen, dass einige Dinge sofort geklärt werden, d. h. bevor Sie sich an die Presse wenden. Wissen Sie, wir sind hier nicht an irgendeinem beliebigen Ort. Sie befinden sich in einer aus der Hamburger Schullandschaft herausragenden Schule. Stadtbekannt sind die Konzerte unseres Schulorchesters in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis.“

Ich zuckte nur mit den Schultern und war noch immer nicht ganz bei der Sache, während der Zwerg vor mir zu reden fortfuhr:

„Nein – ist Ihnen das Mozart-Gymnasium immer noch kein Begriff. Naja – nicht jedem ist der Zugang zur klassischen Musik vergönnt. Wissen Sie, diese Schule wird nur von ausgesuchten und besonders begabten Kindern aus den besten Häusern der Stadt frequentiert. Wir dürfen uns keine Skandale oder Schlagzeilen erlauben. Wir haben einen Ruf zu verlieren. Also wickeln Sie diesen Unfall bitte diskret ab. Diskret! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch einiges zu erledigen. Sie können mich später in meinem Büro aufsuchen.“

Irritiert blickte ich dem mit drahtig federndem Schritt entschwindenden Schulleiter nach. Vielleicht sollte ich mir auch noch vorher einen Termin von seiner Sekretärin geben lassen. Hier gibt es einen Toten, und er macht sich Sorgen um den Ruf der Schule. Und ein Unfall soll es sein?

„Tach Chef“, schallte Hecht die schnodderige Stimme Timmermanns entgegen.

Ich mochte meinen schlaksigen Mitarbeiter auch wegen dieses laxen Tonfalls nicht sonderlich, obwohl ich andererseits auch froh war, diesen an Frank Zappa erinnernden Mann in meinem Team zu haben. Timmermann war in der Spurensicherung ein As.

„Was ist passiert?“, fragte ich mein Gegenüber, ohne dessen Gruß zu erwidern.

Timmermann wendete sich zu einem großen weißen Tuch um, das vor und über dem oberen Ende der Leiter ausgebreitet lag.

„Sieh's dir doch selbst an.“

Mit einer vorsichtigen Bewegung zog ich das Laken beiseite. Trotz aller Routine in diesen Dingen musste ich wie immer beim Anblick einer Leiche erst einmal schlucken.

„Kein netter Anblick für die Kinder. Der Junge muss echt schön gewesen sein. Ist von der Leiter gefallen. So 4 oder 5 Meter tief. Und dann knallte er mit dem Nacken auf diese Stuhllehne.“

Timmermann zeigte mit seinem Arm auf einen der Stühle, die neben dem oberen Ende der umgestürzten Leiter lagen.

Eiskalt lief mir ein Schauer den Rücken hinunter. Und dann betrachtete ich aufmerksam den Jungen. Ein mittelgroßer, schlanker Jugendlicher lag mit einem extrem verdrehten und gestrecktem Hals vor mir. Es sah aus, als hätte jemand versucht, den Kopf des Jungen wie einen Korkenzieher in einer Flasche zu drehen. Ich schluckte und betrachtete die Kleidung des Jungen. Er trug schwarze Jeans, ein ebensolches Sweatshirt mit einem großen weißen Totenkopf und Springerstiefel mit roten Schuhbändern. So liefen die Jugendlichen in der linken Szene herum. Weiter registrierte ich das schulterlange dunkelbraune Haar, die weichen, zarten Züge eines schmalen, blassen Gesichts und grüne Augen, die leer an die Holzdecke des Raumes starrten. Der Mund war weit geöffnet und man konnte noch den Schreck erahnen, den der Junge beim Fall gehabt haben musste.

„Sieht alles nach einem Unfall aus oder? Da gibt's für mich wohl nichts zu tun“, sagte ich zu Timmermann, während ich den Leichnam wieder vorsichtig mit einem weißen Tuch abdeckte.

„Naja – haben wir zuerst auch gedacht“, antwortete Timmermann, „aber wir sind hier ja in einer Schule. Der Junge – er heißt übrigens Benjamin Masokowsky – hätte niemals allein auf diese Leiter steigen dürfen. In einer Schule hat immer jemand Aufsicht. Der Hausmeister hat mich darauf gebracht: Verletzung der Aufsichtspflicht.“

„Stimmt. Dann müssten wir wegen fahrlässiger Tötung ermitteln. Habt ihr schon etwas herausgefunden?“

„Ja, eine Mitschülerin hat ihn gefunden. Das Mädchen ist total fertig. Dr. Müller hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben und hat sich seitdem nicht mehr sehen lassen.“

„Wo sind die beiden?“

Timmermann deutete mit einem Arm zu einer Glastür, hinter der man einen hellen Flur sehen konnte. Ich ließ meinen Blick nochmals durch die große Aula gleiten, um mir einen Eindruck vom Ort des Geschehens zu machen. Ein aufwendiges, über eine ganze Seite der Aula reichendes Bühnenbild konnte ich erblicken, dessen Ausstattung durchaus mit einem professionellen Theater mithalten konnte. Ein langer Esstisch, ein großer Kamin, Kristallleuchter, Anrichten mit ausgewähltem Geschirr und andere Einrichtungsgegenstände erinnerten mich an eine altmodische, großbürgerliche Wohnung.

Dann begab ich mich auf den Weg.

Der gläserne Flur führte vom allein stehenden Aulagebäude in das weit verzweigte Hauptgebäude der Schule, einem zweigeschossigen Flachbau, von dem in rechten Winkeln mehrere Gebäudeflügel abzweigten. Aus dem Glasflur konnte ich zwei Schulhöfe überblicken, hinter denen mächtige, jahrhundertealte Eichen und Buchen diesen Ort vom tobenden Geschehen der Stadt abnabelten und in einer Idylle einer heilen Welt erscheinen ließen, die sich harmonisch in die Natur einfügte. Doch dies sollte sich als ein großer Trug erweisen.

Nach einigem Suchen fand ich Dr. Müller und eine junge Frau am Rand eines Schulhofs auf einer Bank. Sie saßen im Schatten eines hohen Baumes und als ich bei ihnen ankam. Ich hörte, wie Müller tröstend mit der Stimme eines besorgten Vaters auf das Mädchen einsprach, bis er mich bemerkte.

„Guten Tag, Herr Hecht“, unterbrach Dr. Müller seine Rede, als er mich bemerkte.

„Guten Tag“, erwiderte ich.

„Darf ich Ihnen Fräulein Rena von Brentano vorstellen. Sie ist unser neuer Stern am Himmel der klassischen Musik. Sie hat bereits drei Preise mit ihrem Violinenspiel gewonnen. Und wie ich in diesem Moment erfahren habe, hat Fräulein Rena gerade eine Einladung zum Unterricht bei dem weltberühmten New Yorker Violinisten Theodor Goldmann erhalten. Dies ist eine besondere Ehre, die genau das bestätigt, was ich schon seit Langem über diese Schule gehört habe.“

„Ich gratuliere…“

Ich unterbrach meinen gerade erst begonnenen Satz, weil Rena leise aber eindringlich zu weinen begann. Irritiert blickte ich auf die junge, schwarzhaarige Frau.

„Fräulein Rena hat der Tod dieses Jungen sehr tief getroffen“, sagte Müller in einem mitfühlenden Tonfall. „Sie war mit ihm befreundet…“

Wie immer, wenn ich mit Dr. Müller beisammen war, erlebte ich, wie mein Gegenüber mit einem seiner berüchtigten, endlosen Monologe begann, die er zu jedem, aber auch jedem Thema ablassen konnte, wenn er das Gefühl hatte, er spräche mit einer blutsverwandten Seele. In meinem Fall täuschte sich der Mediziner zwar, denn meine Zurückhaltung war keineswegs das Signal eines folgsamen Schülers, der aufmerksam den Lauten des Meisters lauschte, sondern diese verdammte Rücksicht, die ich häufig zeigte, um dem in einer Aura und einem Habitus erhabener Bildung lebenden Mediziner nicht vor den Kopf zu stoßen. Mir lag etwas an einem harmonischen Verhältnis zu meinen Mitmenschen. Und um das harmonische Verhältnis mit dem Mediziner nicht zu zerstören, ließ ich mich regelmäßig von dessen Wortkaskaden überfluten. Diesmal war der begnadete Stern am Violinenhimmel sein Ausgangspunkt, um über das Wesen der Musikerausbildung in Deutschland und den besonderen Stellenwert dieser Schule für jene zu referieren. Es verstand sich dann schon fast von selbst, dass Müllers älteste Tochter Karolina seit drei Jahren das Mozart-Gymnasium besuchte. Karolina werde, wie Müller weiter ausführte, trotz ihrer natürlichen Begeisterung und dem täglichen ein- bis zweistündigen Training aber vermutlich niemals soweit kommen wie Rena. Aber die Begabung seiner dreizehnjährigen Tochter, dies zeige sich schon jetzt, reiche sicherlich für eine spätere Tätigkeit als ordentliche Orchestermusikerin.

„Es tut mir Leid, Ihnen jetzt einige Fragen stellen zu müssen, aber es ist unumgänglich“, begann ich das Gespräch mit Rena, als Dr. Müller seinen Redefluss beendet hatte. „– Haben Sie das Unglück miterlebt?“

„Unglück? Wer sagt, dass es ein Unglück war? Benjamin ist doch nicht von allein mit der Leiter umgekippt. Dafür ist er viel zu vorsichtig gewesen. Und außerdem hat er nicht zum ersten Mal diese Arbeiten ausgeführt. Das kann nicht sein…“

Weinend sank die junge Frau in sich zusammen und Müller legte seinen Arm tröstend auf ihre Schulter. Der Blick des Mediziners war eindeutig, vernichtend streng. Er signalisierte mir, dass ich hier erst einmal keine weiteren Informationen bekommen würde.

Für einen Augenblick blickte ich in den vor mir liegenden Buchenwald, der hinter einem hohen und massiven zinkgrauen Metallzaun lag, der das gesamte Schulgelände einrahmte, und genoss die einfache Natürlichkeit des friedlichen Waldes.

„Dr. Müller, fahren Sie nachher mit mir zusammen zurück zum Präsidium?“, fragte ich noch schnell im Gehen, da ich von dem Mediziner etwas mehr über diese Schule erfahren wollte.

„Ja, kann ich machen.“

Timmermann war immer noch dabei, akribisch nach irgendwelchen Auffälligkeiten zu suchen, die etwas über den Hergang des Ablebens des siebzehnjährigen Jungen aussagen konnten, als ich wieder in die Aula trat. Bisher schien seine Beute jedoch nicht groß gewesen zu sein, denn ich sah nur wenige Zahlentafeln herumstehen, mit denen mein Spurensicherer seine Funde markierte, um sie anschließend fotografisch zu dokumentieren. Bis jetzt gab es keine Hinweise, die die Vermutung des weinenden Mädchens bestätigten, erfuhr ich von meinem Mitarbeiter.

Mord – sollte es sich hier um einen Mord handeln? Einen Moment lang musste ich an den zwergenhaften Schulleiter denken, der die Sache schnell vom Tisch haben wollte und dann an das vollkommen aufgelöste Mädchen. Wie passte das zusammen?

Aufmerksam ließ ich meinen Blick durch die Aula gleiten. Die Requisiten des großbürgerlichen Wohnzimmers füllten die Bühne bis in den letzten Winkel aus, ohne aber den weiten Raum einzuengen. Davor standen im Zuschauerraum vielleicht dreihundert oder vierhundert Stühle ordentlich in Reihen mit Gängen dazwischen. Nur um die Leiter und den Jungen herum war diese Ordnung durcheinandergeraten.

Die Gänge zwischen den Stühlen waren mit vielerlei Requisiten, Garderobenständern voller Kostümen und anderen Gegenständen des Theaterspiels überfüllt. Noch herrschte hier ein großes Durcheinander, über das ich mir einen Überblick verschaffen wollte. So kletterte ich auf die Bühne. Von dort oben hatte ich zwar einen guten Überblick, doch das wenige Licht reichte nicht aus, um den Zuschauerraum zu durchleuchten. Nur die umgestürzte Leiter hatte aus irgendeinem unerklärlichen Grund für mich etwas Gefährliches an sich, obwohl sie in ihrem derzeitigen Zustand doch nur an einen Vogel mit gebrochenen Flügeln erinnerte, der sich ermattet auf die herumstehenden Stühle hat fallen lassen.

„Timmermann“, sprach ich plötzlich den Spurensicherer an, „hast du dir schon die Leiter angesehen? Die sieht ganz schön wackelig aus.“

„Den Tipp hat mir der Schulleiter auch schon geben wollen. Der sagte mir, sein Hausmeister sei zwar eine treue Seele, aber nehme es mit den Vorschriften nicht so genau. Bisher konnte ich aber nichts Auffälliges an der Leiter entdecken. Im Labor werde ich sie aber noch genauer überprüfen.“

„Wo kann ich den Hausmeister finden?“, fragte ich dann.

„Otto ist mit ihm in die Hausmeisterwohnung gegangen. Die muss irgendwo hinter dem Gebäude da liegen.“

Timmermanns Hand deutete durch die Tür auf einen Flügel des Schulgebäudes, zwischen dem und der Aula ein mit grauen Steinen gepflasterter Schulhof lag.

Wieder ging ich durch den Flur in das moderne zweigeschossige Schulgebäude, dessen verwinkelte Flügel sich von dem Hauptflur in alle Richtungen erstreckten.

„Klack, klack, klack.“

Das Geräusch schneller Schritte riss mich auf einmal aus meinen Gedanken. Genau lauschte ich und hörte an den leiser werdenden Tönen, wie sich Schritte schnell von mir entfernten. Suchend wanderten meine Augen in alle Richtungen. Aber außer vier in alle Himmelsrichtungen strebende Korridore sah ich nichts. Nirgends war eine Menschenseele zu entdecken.

Einem Instinkt folgend lief ich in eine Richtung los, als das entfernte Klacken einer Tür zu vernehmen war, doch hinter einer Biegung endete der von mir gewählte Gang vor einer verschlossenen Glastür, durch die ich auf einen Schulhof sehen konnte, auf dem außer einigen nach Brotkrümeln suchenden Spatzen keine weiteren Lebewesen zu sehen waren. Durch diese Tür hatte niemand kurz vor mir die Schule verlassen. Schnell eilte ich wieder zurück in die Halle.

„Was machen Sie da?“

Ich zuckte zusammen und blieb stehen. Diesen Tonfall kannte ich noch aus meiner Schulzeit. Er ließ kein Entweichen zu. Ein grauhaariger Mann in einem blaugrauen Kittel und einem großen Schlüsselbund stand auf einer weiten Treppe, die in das obere Geschoss führte. Das musste einfach der Hausmeister sein.

„Hecht – äh – Hauptkommissar Hecht“, stellte ich mich fast schon wieder zum Schüler geworden vor. „Schön, dass ich Sie hier treffe. Sie sind doch sicherlich der Hausmeister dieser Schule, oder?“

„Ja, das stimmt. Ich habe schon mit ihrem Kollegen, dem Inspektor Otto gesprochen. Ein freundlicher Mensch. Ja das mit dem Benjamin ist 'ne schreckliche Sache. Der arme Junge. Und seine Mutter tut mir ja so leid. Dabei hat sie sich so viel Mühe gegeben, damit aus dem Jungen mal was wird.“

„Sagen Sie, ich habe eben Schritte und dann eine Tür ins Schloss fallen gehört. Es muss von dort hinten gekommen sein.“

Mit einem Arm wies ich in die Richtung, in die ich eben gelaufen war.

„Nein, das kann nicht sein“, erwiderte der Hausmeister. „In der Richtung sind alle Ausgänge abgeschlossen. Und einen Schlüssel zu den Türen habe nur ich. In diesem Gebäude gibt es nur einen Ausgang, der heute von anderen Menschen benutzt werden kann. Und das ist der Ausgang zum Lehrerparkplatz.“

„Zeigen Sie mir die Tür bitte“, forderte ich drängend.

Gemeinsam hasteten wir dann einen anderen Flur entlang, kamen durch eine weitere große Halle und dann durch einen dem vorherigen Flur bis in die letzten Details ähnelnden Gang zu einer Tür, die am Ende eines anderen Schulflügels lag.

„Ganz schön groß, diese Schule“, sagte ich, während ich mich wie in einem Labyrinth fühlte.

„Ja, ja“, antwortete der Hausmeister. „Das kann man wohl sagen. Ein paar Lehrer regen sich auch ständig darüber auf, weil sie – wissen sie, die Lehrer werden ja auch nicht jünger – weil sie es in den Fünfminutenpausen kaum noch schaffen, von einem Klassenraum im Osttrakt in einen Klassenraum im Westtrakt zu laufen. Und anstatt den Weg in Ruhe zu gehen, hetzen die Lehrer durch die mit Schülern überfüllten Gänge, um pünktlich in der neuen Klasse zu sein. Wissen Sie: Pünktlichkeit wird in dieser Schule ganz groß geschrieben. Dass sich die Leute durch ihre ständige Hetzerei über kurz oder lang einen Herzinfarkt holen, interessiert hier niemanden. Nicht mal die Betroffenen selbst.“

Die Tür zum Lehrerparkplatz ließ sich tatsächlich von innen ohne Schlüssel öffnen und führte auf einen fast leeren Parkplatz, auf dem auch mein Wagen stand.

„Ahja… jetzt weiß ich wieder, wo ich bin. Vielen Dank erst einmal.“

2

Auf der anderen Seite des Parkplatzes sah ich Sibylle Jahn, die attraktive Lokalreporterin des Hamburger Morgenblattes. Die konnte ich jetzt auf keinen Fall gebrauchen. Gerade wollte ich mich wieder unauffällig in das Schulgebäude zurückziehen, um der reizvollen Frau aus dem Weg zu gehen, als diese bereits mit schnellen Schritten auf mich zukam. Für ein Ausweichmanöver war es zu spät. Ein Rückzug würde mir jetzt als Schwäche ausgelegt werden. So blieb mir keine andere Wahl, als stehen zu bleiben und zu beobachten, wie die reizvolle Frau in ihrem figurbetonten Outfit auf mich zukam. Wie von einem Magnet angezogen verlor ich meine ansonsten berüchtigte Selbstkontrolle und starrte sie für einen Moment an. Dann stand sie vor mir.

„Na glotzen Sie nicht so, Hecht. Sie haben mich doch schon so häufig gesehen, da dürften Sie sich doch langsam an diesen Anblick gewöhnt haben.“

Das charmante Lächeln, mit dem sie meine Sinne noch mehr eintrübte, widersprachen ihrer Beschwerde zwar, aber trotzdem konnte ich mich aus meiner Befangenheit nicht lösen.

„Was Sie nicht sagen, Frau Jahn. Der Schein trügt Sie jedoch wie so häufig“, ertönte meine Stimme gespielt locker. „Ich käme doch niemals auf die Idee - wie drückten Sie sich aus - Sie anzuglotzen. Das machen vielleicht Jugendliche, aber aus diesem Alter bin ich bekanntlich heraus.“

„Ob man sich da so sicher sein kann? Und so alt sind Sie ja nun wirklich noch nicht.“

Für einen Moment schwieg die Reporterin, betrachtete mich von Kopf bis Fuß und sagte dann mit einem kritisch prüfenden Ton in ihrer Stimme: „Na ja, dieses steife Jackett und das weiße Hemd lassen Sie älter erscheinen, als Sie sind. Sie sind so ein typischer Hanseat mit steifer und nach nichts aussehender Kleidung. Vielleicht sollten wir uns mal verabreden, damit ich Ihnen eine Modeberatung geben kann.“

Zu gern wäre ich auf das Angebot der Frau eingegangen. Doch irgendetwas hemmte mich davor, auf die Avance einzugehen. Und so stand ich einfach nur sprachlos da, während die Journalistin mir tief in die Augen sah und mit tiefer Stimme sagte:

„Dann kann ich Ihnen mal zeigen, was Ihnen steht.“

Es war nicht das erste Mal, dass die Reporterin mir gegenüber ihre weiblichen Reize einsetzte, um an Informationen zu gelangen. Und irgendwie war dies mir auch klar, wenn ich im Nachhinein darüber nachdachte. Doch die Frau hatte ein Geschick darin, mich immer wieder mit ihrer Sinnlichkeit zu überrumpeln. Und so passierte es schon mal, dass mir leichtfertig die eine oder andere Äußerung entwich, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Doch trotz dieser kleinen Schnitzer liebte ich dieses Spiel, das wir seit einiger Zeit spielten, weil es mich für einen kurzen Moment aus der Öde meines Singledaseins herausriss.

Wie durch einen Schleier hörte ich die Stimme der Reporterin:

„Sagen Sie, was ist denn hier eigentlich passiert? Ich habe gehört, ein Junge ist von einer Leiter gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Wie tragisch. Es gibt Gerüchte, die besagen, dass der Junge keines natürlichen Todes gestorben sei.“

„Woher haben Sie das?“, fragte ich, während ich in die blauen Augen der Frau blickte. Doch dann wanderten meine Augen vom Gesicht der Reporterin wieder in ihr einladendes Dekolleté.

„Das spielt doch keine Rolle. Ich sehe, dass die Mordkommission am Ermitteln ist. Dies ist doch schon aufschlussreich genug.“

„Es ist eine reine Routineangelegenheit, dass ich verständigt worden bin, Frau Jahn. Das wissen Sie doch selbst. Meine Untersuchungen haben bisher nichts ergeben, so dass es sich tatsächlich um ein Unglück zu handeln scheint. Aber machen Sie bitte keine große Story daraus. Die Schule hat Angst, ihren guten Ruf zu verlieren.“

Mit diesen Worten hatte ich bereits mehr gesagt, als ich hätte sagen sollen.

Und dies sollte heute nicht mein einziger Fehler bleiben.

„Aber um noch einmal auf Ihr Angebot zurückzukommen: Wie wäre es denn mal mit einer Verabredung mit uns beiden? Wir müssen ja nicht gleich Anzüge kaufen gehen. Aber eine Tasse Kaffee könnten wir doch schon zusammen trinken oder?“

Ich war selbst über das erstaunt, was ich da gerade gesagt hatte. Gewöhnlich brachte ich gegenüber Frauen kaum ein Wort hervor. Irgendetwas war heute anders mit mir als sonst. Lag es an der Hitze, die mit ihrer Wärme selbst noch das allerletzte, klitzekleinste Atom in Bewegung versetzen konnte?

„Ach, wissen Sie, Hecht“, erwiderte die Reporterin. „Liebend gern würde ich mich mit Ihnen verabreden. Aber im Augenblick sieht es wirklich schlecht aus. Zur Zeit ist wirklich absolut nichts in dieser Stadt los, über das ich berichten könnte. Sonst fallen mir die Stories ja nur so entgegen, aber im Augenblick finde ich einfach nichts. Und dann noch diese brütende Hitze und ich darf suchen, suchen, suchen. Dabei würde ich viel lieber in einem See baden oder einfach in der Sonne liegen und meinen Körper bräunen. Sehen sie, mein Bauch ist noch ganz weiß. “

Für einen kurzen Augenblick hob die Jahn ihr T-Shirt, so dass ich einen Blick auf die zarte, hellbraune Haut um ihren Bauchnabel werfen konnte. Es kribbelte in meinen Fingern. Zu gern hätte ich in diesem Augenblick diese Haut gestreichelt.

„Auch Sie können mir keine Story liefern, und so muss ich mich weiter abrackern, um etwas zu finden. Also wenn Sie eine Geschichte für mich haben, dann melden Sie sich bei mir. Ich revanchiere mich dann und wir unternehmen etwas zusammen. Wir könnten dann baden gehen, wenn das Wetter so schön wie heute ist.“

Mit diesen Worten wandte sich die Reporterin augenzwinkernd ab und ging zurück zur Aula.

Noch für einen Augenblick blieb ich auf dem Lehrerparkplatz. Ich sah mich mit Sibylle an einem Badesee, an dem Baggersee, an dem ich mich befunden hatte, als ich per Handy zum Einsatz an das Mozart-Gymnasium gerufen wurde.

Erst jetzt hatte ich Zeit, um mir die dort erlebte peinliche Situation zu vergegenwärtigen. An dem einzigen Ort, an dem ich meinen Bereitschaftsdienst an diesem glühend heißen Sommertag wirklich genießen konnte, hatte ich es mir an diesem Morgen bequem gemacht. Gemütlich schipperte ich auf einer Luftmatratze über das Wasser und beobachtete durch meine schwarze Sonnenbrille das Treiben der Menschen. Ein frisch verliebtes Pärchen hatte es mir besonders angetan. Ich sah, wie sie vor Glück lachend langsam in das kühle Nass stiegen. Mit Storchenbeinen stakste sie voran und es begann das alte Spiel. Er, Stärke zeigend wollte sie nass spritzen, doch sie, sich unterwerfend flehte ihn an, dies nicht zu tun. So ging es eine Weile hin und her, bis er schließlich ihren Wunsch erfüllte. Dankbar nahm sie ihn in den Arm und dann küssten sie sich.

Ach, was fühlte ich mich in diesem Augenblick allein. Ich blickte weg. Auf dem See holte mich dann das regelmäßige Schaukeln der Wellen ein, das sich über die weichen Luftkammern der Matratze auf meinen Körper übertrug und mich in einen meditativen, entspannenden Schlummer versinken ließ. Und mit einem Mal war mir, als schwebte ich auf einem Wolkenschiff durch den Himmel, umgeben von sirenenhaften Frauengestalten, die eine schöner als die andere leicht bekleidet in ihren Togen um mich warben. Lust machte sich in mir breit.

Und dann hörte ich plötzlich dieses »Piep – piep – piep!«

Ich schreckte auf und drehte er mich zur Seite, als würde ich von meinem Bett aus nach dem Telefonhörer greifen.

Platsch!

Eiskaltes Wasser spritzte mir grässlich ins Gesicht und vergegenwärtigte mir, wo ich mich befand.

„Pöep, pöep, pöep!“

Plötzlich hellwach registrierte ich, dass mein Diensthandy gerade ins Wasser gefallen war. Panisch spähte ich nach dem hypermodernen Kommunikationsapparat, den mir mein Dienstherr in Zeiten der Dienstbereitschaft zu Dienstzwecken überlassen hatte, während ich gleichzeitig versuchte, mich auf der mit arger Schlagseite schwankenden Luftmatratze zu halten. Warum hatte ich mir das Handy nur auf die Brust gelegt?

Gerade noch konnte ich das Gerät im trüben Wasser entdecken und mit Schrecken sehen, wie es sich titanikhaft ein letztes Mal aufbäumte, um auf immer und ewig in den unergründlichen Tiefen des Sees zu versinken. Mit einem schnellen Griff rettete ich mein neues dienstliches Spielgerät. Doch diese kühne Tat warf neue Probleme auf. Mein sicheres Wolkenschiff hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst. Nun fand ich mich in der Realität und auf einer ordinären Luftmatratze in einer äußerst instabilen Lage wieder.

Mit verzweifelten Arm- und Beinbewegungen versuchte ich die Balance zu halten, während mein Handy mit einem verschnupften »päep – päep – päep« darauf aufmerksam machte, dass jemand mich zu sprechen wünschte. Doch auch mit ungestümen wilden Balancemanövern gelang es mir nicht, auf der Luftmatratze eine halbwegs stabile Position zu finden. Naturkräfte spielten ihr Spiel mit mir und diesen war kein Mensch gewachsen. Die übermächtige Natur ließ sich nicht bezwingen. Als ich dies spürte, gab ich auf und plumpste in das kühle Wasser.

„Pöep, pöep, pöep!“

Schnell hechtete ich mit dem Oberkörper auf die stabil wie eh und je im Wasser schwimmende Luftmatratze, um endlich telefonieren zu können. Erst in diesem Moment registrierte ich das Gelächter der Menschen am Ufer, das mich daran erinnerte, dass mein Missgeschick nicht unbeobachtet geblieben war. Schamesröte stieg mir in den Kopf, während mich ein Kollege über ein Unglück am Mozart-Gymnasium unterrichte.

Was für eine peinliche Nummerhast du dir da geleistet, dachte ich, während mir die Ähnlichkeit Sibylle Jahns zu den Sirenen meines Tagtraumes auffiel. Ich schüttelte den Kopf, um diese Assoziation aus meinem Bewusstsein zu vertreiben. Die Hitze bringt mich noch um meinen Verstand. Und ich verfluchte innerlich meine beamtliche Schweigepflicht, die mir anscheinend eine reizvolle Verabredung mit Sibylle Jahn verdorben hatte.

Die Frau ging zwischenzeitlich auf meinen Mitarbeiter Otto zu und sprach diesen an. Ihr nächstes Opfer dachte ich in meinem Mitarbeiter zu erblicken. Vorsichtig näherte ich mich den beiden, zog mein kleines Notizbuch aus der Tasche und tat so, als würde ich mir einige Notizen machen. Lauschend blieb ich dann in einiger Entfernung hinter Otto stehen.

„Ach Sibylle. Versuchst du mal wieder uns Männer einzuwickeln, um irgend etwas aus uns herauszulocken“, hörte ich Otto gerade sagen.

„Mensch Otto, du weißt doch, dass das zu meinem Job gehört. Irgendwie muss ich halt an die aktuellen Informationen herankommen. Und das Biertrinken bis zum Umfallen, das meine Kollegen mit euch praktizieren, entspricht nun wirklich nicht meinem weiblichen Stil. Wir Frauen haben in eurer Männerwelt einfach keine Chance. Das weißt du doch Otto.“

„Ja schon, aber…“

„Na siehst du. Dann lass deiner Einsicht auch Taten folgen. Diese Schönwetterreden habe ich mittlerweile genug gehört. Also habt ihr schon etwas festgestellt?“

„Das wird Otto Ihnen auf keinen Fall mitteilen“, mischte ich mich für mich selbst überraschend ein. Die Beobachtung, dass mein farbiger Mitarbeiter die Reporterin offensichtlich gut kannte, hatte mich von einer Sekunde auf die andere eifersüchtig gemacht.

„Außerdem gehört die Weitergabe von Informationen an die Presse zu meinem Aufgabenbereich und Sie müssen sich diesbezüglich schon direkt an mich wenden.“

„Ich sehe schon. Aus euch ist heute aber auch gar nichts herauszubekommen. – Kann ich denn wenigstens ein paar Fotos machen?“, fragte die Reporterin in einem unterwürfigen, weinerlich und sanft klingendem Tonfall.

„Dagegen habe ich nichts einzuwenden.“

Dann wandte ich mich Otto zu, um nicht weiter der Präsenz der Frau ausgesetzt zu sein. Für heute hatte ich genug mit der Frau gespielt.

„Otto, du weißt doch, dass du keine Gespräche mit der Presse führen sollst. Dies zählt nicht zu deinen Aufgabenbereichen und es ist dir doch bekannt, wie schnell einem die Journalisten das Wort im Mund verdrehen.“

„Von mir hat die Presse noch nie etwas erfahren, was sie nicht erfahren durfte“, wehrte sich mein Mitarbeiter, dessen rabenschwarze Haut Menschen immer wieder irritierte, wenn sie seinen Namen hörten und diesen mit dem Bild verglichen, das sich ihnen bot. Der Name hatte eine Geschichte, eine Geschichte, die Otto hinter sich lassen, die er einfach verdrängen wollte.

„OK. Lassen wir das. Sag mal“, fuhr ich fort, „hast du eben gerade jemanden aus der Tür dort herauskommen sehen?“

Ich zeigte mit meinem Arm über den Schulhof zu der Tür am Ende des Osttrakts, aus der ich selbst eben herausgekommen war.

„Nein, habe ich nicht“, entgegnete sein Kollege. Und nach einem Augenblick des Schweigens sprach Otto weiter.

„Also bisher habe ich nichts Auffälliges herausgefunden. Niemand kann sich erklären, wie es dazu kam, dass der Junge mit der Leiter umgefallen ist. Er ist vor allen anderen Schülern hier eingetroffen und muss dann irgendwie in die Aula gelangt sein. Ich habe bereits mit dem Hausmeister gesprochen. Er hat dem Jungen die Tür zur Aula heute morgen nicht geöffnet. Es gibt aber noch einen weiteren Schlüssel für die Tür. Den hat der Schulleiter.“

In diesem Moment bemerkten wir die zuckenden Ausläufer des Blitzlichtes der Reporterin. Schnell hintereinander wiederholte sich dieses Schauspiel fünf oder sechs Mal. Und dann war alles wieder stilllebenhaft ruhig und friedlich um uns herum. Eine nachdenkliche Stille herrschte plötzlich zwischen uns.

„Das mit dem Fotografieren der Leiche erscheint mir nicht angebracht zu sein.“

Ottos Stimme erklang mit äußerster Vorsicht, während er verlegen mit den Fingern seiner linken Hand über seine rabenschwarze Stirn fuhr. Er spürte, dass ich sofort explodieren würde, wenn er ihn in diesem Augenblick zu heftig kritisierte. Doch er kannte auch die beste Freundin seiner Lebensgefährtin gut genug, um zu wissen, welches Fiasko sich gerade anbahnte.

„Aus dem verdrehten Hals können die bestimmt ein schönes Horrorfoto für die Titelseite machen“, versuchte Otto mich auf das erschreckende Bild aufmerksam zu machen, dass das hübsche Gesicht des Jugendlichen mit dem entsetzlich weit verdrehten Hals bot.

„Ich habe die Jahn gebeten, keine große Story aus der Sache zu machen. Und du meinst wirklich, Otto? – Aber nein, das glaubst du doch selbst nicht.“

„Ich kenne Sibylle Jahn.“

Ich stand noch einen Augenblick still und zögerte. In mir kämpften Verstand und Gefühl miteinander, wobei sich Letzteres in einem archaischen Aufbegehren den so offensichtlichen Wahrheiten entgegenstellte und nicht wahrhaben wollte, dass die Frau meine Bitte nicht einhalten würde. Ach Sibylle! Ohne die Macht der unmittelbaren sinnlichen Verlockungen der Frau hatten die Emotionen allerdings keine Chance, meinem kühl berechnenden Verstand Paroli zu bieten, und so begab ich mich mit schnellen Schritten in Richtung Aula, von wo mir Dr. Müller entgegenkam.

„Ah… Hecht, da sind Sie ja. Ich habe Sie schon gesucht. Wissen Sie, ich werde hier nicht mehr gebraucht. Fräulein von Brentano wird von einem Polizeibeamten nach Hause gebracht. Von mir aus können wir…“

„Haben Sie eine Reporterin an sich vorbeikommen sehen“, unterbrach ich ihn. „So eine schlanke, attraktive junge Frau?“

„Auf Brautschau…“

„Lassen Sie Ihre Scherze!“

„Ja, die ist eben in der Aula gewesen. Sie hat Timmermann und mir gesagt, dass Sie ihr erlaubt hätten, ein paar Fotos für die Presse zu machen. Dann hat sie einige Fotos gemacht, was in diesen engen Kleidern ja wirklich nicht einfach ist. Also ich halte ja nichts von diesem Zuschaustellen der weiblichen Formen, aber die Jugend hat ja heute kein Schamgefühl mehr und kein Empfinden für wahren Eros. Also früher, zu meiner Zeit…“

„Ich komme gleich wieder“, fiel ich dem überraschten Arzt ins Wort und lief die letzten Meter zur Aula. Dort wanderten meine Augen intensiv suchend durch den halbdunklen Raum, ohne dass ich die Reporterin entdecken konnte.

„Timmermann! Hast du die Reporterin gesehen?“

„Ja, die hat nur kurz ein paar Bilder von dem Jungen gemacht. Nahaufnahmen. Das gibt eine nette Titelseite.“

„Wo ist die Frau jetzt?“

„Keine Ahnung. Die ging dann gleich wieder nach draußen. Da rechts durch den anderen Ausgang.“

Jetzt hatte ich den Ernst der Lage begriffen und ahnte Böses. Schnell rannte ich durch den Flur in die Halle, lauschte dort kurz und machte mich schließlich auf die Suche nach dem Hausmeister, bei dem ich die Reporterin vermutete. Aber weder in seinem Dienstzimmer noch in seiner Wohnung war dieser zu finden. Enttäuscht ging ich schließlich zurück zur Aula, wo die Spurensicherung bereits am Einpacken war. Nichts mehr gab es hier für mich zu tun. Verärgert über mein stümperhaftes Verhalten ging ich suchenden Blickes zurück zu meinem Auto. Warum treibe ich auch immer dieses blöde Spiel mit Sibylle Jahn, hämmerte es in meinem Kopf.

„Ach… da sind Sie ja endlich“, schallte mir die Stimme Dr. Müllers entgegen. „Sie haben mich doch nach dieser Reporterin gefragt. Also ich habe die mit einem etwas älteren Mann in einem blauen Kittel gesehen. Die gingen in die Kneipe da vorne an der Straße.“

„Einen Moment noch“, rief ich und war schon wieder am Laufen, als gäbe es die sommerliche Hitze nicht.

In der Kneipe fand ich dann endlich den Bier trinkenden Hausmeister. Und der erzählte mir, dass diese nette junge Frau von ihm den Namen und die Adresse des Schülers haben wollte. Letztere konnte er ihr aber nicht geben. Dann hätten sie noch über den Jungen gesprochen und schließlich hatte sie noch ein Foto von ihm gemacht, das eventuell in der Zeitung erscheinen würde. Das Bier habe sie ihm natürlich auch bezahlt, diese nette, junge Frau.

Und wieder einmal wird Sibylle Jahn aus nichts einen ihrer Skandalartikel zaubern, ahnte – nein – befürchtete ich und sah in diesem Moment eine Menge Ärger auf mich zukommen. Und alles nur, weil irgendein Schüler von einer Leiter gefallen war und ich wegen einer dieser deutschen Rechtsspitzfindigkeiten zu ermitteln hatte: Verletzung der Aufsichtspflicht. Meine Stimmung war mies.

Auf der Fahrt ins Polizeipräsidium in dem überheißen Polizeiauto erzählte mir Dr. Müller dann einiges über seine Sorgen als Vater und über die Gründe, die ihn dazu gebracht hatten, seine Tochter zum Schulbesuch auf das Mozart-Gymnasium zu schicken. Er schwadronierte, so wie es eben seine Art war, über den Verfall der Werte in unserer schrankenlosen, ausufernden Welt, in der kein Bewusstsein mehr für die wahren Werte einer Kultur vorzufinden wäre. Und in so einer Zeit wäre es an den Eliten der Gesellschaft, dafür zu sogen, dass der Staat nicht aus dem Ruder laufe.

Was er damit meinte, wollte ich wissen und Müller palaverte erregt etwas über Massenkultur, die ja eigentlich eine Unkultur sei und alles in einem zügellosen Hedonismus versinken ließe. Man müsse sich ja nur einmal Fernsehen und Presse ansehen. Diese Journalistin in der hautengen und knappen Kleidung sei ein Beispiel dafür, wie selbst so etwas wie das Schamgefühl verkommen sei. Nur noch triebhafter Sex, Sex, Sex. Kein tiefer gehendes Gefühl gebe es mehr für wahre Sinnlichkeit. Und dabei sei die deutsche Kultur doch eigentlich der Ort der wahren und tiefsten Gefühle. Aber um diese heute noch kennen zu lernen, müsse man schon nach Bayreuth fahren. Die Wagner-Festspiele seien die letzte Nische, in der das Hocherlebnis echter deutscher Kultur noch zu erleben sei.

Mir waren die verbalen Tiraden Müllers trotz unserer jahrelangen Zusammenarbeit in diesem Ausmaß neu und sie verwunderten mich. Ich wusste zwar, dass Müllers Verständnis von Kultur aus irgendeinem Grund an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert hängen geblieben war und dieser alles Moderne, was uns unser Leben leicht, bequem und unbeschwert machte, ablehnte. Doch ich hatte Müller immer auch als einen toleranten, vorsichtigen und bedächtigen Menschen erlebt. Jetzt aber standen ihm Hass und Abscheu in den Augen.

„Dr. Müller, was ist denn mit Ihnen los? So erregt habe ich Sie ja seit dem Fall der Mauer nicht mehr erlebt.“

„Ach – wissen Sie, Hecht, unter uns, was ich dort in der Schule mitbekommen habe, das ist einfach unerhört. Da geht man davon aus, dass man sich für seine Kinder eine Schule ausgesucht hat, in der sie behütet werden und eine qualifizierte Ausbildung erhalten, und dann das. Wissen Sie, was mir das Fräulein von Brentano erzählt hat. Sie hat doch tatsächlich ein Verhältnis mit diesem verunglückten Jungen gehabt. Und nun dieser Unfall. Wissen Sie, was dies für eine so begabte und empfindsame Künstlerin bedeuten kann? Dies kann zum Ruin ihrer Karriere führen. Und das jetzt, wo das Mädchen so kurz vor dem Durchbruch steht. Diesen Dr. Zwangsdorff, den werde ich mir kaufen. Redet immer von seiner Schule als einer, in der die Welt noch in Ordnung wäre. Und dann hat dieses junge Ding bereits eine Liebesaffäre – natürlich ohne Wissen der Eltern – mit diesem Bengel, diesem Proletenkind, das nichts außer Bier und Frauen im Kopf gehabt zu haben scheint. – Mein Gott – wenn sich so einer an meine Tochter heranmachen würde, der könnte was erleben.“

„Ach – der besorgte Vater spricht aus Ihnen. Warum sagen Sie das denn nicht gleich.“

„Besorgt, besorgt!? In dieser Zeit muss man sich Sorgen machen.“

Wir waren angekommen. Vor Wut schäumend stieg Dr. Müller aus meinem Wagen und verschwand im Keller des Polizeihochhauses, während ich noch einen Moment an meinem Platz verharrte.

Sicher ist der Tod des Jungen für das Mädchen ein großer Schock, aber letztlich ist es doch auch nicht mehr. Der Junge dagegen ist tot, mucksmäuschentot. Ein Leben noch vor seiner Blüte ausgehaucht. Die körperlichen Reste dieses Menschen, seine Leiche liegt jetzt wahrscheinlich schon nackt und kalt auf dem harten Stein des Obduktionstisches. Ein Benjamin Masokowsky eben und nicht die künstlerisch begnadete Rena von Brentano.

Irgendetwas trieb mich in diesem Augenblick dazu, Partei für den Jungen zu ergreifen, und meine übliche berufliche Distanz aufzugeben. Ich spürte, dass mich irgendetwas mit Benjamin verband, doch was es war, konnte ich noch nicht ergründen, obwohl es doch eigentlich so klar auf der Hand lag. Fest stand die Mauer des Verdrängens und erlaubte mir, der ich mich bis dahin nur selten mit mir selbst auseinandergesetzt hatte, keinen Blick hinter die Kulissen meines Bewusstseins. Nur allein, furchtbar allein fühlte ich mich mit einem Mal in dieser Welt.

3

Das Grau der trostlosen Hochhausfassaden Steilshoops ragte Otto und mir schon aus der Ferne entgegen, als wir uns durch den Wochenendverkehr quälten. Steilshoop war eine dieser Trabantenstädte, die in den sechziger und siebziger Jahren als städtebaulicher Fortschritt, mittlerweile aber Sinnbild des entfremdeten Stadtlebens galten. Anonymität beherrschte das Leben der in viel zu engen Wohnzellen zusammengezwängten Menschen, die keine Rückzugsmöglichkeiten und Ruhe in ihren überdimensionierten Siedlungen fanden. Seit Jahren war Steilshoops ein sozialer Brennpunkt: hohe Arbeitslosigkeit, hoher Anteil von ungelernten Arbeitern und Ausländern, viele Sozialhilfeempfänger. „Echte“ Hamburger mieden diesen Stadtteil und so mussten selbst wir, die mit der Geographie der Stadt einigermaßen vertrauten Polizisten einige Zeit suchen, bevor wir die Wohnung der Familie Masokowsky im Fritz-Finte-Ring fanden. Zu unserer Überraschung war in dieser Straße der Beton der vier- und fünfstöckigen Häuser nur noch an manchen Stellen zwischen wucherndem Efeu, verschiedenartiger Büschen und Bäumen zu erkennen.

Plötzlich lief vor uns eine Frau in einem hautengen hellgrauen T-Shirt und einem dunkelgrauen Minirock über die Straße. Ein Stromstoß ging durch meinen Körper, denn ich erkannte sofort Sibylle Jahn, die schnell in ihr Cabriolet einstieg und mit quietschenden Reifen davonfuhr.

Das wird Ärger geben, wussten Otto und ich.

Kurze Zeit später standen wir vor Frau Masokowsky, einer kleinen, zerbrechlich wirkenden Frau. Durch einen engen, mit Kleiderschränken vollgestellten Flur geleitete die Frau uns wortlos in ein einfach, aber geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer.

„Frau Masokowsky, offensichtlich sind Sie bereits von der Presse darüber informiert worden, dass Ihrem Sohn etwas zugestoßen ist“, begann Otto das Gespräch mit der etwas apathisch wirkenden Frau.

„Ja, ich weiß. Wie konnte das nur geschehen. Benjamin soll von einer Leiter gefallen sein? Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Der Junge ist doch immer so vorsichtig gewesen.“

„Frau Masokowsky, wir sind mit unseren Ermittlungen noch ganz am Anfang und können daher noch nichts Genaues sagen. Es sieht allerdings alles nach einem Unfall aus. … Vielleicht war auch die Leiter nicht in Ordnung? Wir haben auf jeden Fall die Spurensicherung eingeschaltet und werden alle in Betracht kommenden Unglücksursachen genauestens überprüfen. Seien Sie versichert, dass wir den genauen Hergang des Geschehens herausfinden werden.“

„Das erwarte ich auch von Ihnen.“

„Wir haben auch noch einige Fragen an Sie. Insbesondere interessiert uns, wann Ihr Sohn heute aus dem Haus gegangen ist?“

„Ja, das muss so gegen 9.00 Uhr gewesen sein. Er sagte, dass er noch vor der Probe an der Beleuchtung arbeiten müsse. Daher ist er früher als sonst zu den Theaterproben gefahren.“

„Wie lange fährt man denn von hier zur Schule?“

„Das geht ganz schnell. Benjamin fährt mit seinem Fahrrad über den Ohlsdorfer Friedhof. Dann ist er in zehn Minuten da.“

„Hatte Ihr Sohn eigentlich irgendwelche Feinde an der Schule?“, fragte ich eine der üblichen Fragen aus dem Ermittlungsfragenkatalog ab.

„Feinde direkt nicht, das kann man nicht sagen. Aber an der Schule ist er nicht so gut mit seinen Schulkameraden klargekommen. Ich wollte ja auch nicht, dass er auf das Mozart-Gymnasium geht. Da schicken doch nur all die feinen Leute ihre Kinder hin und das ist doch nichts für arme Leute wie uns. Ich zog den Jungen allein auf. Dieter, Benjamins Vater, hat sich schon kurz nach der Geburt aus dem Staub gemacht und sich seitdem nicht mehr gemeldet.“

„Warum haben Sie denn dann Benjamin auf das Mozart-Gymnasium geschickt?“

„Ach … das ist eine lange Geschichte. Also Benjamins Grundschullehrerin, Frau Hermann, die hielt sehr viel von Benjamin. Sie meinte, dass er in Musik sehr begabt und das Mozart-Gymnasium mit seinem Musikschwerpunkt daher genau das Richtige für ihn sei. Aber trotz seiner Begabung brachte es Benjamin an der Schule nicht weit.“

„Warum?“

„Na ja… die Lehrer haben immer viel über Benjamins Leistungen und Betragen zu meckern gehabt. Selbst in Musik bekam er statt der eins in der Grundschule nie mehr als eine drei. Sein musikalisches Talent nützte ihm am Mozart-Gymnasium nichts.“

„Was für ein Instrument spielte Benjamin denn?“

„Ja, zuerst nur Gitarre. Ich komme aus einer musikalischen Familie. Wir sind zwar alle Arbeiter gewesen, aber schon mein Großvater hat die Musik geliebt. Von dem habe ich auch das Gitarrenspiel gelernt. Und dies habe ich dann an den Jungen weitergegeben. – Ach, der konnte wirklich gut spielen. Viel, viel besser als ich. Und er hat so schnell gelernt.“

Ich sah, wie Frau Masokowsky weinend auf dem Sofa in sich zusammensank. Ich fühlte mich hilflos und wie gelähmt, während sich Otto neben die Frau setzte und sie tröstend in den Arm nahm.

Als sich Frau Masokowsky wieder beruhigt hatte, stellte ich noch eine letzte Frage, ohne eigentlich selbst zu wissen, warum ich sie stellte:

„Wissen Sie, dass Ihr Sohn eine Freundin gehabt hat?“

„Ja, ich weiß. Er hat mir viel von Rena erzählt. So ein schönes Mädchen. Sie ist Benjamins erste richtige Liebe gewesen. Er war sehr, sehr in sie verliebt.“

Für einen Moment schwieg die Mutter des Toten und weinte leise vor sich hin, während Otto und ich traurig auf die leidende Frau blickten. Nachdem Frau Masokowsky sich dann die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, sprach sie weiter:

„Aber das war schwierig mit Rena. Sie mochte Benjamin auch sehr gern. Aber ihre Familie, die Familie von Brentano hat nicht erlaubt, dass Rena einen Freund hat. Die Eltern, der Vater vor allem, war sehr um die Karriere seiner Tochter besorgt. Sie sollte ihre ganze Aufmerksamkeit und ihr ganzes Gefühl dem Violinenspiel widmen. Rena hat dies nicht mehr mitmachen wollen.“

„Wussten Renas Eltern etwas von der Beziehung Ihrer Tochter zu Benjamin?“

„Ich weiß es nicht genau. Rena ist nur selten hier gewesen. Sie hat doch kaum Zeit für sich gehabt, weil sie ständig üben musste. Und wenn sie mal da war, dann wollten die Kinder ja auch die Zeit für sich haben. Ich habe mich da nicht aufgedrängt. Benjamin hat mir aber erzählt, dass Herr von Brentano etwas zu ahnen schien. Er soll Rena in der letzten Zeit häufiger regelrecht verhört haben, wenn sie heim kam.“

Noch eine Weile unterhielten Otto und ich uns mit der trauernden Frau, die offensichtlich allein in ihrer Wohnung und mit ihrem Schmerz war. Otto fragte sie dann noch, ob sie Bekannte hätte, die sich um sie kümmern könnten, und sorgte dafür, dass jemand vorbeikam, um Frau Masokowsky über die schwersten Stunden zu helfen, bevor wir uns auf den Rückweg machten.

Die schwüle Hitze des Spätnachmittags erschlug uns fast, als wir das Mietshaus verließen. Dunkle Wolken waren am Himmel aufgezogen und die ersten Blitze verkündeten bereits ein nahendes Unwetter.

4

Für mich gab es in diesem Fall erst einmal nichts zu tun. Es war die Aufgabe der Spurenermittler, sich durch das Chaos der Hinweise am Unfallort zu arbeiten. Erst wenn sie Licht ins Dunkel des Unfallhergangs gebracht hatten, konnte ich mich daran machen, was es mit dem Tod Benjamin Masokowskys am Mozart-Gymnasium auf sich hatte. Nicht nur mein Überstundenkonto auch meine im Stress der letzten Wochen arg in Bewegung geratenen Gefühle lechzten nach einer Pause und so gönnte ich mir einen freien Sonntag.

Ob ich das richtige Mittel wählte, um an diesem Tag meine Psyche ins Lot zu bringen, würde ich heute bezweifeln. Jedenfalls saß ich am Montagmorgen mit Kopfschmerzen am Schreibtisch meines Büros im vierzehnten Stock des Polizeihochhauses. Verkatert war ich und mein Hirn ließ keine richtige Arbeit zu. Anstatt mich dem einfachen Nichtstun hinzugeben, zog ich es vor, meinen Mitarbeitern gegenüber das Ideal des immer arbeitenden Kollegen aufrecht zu erhalten, zu dem ich mich damals noch verpflichtet fühlte. An der Tatsache, dass man mit Kopfschmerzen keinen klaren Gedanken fassen kann, kam ich allerdings nicht vorbei. Ich war kein Übermensch. Warum hatte ich gestern nur so viel getrunken, obwohl ich heute arbeiten musste?

Der Tod Benjamin Masokowskys hatte mir keine Ruhe gelassen. Meine sonstige Gewohnheit, gegenüber den Schicksalen der Opfer, kühl Distanz zu wahren, hatte diesmal nicht gegriffen. Dieser Mechanismus, den ich mir zugelegt hatte, um mein Inneres vor den Grausamkeiten zu schützen, mit denen ich in der Mordkommission alltäglich konfrontiert wurde, hatte diesmal seinen Dienst versagt und mich dazu verleitet, in einem trinkerischen Exzess allen Frust aus meinem Hirn zu spülen. Warum nur?

War es die Gleichgültigkeit Dr. Müllers gegenüber dem Schicksal des Jungen, die mich nicht losgelassen hatte? War es das Mitgefühl mit der Mutter und dem Los Benjamins, der ebenso wie ich das Schicksal hatte, als Arbeiterkind ein Gymnasium zu besuchen? Oder war es die Trauer Rena von Brentanos über den frühen Tod ihres Geliebten, die mich rührte und gleichzeitig verbitterte, da ich selbst in der Liebe kein Glück fand?

Ich wusste es nicht.

Die Acetylsalicylsäure meiner Kopfschmerztablette wirkte langsam und mit der Zeit ließ das Hämmern in meinem Kopf nach. Dann endlich war die Frühstückspause erreicht. Für eine Weile konnte ich nun die Arbeit auch äußerlich ruhen lassen. Ich holte mir einen Kaffee, der meinem flauen Magen nicht gut bekommen würde, und faltete danach das Hamburger Morgenblatt auf, das für mich nach solchen Nächten genau das Richtige war. Zum einfachen Durchblättern gemacht beschäftigte sie einen so, dass man vom einfachen Dasein im Hier und Jetzt abgelenkt wurde, ohne dabei allerdings zum Denken genötigt zu werden. Der Konsum dieser Tageszeitung war nicht mehr als ein Ritual der Ablenkung von den Schrecken der eigenen Gegenwart und damit für mich in diesem Moment genau das Richtige.

Dann erschrak ich!!!

Auf der Titelseite erkannte ich sofort den merkwürdig verrenkten Kopf Benjamin Masokowskys auf einem großformatigen Schwarzweißfoto. Hastig las ich den dazugehörigen Zeitungsartikel:

GENICKBRUCH IN DER AULA!!!

RÄTZELHAFTER UNGLÜCKSFALL IM Mozart-Gymnasium

Am Samstagmorgen fand die 17-jährige Schülerin Rena von B. die Leiche ihres Freundes Benjamin M. in der Aula des Mozart-Gymnasiums. Die Leiche lag neben einer umgestürzten Leiter, mit deren Hilfe der Junge Reparaturen an der Lichtanlage der Aula ausgeführt hatte. Der Hausmeister Harald E. hält es jedoch für ausgeschlossen, dass der Junge ohne Fremdeinwirkung mit der Leiter umgestürzt sein könnte. Auch die Polizei schließt eine Straftat nicht aus und schaltete die Spurensicherung ein. Ergebnisse wurden bisher jedoch aus Rücksicht auf den Ruf der stadtbekannten Schule noch nicht bekannt gegeben. Mal wieder wird das Recht des Bürgers auf Information mit Füßen getreten. Wir werden weiter berichten.

Sibylle Jahn

„Verdammt!!!“, entfuhr es mir. Genau das hatte ich vermeiden wollen und nun hatte Sibylle Jahn ein Foto, das ich ihr zu machen erlaubte, genau auf der Titelseite platziert. Kopfschmerzen und nun auch noch das. Ich wusste, dass es Ärger geben würde. Ich hätte doch wissen müssen, dass die Jahn aus der Sache eine Story machen würde. Das ist ihr Beruf. Ich würde es doch ebenso machen.

Ich ärgerte mich mal wieder über mich selbst, meine Naivität und mein Schwachwerden vor Frauen und insbesondere über mein unbeholfenes Verliebtsein in Sibylle Jahn.

Ich zuckte zusammen, als sich plötzlich die Tür öffnete, doch es war nur Otto.

„Guten Morgen, Chef.“

„Morgen Otto.“

„Du siehst ja ganz schön abgekämpft aus. Tja – das feuchte Hamburger Klima macht montags vielen Menschen zu schaffen.“

„Lass deine Scherze, Otto. Mir geht es wirklich nicht gut. Hast du schon die Zeitung gelesen? Die Jahn hat mir einen ganz schön dicken Ärger eingebrockt.“