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Schumanns Wahrheit ist eine Geschichte über Generationen, über Krieg und die Wahrheit. Eine erfundene Wahrheit, damit es zwei Brüdern besser geht. Doch Zweifel bleiben. Und andere Menschen sind unwissend Teil der erfundenen Geschichte oder tragen zu ihr bei.
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2022
Schumanns Wahrheit
Schumanns Wahrheit
Heiko Stegmaier
© 2022 Heiko Stegmaier
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-66947-5
ISBN E-Book: 978-3-347-66958-1
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
DER HOFFNUNGSLOSE 1
Hannes Alsleben steht am Fenster und schaut auf die mit Schnee bedeckte Strasse. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Es ist spät. Hannes hält einen losen Stapel Papier in der linken Hand, in seiner rechten glüht eine Zigarette. Der Aschenbecher auf dem Fenstersims ist bereits bis zum Rand gefüllt. Drüben bei den Nachbarn brennt noch Licht. Ein paar schattenhafte Umrisse sitzen um einen Weihnachtsbaum, auf dem zuoberst ein heller Stern strahlt. Das Fenster zur Strasse ist weit geöffnet, ein kalter Wind bläst in die dunkle Werkstatt. Hannes hat ausser seiner Unterhose nichts an. Er friert. Seine Hände zittern, die Lippen sind fest aufeinandergepresst.
Schöne Weihnachten wünscheich euch, liebe Nachbarn. Seht herüber, nur ein einziges Mal. Ich will das Glück in euren Gesichtern sehen. Nein. Ist zu dunkel. Dafür reicht der Stern nicht. Reicht nicht, damit ich eure Gesichtersehen kann. Ein wunderbares Fest, ganz ohne Baum. Gut gemacht, Hannes. Zwei Jahre nach jemandem gesucht, der mit Grossvater im Krieg war. Gesucht, schliesslich gefunden und doch nichts geklärt. Wollte doch nur wissen, was damals geschah. Ist das denn zu viel verlangt? Ein Enkel, der die Geschichte seines Grossvaters erfahren möchte. Ist das wirklich zu viel verlangt?
Die Zigarette erlischt. Auf dem Fenstersims neben dem Aschenbecher liegt ein ungeöffnetes Päckchen. Hannes nimmt eine Neue. Sein Hals ist trocken und die Lungen fühlen sich an, als würden sie platzen.
Warum habe ich denn überhaupt gesucht? Verdammte Scheisse. Meine Freunde haben mir davon abgeraten, auch mein Bruder wollte es nicht. Zu viel Zeit, zu viel Mühe.Grossvater ist doch schon lange tot, mit ihm ist seine Geschichte gestorben. Aber nein: Ich, Hannes, wollte ja unbedingt genau wissen, was damals geschah. Ich wollte genau wissen, was damals geschah. Wollte jemanden finden, der dabei war. Was hat es mir gebracht? Gar nichts. Ausser diesem wertlosen Stapel Papier. Gut gemacht, Hannes. Jetzt hast du immerhin so eine Art Erzählung von einem Typen, den du gar nicht kennst. Ja, das habe ich gut gemacht. Seht doch mal zu mir rüber, nur ein einziges Mal. Seht ihr diesen Stapel hier? Das soll mein Grossvater sein. Gut, oder? Fast so gut wie euer Stern auf eurem Tannenbaum. Dreizehn Euro im Supermarkt kostet so ein Tannenbaum. Was ist das schon im Vergleich zu einem Stapel Papier? Im Vergleich zu einer Erzählung, die wahrscheinlich frei erfunden ist? Seht sie euch doch an. Vielleicht hätte ich auch besser einen Weihnachtsbaum gekauft. Wäre dann immerhin wärmer hier drin. Zumindest seelisch. Das kann so ein Stapel Papier nicht. Nein, der taugt nicht viel. Seht her, dann seht ihr auch mich. Einen Enkel, der leicht bekleidet in seiner Werkstatt steht und sich an vergangene Zeiten erinnert. Ja, es ist schon lange her, als Grossvater uns von seinen Kriegsgeschichten erzählt hatte. Damals hat aber alles angefangen, als Grossvater noch erzählte. Johann. Du hast viel erzählt damals.
DER EINSAME 1
Es ist heiss am Mittag. An diesem späten Julitag brennt die Sonne unerbittlich auf den knöchernen Körper von Johann Alsleben, der mit aller Kraft einen gefällten Baum in kleine Stücke zerlegt. Seinem Oberkörper verschafft er etwas Abkühlung durch das Brunnenwasser. Das braune Hemd hängt an einem Ast. Schweissperlen sammeln sich an der Narbe über seiner Lippe. Diese Narbe, die ihn schon viele Jahre zeichnet. Eine Narbe, die jeder sehen kann, nicht so wie die grössere in seinem Herzen. Gerade als er zu einem Schlag mit der Axt ausholen will, ruft ihn Hildegard zum Essen. Johann legt die Axt auf den Boden, nimmt das Hemd und wischt sich damit über die feuchte Stirn und den Oberkörper. Für einen kurzen Augenblick starrt er den Baum an, dann seufzt er und geht ins Haus.
«Was hast du? Ich habe dich seufzen gehört.» Hilde reicht ihm den Teller. «Kommen die beiden morgen?», fragt Johann. «Kannst du Hannes und Thomas nicht beim Namen nennen? Sie sind doch deine Enkelkinder.» – «Kommen sie morgen?» – «Sie kommen morgen, und du wirst dich anständig benehmen, nicht, dass sie vor dir Angst bekommen. Jedes Mal machst du ihnen Angst. Du mit deinen Kriegsgeschichten. Das wollen die doch gar nicht wissen.» Johann schiebt sich zum Fleisch noch etwas verkochtes Gemüse in den Mund. «Ich nehme sie übermorgen mit in den Wald. Morgen habe ich keine Zeit. Vermutlich werde ich ihnen zeigen, wie man Bäume fällt. Was hältst du davon? Wird ihnen sicher Spass machen. Wer bringt sie her? Die Tochter?» – «Das weisst du doch. Sie kommt am Abend hier an. Sie kann nicht lange bleiben, wird also in der Nacht wieder nach Hause fahren.» Johann legt den Löffel neben den Teller und lehnt sich zurück. «Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich keinen Kohl essen will? Jetzt hast du schon wieder welchen gemacht!» – «Was hat das mit unserer Tochter zu tun?» – «Nichts. Ich will jetzt über diesen verfluchten Kohl in meinem Teller reden.» Hilde nimmt den Teller wütend vom Tisch und wirft das restliche Gemüse in den Mülleimer. «Wenn du ihn nicht essen willst, dann gibt es gar nichts. Pech für dich. Es gibt Menschen, die wären froh um den Kohl. Früher hast du Kohl auch gemocht. Ein ganz anderer Mensch bist du, seit zu zurück bist!» – «Ich kann ihn nicht mehr sehen. Wann will das endlich in deinen Schädel? Jedes Mal kochst du wieder dieses Zeug, obwohl du genau weisst, dass ich keinen Kohl mehr mag. Es nicht mehr wie vor dem Krieg. Wann willst du endlich verstehen, dass sich vieles geändert hat? Fang mit dem Kohl an. Koch keinen mehr! Aber ich sag es dir gerne nochmal, vielleicht verstehst du es ja jetzt. Gefrorenen Kohl – fünf lange Jahre habe ich nur gefrorenen Kohl gefressen. Kannst du dir vorstellen, wie das ist? Nein, sonst würdest du keinen mehr kochen. Glaubst du, ich habe mir das ausgesucht? Glaubst du das? Nein, du wirst das nie verstehen. Vielleicht die Enkel morgen. Weisst du, warum sie Angst vor mir haben? Weil ich mich vor ihnen fürchte. Ich habe Angst davor, dass sie auch nichts verstehen werden. Dann bin ich ganz allein. Thomas und Hannes merken das. Sie halten mich vielleicht für einen verkorksten alten Mann. Für einen Nazi. Ach nein, die wissen noch gar nicht, was das ist. Die wissen auch nicht, dass ihr Grossvater fünf Jahre lang gefrorenen Kohl fressen musste. Du weisst das aber, also mach mir keinen Kohl mehr. Ich war auch mal so jung wie die beiden. War auch mal unschuldig, und unschuldig ging ich auch in den Krieg. Glaubst du, ich hätte das freiwillig gemacht? Glaubst du, es war ein netter Russlandurlaub? Verdammt noch mal. Ich wollte das doch auch nicht. Ich wäre auch lieber jung und unschuldig geblieben. Dann könnte ich jetzt auch noch diesen verfluchten Kohl fressen.» Hilde schenkt sich vom selbst gemachten Apfelwein ein. «Die Jungen kommen abends um sechs. Du brauchst also gar nichts mehr mit ihnen zu unternehmen.» Sie trinkt das Glas in einem Zug leer, steht auf und lässt Johann allein am Tisch zurück.
Es ist Dienstag. Johann liegt in seinem Wald unter einem Baum. Sein Körper ist mit Dreck bedeckt. Nur die Augen sind noch frei. Gerade so, dass Johann am mächtigen Stamm hochschauen kann.
Ein wunderschöner Baum. Ja, du bist wirklich wunderschön. Das ist das Beste, was ich je getan habe. Ein Stück Wald zu kaufen. Mit dir mittendrin. Ich kann nicht oft genug sagen, wie stolz ich auf dich bin. Weisst du schon, wer heute zu Besuch kommt? Meine Enkelkinder Thomas und Hannes. Zwei nette Jungs sind das. Kräftig. Aus denen wird mal was. Hilde meint immer, ich würde ihnen Angst einjagen, wenn ich ihnen von damals erzähle. Hannes hört aber interessiert zu. Ich glaube nicht, dass er Angst hat. Nein. Ich bin es, der sich fürchtet. Aber das habe ich dir schon oft erzählt. Ich komme morgen mit ihnen hierher. Hierher zu dir. Ich werde ihnen von Russland erzählen. Es wird ihnen sicher gefallen im Wald. Ich werde Hilde einfach sagen, dass ich ihnen zeige, wie man Bäume fällt. Ja, so mache ich es. Ich freue mich schon darauf. Ich muss jetzt gehen, sie kommen bald. Es ist schon spät, und ich will nicht verpassen, wenn Hannes und Thomas ankommen. Hilde wird heute auch was Gutes kochen. Das macht sie immer, wenn die beiden kommen. Sie ist auf den Markt gegangen und hat sogar Dessert gekauft. Heute macht sie keinen Kohl. Sie gibt immer viel Geld aus, wenn die Enkelkommen. Mir ist das recht. Ich esse auch gerne was Gutes. Bismorgen dann.
Johann streicht über die Rinde des Baumes und geht dann nach Hause. Er öffnet vorsichtig die Tür zur Küche und sieht seine Frau, wie sie mit grossen Augen vor ihm steht. «Sind sie schon da?» Hilde schaut erst auf die dreckigen Schuhe, dann in das schmutzige Gesicht ihres Mannes. «Was hast du denn gemacht? Hast du dich wieder im Dreck vergraben?» Johann wischt sich mit einem feuchten Küchentuch über das Gesicht. «Ich vergrab mich nicht. Sind sie schon hier?» Er legt das Tuch wieder zurück. «Nein. Ich habe dir doch gestern gesagt, dass sie erst um sechs Uhr kommen. Würdest du mir mal zuhören, dann wüsstest du es jetzt noch. Geh dich waschen!»
Die grosse Wanduhr schlägt neun. Johann bringt die Enkel ins Bett. Sie schlafen im Wohnzimmer auf dem umfunktionierten Sofa. Johann geht zurück in die Küche. «Was hast du den Kleinen erzählt?» Hilde merkt, dass sie ihren Mann etwas zu laut anfaucht. Sie versucht sich zu beherrschen, weil die Enkel vom Streit nichts mitbekommen sollen. «Hast du wieder eine deiner Geschichten erzählt? Hannes und Thomas sind zu jung dafür. Die bekommen nur Angst und können nicht schlafen.» Johann schaut Hilde unschuldig an. «Du hörst mir ja nicht mehr zu. Noch nie hast du mir zugehört. Irgendwem muss ich davon erzählen, sonst gerät es in Vergessenheit. Das will ich nicht.» – «Es ist besser, wenn niemand etwas über den Krieg erfährt. Und schon gar nicht die Enkelkinder. Lass sie damit in Ruhe.» Hilde nimmt einen sauberen Teller, der vom Abwasch noch auf dem Tisch steht. Sie will ihn an seinen Platz oberhalb des Spülbeckens legen. «Ja, alles ist besser. Du weisst nicht, wie es war. Für dich ist es leicht zu vergessen. Für mich nicht. Ich war dabei. Mein Freund war dabei, ich habe ihn umgebracht. Ich habe die Menschen gesehen. Tot waren sie. Ich weiss, wie es war. Ich weiss es und kann es nicht vergessen. Die Kinder sollen es auch wissen, so etwas darf nicht noch einmal geschehen. Ihr alle könnt leicht reden und mir sagen: ‹Schweig, du alter Mann.› Aber nein, ich werde nicht schweigen. Das tu ich nicht. Wenn niemand etwas vom Krieg erfahren möchte, dann schreie ich es halt hinaus. Hör her, du verdammte Welt! Der Krieg geht weiter. In uns drin geht er weiter, in jedem Einzelnen von uns, dem es nicht vergönnt war, im Krieg zu sterben. Ihr könnt uns eines Tages ins Altenheim abschieben. Könnt uns vergessen. Der Krieg geht aber weiter. Soll ich noch lauter schreien? Hast du mich gehört? Ich kann es dir auch vorsingen, Hilde. Ich will keinen Kohl mehr fressen, nie mehr wieder. Verstehst du das, oder soll ich wieder schreien?» – «Hör auf, bitte hör auf mit diesem Schwachsinn. Du weckst nur Thomas und Hannes.» – «Der Krieg geht weiter. Ich schreie es hinaus in die Welt. Hör zu, verdammte Welt! Das verfluchte Tier in mir hat etwas zu sagen. Ich war im Krieg und habe gemordet, weil man es mir befahl. Ich habe erstochen, weil ich Angst hatte. Habe gefoltert, weil ich leben wollte. Wurde zum Tier, weil alle um mich herum auch zu Tieren wurden und ich nicht allein sein wollte.» Johann zittert am ganzen Körper. Erst als ein Teller klirrend zu Boden fällt, lässt er Hildes Arm los. «Du bist wahnsinnig geworden. Krank im Kopf. Der Krieg hat dich krank gemacht. Warum bist du nicht mehr so wie früher? Du tust mir weh. Pass morgen ja auf, was du mit den Enkeln machst.» Hilde weint und geht schlafen.
DER HOFFNUNGSLOSE 2
Der Stern leuchtet immer noch. Die Nachbarn haben zu singen begonnen. Wieder fährt ein Auto vorbei. Die Spur im Schnee wird bald von frischen Flocken bedeckt sein. Hannes steht immer noch am Fenster und raucht. Es ist kalt in der Werkstatt. Vereinzelte Flocken bleiben auf dem staubigen Boden liegen.
Bleibt schön liegen, meine Flocken. Deckt alles hier drin zu. Ist schon gut so, wenn hier alles bedeckt ist. Dann werde ich erfrieren und erst im Frühling wieder auftauen. Dass ich so viel geraucht habe, wird im Frühling niemanden mehr stören. Wäre doch ganz spannend, was dann geschieht. Vielleicht erzählen sie sich dann Geschichten über den Mann, der an Weihnachten in seiner Wohnung erfroren ist und erst im Frühling wieder auftaute. Habt ihr schon von dem Kerl gehört, der in seiner Werkstatt erfroren ist? Soll an Weihnachten geschehen sein. Ein komischer Kauz. Ja, ich werde dann selbstStoff für einen Roman abgeben. Der Mann, der zu Weihnachten erfror. Am Titel müsste man noch etwas feilen.Aber immer noch besser als diese zwanzig Seiten.
«Ihr Grossvater war ein Held. Er hat meinem Vater das Leben gerettet. Sie können stolz auf ihn sein.»
Lüg doch nicht, du alter Mann. Alles erfunden. Von wegen die Frontbriefe gelesen und abgeschrieben!
«Hallo, ich bin Theo. Ihr Grossvater hat meinem Vater das Leben gerettet.»
Das glaubt doch kein Mensch. Ich habe da auch eine Geschichte. Hört mal her, ihr da drüben. Hört her, nur eineSekunde. Ein kleiner Junge, der den anderen in nichts nachsteht und sich von den Grossen nur durch seine Unschuld und Unwissenheit unterscheidet, kennt einen Mann, der ganz zufällig auch sein Grossvater ist. Allerdings ist das kaum von Bedeutung. Der Mann erzählt seinem Enkel Geschichten vom Krieg. Er erzählt sie dem kleinen Jungen, da die anderen ihm nicht mehr zuhören wollen. Die einen haben das Gehör verloren, diejenigen, die es noch haben, hören falsch. Wie auch immer. Der Enkel lauscht den abenteuerlichen Geschichten mit grossem Interesse, denn der Krieg ist für den kleinen Jungen faszinierend. Grossvater erzählt mit Leidenschaft, mit Liebe, Hass und Trauer. Endlich jemand, der ihm zuhört, wissend, dass er nicht verstanden wird. Der Junge ist gefangen in einer gefährlichen, dramatischen Welt. Soldaten schiessen, Panzer rollen und Menschen morden, weil sie im Krieg sind. Dann sterben sie, weil sie doch gar nicht im Krieg sein wollen.Brachial. Faszinierend. Der Enkel sieht seinen Grossvater weinen, versteht aber nicht warum; es spielt auch keine Rolle. Der Junge bittet den Grossvater, von Schlachten zu erzählen, von den Panzerdivisionen. Doch diese Geschichten kann ihm sein Grossvater nicht bieten. Seine Erzählungen handeln nur von Menschen, die gequält wurden und gestorben sind. Mit der Zeit beginnt der alternde Mann zu verstehen, dass er alleine ist und selbst mit seinem Schmerz zurechtkommen muss. Der Einzige, der ihm noch zuhört, ist ein kleiner Junge, doch dieser versteht ihn nicht. Der Mann wurde verlassen, weil er nicht mehr gebraucht wurde. Er fleht die Menschen an, seinen Schmerz mit ihnen teilen zu können, doch diese weisen ihn ab. Manche fürchten ihn gar. In seiner Verzweiflung wendet sich der Greis an Gott, bittet ihn um Hilfe, doch der hört so wenig zu wie alle anderen. Schlimmer noch: Er ist nicht einmal da. Jeder lässt ihn zurück, bis er von seinerschweren Last erdrückt wird; zugrunde geht wie ein kranker Baum. Jahre später, als der Grossvater stirbt, verliert der Junge seine Unwissenheit. Ihm wird klar, dass er nun bereit ist, zu verstehen. Doch nun will niemand mehr erzählen. Es ist keiner mehr da, der noch etwas zu berichten wüsste. Ihr habt nicht hingehört. Ihr singt stattdessen euer bescheuertes Weihnachtslied. O du fröhliche. Ach, wie wunderbar. So fröhlich allesamt mit ihrem prächtigen Weihnachtsstern. Schaut zu mir! Seht ihr die zwanzig Seiten Papier? Wie einfach es sich die Menschen doch machen. Sie erfinden sich ihre eigene Wahrheit – und plötzlich wird alles so wunderschön. Vielleicht vergisst man irgendwann den Krieg. Vielleicht hält man ihn dann für einen Mythos, eine Legende, ein Schauermärchen, um Kindern in der Nacht Angst zu machen. Und wenn die Kinder dann erwachsen geworden sind, hören sie auf, an die Märchen ihrer Eltern zu glauben, lachen darüber und erzählen ihren Kindern andere Geschichten. Dann wird es vollbracht sein: Alles wird vergessen sein und die Vergangenheit wird dann wieder wunderschön sein. Wie einfach es doch ist. Und mein Grossvater? Der war ein Held. Hat sich aufopfernd vor seinen besten Freund geworfen und so die Kugel abgefangen. Was für ein Mann! Ich habe nie eine Schussverletzung bei meinem Grossvater gesehen. Die Narbe über der Lippe stammte nicht von einer Kugel. Aber wenn es hier drinsteht. Überall schrien die Menschen. Grossvater war gerade dabei, in Deckung zu springen, da sieht er, wie Scharfschützen auf seinen Freund zielen. Johann springt, hört den Knall und fällt verwundet zu Boden. Ich habe nie eine Narbe gesehen. Vielleicht hat sie Grossvater versteckt, kann schon sein. Versteckt in seinem Herzen. Das Einzige, was bleibt, ist eine klaffende Wunde, dienie verheilt.
Hannes nimmt eine frische Zigarette aus der Schachtel, seine Finger sind bereits steif und taub.
DER SCHREIBENDE 1
Seltsam, denkt Theo, so ein heftiger Sturm, jetzt im September.
Es ist seltsam, dass es so stürmt. Da will uns Gott etwas sagen. Was nur? Was willst du da oben? Ich bin doch hier, du kannst es mir ruhig sagen. Du musst nicht den ganzen Tag stürmen. Wenn du so weitermachst, dann kommt heute niemand hierher. Bei diesem Wetter will doch niemand den Verstorbenen einen Besuch abstatten. Wenn der Himmel so weint. Auch ich kann da nichts machen. Ich arbeite schon seit so vielen Jahren auf dem Friedhof. Wie lange genau? Wenn ich es dir sage, hörst du dann auf zu stürmen? Ach, du weisst es ja eh. Dann kannst du es mir doch sagen, ich weiss es nämlich nicht. Zwanzig Jahre, dreissig, sicher gefühlte hundert? Nein, so viele sind es nicht.
Da es erst nach dem Sturm Sinn hat, die abgeknickten Äste und das gefallene Laub einzusammeln, sitzt Theo in seinem Gärtnerhäuschen, das eigens für ihn gebaut wurde. Er betrachtet die verschiedenen Werkzeuge, die an der Wand hängen. Ein Besen neben einer Hacke. Ein Hammer zwischen zwei Regalen.
Spannend, wie ihr da so rumhängt. Leider animiert es mich nicht zum Schreiben. Ich habe schon viele Geschichten geschrieben. Über die Gräber, über die Toten, die da drin liegen und langsam von den Würmern aufgefressen werden. Hin und wieder wird einer ausgebuddelt. Das macht nichts. Ich führe ja Buch und weiss, wann wieder ein Grab aufgelöst wird. Unter der Linde, da liegst du nun schon seit einigen Jahren. Bald kommst du dran und wirst ausgegraben. Dochdie Blumen werden weiter blühen. Ein Neuer wird kommen. Du schönes Grab, da unter der Linde, du bist das schönste von allen. Schon in einem Jahr darf ein Neuer in dir liegen. Nummer Vierundzwanzig unter der Linde istzeitlos. Scheissegal, ob wieder einer ausgebuddelt wird. Macht doch nichts. Nummer Vierundzwanzig ist eine Grabgeschichte. Wie die Jahreszeiten vergehen. So schnell. Schneebedeckt das Kreuz, Blumen blühen und die Sonne lässt die Erde dampfen. Ein herbstlicher Sturm will an deinen Kräften zehren. Doch die Linde lässt nur ein Lüftchen zu dir vordringen. Na ja, heute ist es etwas anders. Aber das macht ja nichts. Auch dieser Sturm geht vorüber und die Vierundzwanzig wird ihn überstehen. Ob die Geschichten wahr sind? Na, die mit der Nummer Vierundzwanzig stimmt. Es ist doch ein schönes Grab. Bei den anderen bin ich mir nicht so sicher. Hier zum Beispiel, der Alsleben. Er liegt schon eine ganze Weile in diesem Grab und kein Mensch besucht ihn. Hin und wieder scheisst ein Rabe auf das Dach des Kreuzes, ansonsten passiert da nicht viel. Ich habe einfach geschrieben, dass der Alsleben ein Kriegsheld war. Das könnte mit dem Alter ungefähr hinkommen, das mit dem Krieg meine ich. Der hat da ein Haus ganz allein gestürmt und sich geweigert, Zivilisten zu erschiessen, dann hat er den Gefangenen zur Flucht verholfen. Er kam zurück vom Krieg und blieb sein Leben lang ein Einzelgänger. Nun ja, ich gebe zu, dass es nicht meine beste Geschichte ist, aber ich kann sie ja immer wieder neu schreiben. Der Alsleben liegt da noch eine ganze Weile. Einen Anspruch auf Wahrheit? Nein, den stelle ich gar nicht. Weshalb auch? Tot ist nicht mehr lebendig, die letzten Überreste verrotten unweigerlich in der feuchtbraunen Erde des Friedhofes. Spielt es denn am Ende überhaupt eine Rolle, wie man gestorben ist? Eine erfundene Geschichte ändert nichts mehr an der Tatsache, dass dieDahingeschiedenen den Würmern zum Frass vorgeworfen wurden. Der Alsleben liegt in der Nummer Vier. In der zweiten Reihe, nahe dem Kirchturm, der den ganzen Friedhof überragt und durch die groben Säulen unter dem Dach eher teuflisch böse als christlich besonnen wirkt. Die Nummer Vier ist ein spärlich geschmücktes Grab. Ein kleines Kreuz, das kaum auf einen besonderen Reichtum der Hinterbliebenen schliessen lässt, erinnert an den Verstorbenen. Unterhalb der Füsse des Gottessohnes steht in schwarz lackierten Ziffern undBuchstaben:
15. Juni 1904 – 8. Februar 1985
Gott hat ihn zu sich geholt, in unseren Herzen bleibt er lebendig.
Schön, nicht? Das Grab wird von der Kirche unterhalten, also von mir. Ich habe jeden Monat ein kleines Budget für den Grabunterhalt, das gibt aber nicht viel her. Ein paar neue Blumen, ein paar Pflanzen, das Geld reicht nicht für viel. Darum gebe ich dem Alsleben etwas anderes: ewiges Leben. Als Kriegsheld bleibt er hier auf diesem Papier lebendig. Aber wer wird es lesen, dieses Abenteuer mit dem Haus und den Zivilisten, die der Alsleben gerettet hat?
Theo wendet seinen Blick vom Hammer ab und schaut aus dem Fenster. Der Wind peitscht den Regen an die Scheibe in der Tür. Es macht nicht den Anschein, als wolle es in der nächsten Stunde mit diesem monotonen, arbeitsverhindernden Stürmen aufhören.
Es hört nicht auf. Dann werde ich wohl ein wenig weiterschreiben müssen. Ich kaue auf meinem Stift herum und schreibe was Neues über Alsleben. Ich kann ja einfach etwaseinflicken. Hat er noch jemanden gerettet im Krieg? Nein, das wäre zu kitschig. Hat er den Befehl verweigert? Das hatten wir schon. Hat er geheiratet nach dem Krieg? Das wäre vielleicht was. Aber dann wäre er ja kein Einzelgänger mehr. Ach, Alsleben, was soll ich nur über dich schreiben? Meine Gartenwerkzeuge inspirieren mich auch nicht. Die hängen da einfach an der Wand rum. Das würde ich auch gerne machen. Einfach hängen. Ich nehme einen Strick, werfe ihn über den Balken.Einfach ein wenig hängen. Das mach ich aber nicht. Stattdessen schreibe ich hier. Ach nein, mir fällt ja nichts ein.
Und plötzlich: Der Himmel weint nicht mehr. Theo schaut aus dem Fenster. Den Bleistift legt er in die Schublade zurück, und ein Pausenbrot, das er am Abend zuvor für die heutige Mittagspause zubereitet hatte, nimmt dessen Platz ein. Das Wetter beruhigt sich. Der Wind lässt nach. Theo verlässt das Gärtnerhäuschen, um sich einen Überblick über die anfallende Arbeit zu verschaffen. Schliesslich wird er von der Kirchgemeinde grosszügig entlohnt, und bis jetzt hat er an diesem Tag noch nicht viel getan. Der Wind seine Arbeit erledigt. Abgebrochene Äste liegen auf den schmalen, mit Moos bewachsenen Gehwegen zwischen den Gräbern. Laub liegt überall verstreut und wartet darauf, zusammengerecht und eingesammelt zu werden. Nichts wird der Natur überlassen. Die Veränderung der künstlichen Traueratmosphäre, die der Friedhof schon seit jeher ausstrahlt, bleibt ganz Theo überlassen. Die Natur darf sich hier, in seinem Reich, nur unter Einhaltung bestimmter Regeln einmischen.
Nach einer Weile kündigt sich Besuch an: Ein blaues, durchgerostetes Auto parkt vor der Kirche. Als Theo gerade dabei ist, den Brunnen am Eingang zu säubern, bemerkt er den Besucher.