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Aus einer Sonderausstellung im Biberacher Museum verschwinden einige der wertvollsten Exponate. Die offensichtlich ortskundigen Diebe haben sich auf Ausstellungsstücke mit einen hohen Goldanteil konzentriert. Kurz darauf stürzt ein Mann von einem Aussichtsturm im Biosphärengebiet auf der Schwäbischen Alb. Die polizeilichen Ermittlungen ergeben, dass es sich bei dem Toten um einen Mitarbeiter des Museums handelt. Besteht ein Zusammenhang mit dem Diebstahl? Einige der gestohlenen Kunstschätze tauchen in der Kirche eines verlassenen Dorfs wieder auf, aber der Großteil des Goldschatzes bleibt verschwunden. Kann der Hirte einer Schafherde zur Aufklärung des Verbrechens beitragen, oder ist er selbst darin verwickelt?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Hans Compter
Schwabengold
Zum Autor:
Hans Compter wurde 1959 in Ulm an der Donau geboren. Nach dem Studium in Heidelberg und Ulm und diversen beruflichen Stationen, unter anderem in Münsingen auf der Schwäbischen Alb, lebt er heute als Arzt in Biberach in Oberschwaben. Er ist begeisterter Mountainbiker und Kanusportler, wo er als Trainer seine Erfahrungen im Wildwasser und im Stand-Up-Paddling weitergibt. Von Kindesbeinen an ist er im Allgäu, in den Alpen und auf der Alb unterwegs – im Sommer mit Bike oder Bergstiefeln, im Winter mit Ski oder Schneeschuhen. Neben der heimatlichen Region gilt seine große Leidenschaft der Einsamkeit Nordskandinaviens und Schottlands, wo er ausgedehnte Expeditionen zu Fuß oder im Kajak unternimmt.
Nach den beiden Romanen „Der Donner bringt den Tod“ und „Johannifeuer“, die im Allgäu spielen, hat er mit „Schwabengold“ die Idee eines Krimis in seiner schwäbischen Heimat verwirklicht.
Hans Compter
Schwabengold
Ein
Schwäbische Alb-Oberschwaben-Krimi
Impressum
Text © 2024 Copyright by Hans Compter
Umschlag © 2024 Copyright by Hans Compter unter Verwendung eines Motivs von jplenio über Pixabay.com
Verantwortlich für den Inhalt
Hans Compter, Zeppelinring 7, 88400 Biberach
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Für alle Schwaben,
die sich noch zu
ihrem Dialekt bekennen.
Wir können alles.
Auch Hochdeutsch.
Montag, 30. Mai
Eins
Florian
Die ganze Stadt schlief. Nur wenige Straßenlaternen beleuchteten notdürftig die schmalen Gassen im Zentrum. Die Lichter der Schaufenster in den Geschäften waren längst erloschen. Selbst die tagsüber allgegenwärtigen Tauben hatten sich irgendwohin verzogen. Unwillkürlich kam ihm ein Märchen in den Sinn. Dornröschen. Mit der Prinzessin war das ganze Schloss in einen hundertjährigen Schlaf gefallen.
Das Gebäude, das Florian Rauscher ansteuerte, war allerdings kein Schloss, sondern der Hospital zum Heiligen Geist. Andererseits war er selbst auch kein Prinz, sondern nur ein einfacher städtischer Angestellter, und sein Ziel keine holde Jungfrau, sondern eine Sonderausstellung wertvoller Kirchenkunst im Museum.
Er lächelte zufrieden und kontrollierte die digitale Zeitanzeige am Armaturenbrett seines Passats. 1:37 Uhr am frühen Montagmorgen. Perfekt. Die letzten Nachtschwärmer waren längst zu Hause, die Frühaufsteher lagen noch in den Federn. Biberach, die Kreisstadt in Oberschwaben, tankte Kraft für die kommende Woche.
Knapp eine Stunde würde er benötigen, um einige Kunstschätze der Ausstellung „Kirchen und Klöster – 800 Jahre christliche Kunst in Süddeutschland“ in die sechs Betonwannen zu packen und auf der umgeklappten Rückfläche seines Fahrzeugs zu verstauen. Anfangs hatte er geplant, sich für den Raubzug einen Kastenwagen auszuleihen, war aber rasch von der Idee wieder abgerückt. Ein Mietwagen hinterließ immer eine Spur, die die Polizei zurückverfolgen konnte. Sein eigener Volkswagen dagegen war im Spitalhof des Museums ein vertrauter Anblick. Sicherheitshalber hatte er die Kennzeichen ausgetauscht gegen Nummernschilder, die er wenige Stunden zuvor am Langzeitparkplatz des Stuttgarter Flughafens abgeschraubt hatte. Die Familie, die einen nahezu identischen Passat dort abgestellt hatte, war offensichtlich auf dem Weg in den Urlaub gewesen. Unwahrscheinlich, dass sie deren Fehlen in der nächsten Woche bemerken würde. Außerdem würde er die Beute vorläufig nur ein paar hundert Meter weit transportieren müssen. Das sichere Versteck, das er ausfindig gemacht hatte, befand sich nämlich in der Nachbarschaft zum Museum.
Die Goldschmiedearbeiten, Reliquien, Handschriften und Buchmalereien waren auserlesene Schätze von immenser historischer Bedeutung und dementsprechend wertvoll. Allerdings stellten die meisten Gegenstände keine lohnende Beute dar. Entweder, weil sie nur mit einer dünnen Goldschicht überzogen waren oder weil sie Edelsteine enthielten. Die Klunker wären zwar leicht zu transportieren und besonders teuer, verloren auf dem Schwarzmarkt jedoch fast ihren ganzen Wert. Rubine, Amethysten oder Lapislazuli mussten aufwändig erst neu geschliffen werden. Der Stuttgarter Hehler, den er vorab aufsuchte, hatte deshalb dazu geraten, sich auf die Gegenstände mit einem möglichst hohen Feingoldanteil zu beschränken. Eingeschmolzen war Gold nicht mehr zurückzuverfolgen, was seinen Wiederverkaufswert erhöhte.
Die infrage kommenden Kunstschätze hatte er sorgfältig anhand des Katalogs ausgewählt. Darüber hinaus hatte die Kuratorin ihm arglos weitere Details zum Goldanteil einiger Stücke verraten. Die knapp neunzig Teile würden gut in die sechs Wannen passen. Fünf Minuten pro Wanne plus den Weg zum Fahrzeug. Leicht machbar. Gegen zwei Uhr dreißig würde das Museum um anderthalb Millionen ärmer, und er um dreihunderttausend Euro reicher sein. Achtzig Prozent betrug die Hehlerprovision.
Vorsichtig steuerte er mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch eine Gasse, auf deren linker Seite ein kleiner Bach floss. Kurz darauf erreichte er die Durchfahrt unter einer Glasfront, die in einen Innenhof führte. Am Eingang stand eine bronzene Statue: Anton Braith, der einheimische Kunstmaler, den manche Biberacher fast auf einer Stufe mit Albrecht Dürer sahen. Er selbst hatte bis zu seiner Anstellung im hiesigen Museum noch nicht einmal den Namen gehört gehabt, obwohl er keine fünfzig Kilometer von Biberach entfernt aufgewachsen war.
Rückwärts parkte er sein Fahrzeug an die Treppe zum Nebeneingang des Museums und warf einen letzten, prüfenden Blick in den Rückspiegel. Seinen hellblonden Haarschopf, der trotz seiner zweiunddreißig Lebensjahre bereits ausgeprägte Geheimratsecken aufwies, hatte er unter der Kapuze eines dunklen Hoodies verborgen, obwohl das Museum keine Videoüberwachung besaß. Eine dunkle Jeans und Sneakers komplettierten sein Äußeres. Sollte ihn wider Erwarten jemand sehen, würde die Zeugenaussage keine entscheidenden Erkenntnisse liefern. Eine mittelgroße, schlanke Person. Vermutlich männlich, mutmaßlich zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Diese Beschreibung traf alleine im Landkreis Biberach auf zigtausend Personen zu. Ungefährlich also, zumal er nicht einmal in diesem Kreis wohnte.
Leise öffnete er die Heckklappe und entlud die ineinander gestapelten schwarzen Wannen. Zunächst würde er den Haupteingang nehmen, um die Alarmanlage zu deaktivieren und später die Seitentür von innen zu öffnen.
Seit gut einem halben Jahr besaß er einen Schlüssel für das Museum und kannte die Codes sämtlicher Alarmanlagen. Bereitwillig hatte Dr. Astrid Kind, die Kuratorin, ihm beides herausgegeben, nachdem er Interesse an der Ausstellung gezeigt hatte und willens gewesen war, in der Vorbereitung darauf etliche Überstunden zu machen. Sollte dies bei den Ermittlungen herauskommen, würde die blasse und unsichere junge Frau deswegen bestimmt große Probleme bekommen.
Unter den Kollegen und, soweit er gehört hatte, auch innerhalb der Stadtverwaltung und selbst im Gemeinderat war die junge Kunsthistorikerin ein häufiges Ziel für Gespött und Lästereien. Als sie vor zwei Jahren frisch von der Uni ihre erste Stelle im Biberacher Museum angetreten hatte, hatte er fünfzig Euro darauf gesetzt, dass sie die Probezeit nicht überstehen würde. Das verlorene Geld reute ihn bis heute. Allerdings war die Arbeit mit ihr als Vorgesetzte unproblematisch, denn er hatte rasch gelernt, ihre Naivität und Unerfahrenheit zu seinem Vorteil auszunutzen. Während seine Kollegen die ahnungslose, dabei aber manchmal cholerische Kuratorin unverhohlen ihre Missachtung spüren ließen, hatte er sich als loyaler und wissbegieriger Mitarbeiter dargestellt. Frau Dr. Kind hatte in ihrer Gutgläubigkeit rasch Vertrauen zu ihm gefasst.
Erstaunt hatte er nach ein paar Monaten festgestellt, dass die junge Frau trotz ihres jugendlichen Alters offensichtlich über gute Verbindungen in der Kunstszene verfügte. Als er zum ersten Mal von der geplanten Sonderausstellung gehört hatte, war er überrascht gewesen. Die Kuratorin hatte bereits Zusagen für wertvolle Kunstschätze nicht nur aus Bayern und Baden-Württemberg, sondern auch aus Österreich, dem Elsass und sogar aus der Schweiz. Eine Ausstellung dieser Klasse wäre selbst in München oder Stuttgart ein Highlight, für ein Regionalmuseum versprach sie, eine echte Sensation zu werden.
Das Problem der mangelnden Sicherheit hatte Frau Dr. Kind offensichtlich jedoch schlaflose Nächte bereitet. Die Schätze, welche inzwischen seit einigen Wochen präsentiert wurden, waren ungeheuer wertvoll. Die Versicherungssumme belief sich auf fünf Millionen, aber sie hatte ihm vertraulich verraten, dass sie viel zu niedrig angesetzt worden sei. Vermutlich, um an der Prämie zu sparen. Dabei hatte sie auch ausgeplaudert, dass Kunstdiebstähle weitaus häufiger vorkämen, als dies in der Öffentlichkeit bekannt würde. Viele Menschen hätten von dem spektakulären Juwelenraub im Grünen Gewölbe in Dresden gehört, die häufigen kleinen Diebstähle in Museen und Kirchen dagegen würden weder bekannt noch aufgeklärt werden. Das Problem läge in den mangelnden Sicherheitsvorkehrungen und der Tatsache, dass eingeschmolzenes Gold absolut anonym sei. Im Gegensatz zu Edelsteinen oder Geldscheinen mit registrierten Nummern sei die Herkunft des Goldes nicht zurückzuverfolgen.
Ironischerweise hatte seine Chefin ihn genau durch dieses Gespräch überhaupt auf die Idee gebracht, sein Museum auszurauben, und ihm unabsichtlich noch die Adresse eines Hehlers in Stuttgart verraten, der in der Kunstszene allgemein bekannt und gefürchtet sei.
Die Herausgabe des Schlüssels und der Codes für die Alarmanlagen hatte er als gutes Omen aufgefasst und seitdem an seinem Plan gefeilt, der jetzt vollendet werden würde. Natürlich würde die Polizei von einen Insiderjob ausgehen, wenn keine Einbruchspuren zu finden waren, aber sein Schlüssel war nirgendwo registriert. Möglicherweise würde die Kuratorin ihn verdächtigen, aber er vertraute darauf, dass die Frau Doktor ihren Mund hielt. Andernfalls wäre deren Karriere, die gerade erst begonnen hatte, ob ihrer Dummheit schon wieder zu Ende.
Leise glitten die gläsernen Schiebetüren zur Seite, nachdem er den Schlüssel eingeführt und den Türöffner betätigt hatte. Jetzt blieben ihm neunzig Sekunden, um an dem Kästchen hinter der Kasse die korrekte Zahlenfolge einzugeben. Andernfalls würde ein stummer Alarm im Polizeirevier ausgelöst werden. Was dann passieren würde, war allerdings unklar. Seiner Kenntnis nach waren am Wochenende bei Nacht nur zwei oder drei Streifenwagenbesatzungen im gesamten Landkreis im Dienst.
Er tippte die letzte Zahl des achtstelligen Codes ein und das rote Lämpchen im Display erlosch.
Im Gegensatz zum übrigen Museum wies der Eingangsbereich mit dem Treppenhaus eine große Glasfront auf. Deshalb wagte er nicht, die Beleuchtung einzuschalten, sondern schlich im Schein einer kleinen Taschenlampe die Stufen in das zweite Stockwerk hoch.
Die Tür zur Sonderausstellung war massiv und erst vor wenigen Wochen nachträglich eingebaut worden. Eine Vorgabe der Versicherung, genauso wie eine zweite, unabhängige Alarmanlage. Beide Maßnahmen boten in der Tat einen überdurchschnittlich guten Schutz gegen Kriminelle – zumindest dann, wenn die unbefugten Eindringlinge weder einen Schlüssel noch die notwendige Zahlenkombination besaßen.
Der Hospital zum Heiligen Geist war im Mittelalter als karitative Stiftung innerhalb der Stadtmauern gegründet worden. Im Lauf der wechselvollen Jahrhunderte nahm er verschiedene Funktionen als Krankenhaus, Waisenhaus, Altersheim oder auch als Irrenanstalt wahr. Die Fenster in dem historischen Gebäudekomplex, der heute das Museum beherbergte, waren ihrem Baujahr entsprechend klein. Er konnte deshalb unbesorgt die trübe Funzel gegen eine lichtstarke Stirnlampe austauschen, um unbehindert mit beiden Händen zu arbeiten.
Der Lichtkegel traf auf die gut einen Meter hohe Stephanus-Monstranz, welche die Kuratorin als eines der Highlights und Blickfang gleich an den Anfang der Ausstellung positioniert hatte. Die Leihgabe aus Niederbayern, eine prachtvolle Goldschmiedearbeit mit kunstvoll gearbeiteten Details in Gold und Silber, war nach Ansicht der Experten etwa 1760 entstanden und von einem Schüler Johann Zeckels gestaltet worden. Dies erklärte die augenfälligen Ähnlichkeiten mit der Lepanto-Monstranz aus Ingolstadt, wenngleich der Künstler hier die kriegerischen Motive des Vorbilds durch sakrale Formen und Symbole ersetzt hatte.
Ein in der Tat außergewöhnlich schönes und wertvolles Exponat, für ihn jedoch unbrauchbar. An den Edelsteinen war der Hehler nicht interessiert und die über vier Kilogramm schwere Laternenmonstranz selbst war nur mit vierzehn Karat vergoldet. Er ließ seinen Blick weiter schweifen und der Strahl der Lampe wanderte über die nächsten Kunstschätze. Ein stolzes Gefühl überkam ihn. Das war seine Ausstellung, für die er endlose Stunden geschuftet hatte. Kein Mensch, die unsichere Kuratorin eingeschlossen, hatte so viel Zeit investiert wie er. Deshalb kannte er sämtliche Gegenstände so gut, als ob sie sein Eigentum wären, und seine überall vorhandenen Fingerabdrücke waren plausibel zu erklären.
Die Ausstellungsstücke glänzten, blinkten und erstrahlten, wenn der Lichtschein auf sie traf. Diese Art der Darstellung war eigentlich viel eindrucksvoller als die helle Beleuchtung, in der sie tagsüber gezeigt wurden. Er überlegte ernsthaft, seiner Chefin einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten. Dann fiel ihm jedoch ein, dass er sich damit möglicherweise selbst zu einem der Hauptverdächtigen für die Polizei machen würde. Zwar hatte er sich ein Alibi bei der mazedonischen Nutte im Laufhaus in Ulm verschafft und vertraute auf ihre Zuverlässigkeit. Fünfhundert Euro im Voraus und weitere eintausend, sollten die Beamten sie befragen. Aber trotzdem lieber kein unnötiges Risiko eingehen.
1:51 Uhr. Er musste sich beeilen. Effizient arbeitete er sich durch die Gänge, ohne dabei nachzudenken. Jeder Handgriff saß. Unzählige Male war er in Gedanken den Ablauf des Diebstahls durchgegangen. Die kostbaren Goldschmiedearbeiten und ein zwar juwelenverziertes, aber massiv goldenes Adelheidkreuz landeten in den Betonwannen, die wertvollen Reliquien, Handschriften und Buchmalereien dagegen blieben an ihrem Platz. Immer noch ausreichend viele Objekte, um die Ausstellung fortzuführen.
Eine Diele knarrte und er erstarrte. Vorsichtig stellte er die Madonnenstatue auf den Ausstellungstresen zurück, schaltete die Stirnlampe aus und tastete sich in der fast kompletten Dunkelheit in eine Nische. Atemlos lauschte er in das Gebäude hinein, wobei sein rascher Puls in den Ohren rauschte. War dort ein Fußtritt im Treppenhaus zu hören? Er haderte mit sich selbst, nicht gleich den Seiteneingang aufgeschlossen zu haben. Sollte er über diesen flüchten müssen, konnten die Sekunden den entscheidenden Unterschied ausmachen.
Erneut vernahm er ein Knarren, dieses Mal von der gegenüberliegenden Seite. Angestrengt blickte er in die pechschwarze Dunkelheit dort hinten. Wer konnte sich dort so nahezu geräuschlos bewegen?
Mehrere Minuten verharrte er regungslos. Die Zeit lief davon, aber sein Verfolger – oder waren es sogar zwei – zeigte sich nicht. Er fühlte, wie der Schweiß an seinem Rücken herunterlief.
Wieder knarrte ein Holz direkt vor ihm. Sein Herz drohte auszusetzen. Das spärliche Licht, das durch ein Fenster hereinschien, beleuchtete den Fußboden vor ihm. Keine dunkle Gestalt, kein Wachmann, kein Polizist war zu sehen.
Mit dem nächsten Knarren kam schließlich die Erkenntnis. Der massive Dielenboden in dem historischen Gebäude arbeitete unaufhörlich. Tagsüber oder im Licht der Ausstellungsbeleuchtung war ihm dies nie aufgefallen, aber jetzt, in der Dunkelheit waren seine Nerven zum Zerreißen gespannt. Er stieß den angehaltenen Atem aus. Es drohte keine Gefahr, denn er war immer noch ganz alleine im Museum. Ein Blick auf die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr verriet, dass er fünf Minuten verloren hatte. Eilig schaltete er die Stirnlampe ein und machte sich wieder an die Arbeit.
Natürlich würde er die nächsten Monate weiter jeden Morgen an seinem Arbeitsplatz erscheinen, um keinen Verdacht zu erregen. Schon jetzt amüsierte ihn der Gedanke daran, dass niemand der Kollegen ahnen würde, dass er inzwischen der Reichste von allen war.
Eine gute Viertelstunde später hatte er alle Gegenstände ausgewählt und schleppte die inzwischen bleischweren Wannen einzeln zum Seiteneingang. Die Federung des alten Passats sackte tief ein, als er die letzte Kiste ins Innere schob. Er verriegelte die Seitentür, drückte die Heckklappe ins Schloss und fuhr langsam aus dem Innenhof heraus. Knapp fünfundvierzig Minuten für dreihunderttausend Euro machten einen Stundenlohn von mehr als vierhundert Riesen. Wirklich nicht schlecht. Er schob die ABBA-CD in den Schlitz des altertümlichen Players. „Money, money, money must be funny in the rich man's world“, beteuerten Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad aus dem Lautsprecher.
Dienstag, 31. Mai
Zwei
Florian
Den Übergabeort hatte er selbst ausgewählt. Geboren und aufgewachsen in Münsingen auf der Schwäbischen Alb kannte er das Biosphärengebiet, das in seiner Jugend noch ein Truppenübungsplatz und damit Sperrgebiet gewesen war, sehr gut.
Natürlich hatte er mit der Möglichkeit gerechnet, von dem Hehler über den Tisch gezogen zu werden, auch wenn dieser bei ihrem einzigen Treffen einen verlässlichen Eindruck gemacht hatte. Der Aussichtsturm Hursch unweit von Laichingen am nördlichen Rand des ehemaligen Truppenübungsplatzes war ihm deshalb ideal erschienen. Von der Plattform in vierzig Metern Höhe hatte man die Umgebung auf eine große Entfernung perfekt im Blick. Er war frühzeitig die mehr als zweihundert Gitterstahlstufen hochgestiegen, um rechtzeitig eine Falle entdecken zu können.
Der Himmel war klar, aber ein für die Alb typischer, unangenehm kühler Wind wehte kräftig aus Südwest, weswegen kaum Touristen auf den freigegebenen Wegen unterwegs waren. Lediglich ein Schäfer zog mit seiner Herde und mehreren Hunden in unmittelbarer Nähe vorbei. Erneut fragte er sich, warum die angeblichen Blindgänger aus der Zeit des Übungsschießens, mit denen das Betretungsverbot der Magerwiesen begründet wurde, weder den Schafen noch ihren Hirten etwas ausmachten. Jedenfalls hatte er in den fast zwanzig Jahren, die das Gelände mittlerweile beweidet wurde, noch nie von einer detonierten Munition gehört.
Aus Osten, wo ein Wanderparkplatz lag, stieg eine einzelne Person den steilen Kiesweg zum Turm hoch. Er fokussierte sein Fernglas und erkannte einen kräftigen Mann mit kurz geschorenen, dunklen Haaren. Eindeutig nicht die schmächtige Gestalt des Hehlers, der mit seinem grauen Lagerfeld-Zopf und den weiten Klamotten den Eindruck eines Altachtundsechzigers gemacht hatte.
Im Westen erstreckte sich der Albtrauf mit dem Einschnitt des Ermstals. Genau gegenüber lag das Hochland der Blaubeurer und Ulmer Alb und in der Ferne konnte er den Turm des Ulmer Münsters ausmachen. Er wendete sich ab und schaute nach Norden. Dies war seine Lieblingsperspektive. Über Zainingen hinweg konnte er den Römerstein, die höchste Erhebung der mittleren Alb und weiter links davon die Teck und schließlich in der Ferne den Stuttgarter Fernsehturm erkennen. Wie gerne würde er dort in der pulsierenden Großstadt leben und arbeiten. Allerdings war ihm dies mit seiner Ausbildung und Besoldung bislang verwehrt geblieben, weshalb er damals die Stelle in Oberschwaben angenommen hatte.
Die Kreisstadt an der Riss war ihm anfangs durchaus sympathisch gewesen. Die legendären Filmfestspiele, das Schützenfest, die liebevoll gepflegte Altstadt oder die jährliche Musiknacht – alles hatte er rasch zu schätzen gewusst. Aber Biberach war eben klein und beschaulich. Keine echte Alternative zu Stuttgart oder Leipzig, und das Verlangen nach den Angeboten und Reizen einer Großstadt war über die Jahre überwältigend geworden.
Das Beste an Biberach war zweifelsohne die Kletterhalle des DAV, ein wirklich schönes Gebäude mit interessant geschraubten Routen und überraschend freundlichem Personal. In ihr trainierte er seit deren Eröffnung mindestens einmal pro Woche nach Feierabend.
Die Suche nach einer erschwinglichen Wohnung dagegen war schwierig gewesen, denn die gut zahlenden Industriebetriebe vor Ort sowie Biberachs günstige Lage zwischen Ulm und dem Bodensee hatten die Preise für kleine Wohnungen auf ein nahezu unerschwingliches Niveau angehoben. Als Provisorium hatte er deshalb nach Abschuss des Bachelorstudiums an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig die Einliegerwohnung im Haus seiner Eltern auf der Alb bezogen. Das Provisorium dauerte mittlerweile drei Jahre und er pendelte immer noch jeden Tag einhundert Kilometer zur Arbeit und zurück.
Aber seine Situation würde bald ein Ende finden. Sobald der Hehler ihm das Geld ausgehändigt hatte, wäre er reich und unabhängig. Dann würde er es sich leisten können, endlich nach Stuttgart zu ziehen. Oder vielleicht gleich nach Berlin.
Unwillkürlich presste er die Tasche mit dem Schlüssel und einer Comic-Figur an einem Ring sowie den drei kleinen Kunstschätzen, die er als Beweis eingesteckt hatte, fest an seine Brust. Natürlich war er nicht so dumm gewesen, den Goldschatz im Auto mitzubringen. Sobald er das Geld in den Händen hielt, würde er dem Hehler den USB-Stick übergeben und die Koordinaten des Verstecks verraten.
Der dunkelhaarige Wanderer hatte mittlerweile die Schafherde passiert und dabei einen großen Bogen um die beiden Hunde gemacht. Offenbar hatte er berechtigterweise einen großen Respekt vor den Herdenschutzhunden.
Missmutig verfolgte Florian, wie der Mann die Tür des Zauns um den Turm öffnete und sich anschickte, nach oben zu steigen. Einen Zeugen bei der Übergabe konnte er nicht brauchen. Dreihunderttausend Euro in gebrauchten Scheinen, keiner davon größer als ein Hunderter, ergaben ein ziemlich großes Päckchen.
Durch den Gitterboden konnte er den Mann über die Treppe hochsteigen sehen. Er trug klobige, schwarze Stiefel, war aber sonst nicht wie ein Wanderer gekleidet.
Schließlich erreichte er die Spitze des Turms und trat auf die überstehende Plattform heraus. Dabei musterte er Florian kritisch.
„In Krun ist heute keine Schule.“ Seine Stimme war für den kräftigen Körper überraschend hoch und verriet einen osteuropäischen Akzent.
Die vereinbarte Losung, auch wenn der ehemalige Ort mitten auf dem Truppenübungsplatz, von dem nur noch die Kirche und das alte Schulgebäude standen, Gruorn hieß.
„Aber es gibt Kaffee und Kuchen.“ Seine vereinbarte Antwort, die sich darauf bezog, dass die Schule mittlerweile ein kleines Café beherbergte.
Er sah, wie der Mann zufrieden nickte. „Wo ist Zeug?“
Florian schüttelte entschieden den Kopf. „Nicht hier. Wo ist der Zopfträger?“
„Verhindert. Ich machen Übergabe für ihn.“
Florian kniff die Lippen zusammen. Das erschien ihm suspekt. Vielleicht war der Turm als Treffpunkt doch keine so gute Idee gewesen. Er schaute sich suchend um, aber außer dem Schäfer war kein Mensch in der Nähe. Außerdem wäre ein Hilfeschrei drunten vermutlich nicht zu vernehmen, denn die blökende Herde machte einen beträchtlichen Lärm.
„Zeigen Sie mir das Geld“, verlangte er mit mehr Selbstsicherheit, als er tatsächlich besaß.
Der Wanderer kam herüber, wo Florian mit dem Rücken am Geländer lehnte.
„Ich will Beweis, dass du Zeug hast.“
Damit hatte er Florian gerechnet. Er griff in seine Jackentasche und zog ein mehrfach gefaltetes Blatt heraus. Der Computerausdruck eines Fotos, das er von der Beute gemacht hatte.
Der Mann mit dem dunklen Bürstenhaarschnitt studierte das Bild genau, bevor er es wieder zusammenfaltete und in seine Hosentasche steckte.
„Das ist Zeug“, bestätigte er. „Aber es nicht beweist, dass du wirklich hast.“
Auch das hatte Florian erwartet. Aus dem Schatzversteck hatte er deshalb mehrere Stücke ausgewählt. Eines steckte in seiner Jackentasche, zwei weitere befanden sich in der Umhängetasche, die er auf der gegenüberliegenden Seite der Plattform notdürftig versteckt hatte.
Er reichte die Kostbarkeit, eine goldene Vase, weiter.
Sein Gesprächspartner musterte auch diese gründlich, bevor er sie umständlich in seine rechte Jackentasche steckte.
Der Schlag traf Florian unvorbereitet in den Solarplexus. Er schnappte nach Luft und fiel auf die Knie. Der Vertreter des Hehlers versetzte ihm einen Tritt in den Unterbauch. Tränen traten in seine Augen.
„Wo ist Zeug?“, wollte der Mann erneut wissen.
„Versteckt“, keuchte Florian.
Der Mann nickte verständnisvoll. „Wo?“
„Erst will ich das Geld haben.“
Der Mann packte ihn am Kragen und zog ihn spielerisch leicht hoch. Die nächste Faust traf seine linke Gesichtshälfte. Die Lippe schwoll sofort an.
„Die Geschäft haben geändert. Du mir verraten, wo Zeug ist und ich lassen dich leben. Ein fairer Deal, finden du nicht auch?“
Empörung übermannte Florian. Er hatte den Coup monatelang vorbereitet und erfolgreich durchgeführt. Jetzt versuchte ein Gauner, ihm mit Gewalt seinen wohlverdienten Lohn abzunehmen.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Schäfer offenbar etwas mitbekommen hatte, denn er schaute zu ihnen hoch.
Einem Faustkampf war er nicht gewachsen. Wenn er seine Beute behalten wollte, blieb nur die Flucht. Dummerweise blockierte der Schläger den Ausgang.
Er richtete sich mühsam wieder auf. „Bitte nicht mehr schlagen! Ich gebe Ihnen die Daten. Sie sind auf einem USB-Stick. Er ist dort drüben. Ich hole ihn.“
Der kräftige Mann schaute skeptisch, als Florian zum gegenüberliegenden Rand der Plattform deutete. Offensichtlich brauchte sein Gehirn ein wenig länger, die Information zu verarbeiten. Vielleicht war er früher Boxer gewesen und hatte ein paar Schläge zu viel gegen den Kopf bekommen. Schließlich schien ihm die Erkenntnis zu kommen, dass er die Situation im Griff hatte, solange er sich nicht vom Ausgang wegbewegte.
Florian interpretierte die gegrunzte Antwort als Zustimmung und ging zur Gegenseite der Plattform, wo er die Tasche mit dem Schlüssel, der Comic-Figur, einem goldenen Kruzifix und einem Abendmahlskelch verborgen hatte. Der Stick in der Figur enthielt ein halbes Dutzend Fotos vom Schatz und seine Koordinaten.
Während die Treppe im Inneren des Turms verlief, war die Aussichtsplattform außen angesetzt. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte Florian wiederholt Besucher erlebt, die zwar munter auf den Turm gestiegen waren, aber keinen Schritt mehr nach draußen machen konnten. Der freie Blick durch die kleinen Quadrate des Gitterstahls in die Tiefe war tatsächlich nichts für schwache Nerven.
Um großspurige Angeber und unvorsichtige Kinder von gefährlichem Unsinn abzuhalten, war die Plattform in der Mitte nochmals unterteilt und durch ein weiteres Geländer abgetrennt. Der äußere Ring war für Besucher verboten.
Florian hatte inzwischen die andere Seite des Turms erreicht. Quer durch die Fenster des Raums im Inneren konnte er den Schläger erkennen, der ihm mit seinen Blicken gefolgt war. Er ergriff die Tasche, bewegt sich einige Schritte nach links, wo eine Ecke des Raumes ihn verbarg und stieg über das erste Geländer. An den polternden Schritten und dem Schwanken des Turms gleich darauf konnte er erkennen, dass sein Gegner die Aktion offenbar doch verfolgt hatte.
Er blickte über die äußere Reling in die Tiefe. Das erste Geländer würde seinen Gegner vermutlich nicht aufhalten, dass er allerdings bereit war, auch die äußere Reling zu übersteigen, bezweifelte er. In vierzig Metern Höhe musste man dafür absolut schwindelfrei und ein guter Kletterer sein. Oder lebensmüde.
In der Kletterhalle hatte er regelmäßig an der siebzehn Meter hohen Wand mit dem einen oder anderen Überhang trainiert. Er stieg über die Begrenzung und hielt sich von außen am Gitterstahl des Bodens fest. Dieser lag auf einem massiven Doppel-T-Träger. An ihm würde er sich zum Turm hangeln können und dann zwischen den vertikalen, horizontalen und diagonalen Streben schneller zum Boden gelangen als der Schläger über die Treppe.
„Du wahnsinnig? Komm sofort zurück!“ Das Gesicht des brutalen Manns, der über ihm kniete, war keine fünfzig Zentimeter entfernt und lediglich durch das Stahlgitter von ihm getrennt. Erstaunt bemerkte er, dass der Mann leichenblass geworden war.
„Leck mich“, erwiderte er und griff von beiden Seiten in den T-Träger. Die zwei Meter an dem breiten Metall würden kein Problem werden.
Sein Fehler war, den Blick von den Händen weg nach unten zu richten. Seine Füße baumelten im Nirgendwo, und unter sich sah er den Schäfer mit seinen beiden Hunden.
Plötzlich war er vor Angst paralysiert.
Die zwei Meter bis zu den senkrechten Streben erschienen mit einem Mal unendlich weit.