Schwanentanz - Jean Francis - E-Book

Schwanentanz E-Book

Jean Francis

4,4

Beschreibung

Die Sídhe nannten sich das Feine Volk aus den Hügeln. In vergangenen Zeiten sprach man nur im Flüsterton über sie. Im Mondschein kamen sie in die Dörfer und raubten den Frauen die Ehegatten aus den Betten und die Söhne aus den Wiegen. Als Liebessklaven mussten Menschenmänner die unersättliche Lust der Sídhefrauen stillen. Aber dann verschwand das Feine Volk. Ging zurück nach Avalon. So heißt es in den Legenden. Heute weiß niemand mehr, dass eine von ihnen zurückblieb. Brandon Cnocach, der ranghöchste Krieger der Sídhefürstin Cara, hat längst vergessen, wie viele Fluchtversuche hinter ihm liegen. Caras Bann dominiert seinen Körper sowie seinen Geist, trotz seines Freiheitsdrangs ist er ihr hörig. Erst Suzanna, eine Balletttänzerin aus London, deren Hingabe der junge Krieger fordert, verleiht ihm neuen Mut. Doch Mut allein ist im Kampf gegen eine Sídhefürstin sehr, sehr wenig ... Jean Francis legt mit Schwanentanz eine ganz besonders reizvolle Mischung aus Dark Fantasy, düsterer Erotik und Spannung vor.

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Schwanentanz

Jean Francis

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Schwanentanz

Jean Francis

Copyright © 2011 Sieben Verlag, 64372 Ober-RamstadtCoverfotos © Shutterstock (VojtechVLK, Yeko Photo Studio)Covergestaltung © Andrea GunscheraKorrektorat: Susanne Strecker, www.schreibstilratgeber.comISBN Print: 978-3-941547-38-4ISBN e-Book PDF: 978-3-940235-56-5ISBN e-Book Epub: 978-3-941547-79-7

www.sieben-verlag.de

haon - eins

Langsam ließ der Schmerz nach.

Seine Hände wurden taub, denn das Hanfseil schnürte das Blut ab.

„Du hast es übersehen. Die Vorzeichen nicht wahrgenommen. Das sagtest du doch, oder?“

Caras Stimme war weich und warm wie Milch mit Honig. Ihr Atem schmeichelte über die Innenseiten seiner Schenkel. Er rieb seinen Hinterkopf gegen die Wand aus Naturstein, an der sie ihn festgebunden hatte. Die Augenbinde musste sich doch bewegen lassen. Er wollte einen Blick auf sie werfen, wie sie vor ihm kniete. Sie nur ein Mal zu seinen Füßen sehen. Sein Haar verhakte sich in den scharfkantigen Steinen, doch die Binde aus Leinen rührte sich nicht. Er grollte einen Fluch gegen aufeinandergepresste Lippen. Es klang wie ein Seufzen und vermutlich ergötzte sich Cara daran. Bösartige Schönheit, die sie war. Wie ein Windstoß, der dem Vogel Auftrieb schenkt und ihm ein Lied von Freiheit singt – um ihn am nächsten Fels zerschellen zu lassen.

Ihre Fingerspitzen folgten dem Weg ihres Atems. Quälend langsam strich sie sein Bein entlang, bis zur Leiste und wieder zurück. Er presste den Rücken trotz scharfer Kanten und Spitzen gegen die Wand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

„Du hast versagt, Brandon.“

Sie hauchte einen Kuss auf seine Haut. Ihr seidenweiches Haar streifte seine Hoden. Wie aus Versehen. Doch Cara tat nichts ohne Absicht.

„So harte Worte, Mylady?“ Seine Stimme klang rau, aber das war nicht entscheidend, es gefiel ihr vielleicht. Wichtiger waren die richtigen Worte. Er durfte ihr weder widersprechen und sie erzürnen noch einen Fehler zugeben. Beides würde diese Nacht lang werden lassen. So sehr ihn ihre Spiele erregten, er hatte gelernt, dafür zu sorgen, dass sie nicht in Ernst umschlugen.

„Noch nicht hart genug“, antwortete sie.

Er spürte die Wärme ihrer Lippen auf der Eichel, obwohl sie ihn noch nicht berührte. Seine Hüften zuckten ungewollt vor Erwartung. Bei den Göttern, er würde alles geben, um sie vor sich auf dem rauen Stein zu sehen. Schweiß bildete sich auf seinen Schläfen. Die Augenbinde juckte.

„Mylady Cara, ich …“

Ihre Fingernägel gruben sich ins Fleisch seines Oberschenkels und die Antwort erstarb ihm auf den Lippen. Cara zog brennende Spuren in Richtung seiner glühenden Erektion. Er spürte, wie ihm ein Tropfen Blut in die Kniekehle rann und ein Tropfen Lust von seiner Eichel perlte. Es kostete seine ganze Konzentration, ein Stöhnen zu unterdrücken.

Was tat sie?

Nichts hatte Platz in seinen Gedanken, bis auf die Frage, was nun geschehen würde.

„Du wirst das in Ordnung bringen.“

Er nickte hastig. Sein Oberschenkel brannte. Mit den Fingern fuhr sie die wunden Striemen nach. Unvermittelt versetzte sie ihm einen Stoß. Er taumelte, fiel in das Seil, mit dem seine Hände seit Stunden über dem Kopf gefesselt waren. Hanf nagte an seiner Haut. In den verspannten Muskeln seiner Arme und Schultern brüllte der Schmerz.

„Antworte mir, wenn ich mit dir spreche!“

Sie fuhr die Länge seines Gliedes nach. Ihre Finger waren feucht. Er konnte nicht sagen, ob von ihrem Speichel, seiner Lust oder seinem Blut. Es war ihm egal. Es war gut.

„Ja, Mylady“, stieß er hervor. Ja, ja, ja, alles ja, solange sie nur endlich zur Sache kam. Verlangen rollte so stark durch seinen Körper, dass kein Schmerz dagegen ankam. Er fand das Gleichgewicht zurück und konnte seine überstrapazierten Arme entlasten.

„Ich erledige es.“

„Wann?“

Ihre Stimme war scharf geworden und er hörte ihr an, dass sie aufgestanden war. Vor Enttäuschung entrang sich ihm ein unwirscher Laut. Er hatte gedacht, nein, gehofft, sie würde ihn lecken. Stattdessen umfasste sie sein Glied mit der Hand, setzte den Daumennagel an der Eichel an und wiederholte ihre Frage gefährlich leise.

„Wann, Brandon?“

Er rang um Ruhe. „Sobald du willst. Binde mich los und ich gehe.“

„Gut!“

Sie zog ihm den Nagel über die dünne Haut, die einriss wie die Schale einer reifen Frucht. Scharfer Schmerz schoss durch seinen Körper, er krümmte sich, so weit die Fesseln es zuließen. Cara lachte leise, als wäre die Qual Belohnung statt Strafe. Dann griff sie in sein Haar, zog seinen Kopf zu sich herab und presste ihren Mund auf seinen. Ihre Brüste drückten gegen seinen Oberkörper. Er hatte sich schon gefragt, ob sie nackt war. Ihre harten Brustwarzen an seiner Haut gaben Antwort. Sie leckte ihm über die Lippen, zwang ihre Zunge in seinen Mund. Dass er Widerstand leistete, irritierte sie nicht. Das war selten anders. Er ließ sich willig von ihr nehmen und vögelte sie inzwischen sogar gern. Aber sie zu küssen bedeutete ihm nichts. Sie schmeckte fad und immer nach einem Hauch von Frustration. Wie eine Speise, der das richtige Gewürz fehlt. Sie wusste, wie wenig ihre Lippen ihm gaben, und rieb sein Glied, bis er trotz der Küsse stöhnte.

„Das mag ich so an dir“, flüsterte sie an seinem Mund. „Du bist schwach und sterblich und hast keine Magie. Aber du vergehst vor Lust nach mir. Sie quillt dir aus dem Körper, siehst du?“

Mit der freien Hand streichelte sie erst seine nasse, brennende Eichel, dann seine Lippen. Er schmeckte Salz und Kupfer und stellte sich vor, wie sie seine Lusttropfen von seinen Lippen leckte. Sie tat es nicht, so sehr er auch mit seinem Mund nach ihrem suchte.

„Findest du, dass du gut schmeckst, Brandon?“

„Ja, Mylady Cara.“

„Bist du sicher?“ Ihre Zunge glitt nass und glitschig über seine Wange. „Soll ich es überprüfen?“

„Ja, Mylady.“ Ja, oh bitte, ja!

Sie tat einen Schritt zurück. „Ich weiß etwas Besseres. Koste, ob ich ebenso gut schmecke.“

Er wusste, was nun kam und es faszinierte und schauderte ihn zugleich. Er fürchtete sich und erwartete es. Ihre Finger drangen brutal in seinen Mund, vier Finger einer Hand. Er schmeckte sofort, dass sie sich selbst berührt hatte. Er schmeckte den vertrauten Geschmack dieser wilden Blüte, die tief in ihrem Leib zu wachsen schien, und die ihren Schoß süß und würzig schmecken ließ. Er riss an den Fesseln, konnte an nichts anderes mehr denken, als sie zu lecken, sie zu lecken, bis sie sich verlor, und er mehr von ihrem Saft bekam, der ihn willenlos machte. Rote Schatten wogten vor seinen Augen, tanzten, wirbelten herum und erfüllten seinen Blick, obgleich er die Augen geschlossen hatte. Die Gier nach ihr pochte in jeder Ader.

Er musste sie haben. Nehmen. Sofort!

Sein Schwanz war hart wie Stahl und zugleich empfindsam wie Fleisch, von dem man die Haut abgezogen hatte. Er stieß in ihre kleine, feste Hand und sie hielt ihn, drückte ihn, rieb ihn, bis er vor Lust aufschrie.

Im nächsten Moment ging sein Stoß ins Leere. Sein Atem rasselte, die rötlichen Nebelschwaden drehten sich. Die schreckliche Ahnung, dass sie nicht von ihm abgelassen hatte, um ihre Position zu ändern oder ihn loszubinden, presste sich von innen gegen seine Stirn. Nein. Nein! Das konnte sie nicht machen!

„My-lady“, stammelte er atemlos. „Mylady, bitte.“

Am anderen Ende des Raumes hörte er Stoff rascheln. Die Ahnung wandelte sich zu schmerzender Gewissheit, als Cara aus mehreren Metern Entfernung sagte: „Lass ihn bis Mitternacht stehen.“

Mit wem sprach sie da? Wer war noch hier und beobachtete das Geschehen?

„Danach“, rief sie in seine Richtung, „wirst du den Síd verlassen und deinen Fehler wieder gutmachen, Brandon. Du willst, dass ich dich zum Lord ernenne, dafür kann ich mehr von dir erwarten, als du leistest. Enttäusche mich nicht schon wieder.“

Er hätte ihr antworten müssen. Sein Schweigen würde sie beleidigen und eine Sídhe-Fürstin zu verärgern war zu jeder Gelegenheit unklug. Nackt und mit tropfendem Glied an eine Wand gebunden, war es eine Dummheit unvorstellbaren Ausmaßes. Aber ihm kam kein Wort über die Lippen.

„Wie du willst“, hauchte sie. „Dann bleib dort bis zum Morgen stehen.“

Er hörte ihre Schritte nicht, aber da der Raum kühler wurde und sich die Gerüche von nasser Erde, Moder und nie gelüfteten Verliesen wieder hineinwagten, wusste er, dass sie gegangen war. Der Schweiß auf seiner Brust drohte zu gefrieren.

„Wer ist da?“, fragte er in die Stille. Er musste wissen, welchen Mann sie abkommandiert hatte, um ihn zu bewachen. Seinen Freund Aiden vielleicht. Oder Collia? Hoffentlich nicht, der würde ihn noch in Jahren damit aufziehen.

Niemand gab Antwort. Es war keine böse Absicht, sondern Gehorsam. Es war klüger, Cara blind zu gehorchen; Brandon selbst hatte solche und noch ganz andere Dienste ebenso widerstandslos und schweigsam erfüllt. Doch für den Moment wog seine Wut schwerer als die Vernunft.

„Welcher feige Sack steht da und gafft mich an! Red mit mir, Hundesohn!“

Stille.

Verdammt, wie sein Schwanz schmerzte. Er konnte nicht entscheiden, was schlimmer war. Der kleine Einschnitt ihres Fingernagels oder die schwelende Lust darunter. Ihr Geschmack war noch immer auf seinen Lippen und er ahnte, dass sie es sich nun selbst besorgte, angeheizt von der Tatsache, dass er hier mit einer flammenden Erektion an der Wand hing und dagegen ankämpfte, seine Wache anzubetteln, ihm Erleichterung zu verschaffen. Er trat von einem Bein aufs andere, versuchte, Spannung in seine Arme zu bringen, um seine gemarterten Handgelenke zu entlasten. Er brauchte seine Hände, sobald er hier loskam. Dringend. Bis dahin würde es eine lange Nacht werden, aber er war fest entschlossen, es klaglos zu überstehen.

Er begann daran zu zweifeln, als flache, schnelle Atemzüge verrieten, dass seine Wache tat, was ihm verwehrt blieb.

dó - zwei

Ein Sack verfaulte Kartoffeln, etwa sieben Quadratmeter Spinnweben, die größte Hauswinkelspinne Großbritanniens nebst einem Staat an kleineren Hofdamen, ein gefühltes Pfund Staub, eine Myriade Kellerasseln unter einem Flickenteppich sowie eine Maus.

Suzanna seufzte angesichts ihrer neuen Küche. Vielleicht sahen die anderen Räume besser aus. Ob der Gedanke noch als optimistisch durchgehen konnte, oder war er das erste Anzeichen von Wahnsinn? Sie ließ ihren Trolley im Türrahmen stehen und wischte mit dem Ärmel eine Ecke des Esstisches ab, um ihre Handtasche abzustellen. Vom aufwirbelnden Staub musste sie niesen. Eichenholz kam darunter zum Vorschein, von vermutlich vielen Jahren auf matten Schimmer poliert. Wie der Tisch waren auch die Schränke aus Massivholz. Einen modernen Herd gab es nicht, aber in einer Ecke stand ein gusseiserner Ofen. In die Klappe hatte ein Künstler von fragwürdigem Geisteszustand ein Bild einziseliert: Feen, diese filigranen Dinger mit Schmetterlingsflügeln, die über einem Feuer geröstet wurden. Na, da bekam man doch gleich Appetit.

Die Bodendielen waren wurmstichig, doch die Löcher fielen erst auf den zweiten Blick auf, weil Dreck sie verstopfte. Suzanna musste sich an einer Stuhllehne abstützen und überlegen, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie entschied sich für etwas anderes: Ein Hotel zu nehmen und morgen früh auf schnellstem Weg wieder in die Stadt zu fahren. Marge, die ihr diese Bruchbude vermietete, und die sich bis eben ihre Freundin geschimpft hatte, würde etwas zu hören bekommen. Nun gut, Marge hatte durchaus zugegeben, dass das Haus schon eine Weile leer stand, sie lange nicht hier gewesen war und über den Zustand nicht viel sagen konnte. Aber Suzanna hatte mit ein paar Spinnweben gerechnet, nicht mit Moos im Spülbecken. Diese Bruchbude war unbewohnbar.

Sie atmete tief durch und beschloss, sich im Obergeschoss umzusehen. Schlimmer konnte es kaum werden und sie musste ohnehin eine Pause machen, bevor sie in die nächste Stadt fuhr. Dumpfer Schmerz nistete in ihrem rechten Knie. Die gewundenen Landstraßen, die oft zum Bremsen und Gas geben zwangen, waren eine echte Herausforderung gewesen. Bis sie das Haus betreten hatte, war sie stolz, es geschafft zu haben. Sie bemühte sich, das Gefühl unter dem Schreck wieder auszugraben. Egal wie die Hütte aussah, Suzanna war ohne Hilfe hergekommen. Trotz ihres verdammten Knies hatte sie die fünf Stunden Fahrt von London nach Holyhead geschafft, war mit der Fähre übergesetzt und nach einer Übernachtung in Dublin weitergefahren. Schnurstraks auf einen Punkt auf der Karte zu, nicht größer als Fliegendreck. Das war Carryglen, dieses Örtchen in Leitrim, im Nordwesten Irlands. Sie war nicht die Einzige, die daran gezweifelt hatte, ob sie es überhaupt finden würde. Eigentlich könnte sie nun einige SMS an Leute verschicken, die sie mit ihrem „Das schaffst du doch nicht!“ in den Wahnsinn treiben wollten. Doch sie schaffte, was sie in Angriff nahm! Aber die Glorie zu teilen, kam nicht infrage. Sie hatte sich vorgenommen, ihre neue Handynummer niemandem zu geben, solange keine Katastrophe sie dazu zwang. Sie brauchte etwas Ruhe. Stille. Einsamkeit. Also keine SMS.

Die Treppe gelangte sie nur langsam hoch, da sich das Bein nach der langen Fahrt kaum noch beugen ließ. Es knirschte fast so laut wie die Stufen. Sie tastete die schmerzende Stelle durch die Jeans ab und fluchte unterdrückt. Angeschwollen. Na prächtig. Damit würde sie heute keinen Kilometer mehr fahren. Hoffentlich war der nächste Ort nicht weit.

Im Obergeschoss gingen zwei Türen von einem dunklen Flur ab, der mit seinen holzvertäfelten Wänden an einen Sarg von innen erinnerte. In der Dachschräge war zwar ein Fenster, doch dies war mit Brettern vernagelt. Charmant … wenn man Dracula sexy fand. Sie öffnete die erste Tür und schlug sie sofort wieder zu.

Okay, durchatmen.

Die gute Nachricht war, dass in der Küche nicht Irlands größte Spinne saß. Die schlechte: Diese hockte hier im Waschbecken inmitten des dreckigsten Badezimmers der Welt. Mindestens.

Sie versuchte die zweite Tür und spürte erstmals ein wenig Erleichterung. Keine Mäuse. Keine Spinnen. Nun gut, keine besonders großen. Auf dem Boden lag nur eine dünne Staubschicht und durch die beiden kahlen Fenster ließ sich beinah durchsehen. Man konnte ahnen, dass der Himmel blau und die Baumkronen grün waren. Das war ein Fortschritt. Kurzentschlossen zerstörte sie ein paar Spinnenkunstwerke, indem sie das Fenster öffnete. Frühsommerluft hüllte sie ein, warm wie die Spotlights auf der Bühne. Leicht vom Wind und üppig vom Duft des Flieders, der hinter dem Haus blühte. Und was da noch alles blühte. Sie verstand nicht viel von Pflanzen, erkannte jedoch Birnbäume, Pflaumen und das, was da seine weißen Blüten wie Schnee auf der Wiese verteilte, war eindeutig ein Apfelbaum. Hinter den Obstbäumen stand eine gewaltige Eiche, deren Krone so ausladend war, dass sie später am Tag vermutlich den ganzen Garten in ihren Schatten nahm wie in eine großmütterliche Umarmung. Der Anblick der Bäume und Blumen, die wild und ungezähmt wuchsen, war überwältigend, und was sich hinter dem dominanten Flieder noch an Gerüchen verbarg, raubte ihr den Atem. Für einen Moment floss Entspannung durch ihre Adern wie eine beruhigende Droge. Für solche Empfindungen hatte sie eine Weile aufs Land ziehen wollen.

Sie wandte sich vom Fenster ab, sah Staub im schräg einfallenden Nachmittagslicht tanzen. War das Haus wirklich so schlimm? Die Möbel waren in diesem Zimmer unter vergrauten Leinentüchern geschützt. Das Bett wirkte beinah sauber und darüber befand sich sogar ein Haken, an dem, dem hellen Viereck zufolge, ein Bild gehangen haben musste. Suzanna würde ihre letzten Spitzenschuhe dort aufhängen, von denen sie sich so wenig trennen konnte, dass sie sie sogar mit in den Urlaub nahm, auch wenn sie vermutlich nie wieder darin tanzen würde.

Sie enthüllte einen mit Cord bezogenen Sessel, der in der Nähe des Fensters vor einem gefüllten Bücherregal stand. In Leder gebundene Klassiker reihten sich aneinander. Der Gedanke, es sich hier mit heißer Schokolade und den alten Büchern gemütlich zu machen, hatte etwas unnachahmlich Verlockendes. Es war eine Ewigkeit her, dass sie Zeit zum Lesen gefunden hatte, wenn man Illustrierte und die DANCER außen vorließ. In dem Ungetüm von Kleiderschrank wogten nur ein paar filigrane Spinnwebchen im Windzug. Fast heimelig. Zuletzt enthüllte Suzanna einen Schreibtisch mit abschließbaren Schubladen. In jeder steckte ein kleiner Messingschlüssel mit keltischen Schnörkeln am Griff. In der oberen Lade fand sich sogar noch ein verkorktes Tintenfass, aber die Tinte war bereits am Glas angetrocknet. Sie nahm auf dem Polsterstuhl Platz, strich mit den Fingerspitzen über die feinen Kerben und Risse der Tischplatte und überlegte, wer hier wohl zuletzt gearbeitet hatte. Marge hatte ihr nichts erzählt; nur, dass das Haus ihren Großeltern gehörte, die es aber schon seit Dekaden vermieteten, weil sie sich in der Stadt wohler fühlten. Und dass kaum jemand die Einsamkeit hier draußen lange ertrug.

Suzanna ertappte sich bei der Überlegung, ob sie es schaffen würde, die Hütte wohnlich zu bekommen. Sie tippte sich ans Knie. Würde es beim Versuch, hier sauberzumachen, kapitulieren? Es war schrecklich viel Arbeit. Unmöglich. Aber wenn es ihr gelänge, diese Unmöglichkeit wahrzumachen, könnte sie sich an eine weitere Unmöglichkeit wagen. Und dann an die nächste.

Genau genommen hatte sie keine Wahl, denn ginge sie zurück nach London, käme das dem Eingeständnis gleich, dass sie es nicht allein schaffte. Dass sie am Boden war, wie die Klatschpresse es genannt hatte.

Indiskutabel! Nein, aber wenn sie diese Hütte auf Vordermann bekäme, konnte sie wie geplant zwei oder drei Monate Pause machen, um dann die nächste Unmöglichkeit anzugehen. Und irgendwann, Meniskusruptur hin und OP-Komplikationen her, würde sie vielleicht wieder tanzen.

Trí - drei

Das Licht ging nicht an.

Sie hatte sich beim Versuch, es einzuschalten, noch über diese altmodischen Schalter gefreut, die wie eine neugierige Nase in den Raum ragten, doch nachdem trotz mehrmaligem Umschalten nichts passierte, schlug dies in Ärger um. So was Dummes, warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Sie hätte davon ausgehen müssen, dass der Strom nicht funktionierte. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass es so früh dunkel werden würde. Ihre Vermutung bestätigte sich, die Eiche bildete eine undurchdringliche Barriere für das Sonnenlicht. Mehr noch, sie schien das Licht zu absorbieren, es zu schlucken, und somit lag das Haus schon um fünf Uhr nachmittags im Finstern. So konnte sie nicht mehr lange weiterarbeiten, dabei hatte sie erst das Badezimmer geputzt und nicht einmal die Hälfte dessen erreicht, was sie heute schaffen wollte. Es war mühsamer als gedacht, denn aus den Wasserleitungen kamen nur kalte Rinnsale. Für heißes Putzwasser hatte sie den Ofen mit Torf aus dem Schuppen füllen und anfeuern müssen. Putzmittel war keins da, aber vorerst tat es auch ihre Seife. Altes Haus mit einem Dufthauch von N°5; warum auch nicht. Die Riesenspinne hatte erfreulicherweise durch den Abfluss gepasst. Seebestattungen waren doch eine feine Sache.

Den Sicherungskasten hatte Suzanna schon entdeckt, aber alles Drehen an den Knöpfen änderte nichts. Es gab keinen Strom – Ende der Diskussion mit diesem Haus. Ob Marge die Rechnungen nicht gezahlt hatte? Sie schrieb ihrer Freundin eine SMS und ging hinunter in die Küche, um die Stumpenkerzen zu holen, die sie vorhin gefunden hatte. Im Dämmerlicht wirkte das Erdgeschoss noch ungemütlicher als am Tag. Graugewaschen von Schmutz. Der Staub hatte sich wieder gelegt, dort, wo eben noch Fußabdrücke ihre Wege verraten hatten, lag nun wieder eine dicke Schicht Dreck.

Irgendetwas irritierte sie. Ohne benennen zu können, was es war, spürte sie ein mulmiges Gefühl, das sich um ihren Hals wickelte wie ein kratziger Schal. Sie zog eine Schranktür auf. Es quietschte und Leere gähnte ihr entgegen. Waren hier nicht eben die Kerzen gewesen? Auch im nächsten Schrank fand sie das Gesuchte nicht. Verdammt. Sie schlug den Schrank mit einem Knall zu. Im gleichen Moment begriff sie, was sie so nervös machte.

Es war ruhig. Mehr noch. Still.

Seit die Sonne hinter der Eiche untergetaucht war, hörte Suzanna von draußen nichts mehr, obwohl das Fenster gekippt stand. Kein Vogel tschilpte, nichts raschelte in den Hecken; da war nicht einmal das Geräusch von Wind in den Zweigen. Sie trat ans Fenster, zog den Ärmel über die rechte Hand und wischte ein Guckloch in die grauen Schlieren. Die Welt stand still, wie kurz vor dem ersten Blitz, wenn ein Gewitter aufkommt. Wie das Innehalten des Atems der Erde, ehe ein Sturm hereinbricht. Aber am Himmel stand keine Wolke.

Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Es ist nur windstill, sonst nichts.

Die Maus, die sie noch nicht hinausgescheucht hatte, ließ sich nicht blicken. Wo waren die dicke Küchenspinne und ihr Gefolge? Ungewollt hielt sie die Luft an, bereitete sich auf den Anblick der Kellerasseln vor und hob mit spitzen Fingern den verschlissenen Webteppich hoch.

Da war nicht eine einzige.

Als die Kerze zum dritten Mal grundlos verlosch, verlor Suzanna die Nerven. Das Feuerzeug klickte und spuckte kleine Funken, die es nicht zu einer Flamme schafften. „Verdammte Scheiße“, rief sie und pfefferte es auf den Boden. Tolle Idee, wie sollte sie es im Dunkeln wiederfinden?

Vor der schmutzigen Scheibe des Schlafzimmerfensters bewegten sich die Schatten der Bäume hin und her. Es erinnerte an eine Kulisse in einem schaurigen Ballett. Sie bereute, nicht beim ersten mulmigen Gefühl in ihren Wagen gestiegen und abgehauen zu sein. Bis eben hatte sie sich eingeredet, dünnhäutig zu reagieren. Etwas, das nicht länger infrage kam, wenn sie auch nach ihrer Karriere als Tänzerin ihren Weg gehen wollte. Die ehemalige Mimose mit den Füßen aus Leder musste nun beweisen, dass sie mehr konnte als Pirouetten, Arabesquen und Temps de poisson. Zum Beispiel irrationalen Ängsten die Stirn bieten. Das stellte sich als nicht so einfach heraus, solange ständig die Kerzen ausgingen und sie im Finstern saß.

Sie atmete durch, stand vom Sessel auf und ließ die Wolldecke von den Schultern rutschen. Vorsichtig ging sie in die Hocke, um die Dielen nach dem Feuerzeug abzutasten. Sie hatte das Schlafzimmer oberflächlich durchgefegt, den Boden aber noch nicht gewischt, sodass Schmutz an ihren Fingern haften blieb. Egal. Wo war das blöde Feuerzeug? Vielleicht unter den Sessel gerutscht? Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie mit den Händen unter das Möbelstück glitt. Wer wusste, auf was sie dort stoßen würde. Tarantulas Brut? Der Wind säuselte um das Haus, ließ die Fensterläden in ihren Vorrichtungen knirschen. In der Küche unten ratschte irgendetwas über die Dielen. Verdammt, was war das? Die Maus? Hoffentlich nur die Maus. Aber … konnten Mäuse so laut übers Holz kratzen? Wo war das beschissene Feuerzeug! Ihre Hand fühlte sich eiskalt an, als sie sie unter dem Sessel hervorzog. Schmutzig, aber leer.

Ihr Atem stockte, als hätte jemand tausend kleine Knoten hineingemacht. Endlich stießen ihre Fingerspitzen auf Plastik. Sie riss das Feuerzeug hoch und stieß sich beim Aufspringen am Sessel. Ihre Finger zitterten beim Anzünden der Kerzen. Die Flammen zitterten ebenso. Sogar das Feuer fürchtete sich in dieser Nacht. Warum nur machte dieser Gedanke es nicht besser?

Draußen verfing sich Nebel in den Baumkronen. Darunter, dicht über dem Boden, glitten bleiche Lichter durchs Dunkel. Mondlicht, das sich im Tautropfen fing? Natürlich, denn eine bessere Erklärung gab es nicht. Doch wie kam es, dass das Schimmern sich bewegte, als tanzten die Reflexionen zu einer Musik, die sie nicht hörte?

Erst als der Morgen ein erstes helles Atemwölkchen in die Nacht blies, konnte sie sich entspannen und schlief auf dem Sessel ein.

Ceathair - vier

Brandon wünschte sich, er wäre ein Pferd. Die können im Stehen schlafen. Die Müdigkeit ließ ihm immer wieder die Knie einknicken, was seine Schultern und Handgelenke ausbaden mussten. In dem Schwebezustand zwischen körperlicher Anspannung und geistigem Wegdriften lag ihm mehrmals eine Bitte an den Mann, der ihn bewachte, auf der Zunge. Er hätte ihm wenigstens eine Decke umlegen können, oder das Seil so weit lösen, dass er sich auf den Boden setzen konnte. Sein Körper zitterte, ihm lief die Nase und sein Schwanz stand die halbe Nacht halb aufrecht, als wollte er die Demütigung Caras nicht wahrhaben und hielt stattdessen an törichten Hoffnungen fest.

Greg war es, der ihn im Morgengrauen losband. Der schmächtige Kerl, dessen bleichem Gesicht man die vierzig Jahre nicht ansah, mied seinen Blick. Brandon hätte sich bedanken müssen, weil Greg seine Lage nicht ausgenutzt hatte. Das war nicht selbstverständlich. Greg war ein Mensch wie er, einer von der Oberfläche, und im Gegensatz zu den Sídhe bedeutete Dank den Menschen etwas.

Er brachte es trotzdem nicht über sich. Zuerst würde er sie beide beschämen, damit daraus Sympathien und ein Gefühl der Gemeinschaft heranwachsen konnten. Er kannte die Mechanismen, nach denen Menschen funktionierten, er hatte sie jahrelang studiert. Die theoretischen Lehren in die Praxis umzusetzen, war allerdings etwas anderes. In diesem Fall stand sein Stolz ihm im Weg.

Er trat wortlos an Greg vorbei, griff nach seiner Kleidung und zog sich an. Auf dem Weg durch die mit Holz ausgeschlagenen Gänge, die den Hügel wie hohle Wurzeln gigantischer Bäume durchzogen, wäre er nach der ersten engen Kurve fast über einen Maulwurf gestolpert, der über den Boden robbte. Er hätte das Vieh in seiner Wut zertreten oder mit einem Tritt an die nächste Wand befördert, aber ein Grüppchen Gnome stand in der Nähe und rauchte Gras. Die kleinen Kerle würden ihn verraten, wenn er seine Wut an dem Tier ausließ. Er griff nach dem Saphir um seinen Hals, klammerte sich an dessen ausgleichende Wirkung und zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen.

Wie zufällig kreuzte Aiden seinen Weg. Aber es gab keine Zufälle im Síd.

„Du siehst aus, als hättest du sie sehr geärgert, Mann.“

Der Freund schlug ihm auf die Schulter. Brandon zuckte vor Schmerz ungewollt zusammen und Aiden erblasste unter seiner sonnengebräunten Haut.

„Verdammt. Hat sie dich …? Entschuldige.“

„Nein“, antwortete Brandon. Sie hatte ihn nicht ausgepeitscht. Solche Strafmaßnahmen behielt sie sich für Aiden vor, der seinem zähen, sehnigen Äußeren zum Trotz beim ersten Schlag in Tränen ausbrach. „Es war nichts. Nichts Besonderes, nur eine lange Nacht. Bin ein bisschen müde.“

Aiden hob eine Augenbraue. „Dann gehst du in die falsche Richtung.“

„Ach.“ Dass sein Quartier am anderen Ende des Hügels lag, wusste er selbst. „Ich hab noch etwas gutzumachen, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Lass hören.“

Brandon entwich ein Seufzer. Es war klar, dass Aiden ihn nicht einfach in Ruhe lassen konnte. Das hätte er an seiner Stelle auch nicht getan. „In das Haus bei der Eiche des Übergangs ist jemand eingezogen. Ich hab es erst mitbekommen, als es schon zu spät war. Ich muss zusehen, dass die Menschen da verschwinden, bevor sie auf die Idee kommen, die Eiche für ein kuscheliges Kaminfeuer abzuhacken oder eine Terrasse mit Blick auf unsere Haustür zu bauen oder auf was für Ideen die sonst noch kommen.“

„Ich komm mit dir“, bot Aiden an.

Die Götter mochten ihn bewahren, das war das Letzte, was Brandon wollte. Er wollte, nein, er musste allein sein. „Sie will, dass ich es selbst regle.“

Im Gesicht seines Freundes zuckte ein Mundwinkel. Aiden kannte ihn zu gut und durchschaute die Halbwahrheit. Verdammt.

„Versteh schon“, sagte Aiden. „Geh halt, geh allein.“

Brandon antwortete nur in seinen Gedanken, aber mit einem Dank, der aus tiefster Seele kam.

Es drängte ihn aus dem Síd, und das lag nicht allein daran, dass er seine Aufgabe schnell hinter sich bringen wollte. Vor allem wollte er sich ungestört der Vorstellung hingeben, wie er Cara würgte, sie vögelte und danach ihr schönes Gesicht zu Brei prügelte.

Der Morgen schlug ihm frisch und kühl entgegen, als er den Übergang durchschritt. Er sog die Luft tief in die Lungen, wo sie den Gestank der Nacht fortwaschen konnte. Genau wie Caras Duft, der ihn wider Willen noch immer erregte.

Er zwängte sich durch den gewachsenen Durchgang in der Eiche des Übergangs, lehnte sich an den Stamm und genoss eine Weile die Sonne auf den Armen und im Gesicht. Und das Alleinsein, ja, das besonders. Die Wärme berührte seine Haut, glitt langsam tiefer. Linderte. Frieren würde er wohl trotzdem den ganzen Tag. Seine Schultern fühlten sich an, als läge Schnee auf den Knochen. Eis splitterte bei jeder Bewegung in seinen Gelenken. Nur mit Mühe bekam er die Arme hoch genug, um das Lederband über den Kopf zu ziehen, an dem ein Bruchstück seines wasserblauen Saphirs hing. Er drückte den Stein in eine Vertiefung zwischen den Wurzeln der Eiche, was verhinderte, dass irgendein Scherzkeks den Zugang von innen verschließen konnte, während er draußen war. Das zweite Stück des Edelsteins reagierte zornig auf die Trennung. Der Saphir glühte in seinem Nacken, so kalt wurde er. Brandon versuchte, den in sein Fleisch gebrannten Stein zu ignorieren. Er ließ sich am Stamm der Eiche auf den Boden rutschen, stellte sich seine Hände vor, wie sie sich in Caras blondem Haar zu Fäusten schlossen, und griff sich durch die Leinenhose in den Schritt. Erst musste er diesen Druck abbauen. Danach würde er mal sehen, welche arme Seele er für die Strapazen der Nacht verantwortlich machen durfte.

Die Schwellung war zurückgegangen, dafür war ihr Knie nach der Nacht, die sie mit angezogenen Beinen im Sessel verbracht hatte, nun steif. Wunderbar, öfter mal was Neues.

Suzanna hinkte nach einer Katzenwäsche die Treppe hinunter. Vor wenigen Stunden war sie noch fest entschlossen gewesen, das Haus beim ersten Tageslicht zu verlassen, doch kaum, dass dieses durch die Fenster lugte, hellte sich auch ihre Stimmung auf. Hatte sie sich wegen ein bisschen Dunkelheit wirklich so gefürchtet? Das war ja lächerlich. Bei Tag sah alles gleich ganz anders aus.

Als sie in der Küche ein rotes Lämpchen am Radio entdeckte, schlug ihre Laune endgültig ins Positive um. Strom! Das Radio bekam Strom. Sie legte jeden Schalter um, kontrollierte die Glühbirnen im Erdgeschoss und registrierte zufrieden, dass alle funktionierten. Als sie das Wasser aufdrehte, kam es vom ersten Tropfen an klar aus der Leitung statt in rostbraunen Schwallen wie am Tag zuvor. Na also, es ging doch. Der Wasserkocher stellte sich als funktionstüchtig heraus, sie spülte ihn aus und füllte ihn. Die Teebeutel, die sie in einem der Hängeschränke fand, wirkten nicht vertrauenerweckend und wanderten in den Müll. Sie musste dringend einkaufen, aber nicht, ohne zumindest eine Tasse Tee getrunken zu haben. Wozu gab es den Garten? Ein paar Kamillenblüten oder Minzeblättchen würden sich schon finden. Marge, die Gesundheitsfanatikerin, schwor auf einen Aufguss mit frischen Brennnesseln, vielleicht sollte sie dies einfach mal testen, das Zeug wuchs schließlich überall. Sie ging aus dem Haus, ließ die Tür zum Lüften offen stehen, und umrundete es. Tau drang bei den ersten Schritten durchs Gras in ihre Prada-Sandalen. Sie zog sie aus, damit das Wildleder keine Flecken bekam. Ihre Garderobe würde sie den ländlichen Verhältnissen anpassen müssen. Hoffentlich gab es im Dorf ein Schuhgeschäft. Mit gesenktem Blick streunte sie zwischen den Bäumen umher. Gänseblümchen, Löwenzahn und Klee erkannte sie, bei allem anderen wurde es schwieriger. Hm, Blätter, die wie breite Grashalme aussahen. Sie riss eins ab und schnupperte daran. Ob das Breit- oder Spitzwegerich war? Schon möglich, leider erinnerte sie sich nicht, ob man dem Tee aus diesem Kraut irgendwelche Heilwirkungen nachsagte. Nachher manipulierte sie ungewollt an ihrer Verdauung oder handelte sich psychedelische Träume ein. Besser nicht, dachte sie und ließ das Grünzeug fallen, bückte sich stattdessen nach einem vierblättrigen Kleeblatt.

„Ein Glücksbringer, wer sagt’s denn.“ Sie schlenderte weiter, fand ein zweites und ein drittes der seltenen Blätter. Das musste sie ihrer Mum erzählen, die liebte solchen Kitsch. Sie nahm einige Kleeblätter mit, um sie für ihre Mutter zwischen Buchseiten zu pressen. Dann fiel ihr Blick auf eine Blume, wie sie sie noch nie gesehen hatte.

Ein hellblauer Kelch, der an ein Weinglas erinnerte, reckte sich mit der Öffnung der Sonne entgegen. Darin glitzerte etwas wie eine goldene Perle. Sie hockte sich trotz des Protestes ihres Knies hin und neigte den winzigen Kelch zu sich. Die Perle bewegte sich, es sah aus, als würde sie im Inneren der Blüte auf der Stelle rollen. Suzanna griff nach dem Stängel der Blume. Das Ding würde in einer Vase sicher hübsch …

„Bist du des Wahnsinns?“

Eine Gestalt schoss auf sie zu. Suzanna erschrak so sehr, dass sie aufs Hinterteil plumpste. Das Herz donnerte ihr gegen die Kehle. Durch ein Feld aus hüfthohen Brennnesseln kam ein Mann gestapft, die Hände drohend zu Fäusten geballt, den Mund wütend verzerrt. Der Rest von seinem Gesicht verschwand hinter einem Vorhang aus verfilztem Haar. Wie Dreadlocks. Oh Gott, ein Penner. Vielleicht ein Junkie. Wo kam der so plötzlich her und was wollte er von ihr und wieso war sie nicht zu Hause geblieben und warum hatte sie das verfluchte Handy nie griffbereit, wenn sie es einmal brauchte, verdammt!

„Fass die nie wieder an!“, brüllte er und blieb keinen Meter vor ihr stehen.

Wovon redete der Irre? Ihr Kopf war auf Höhe seines Unterleibs. Sie hätte gern übersehen, dass eine Erektion seine Hose ausbeulte, aber daran konnte sie unmöglich vorbeischauen. Der wollte ihr etwas antun! Sie rutschte auf dem Po ein Stück zurück, warf sich herum und kam in einer Drehung auf die Füße. Schmerz schoss durch ihr Bein.

„Ver-verlassen Sie sofort das Grundstück!“, verlangte sie. Ihre Stimme vibrierte. „Sie haben kein Recht, hier herumzulungern. Gehen Sie sofort oder ich rufe die Polizei!“

„Hast du eine Ahnung, was du da fast zerstört hättest?“

Er machte eine ruckartige Kopfbewegung und für einen Moment konnte sie seine Augen sehen. Sein Blick war nicht zornig – er war fuchsteufelswild. Der Mann trat einen weiteren Schritt vor, ging in die Hocke und warf einen kurzen Blick auf die seltsame Blume, ehe er sie erneut von unten anstarrte, als wollte er ihr allein mit Blicken die Haut vom Leib ziehen. Er packte sich an die Brust, krallte die Finger in das ärmellose Hemd.

„Alles müsst ihr kaputt machen, abbrechen, in Stücke reißen. Zerstören könnt ihr. Sonst nichts!“

„Die Blume?“, stieß sie ungläubig hervor. „Sie brüllen mich wegen einer Blume an?“ Na toll, kein Junkie. Schlimmer. Ein Öko! „Sie brüllen mich - in meinem eigenen Garten - wegen einer bescheuerten Blume an? Verschwinden Sie! Sofort!“

„Darauf kannst du Gift nehmen!“, zischte er durch die Zähne.

Sie bemerkte etwas Seltsames an seiner Oberlippe. Die linke Hälfte schien steif. Es sah aus, als würde sie vom Rest seiner Oberlippe mitbewegt werden, wie ein steifer Finger von der Hand. Das Gewebe war vernarbt, was seinem Mund einen grausamen Zug verlieh. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, dass er ging. Stattdessen rammte er die Finger einer Hand tief in die Erde. Mit bloßen Händen und verbissenem Gesicht grub er die sonderbare Blume aus. Der Mann musste wahnsinnig sein. Ein geisteskranker Öko-Aktivist. Ob das Blümchen unter Naturschutz stand? Womöglich, aber das war doch kein Grund, das Grünzeug mit den Fingern auszubuddeln. Ihr tat schon vom Zusehen das Fleisch unter den Nägeln weh.

„Ich verlass mich darauf, dass Sie in fünf Minuten verschwunden sind“, sagte sie mit der autoritärsten Stimme, zu der sie fähig war. Dann wandte sie sich ab und ging zum Haus. Sie konzentrierte sich, ihre Furcht nicht durch zu schnelle Schritte zu verraten, und noch mehr darauf, sich nicht umzudrehen. Der Tee konnte warten. Sie musste ins Dorf. Dringend. Ob man dort eine Pistole oder zumindest Pfefferspray bekam?

cúig - fünf

Das war ich nicht!“

Aiden stand im Türrahmen und ließ den Blick fassungslos durch seine Kammer schweifen. Federn!

Sein ganzes Zimmer war voller Federn. Sie taumelten durch den Windstoß über den Boden, glitten über seinen Schreibtisch, klebten außen am Glas der Laternen und hingen am Kienspanhalter. Dem beißenden Geruch zufolge waren einige verbrannt. Der Gnom Dwyn saß mit Unschuldsmiene und hinter dem Rücken versteckten Händen mitten auf Aidens Bett. Eine Flaumfeder steckte ihm noch im Mundwinkel. Als der kleine Kerl sich dessen bewusst wurde, spuckte er sie schnell aus.

„Nicht meine Schuld, Aiden. Ich war es wirklichecht nicht!“

Natürlich nicht. Aiden rieb sich die Stirn, durchsuchte sein Hirn nach einem Gedanken, der ihn davon abhielt, Dwyn zu teeren und zu federn. Dieses kleine Aas! Leider trug Aiden selbst schuld. Es war nichts Neues, dass Gnome Unsinn anstellten, sobald sie mit den aufgetragenen Arbeiten fertig waren. Er hatte am Morgen vergessen, Dwyn Aufträge zu geben, weil seine Gedanken bei Brandon gewesen waren.

Mit einem Seufzer stieß er die Tür hinter sich zu, worauf erneut Federn aufstoben, ging zum Bett und setzte sich auf die Kante. Dwyn drehte sich in seine Richtung, wohl damit Aiden nicht sah, dass der Gnom einen Zipfel seines schlaffen Kopfkissens in den Händen würgte. Vermutlich war es die abgenagte Ecke.

„Siehst miesübel aus“, meinte Dwyn. „Ist dir eine Maus über die Leber gelaufen?“

Aiden zupfte sich Federn von der Hose. „Es heißt Laus, nicht Maus.“

Dwyn kratzte sich unter dem falschen Bart, den er jeden Morgen mit einem Pflanzenextrakt an sein Kinn klebte. Er bekam Ausschlag davon, aber ohne Bart fühlte er sich nackt, daher nahm er das Jucken in Kauf. Eine Laune der Natur hatte Dwyn mit einem bartlosen, fast androgynen Gesicht gestraft, weshalb die anderen Gnome ihn verspotteten und mieden.

„Wenn eine Laus auf der Leber uns kleinen Leuten Kummer bemachtreitet, solltet ihr Trolle etwas mehr vertragen. Oder seid ihr Waschlappen?“

„Wir sind eben keine Trolle, sondern Menschen.“

„Alles dasgleichselbe!“

Aiden seufzte. Wie oft würde er diese Diskussion noch führen müssen? Warum diskutierte er überhaupt mit einem Wesen, das ihm bis zur Mitte der Wade reichte und seine Strümpfe als Schlafsack benutzte?

„Nun sag endlichschon, Aiden.“ Dwyn boxte ihm mit seiner winzigen Faust gegen den Oberschenkel. „Ich seh doch, dass was nicht stimmt. Sag’s dem alten Dwyn, er weiß, was hilft.“

Leider würde die Pflanzenkunde der Gnome bei diesem Problem nicht helfen, auch wenn sicher etwas dabei war, was Aiden seine Sorgen vergessen lassen konnte. Aber das änderte rein gar nichts an deren Ursache. „Cara hat Seamus heute auf die Suche nach seinem Stein in den Stollen geschickt.“

„Deinen Bruder?“

Er nickte, den Blick auf seine Füße gerichtet.

„Aber der ist doch noch viel zu kleinjung! Wie alt ist der Grünschnabel, zwölf? Dreizehn?“

„Achtzehn“, antwortete Aiden. Er legte den Kopf zurück, bis ihm der Chalcedon in seinem Genick ins Fleisch schnitt. „Genauso alt wie ich damals. Ich hatte gehofft, ihm würde mehr Zeit bleiben. Nun hab ich nur noch wenige Tage, um ihn hier rauszubekommen. Vielleicht auch nur Stunden. Was weiß ich, wie schnell er einen dieser Klunker findet.“ Er ballte die Faust und rammte sie in die strohgefüllte Matratze, sodass Dwyn einen unfreiwilligen Hüpfer machte.

„He, Aiden, nimmreiß dich zusammen!“, protestierte der. „Dein Problem ist, dass du nicht akzeptierst, was nicht zu besserändern ist.“

„Ein Schlafzimmer, das aussieht, als wäre darin eine Schar Gänse gerupft worden, zum Beispiel?“

„Ja, ja.“ Dwyn nickte begeistert, sodass sein künstlicher Bart auf- und ab flatterte. „Das ist der schlechtmiese Einfluss. Seit dieser Troll Brandon aufmuckt, bist du ständig unzufrieden. Das war früher nicht so.“

„Früher war vieles … nicht so“, entgegnete Aiden. Früher wurde sein Bruder von Cara auch nur vor der grausamen Welt an der Oberfläche beschützt. Er rieb sich über die unrasierte Wange und fand sofort die Stelle, an der eine erbsengroße Narbe verhinderte, dass an dieser Stelle Bart wuchs. Er trug viele dieser kreisrunden Narben. Cara war es zu verdanken, dass Seamus keine hatte. Doch nun musste auch sein Bruder bezahlen. Angesichts dessen, dass Seamus sein Leben nun in ihre Hände legen sollte, wurde Aiden erst bewusst, wie teuer dieser Preis für ihn selbst gewesen war.