Schwarze Klippen - Lara Dearman - E-Book

Schwarze Klippen E-Book

Lara Dearman

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Beschreibung

Menschliche Gebeine in einer Höhle, ein Mord und eine verschworene Inselgemeinschaft ...

Die kleine Insel Sark liegt mitten im kalten Wasser des Ärmelkanals. Nachts hüllen absolute Stille und Finsternis die wenigen Häuser ein, denn hier gibt es weder Autos noch Straßenbeleuchtung. Die bedrohliche Seite dieser dunklen Idylle zeigt sich, als man in einer Höhle der zerklüfteten Küste menschliche Gebeine entdeckt und kurz darauf ein alter Mann brutal ermordet wird. Wurde er ein Opfer von Mythen und Aberglaube, die hier immer noch lebendig sind? Welches Geheimnis hütet die verschworene Inselgemeinschaft – womöglich bereits seit Jahrzehnten? Die Journalistin Jennifer Dorey und DCI Michael Gilbert von der Nachbarinsel Guernsey folgen den Spuren des Blutes ...

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Buch

Die kleine Insel Sark liegt mitten im kalten Wasser des Ärmelkanals. Nachts hüllen absolute Stille und Finsternis die wenigen Häuser ein, denn hier gibt es weder Autos noch Straßenbeleuchtung. Die bedrohliche Seite dieser dunklen Idylle zeigt sich, als man in einer Höhle der zerklüfteten Küste menschliche Gebeine entdeckt und kurz darauf ein alter Mann brutal ermordet wird. Wurde er ein Opfer von Mythen und Aberglaube, die hier immer noch lebendig sind? Welches Geheimnis hütet die verschworene Inselgemeinschaft – womöglich bereits seit Jahrzehnten? Die Journalistin Jennifer Dorey und DCI Michael Gilbert von der Nachbarinsel Guernsey folgen den Spuren des Blutes …

Autorin

Lara Dearman ist auf der Insel Guernsey geboren und aufgewachsen. Eine kurze Karriere in der Finanzbranche beendete sie, um für ihre drei Kinder da zu sein. Nachdem sie einen Creative-Writing-Kurs besucht hatte, schrieb sie sich in London für einen Masterstudiengang in Creative Writing ein, den sie mit Auszeichnung abschloss. Nach ihrem Debütroman »Das tote Mädchen vom Strand« ist »Schwarze Klippen« der zweite Spannungsroman mit der Journalistin Jennifer Dorey.

Lara Dearman

Schwarze Klippen

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2019 Copyright © der Originalausgabe 2018 by Lara Dearman Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagfoto: Wellen und Schiff: FinePic®, München; Landschaft mit Felsen: Thang Tat Nguyen / getty images Redaktion: Julie HübnerAB · Herstellung: kw Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-20950-6V001 www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Prolog

Die Tür des Cottages stand einen Spalt weit offen. Es sah aus, als würde die Dunkelheit von drinnen ins Sonnenlicht hinausquellen. Aber das war doch unlogisch, weil Dunkelheit doch so etwas nicht tat – sie legte keine Strecken zurück, so wie Licht dies tat. Es war der Schatten des Magnolienbaums, das war alles. Hier und dort waren leuchtend rosafarbene Blütenblätter auf den Weg gefallen und verwelkten in der Sonne; ihre Ränder waren eingerollt und braun. Er hob eines auf.

Dann ging er auf Zehenspitzen die Stufen hinauf und legte die Hand an die Tür. Die glänzende rote Oberfläche war ganz warm. Er fuhr mit dem Finger an einem Riss im Holz entlang, befürchtete, sich einen Splitter zu holen, pulte ein kleines Stückchen Farbe ab. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Lauschte. Irgendetwas stimmte nicht. Die Luft drückte so schwer auf seine Ohren wie Wasser. Sie schien sämtliche Geräusche verschluckt zu haben. Er spürte dieses Ziehen in seinem Bauch, das er immer fühlte, wenn er ein bisschen Angst hatte. Es war die Stille. Die Wut und das Geschrei und das Klirren der zerberstenden Teller, all das machte ihm gar nicht so viel aus. Davor konnte er sich verstecken, mit den Händen über dem Kopf, unter seinem Bett zusammengerollt oder hinter einem Baum im Garten. Es war die Stille danach, die er fürchtete. Wie Nebel legte sie sich über das Haus, kroch in jeden Winkel, schwebte über ihm, während er versuchte zu schlafen.

Nervös rieb er das Blütenblatt zwischen den Fingern, rollte es zu einem Röhrchen zusammen, vor und zurück, bis es zerfiel und seine Finger feucht waren und dufteten. Er hielt sie sich an die Nase. Süß. Tröstlich. Irgendwo in der Ferne sprang ein Rasenmäher an, schnitt durch die Stille und brach den Bann, in den sie ihn gezogen hatte. Die Vögel sangen. Das Gras raschelte. Ein Hund bellte. Er stieß die Tür auf.

Die Kühle im Innern des Cottages legte sich auf sein verschwitztes Gesicht und seine bloßen Arme, und er schauderte. Dann blinzelte er, seine Pupillen weiteten sich und passten sich an die Düsternis hier drinnen an. Er ließ den Blick durch den Raum wandern, zuerst auf Augenhöhe. Becher auf dem Frühstückstresen, eine aufgeschlagene Zeitung, ein Blinken – ein Teelöffel. Wirbelnder Staub, der Sessel nicht da, wo er sein sollte, verschoben, in die falsche Richtung gedreht.

Und dort, auf dem Boden.

Er hatte es gesehen, sobald er eingetreten war, aber irgendein Instinkt hatte ihn dazu gebracht, nicht sofort hinzuschauen, und jetzt, da er es tat, bemühte sich sein Gehirn, das Gesehene zu etwas Akzeptablem zu verarbeiten. Ein Haufen Kleider. Aber der hatte Arme und Beine und Haare. Dann eben eine Schaufensterpuppe, wie in einem Geschäft, mit so steifen, blassen Gliedern. Um den Kopf herum war etwas Dunkles. Es bewegte sich. Ganz, ganz langsam. Es kroch auf ihn zu. Er streckte die Hand aus und berührte es.

Klebrig. Warm.

Er hielt die Hand in den Lichtstrahl, der durch die offene Tür fiel.

Rot.

Ein Rutschen. Ein Stoffrascheln. Er war nicht allein. In diesem Augenblick sehnte er sich wieder nach der Stille. Weil er wusste, dass das, was hier in diesem Raum stattgefunden hatte, entsetzlich war. Jemand war hier, und man würde ihn sehen, und jetzt war er ein Teil davon. Er sah kurz auf seine Hand. Noch schlimmer, man würde denken, das Ganze sei seine Schuld. Er machte einen Schritt rückwärts. Auf die Tür, auf die Wärme und auf den bellenden Hund zu, den er durch den Krach, den sein Herz machte, zu hören versuchte; es hämmerte so schnell, dass er meinte, es würde gleich explodieren.

Ein Schniefen. Da weinte jemand. Unterdrücktes Schluchzen. Er stockte. Sein Lehrer in der Schule sagte immer, man solle Menschen in Not helfen. Er schluckte. Versuchte, seine Angst ganz tief in seinem Bauch zu versenken. Versuchte, mutig zu sein. Ging auf das Geräusch zu. Einen Schritt. Leise. Langsam. Zwei Schritte. Erinnerte sich an damals, als er die Katze mit dem blutenden Bein gefunden hatte. Die hatte ihn gekratzt, als er die Hand nach ihr ausgestreckt hatte; sie wusste ja nicht, dass er ihr nur helfen wollte. Er sollte den Menschen dort in der Ecke wissen lassen, dass er hier war, um ihn nicht zu erschrecken.

»Hallo.« Es kam im Flüsterton heraus.

Das Schluchzen ging weiter. Er versuchte es noch einmal. Räusperte sich.

»Hallo.«

Ein scharfes Atemholen.

Und an diesem einen Geräusch erkannte er, dass seine Hilfe nicht erwünscht war.

Dass sie nicht willkommen war.

Dass er lieber das Weite suchen sollte.

1. Kapitel

Michael

Für einen Unwissenden, der hier vorbeikam, mochte das kleine Gebäude mit dem Tonnendach vielleicht eher wie eine öffentliche Toilette aussehen als wie ein Gefängnis. Es hatte ungefähr die passende Größe, und seine Tür war in demselben Parkbank-Grün gestrichen wie die der Toiletten gegenüber der Kirche. Ein genauerer Blick jedoch ließ ein schweres eisernes Vorhängeschloss an der Tür sichtbar werden sowie Gitter vor den Fenstern, die klein und zu hoch waren, um hinaussehen zu können.

Im Innern gab es zwei Zellen, beide ungefähr drei Quadratmeter groß; in beiden befand sich je ein Bettgestell mit Lattenrost und einer dünnen Plastikmatratze. Die Wände waren weiß getüncht, der Boden bestand aus Beton. Ein schmaler Flur erstreckte sich über die ganze Breite des Gebäudes. Von dort aus konnte der Gefängniswärter – eine der vielen Rollen des ehrenamtlichen Constable von Sark – durch ein Gitter in jeder Zellentür nach den Inhaftierten sehen. Die Einheimischen nannten das Gebäude »den Säuferknast«, weil es hauptsächlich dazu genutzt wurde, Touristen unterzubringen, die ein paar über den Durst getrunken und die letzte Fähre nach Hause verpasst hatten. Nur ein einziges Mal in all seinen Jahren bei der Polizei hatte Michael auf die Insel kommen und jemanden, der hier festgehalten wurde, offiziell verhaften müssen – einen Mann, dessen Kneipentour damit geendet hatte, dass er eine Flasche auf dem Kopf eines Saufbruders zerschmettert hatte.

Alles in allem diente das Sark Prison öfter als Zielscheibe für den Inselspott denn als Gefängnis. Nur fand Michael das nicht besonders witzig, als er jetzt auf der falschen Seite der abgeschlossenen Zellentür gefesselt und geknebelt auf dem Boden lag.

Es fühlte sich an, als stünde das Blut, das durch sein Gehirn strömte, in Flammen. Wenn er den Kopf auch nur einen Zentimeter bewegte, überwältigte der Schmerz ihn schier; Lichtblitze durchbohrten sein Blickfeld, und ein alles übertönendes Dröhnen, von dem er wusste, dass nur er es hören konnte, erfüllte seine Ohren.

Und dann war da noch seine rechte Seite. Er verlor immer noch Blut. Mehrmals im Laufe der letzten Stunde – oder der letzten zwei oder drei Stunden, solange er eben schon hier lag – war er in einen grauenvollen Dämmerzustand hinübergeglitten, in dem er keinen Zugriff mehr auf die Realität gehabt hatte. Dann hatte er sich eingebildet, er sei auf einem Boot, und der Boden schwanke unter ihm, oder er würde von einer Explosion erfasst, die ihn gleich wegschleudern und ins Meer fegen würde. Er hatte seine Augen gezwungen, sich zu öffnen, und sein Gehirn, sich zu fokussieren. Der schwankende Boden war das Resultat des Schwindels, das Explosionsgeräusch eine übertriebene Zuspitzung des Donners durch sein erschöpftes Gehirn. Doch das allein reichte, um noch mehr Panik in ihm auszulösen.

Denn das Gewitter war da, und Jenny war auf einem Boot, floh vor ihm, vor seinem Verrat, floh von dieser gottverlassenen Insel. Er hoffte und betete, dass sie schon vor Stunden zu Hause angelangt war. Bevor das Wetter umgeschlagen war. Bevor die Wolken, die sich schon seit Tagen zusammengeballt und sie alle mit dieser abgestandenen, gnadenlosen Hitze erstickt hatten, endlich geborsten waren. Bevor sie ihre Fluten aus Regen, Donner und Blitzen losgelassen, die Wogen zu einem nicht mehr schiffbaren Albtraum aufgepeitscht und seine erstickten Schreie mit ihrer Raserei übertönt hatten.

2. Kapitel

Jenny

Drei Tage zuvor …

Jenny hob ihre Jeans und das zerknüllte T-Shirt vom Boden auf und zog sich an.

»Wie spät ist es?«, kam es mit gedämpfter Stimme von Elliot, der halb unter der Bettdecke verborgen lag.

»Viertel nach sechs. Ich muss vor der Arbeit noch nach Hause und mich umziehen.« Sie legte ihre Armbanduhr um und griff nach ihrem Handy.

»Sehen wir uns in der Redaktion?« Er hob den Kopf, kniff im Sonnenlicht, das durch die dünnen Vorhänge strömte, ein Auge zu.

Sie nickte. Er sah sie die ganze Zeit an, und sie hatte das Gefühl, als erwartete er noch irgendetwas. Dass sie ihm einen Kaffee bringen und ihm einen langen Abschiedskuss geben sollte, oder was auch immer richtige Paare eben taten, wenn einer von ihnen das Bett verließ, in dem sie beide die Nacht verbracht hatten. Stattdessen lächelte sie ein »Bis nachher!« und ging aus dem Zimmer.

Ein Immobilienmakler hätte Elliots Wohnung vielleicht als »bijou« bezeichnet. Ein Wohnzimmer mit Kochecke, ein Schlafzimmer und ein Bad. Doch sie war aufgeräumt und gemütlich, und von der Küchenzeile aus konnte man über die Dächer von Saint Peter Port bis zum Meer sehen, das in der Ferne glitzerte. Sie drehte den Wasserhahn auf. Die Leitungen quietschten und vibrierten, und nach ein paar Sekunden kam stotternd lauwarmes Wasser. Sie wartete, bis es gleichmäßig floss, spülte eine Tasse aus dem Spülbecken ab und füllte sie mit kaltem Wasser. Die Weingläser von gestern Abend trockneten neben dem Becken, daneben stand eine halb ausgetrunkene Weinflasche. Eine zweite, das wusste sie, lag leer im Recyclingeimer unter dem Spülbecken.

Sie hatten sich ein Muster angewöhnt. Ein paar Drinks nach der Arbeit, noch ein paar mehr bei ihm zu Hause. Bett. Der erste »Morgen danach« war ein bisschen peinlich gewesen, sie hatten beide so getan, als habe sich überhaupt nichts geändert, hatten das Ganze mit einem Lachen abgetan. Keiner von ihnen hatte Bedauern geäußert, keiner hatte angedeutet, dass es mehr sei als Spaß. Inzwischen, dachte sie bei sich, hatten sie eine Linie überschritten. Es war zur Routine geworden. Sie hatten bisher nicht weiter darüber gesprochen. Sie traf sich nicht mit anderen, doch er hatte sie nicht darum gebeten. Er flirtete noch immer regelmäßig mit anderen Frauen. Sie hatte ihn nicht gebeten, das zu lassen.

Jenny lehnte sich an den Frühstückstresen. Sie sollte sich eine eigene Wohnung suchen. Ihre Mum, Margaret, hatte angeboten, ihr Geld zu leihen, für eine Anzahlung. Selbst dann würde sie Mühe haben, den Kredit für eine Wohnung wie diese hier von ihrem Reportergehalt zu bezahlen. Sie brauchte eine Gehaltserhöhung. Oder einen neuen Job.

Elliots Wecker piepste hinter der Schlafzimmertür, und sie hörte das Bett knarren, als er aufstand. Sie spülte die Tasse noch einmal aus, stellte sie auf das Abtropfgestell und ging.

Die Wohnung befand sich im obersten Stock eines Reihenhauses auf halber Höhe der Mount Durant, einer steilen Hügelstraße. Nebenan kündeten ein eingeschlagenes Fenster und leere Bierflaschen noch immer von der Party am Samstag, die laut Elliot gestern in den frühen Morgenstunden von der Polizei beendet worden war. Am unteren Ende der Straße ging der Asphalt in Kopfsteinpflaster über. Links und rechts führten winzige Gässchen hinter die Häuser, zu Treppen mit ungleichmäßigen Stufen und verborgenen Häuserreihen; Wäscheleinen waren zwischen den Mauern gespannt, und Müllcontainer versperrten den Weg.

Ein paar Schleierwolken zeigten sich an einem ansonsten wolkenlosen Himmel. Der Juni war warm und trocken gewesen, und nichts deutete darauf hin, dass sich daran im Juli etwas ändern würde. Die erste Woche hatte Rekordtemperaturen gebracht, gestern zweiunddreißig Grad. Die Channel News hatten ihr Programm mit einem Clip beendet, in dem der Meteorologe des Senders versucht hatte, auf dem Gehsteig vor dem Studio ein Spiegelei zu braten. Die Touristen, die hier Sommerurlaub machten, fanden es toll. Ebenso die Eisverkäufer und die Läden, die Strandutensilien verkauften. Dem Rest der Bevölkerung jedoch wäre es recht gewesen, wenn die Hitze mal Pause gemacht hätte, dachte Jenny.

Ihr Auto parkte vor dem Cove, einer berüchtigten Bar. Eine Gruppe Teenager mit Bierflaschen hatte sie angeglotzt, als sie es gestern Abend dort abgestellt hatte. »Nette Karre«, hatte einer der Jungen bemerkt, und ein anderer hatte halblaut »Wohl eher nette Titten« gemurmelt, ehe die ganze Bande losgekichert hatte wie die Schuljungen, die sie höchstwahrscheinlich waren. Jenny hätte es ihnen glatt zugetraut, ihren Wagen nur so aus Spaß zu zerkratzen; sie sah nach, bevor sie einstieg. Abgesehen vom Gestank nach Pisse und lauwarmem Bier schien alles in Ordnung zu sein.

Im Innern des Wagens roch es nach ihren feuchten Schwimmsachen, die in einem Rucksack auf dem Rücksitz steckten. Gestern Abend war sie schwimmen gewesen, kurz bevor Elliot angerufen hatte. Rasch warf sie einen Blick auf die Uhr. Erst halb sieben; sie hatte noch Zeit, schnell ein paar Bahnen zu schwimmen, bevor sie nach Hause fuhr, um sich umzuziehen.

Ihr Handy meldete sich. Ganz schön früh für eine SMS. Sie war von Stephen.

Knochenfund in Derrible Bay. Könnten menschl. Überreste sein. Fahren gerade rüber. Halte dich auf dem Laufenden.

Die Erregung, die Jenny jedes Mal im Bauch spürte, wenn sie Wind von einer neuen Story bekam, wurde von einem Gefühl der Furcht gedämpft. Menschliche Überreste. Es war erst ein paar Monate her, dass der Leichnam von Amanda Guille in der Bordeaux Bay am Strand gefunden worden war. Aber dieser Fall war abgeschlossen; der Mörder war tot. Die Schusswunde in Jennys Schulter war verheilt.

Sie las die SMS noch einmal. Die Derrible Bay lag auf Sark, einer winzigen Insel, fünf Kilometer lang und anderthalb Kilometer breit. Sie lag knapp fünfzehn Kilometer östlich von Guernsey, ungefähr eine Stunde mit dem Boot. Dort gab es keinen Flughafen und auch keine Autos. Man konnte sich nur zu Fuß, auf dem Fahrrad oder in überteuerten Pferdekutschen fortbewegen. Als Kind hatte Jenny dort jeden Sommer etliche Wochen verbracht. Die Vorliebe ihrer Eltern für Ruhe und Frieden kombiniert mit ihrer Abneigung dagegen, weiter als ein paar Kilometer von zu Hause wegzufahren und dem Wunsch, nirgendwo hinzufliegen, wenn es sich vermeiden ließ, hatten die Insel zum idealen Ferienziel gemacht.

Das »wir«, von dem Stephen redete, schloss ohne Zweifel DCI Michael Gilbert mit ein, seinen Kollegen bei der Polizei von Guernsey, den Detective, mit dem Jenny eng zusammengearbeitet hatte, als sie Nachforschungen über Amanda Guilles Tod angestellt hatte. Seitdem war Michael zu einem Freund und häufigen Besucher in dem Haus geworden, das Jenny mit ihrer Mutter teilte. Zuerst hatte er ein Auge auf Jennys Genesung gehabt, und dann, als es ihr wieder gut ging, war er oft auf eine Tasse Tee vorbeigekommen oder war, wie in letzter Zeit meistens, zum Abendessen geblieben. Noch immer kam er offiziell, um sich zu vergewissern, dass es Jenny gut ging, doch sie wussten beide, dass er sehr viel mehr daran interessiert war, sich mit ihrer Mutter zu unterhalten. Michael hatte sich angewöhnt, Margaret in der Küche zu helfen; die beiden plauderten und lachten, und das Radio und das Pfeifen des Teekessels übertönten ihre Worte fast. Jenny überlegte, ob sie wohl über ihre Beziehung redeten. Ob man sich, wenn man erst mal über fünfzig war, den ganzen Quatsch sparen und ein ehrliches Gespräch darüber führen konnte, wo es hingehen sollte.

Rasch schielte sie noch einmal zu ihren Schwimmsachen auf dem Rücksitz. Das musste warten. Sie würde sich diese Story nicht entgehen lassen, egal, wie unwohl sie sich dabei fühlte. Diesmal, versicherte sie sich selbst, würde sie nicht in den Nachrichten auftauchen. Sie würde sie nur schreiben.

Und außerdem hatte Jenny noch einen weiteren Grund, nach all den Jahren wieder einmal nach Sark fahren zu wollen.

Seit sie herausgefunden hatte, dass bei den Ermittlungen zum Tod ihres Vaters möglicherweise nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, hatte sie seine Schritte zurückverfolgen, hatte mit den Menschen reden wollen, die ihn zuletzt gesehen hatten. Laut Polizeibericht war Charlie Dorey ums Leben gekommen, nachdem er auf dem Rückweg von Sark über Bord gegangen war. Dass Charlie an jenem Tag auf Sark gewesen war, war unbestreitbar. Dass man sein Boot Stunden nach seinem Verschwinden vor der Insel treibend aufgefunden hatte, war ebenfalls eine Tatsache. Es war das mit dem Über-Bord-Fallen, was Jenny nicht glauben konnte. Das wäre Charlie niemals passiert.

Sie öffnete die Tür und trat ins Haus. Margaret saß am Küchentisch, ein Buch in der einen und eine Scheibe Toast mit Hefeaufstrich in der anderen Hand.

»Morgen, Schatz.«

»Morgen, Mum.« Jenny küsste ihre Mutter auf die Wange und schenkte sich eine Tasse Tee ein.

»Wie geht’s Elliot?« Margarets Tonfall war ganz beiläufig, doch Jenny wusste, dass hinter dieser Frage eine Menge steckte.

»Gut, danke. Ich geh schnell duschen.«

»Hat er etwa was dagegen, dass du ein paar Sachen bei ihm lässt? So würdest du doch morgens Zeit sparen.« Betont lässig blätterte Margaret eine Seite um.

»Willst mich wohl loswerden, wie?« Jenny hatte es scherzhaft gemeint, doch Margaret blickte gekränkt auf.

»Natürlich nicht! Ich finde es wunderbar, dass du hier wohnst. Solange du nicht meinetwegen hierbleibst.«

»Ich weiß, Mum. Du hast wieder Boden unter den Füßen. Ich auch. Bald fange ich an, mich nach einer Wohnung umzuschauen. Demnächst. Ich habe sowieso keine Lust mehr, den Anstandswauwau für dich und Michael zu spielen.«

»So ist das doch gar nicht, Jenny.« Margarets Wangen röteten sich. Sie klappte ihr Buch zu, wuselte geschäftig zum Spülbecken hinüber und suchte nach Geschirr, das sie abwaschen könnte. Da sie keins fand, machte sie sich daran, die Arbeitsflächen mit Putzmittel einzusprühen und an Flecken herumzureiben, die für Jenny unsichtbar waren.

»Reg dich ab, Mum, ich mache doch bloß Spaß. Aber das wäre ja wohl nicht das Schlimmste auf der Welt, oder?« Sie hielt kurz inne. »Es ist doch schon über zwei Jahre her.«

Einen Moment lang verharrte Margaret regungslos, dann drehte sie sich um, mit blank glänzenden Augen. »Ich meine ja nur, dass du kein Anstandswauwau bist.« Sie versuchte ein Lächeln. »Also, musst du denn nicht arbeiten?«

Bevor sie in die Redaktion fuhr, ging Jenny in Charlies Arbeitszimmer. Er hatte Stunden hier verbracht, hatte Briefe an die Guernsey News geschrieben oder mit einem Klotz von Rechenmaschine, die Belege ausdruckte wie eine Ladenkasse, seine Buchhaltung gemacht. Sie hatte das sirrende Geräusch geliebt, das die Maschine machte, wenn sie lange Streifen aus dünnem, glänzendem Papier ausspuckte. Papier wie das, in das Fish and Chips eingewickelt wurden, nur war dieses hier ein langes, schmales Band, das auf ein Plastikröhrchen aufgewickelt war. Manchmal hatte er sie mit der Rechenmaschine spielen lassen – dann hatte er einen von ihren Teddybären »gekauft« und sie den Preis eintippen lassen, den sie für richtig hielt, und dann durfte sie seinen Beleg ganz vorsichtig entlang der zackigen Kante abreißen. Margaret hatte die Maschine weggeräumt, sie auf den Dachboden verfrachtet. Eine von Charlies vielen Habseligkeiten, mit denen sie sich »irgendwann demnächst« befassen würden.

Elliot hatte das Arbeitszimmer als ihre »Einsatzzentrale« bezeichnet, weil sie während der Nachforschungen zu Amanda Guilles Tod Fotos und Notizen an die Wände gepinnt hatte. Während Jenny mit ihrer Schulterwunde im Krankenhaus gelegen hatte, hatte Margaret alles abgenommen und ordentlich in einen Hefter gelegt. Den hatte sie in die Schreibtischschublade gepackt und Jennys Karton voller Artikel und Recherchematerial aus ihrer Zeit als Reporterin in London aus ihrem Zimmer in eine Ecke des Arbeitszimmers geräumt.

London. Es war pervers, diese Stadt zu vermissen, nach allem, was dort passiert war, das war ihr klar. Sie musste akzeptieren, dass sie eben doch ein Inselgewächs war, durchgekaut und ausgespuckt von der großen Stadt. Ein Inselgewächs, das sich noch immer abmühte, sich reinzuwaschen, den Staub, den Dreck und die bösen Erinnerungen im kalten, klaren Wasser des Ärmelkanals loszuwerden. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie wohl anders empfunden hätte, wenn es ihr gelungen wäre, ihren letzten Job dort zu Ende zu bringen, anstatt voller Angst um ihr Leben nach Guernsey zu fliehen.

Sie sollte den Karton einlagern. Doch irgendetwas hielt sie davon ab. Ein Gefühl der Unruhe, das sich nie wirklich legte, selbst wenn alles andere in Ordnung war. Das ständige Genörgel von etwas Unvollendetem. Doch jetzt gab es drängendere Aufgaben, denen sie sich widmen musste. Gebeine in der Derrible Bay. Und herauszufinden, was ihrem Vater zugestoßen war.

Sie betrachtete das, was sie an die Wände des Arbeitszimmers gepinnt hatte. Ein Foto von Charlie – eine Nahaufnahme, die Jenny gemacht hatte. Sein Gesicht war wettergegerbt, die Furchen darin tiefer, als sein Alter rechtfertigen konnte. Den größten Teil seines Lebens hatte er auf seinem Boot verbracht und seinen Fang eingeholt; eine permanente Salzschicht schien seine Haut immer dicker gemacht zu haben und sein Haar immer borstiger. Dicht und drahtig stand es in alle Richtungen ab und lugte unter seiner Mütze hervor. Der Nachruf auf ihn, der neben dem Foto hing, nahm eine halbe Zeitungsseite der Guernsey News ein, weil Charlie doch ein »Insel-Unikum« gewesen war:

… BEI JEDEM WETTER AUF SEINER GELIEBTEN JENNY WREN ZU FINDEN … STETS EIN FREUNDLICHES WORT … EIN GROSSER GESCHICHTENERZÄHLER … HINTERLÄSST EINE FRAU UND EINE TOCHTER …

Daneben hingen Seiten aus seinem Logbuch, die seine Fischzüge in den Monaten vor seinem Tod dokumentierten. Die hatte sie farbig markiert. Sie suchte nach einem Muster in seinen Bewegungen. Das einzig Interessante, was ihr aufgefallen war, war die Häufigkeit, mit der er Sark angelaufen hatte.

Auf dem Schreibtisch lag ein offener Hefter mit den Notizen, die sie sich gemacht hatte – Anfragen bei seinen Freunden (oder »Gespräche«, wie sie es nannte; denn sie wollte die Menschen, die ihn geliebt hatten, nicht mit Andeutungen erschrecken, dass sein Tod ihr verdächtig erschien). Neben dem Hefter türmte sich ein Stapel seiner Tagebücher.

Seit Jenny denken konnte, hatte Charlie Tagebuch geschrieben. Jedes Jahr hatte er sich eins von derselben Sorte gekauft, mit festem Einband in Rot oder Schwarz, die Jahreszahl in Gold in die rechte obere Ecke geprägt. Margaret hatte sie nicht lesen wollen, doch sie hatte Jenny aufgefordert, es zu tun, da Charlie es so gewollt hätte.

Die Seiten waren liniert, eine für jeden Tag, doch die Einträge waren unterschiedlich lang. An manchen Tagen waren lediglich Termine – 14:00 Zahnarzt – oder Wetterbeobachtungen verzeichnet, alle in seiner seltsamen, kunstvollen Handschrift. Gelegentlich schrieb er lange, persönliche Abhandlungen. Oft in düsterem Tonfall: Betrachtungen über eine schlechte Stimmung, die er erlebt oder Zweifel an irgendeiner Entscheidung, die er getroffen hatte, oder Bedenken wegen der Art und Weise, wie er sich bei irgendeinem trivialen Streit mit Margaret ausgedrückt hatte. Jenny hatte seine Worte mit Tränen in den Augen gelesen – hier wurden die Verwundbarkeiten eines Mannes offenbar, der ihr stets so selbstsicher und aufrecht erschienen war.

Die Seiten jedoch, auf die sie sich am meisten konzentrierte, die, die sie kopiert und farbig markiert, und über denen sie gebrütet hatte, waren die, die bisher noch völlig unerklärlich waren. Unterstrichene Zahlenfolgen – möglicherweise Uhrzeiten? Eingekringelte Buchstaben – Initialen? Kurze Notizen – genau wie letztes Mal. Noch mal überprüfen. Freitag. All diese Einträge waren in den Monaten vor seinem Tod gemacht worden, und alle fielen mit seinen Besuchen auf Sark zusammen. Nichts an Charlies Tod wirke verdächtig, hatte Michael ihr versichert. Doch Roger Wilsons Worte hallten ihr noch immer in den Ohren: »Hat sich für so etwas wie einen Detektiv gehalten … wir fanden das alle sehr komisch … bis jemand aufgehört hat zu lachen.« Die Worte eines Psychopathen und Mörders, hatte Michael gesagt. Das wäre Unsinn, das Geschwafel eines Wahnsinnigen, vorgebracht, als Roger in die Enge getrieben worden war und sich verzweifelt bemüht hatte, sie alle zu entwaffnen und zu verwirren. Nur hatte sich manches davon angehört, als wäre es wahr, dachte Jenny bei sich.

Sie dachte daran, wie sie das erste Mal mit Charlie Detektiv gespielt hatte. Sie waren um das Reservoir in St. Saviour herumgegangen und dem schattigen Waldpfad gefolgt, der am Wasser entlangführte. Das war lange vor der Zeit gewesen, als die Inselregierung dort überall Ordnung geschaffen und das Ganze zu einem Teil des »Millenium Walk« gemacht hatte, mit praktischen Wegkarten und »Besonders zu beachten«-Hinweisen, wodurch im Sommer Hunderte von Menschen dorthin kamen. Damals waren nur Jenny und Charlie dort gewesen, und vielleicht ab und zu mal ein Vogelnarr – den Feldstecher fest auf das Schilf gerichtet, das brütenden Enten und hin und wieder auch einem Grau- oder Silberreiher Zuflucht bot. Der Pfad war schmal und feucht gewesen, und verschlungene Baumwurzeln hatten sich dicht unter der Oberfläche gewunden. Am Nordufer hatten große Stahltore den Weg versperrt, und Wanderer wurden nach rechts umgeleitet, einen breiten, grasbewachsenen Weg hinunter, der ein paar Hundert Meter weiter wieder zu dem Reservoir zurückführte. Ein unheilverkündendes »Zutritt verboten«-Schild war an eine der Querstreben des Tores gekettet. Jenny hatte dort gestanden, die Finger an dem kalten Metall, und die Bäume angestarrt, die durch das Tor hindurch viel dichter aussahen als anderswo im Wald. Sie war überzeugt gewesen, dass sich dahinter etwas Ungutes verbarg: ein verstecktes wissenschaftliches Labor vielleicht, wo sonderbare Experimente mit dem Trinkwasser von Guernsey durchgeführt wurden, oder eine geheime Regierungseinrichtung.

Als sie Charlie von ihrem Verdacht erzählt hatte, hatte dieser darauf bestanden, um das Tor herumzuschleichen, um die Wahrheit herauszufinden. Das waren sie der Insel schuldig, hatte er behauptet, und dass sie sichergehen müssten, dass hier nichts Ruchloses vor sich ging. Jenny hatte nicht gewusst, was das bedeutete, aber gut hörte es sich nicht an. Bald fanden sie sich knietief in einem Sumpf wieder, und Charlie hatte zugegeben, dass das »Zutritt verboten«-Schild vielleicht doch einem guten Zweck diente. »Kein Wort zu Mum«, hatte er ihr eingeschärft, als er sie aus dem Matsch gezogen und sich dabei an einem umgestürzten Baum festgehalten hatte, damit er nicht selber wieder hineinrutschte. Als sie nach Hause gekommen waren, hatten sie ihre nassen Sachen mit einem fehlgeleiteten Versuch erklärt, eine Ente zu retten. Margaret war nicht überzeugt gewesen und hatte Charlie mit ihrem ganz speziellen Blick bedacht – dieser Blick, der ihn anflehte, nur nicht leichtsinnig zu sein. Derselbe, mit dem sie Jenny jetzt jedes Mal ansah, wenn diese das Haus verließ.

Die Guernsey News, die einzige Tageszeitung der Insel, war in einem hellen, zweckmäßigen Gebäude in einem Industriegebiet an der Nordküste untergebracht, nur eine kurze Autostrecke sowohl von Jennys Haus als auch von der Hauptstadt Saint Peter Port entfernt. Die vielen Glaswände boten eine gute Aussicht über die Belle Grève Bay und an schönen Tagen auf die Inseln Herm und Sark.

Der Nachrichtenredakteur Graham Le Noury sprach gerade mit Elliot über das Rock-Cane, ein hedonistisches Musikfestival, das jedes Jahr im August in der Rocquaine Bay veranstaltet wurde. Eltern- und Gemeindegruppen machten Druck, es abzusagen, weil sie sich wegen des vermehrten Drogenkonsums auf der Insel Sorgen machten. Angeführt wurde die Kampagne von der Mutter eines Teenagers, der mehrere Tage lang im Krankenhaus gelegen hatte, nachdem er eine Black Pearl – eine besonders starke Ecstasy-Variante, mit der die Clubszene der Insel überschwemmt wurde – nicht vertragen hatte.

Jenny versuchte, Graham so höflich wie möglich zu unterbrechen, um von ihren Neuigkeiten und ihrem heißen Tipp berichten zu können. Er winkte ab und warf ihr einen Blick zu, der besagte, dass sie sich gefälligst hinten anstellen solle. So stand sie da, trat von einem Fuß auf den anderen und wartete auf eine Gelegenheit, sich zu Wort zu melden, ohne ihn gegen sich aufzubringen.

Graham arbeitete schon seit Ewigkeiten bei der Guernsey News. Jennys Ansicht nach war das der einzige Grund dafür, dass man ihm den Chefredakteursposten gegeben hatte, als Mark Martel nach Brian Ozannes unrühmlicher Entlassung vor mehreren Monaten zum Herausgeber befördert worden war. Mark war ein sanftmütiger, aber gewissenhafter Reporter mit einem guten Gespür dafür, was eine gute Story abgab. Brian war nur knapp einer Gefängnisstrafe entgangen, angeklagt wegen Rechtsbeugung, weil er der Polizei nicht gesagt hatte, was er über wichtige Verdächtige im größten Mordfall wusste, den die Insel jemals erlebt hatte.

Also saß das Nachrichtenteam jetzt mit Graham da, einem guten, aber langweiligen Reporter, der mit mindestens fünfundzwanzig Jahren Abstand auch noch der Älteste im Team war. Tatsächlich, dachte Jenny, als sie sich jetzt im Großraumbüro umsah, hätte es sie nicht überrascht, wenn Elliot der Zweitälteste wäre, dicht gefolgt von ihr selbst. Der Rest des Teams war Mitte zwanzig. Man verdiente nicht genug, und die Arbeitszeiten waren Gift fürs Sozialleben, und irgendwann wechselten die meisten zu lukrativeren Jobs und machten Marketing oder PR für eine der Banken. Endlich beendete Graham sein Gespräch, und Jenny nutzte die Gelegenheit.

»Graham, bevor Sie anfangen, kann ich Ihnen kurz was erzählen? Ist ein bisschen zeitkritisch.« Graham verdrehte die Augen; sein Groll darüber, dass sie die Serienmörder-Story geliefert hatte, hatte sich nicht im Mindesten gelegt. Da war er nicht der Einzige, dachte Jenny. Unter den Kollegen, die um seinen Schreibtisch herumstanden, entstand Unruhe, und irgendjemand seufzte vernehmlich. Elliot hatte ihr erzählt, dass es hinter ihrem Rücken einiges Gestichel gegeben hätte. Andere Reporter behaupteten, sie wäre Marks Liebling, und die Atmosphäre veränderte sich spürbar, als sie vortrat, um das Wort zu ergreifen. Sie ließ sich nicht beirren.

»Ich habe eine SMS von meiner Quelle bei der Polizei bekommen.«

»Ich nehme an, Sie meinen Vetter Steve?«, bemerkte Graham.

Sie lachte mit den anderen. Auf Guernsey eine Quelle geheim zu halten war ein hoffnungsloses Unterfangen, vor allem, wenn alle Welt wusste, dass man mit ihr verwandt war.

»Jep, Vetter Steve hat mal wieder geliefert. Na ja, vielleicht. In der Derrible Bay auf Sark sind Knochen gefunden worden, die möglicherweise menschlichen Ursprungs sind.«

»Aber doch wohl keine Leiche?« Ein Zittern lag in der Stimme der jungen Reporterin, die die Frage gestellt hatte. Jenny wusste, warum. Keiner von ihnen wollte sich noch einmal mit so etwas herumschlagen wie im letzten Jahr.

»Ich glaube nicht. Jedenfalls keine frische. Anscheinend Gebeine.«

»Und woher wissen Sie, dass die von einem Menschen sind?«

»Keine Ahnung, Graham. Ich habe nur eine SMS gekriegt. Wenn ich mich jetzt auf den Weg mache, kann ich’s rausfinden.«

»Vor ein paar Jahren gab’s ein Riesen-Buhei wegen Knochen, die sie auf Sark gefunden haben, wissen Sie noch? Haben sich als die von ’nem verdammten Riesenköter rausgestellt. Wahrscheinlich ist das hier auch so was. Die Sarkies versuchen, einen lahmen Sommer mit ein bisschen Drama aufzupeppen. Die Touristenzahlen sind erschreckend, habe ich gehört.«

»Könnte sein, Graham. Aber wissen werden wir’s erst, wenn ich hinfahre, stimmt’s?«

Graham sah sie stirnrunzelnd an, als versuche er zu ergründen, ob sie gerade frech gewesen war. Sie lächelte so freundlich sie konnte, und er blickte auf seine Notizen hinunter und überlegte, ob er sie entbehren konnte oder nicht.

»Sie müssen noch den Artikel über die Säuberungsaktion am Strand fertig machen«, brummte er. »Vielleicht sollten wir jemanden schicken, der mehr Kapazitäten hat.«

Etliche Reporter im Büro reckten sich in die Höhe, ein paar schlurften einen Schritt nach vorn. Jenny konnte es ihnen nicht verdenken; sie hatte in letzter Zeit ihren gerechten Anteil an guten Storys gehabt. Aber sie hatte auch hart dafür gearbeitet.

»Den kann ich auf dem Weg nach drüben fertig schreiben. Bis zehn habe ich ihn gemailt.«

Er seufzte schwer. »Na schön. Lassen Sie mich wissen, was los ist, sobald Sie angekommen sind. Okay, also dann zum Rest der Nachrichten.«

Jenny suchte ihre Siebensachen zusammen. Elliot stand leise auf und hielt sie auf dem Weg nach draußen am Arm zurück. Sie fragte sich, wie viele ihrer Kollegen wohl erraten hatten, dass sie miteinander schliefen.

»Alles okay?«

Sie nickte. »Ja, warum?«

»Du bist heute Morgen so schnell abgehauen. Und du wirkst ein bisschen aufgedreht.«

»Alles bestens.«

»Soll ich mitkommen?«

»Graham kriegt einen Anfall, wenn ich dich von der Rock-Cane-Story ablenke. Er macht sich deswegen anscheinend richtig ins Hemd. Wenn allerdings irgendjemand anders mit diesem Tipp gekommen wäre, ich wette, er hätte schon ein ganzes Team nach Sark losgeschickt.«

»Bist du sicher, dass du allein zurechtkommst?«

Sie wusste, was er dachte. Konnte die Sorge in seiner Miene sehen.

»Wahrscheinlich hat Graham recht, und ich komme nachher mit einer Eilmeldung zurück, dass vor zwanzig Jahren ein Schaf von einer Klippe gefallen ist.«

»Und wenn Graham nicht recht hat?«

»Dann komme ich mit einer anderen Story zurück. Mit einer ganz großen.«

3. Kapitel

Reg

Er wusste, dass da jemand war. Spürte das vertraute Kribbeln im Nacken. Er drehte sich um. Doch er war zu langsam.

Er wusste nicht mehr, wann er zum ersten Mal dieses Huschen einer Bewegung ganz am Rand seines Blickfeldes bemerkt, wann er zum ersten Mal das Rascheln trockener Grashalme hinter sich gehört hatte oder das Knirschen von Steinen auf einem verlassenen Weg. Vor Wochen. Vielleicht sogar vor Monaten. Oder war es schon immer so gewesen? Er war niemals allein, nicht wirklich allein. Immer war jemand in der Nähe. Ein Nachbar gleich hinter der Hecke. Ein Freund, der auf dem Weg zur Arbeit vorbeiging. Eine Touristin, die auf einem Fahrrad vorübergeeiert kam. Ein Gespenst. So viele Gespenster. Die ihre Anklagen flüsterten. Ihn verhöhnten. Seinen Nacken mit ihren eisigen Fingern streiften.

Er zuckte die Schultern. Wahrscheinlich bloß Kinder. Die Kinder jener Kinder, die ihm früher schon nachgelaufen waren, sich gegenseitig dazu angestachelt hatten, ihm so nahe zu kommen, wie sie konnten und dann sofort das Weite zu suchen, sobald er sie entdeckt hatte. So alt war er schon. Diese Kinder hatten jetzt selber Kinder. Er war zu langsam, um sie sich zu schnappen, und er würde es auch nicht tun, selbst wenn er könnte. Einmal war eins von den Bälgern glatt in Ohnmacht gefallen. War umgekippt, als er den kleinen Frechdachs am Schlafittchen gepackt hatte. Dabei hatte er ihm nur die Leviten lesen wollen. Er fragte sich, was für Geschichten sie einander erzählten, was für ein Buhmann er wohl war. Unwillkürlich lächelte er. Nichts änderte sich. Jede Generation hatte ihre Ungeheuer. Ihre Gruselgeschichten. Er und seine Freunde hatten seinerzeit immer eine alte Dame geärgert. Überzeugt, dass sie eine Hexe sei, hatten sie jedes Mal Zaubersprüche gebrabbelt, wenn sie vorbeiging, oder sich bekreuzigt und über die Schulter gespuckt, damit sie sie nicht mit ihrem bösen Blick verhexte. Die Arme. Nur eine alte Jungfer. Alt und allein. Wie er.

Er betrachtete seine Schuhe. Feiner gelber Staub bedeckte das stumpfe, abgeschabte Leder. Seit Tagen hatte es nicht geregnet, und die Hauptstraße durchs Dorf war trocken; kleine Wölkchen aus der festgetretenen sandigen Oberfläche umhüllten beim Gehen seine Füße.

Heute war er mit einem Plan losgezogen und hatte es geschafft, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das war heutzutage keine Kleinigkeit. Er zog eine Einkaufstasche auf Rollen hinter sich her; sie war rot-schwarz kariert und schwer von Brot, Milch und Butter. Keine überregionale Zeitung. Über Guernsey lag Nebel, und das Postflugzeug vom Festland hatte nicht rechtzeitig für die Acht-Uhr-Fähre nach Sark dort landen können. Egal. Er las die Zeitung sowieso nie. Und er hatte eine Guernsey News, die würde vollkommen ausreichen.

Sein Lächeln geriet ins Rutschen, als er versuchte, sich zu erinnern, warum er eine Zeitung brauchte, die er nicht lesen würde. Vielleicht zum Feueranmachen. Nein, das konnte nicht stimmen. Es war doch Sommer. Und heiß. So heiß, dass ihm selbst jetzt, am frühen Morgen, der Schweiß über die Stirn lief und in seinen Augenwinkeln brannte. Er schloss die Augen. Schüttelte den Kopf. Ein jähes, scharfes Bild. Ein weinender Junge. Er konnte ihn hören. Ihn riechen. So war das jetzt. Erinnerungen, die Jahre zurücklagen, waren so klar und deutlich, als wäre es erst gestern gewesen, und doch war es schwer, einen neuen Gedanken länger als ein paar Augenblicke festzuhalten.

Er fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er nicht mehr in der Lage wäre, sein eigenes Verhalten zu hinterfragen und zu verstehen. Bis er sich so sehr verirrte, dass er den Weg zurück nicht mehr fand, bis er nicht einmal mehr kurzzeitig klar war. Vielleicht würde ihm ja einer seiner Spaziergänge den Rest geben. Er fand sich jetzt oft an den sonderbarsten Orten wieder, zu den sonderbarsten Zeiten. Er machte sich auf, um die Sonne über dem Gemeindeland aufgehen zu sehen, und landete auf La Coupée, der schmalen, windgepeitschten Landenge, die Sark mit Little Sark verband, an ein Geländer gelehnt, das von deutschen Kriegsgefangenen errichtet worden war. Dort blickte er übers Meer auf die Sonne, die hinter Jersey aufging, und das leere Gefühl in seinem Magen verriet ihm, dass er noch nicht gefrühstückt hatte. Das war ein ganz schön langer Marsch ohne Frühstück.

Oder im Finstern am Rand der Klippen bei Gouliot, sich der Höhlen, die die Erde unter seinen Füßen durchlöcherten, nur allzu bewusst, während die Insel Brecqhou vor ihm aus dem Wasser ragte. Als er klein gewesen war, war die Insel unbewohnt gewesen. Nur Möwen und Möwenscheiße, hin und wieder mal ein Papageientaucher und manchmal ein Seehund, der sich auf den Felsen sonnte. Jetzt gab es da eine Villa, aus Marmor und Gold, sagten die Leute; jede Stufe, die zu ihr hinaufführte, kostete Hunderttausende Pfund. Sagten die Leute.

Manchmal erwachte er wie aus tiefem Schlaf in Port du Moulin. Saß auf den Kieseln, während die Flut an seinen Füßen leckte, und starrte den Felsbogen an, der sich über Land und Meer wölbte und ihn an die Bilder erinnerte, die er im National Geographic-Magazin gesehen hatte. Von riesigen Felsbögen in der amerikanischen Wüste, Utah oder Nevada, er wusste nicht mehr, wo. Irgendwo, wo er nie gewesen war. Irgendwo, wo er nie hinreisen würde. Sein Leben bemaß sich in Schritten, nicht in Kilometern.

Er wohnte keine fünf Kilometer entfernt von allem und jedem auf der Insel. Keine anderthalb bis zum Dorf. Mit seinem Fahrrad dauerte es nur ein paar Minuten, aber das hatte er irgendwo stehen lassen. Er hatte vergessen, wo.

Vor ein paar Tagen hatte er einen Zettel aufgehängt, im Dorfladen. Das dürre Mädchen, das dort arbeitete, hatte gelacht, als sie den Text für ihn geschrieben hatte. Sie war eine von den Saisonarbeiterinnen, die jeden Sommer für ein paar Wochen herüberkamen. Die Inselleute hätten alle komische Namen, meinte sie, und er hatte ihr den seinen buchstabieren müssen. Das Mädchen hatte eine Tätowierung auf der Innenseite ihres blau geäderten Handgelenks gehabt, und ihr T-Shirt hatte flach und lose über ihrer Brust gehangen. Ihm war ja ein bisschen Fleisch auf den Knochen lieber. Große Brüste und fleischige Hinterbacken. Wie Rachel.

Er hing noch immer am Schwarzen Brett. Der Zettel. Keine Spur von seinem Fahrrad. Um die Wahrheit zu sagen, war es ihm eh schwergefallen, damit zu fahren, mit seinen kaputten Knien. Lieber zu Fuß gehen. Wenn es mit den Knien richtig schlimm wurde, könnte er sich ja vielleicht so einen motorisierten Scooter zulegen, wie ihn der alte Seigneur nach seiner Hüftoperation gehabt hatte. Sir William de Bordeaux, der Feudalherrscher der Insel, ging auf die neunzig zu. Es hatte einen Riesenaufstand gegeben, als er um Erlaubnis gebeten hatte, ein motorisiertes Fahrzeug zu benutzen. Doch nach langem Überlegen hatten die Mitglieder des Chief Pleas, des Parlaments von Sark, eingesehen, dass es unpraktisch wäre, den Seigneur mit Pferd und Wagen überall hinzukarren, und dass ein Elektro-Scooter weniger störte als ein Traktor. Da hatten sie recht. Früher war es schwer gewesen, auf Sark eine Betriebserlaubnis für einen Traktor zu bekommen. Jetzt kriegte anscheinend jeder eine.

Da fuhr gerade einer. Nein, nicht einer – zwei, drei in einer verdammten Reihe. Das war ungewöhnlich. Und die schienen auch sehr schnell zu fahren. Er drehte sich um und sah ihnen nach, als sie die Avenue hinauftuckerten und dabei dicke Abgaswolken in die schwüle Luft spien.

Vor dem neuen Café unterhielten sich zwei Frauen lebhaft. Sie zeigten auf die davonfahrenden Traktoren. Die eine hielt sich ein Handy ans Ohr, sprach hinein und verstummte hin und wieder, um irgendetwas mit ihrer Begleiterin zu klären. Früher hätte er versucht herauszufinden, was die ganze Aufregung sollte. Doch er kannte die Frauen nicht. Zumindest glaubte er, dass er sie nicht kannte. Es war schwer für ihn, vertraute Gesichter von unbekannten zu unterscheiden. Leute blieben stehen und plauderten mit ihm, als würden sie ihn kennen, doch er konnte sie nicht einordnen. Jedes Gesicht schien in das nächste überzugehen, und der Dunst, der sich über Nacht über seine Augen legte und sich oft erst am Mittag wieder hob, ließ die Züge verschwimmen. Wenigstens seine Augen sollte er mal untersuchen lassen, doch das bedeutete eine Fahrt nach Guernsey, und er würde lieber blind werden, als dort hinzufahren.

Er kam an der Bank und an ein paar Gasthäusern vorbei. Alle waren von Blauregen eingerahmt, und auf der Tafel davor wurden Hummerbrötchen, Nachmittagstee und Prosecco im Garten angepriesen. Fünfzehn Pfund für ein Sandwich und ein Glas Wein. Er schüttelte den Kopf, spürte den Schweiß unter seinem Kragen. Manchmal war es hier wie in der Wüste. All die gelben Straßen und der Staub und das Hitzeflimmern dort vor ihm. Eine Wüste hätte er gern mal gesehen. Die Sahara vielleicht. Dort fror es nachts manchmal. Das wussten nicht viele. Er stellte seinen Einkaufstrolley ab und setzte sich mit dem Rücken an die Hecke, wobei er einen Flecken wilden Kerbels mied; an einem Tag wie heute, bei brennender Sonne, würde man davon Blasen auf der Haut bekommen Das Gras war kühl. Er schloss einen Moment die Augen, lauschte den Vögeln und hatte das Gefühl, er könnte glatt auf der Stelle einschlafen.

Das Grollen eines weiteren Traktors, der jetzt in Sicht kam. Er stand auf und starrte ihn blinzelnd an. Ah, den kannte er. Das war Malcolm Perrés Sohn. Seinen Namen hatte er vergessen. Malcolms Junge hob grüßend die Hand, und er nickte zur Antwort mit dem Kopf. Er hatte Malcolm nie leiden können, aber der Junge war mit Luke befreundet und stets höflich gewesen. Und er war hiergeblieben, um einen Hof zu übernehmen, das sagte ja wohl etwas über den Charakter des Jungen aus. Er hustete, als der Staub, den der Traktor aufwirbelte, ihm in den Rachen drang.

Der Traktor hielt an.

»Alles okay, Mr Carré?«

»Ja, ja. Genieße nur den Sonnenschein.« Er packte seinen Trolley und schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen.

»Haben Sie das von der Leiche gehört?«

»Wie war das?« Malcolms Sohn sah ihn unverwandt an, und er empfand einen Anflug von Furcht.

»Na ja, keine Leiche. Knochen. Unten in der Derrible Bay. Die Polizei ist da jetzt zugange.«

Die Hitze in seinem Gesicht kam nicht mehr von der Sonne, sondern von dem Blut, das in einem Schwall durch Körper und Gliedmaßen strömte und ihm zu Kopf stieg. Seine Beine fühlten sich hohl an, und er traute ihnen nicht recht zu, dass sie sein Gewicht würden tragen können. Also lehnte er sich wieder gegen die Hecke.

»Ist bestimmt nichts Ernstes. Sind wahrscheinlich von woanders angeschwemmt worden. Soll ich Sie mitnehmen?«

Er schüttelte den Kopf. Winkte ab. »Es geht schon.« Benjamin. So hieß Malcolms Sohn. »Danke, Benjamin.«

»Alles klar, Mr Carré. Passen Sie gut auf sich auf.« Der Traktor rumpelte davon.

Er stand auf. Zog seine Einkaufstasche mit, den Kopf gesenkt, immer einen Fuß vor den anderen. Er musste nach Hause. Sich in der kühlen Dunkelheit seines Cottages hinsetzen.

Sein Kopf dröhnte. Die Beine waren immer noch schwach. Der Trolley fühlte sich plötzlich schwer an, ein unangenehmes Gewicht hinter ihm, das er nicht länger bewältigen konnte.

Bloß nach Hause.

Aber vor seinen Augen verschwamm alles, und der Weg ähnelte mittlerweile nicht mehr Erde und Kieselsteinen, sondern Wasser, und er stolperte, als die Oberfläche wogte und wallte. Seine Füße schritten weiter durch etwas, was seine Augen für festen Boden hielten. Er blieb stehen. Suchte nach einem Taschentuch.

Ein Rascheln. Das Zerdrücken trockener Gräser.

Jetzt war es ganz nahe. Er konnte es fühlen. Näher als je zuvor. Die Luft wurde dicker, die Hitze lastete schwer auf ihm, ließ ihn nicht richtig atmen. Er erinnerte sich an das Gefühl, am Strand eingegraben zu sein, ein Kinderspiel, Sand auf ihn draufgeschaufelt, schwer wie auf seiner Brust aufgehäufte Steine.

Und dann sah er es. Ein schwarzes Aufflackern. Auf der Wiese neben ihm.

Er fand sein Gleichgewicht wieder. Würgte einen Riesenschluck warme, schwere Luft hinunter. Drehte sich um. Ließ den Trolley los, der klappernd zu Boden fiel.

Das Tier stand regungslos da, bis auf seine Zunge, die weit zwischen den klaffenden, mit Geifer bespritzten Kiefern hervorhing und bebte, als es in der Hitze hechelte. Sein Fell war so schwarz, so glatt, dass es im Sonnenlicht fast blau schimmerte; Muskeln vibrierten darunter. Seine Augen waren fest auf ihn gerichtet, und in ihnen loderte ein gefährliches Feuer.

Wenn er sich rührte, würde es auf ihn losgehen, da war er sich sicher. Und sei es nur das Zucken einer Wimper. Einer Hand. Also stand er unbeweglich da, spannte jeden schmerzenden Muskel an, hielt jeden spröden Knochen an seinem Platz. Still. So still. Bis die Brise durch das Unterholz wisperte, Blätter über den Weg huschen ließ und durch sein Haar wirbelte. Das reichte. Die Bestie versteifte sich. Duckte sich. Knurrte, langgezogen und leise, und er konnte ihren Atem riechen, voller Moder und Verwesung, wie die Erde eines Friedhofs. Er hatte den Tchico gesehen. Seine Zeit war gekommen.

Das Tier machte kehrt. Trottete lautlos über die Wiese und in den Wald dahinter. Er gestattete sich zu atmen. Spürte, wie die Spannung aus seinem Körper wich, nur die alten, vertrauten Schmerzen in seinen Knochen blieben zurück. Also noch nicht jetzt. Nicht jetzt gleich. Aber bald. Er hatte immer gewusst, dass dies hier geschehen würde. Es waren keine Kinder, die ihn verfolgten. Es war das Schicksal. Er hatte sich immer vorgestellt, dass er schreien und davonlaufen würde, wenn es ihn schließlich einholte, dass er sich gegen das Unvermeidliche wehren würde.

Jetzt hob er seinen Einkaufstrolley auf und senkte den Kopf. Ging weiter.

4. Kapitel

Michael

Das Boot flog über jede Welle, knallte wieder auf die Wasseroberfläche und überschüttete sie alle mit Gischt, ehe es erneut abhob. Zusammen mit dem Bootsführer waren sie zu fünft in dem Festrumpfschlauchboot. Die beiden Kollegen von der Spurensicherung – Cathy, eine hübsche Frau Mitte dreißig, und Rob, ein zuverlässiger, wenn auch schwerfälliger Bursche, der schon seit Jahren für sie arbeitete – saßen auf einer Seite des Bootes und genossen die Aussicht. Sie lachten, während sie sich das Wasser aus den Augen wischten. Ihnen gegenüber rieb Detective Constable Stephen Marquis, der mit seinem Handy herumhantiert hatte, dieses hektisch an seinem Hosenbein trocken, ehe er mit panischer Miene wie wild auf dem Display herumtippte. Ständig schrieb der Junge irgendwelche Nachrichten. Verdammt nervig.

Neben Marquis klammerte Detective Inspector Michael Gilbert sich an seinen Sitz und wünschte sich, er hätte etwas gegessen, bevor er das Haus verlassen hatte. Eigentlich litt er nicht unter Seekrankheit, aber ein leerer Magen, kabbeliges Wasser und hohe Geschwindigkeit waren keine gute Kombination, und ihm war ein bisschen übel. Das trug noch zu seiner ohnehin schon schlechten Laune bei, die daher rührte, dass gestern Abend sehr spät das Telefon geklingelt hatte, als er gerade vor Hängt ihn höher eingeschlafen war (der letzte Film der Clint Eastwood-DVD-Sammlung, die ihm seine Ex-Frau zu Weihnachten geschickt hatte). Der Constable auf Sark hatte einen anonymen Tipp bekommen, dass in der Derrible Bay Gebeine gefunden worden wären, und ob sie wohl ein Team herüberschicken könnten, um das näher zu untersuchen?

Auf Sark gab es keine Polizei – als Teil des Amtsbezirks Guernsey fiel die Insel in den Zuständigkeitsbereich der Polizei von Guernsey, die dort schon seit Jahren niemanden mehr auf Dauer stationiert hatte. Früher hatten sie im Sommer immer einen Officer dort hinübergeschickt, der alle zwei Wochen abgelöst worden war, aber das war nicht kosteneffizient gewesen. Und ganz ehrlich, da drüben passierte ja auch verdammt noch mal nie was. Und wie Michael nur zu gut wusste, verbrachten die Kollegen ihre zwei Wochen auf Sark damit, an irgendeiner Bar abzuhängen und mit den Einheimischen zu tratschen. Also hatten sie jetzt nur den Constable dort, in ehrenamtlicher Funktion, der die Aufgabe hatte, bei der Inselbevölkerung von ungefähr vierhundertfünfzig Seelen für Recht und Ordnung zu sorgen. Eine ziemlich leichte Aufgabe. Bis so etwas geschah wie das hier.

Michael rieb sich die Stirn. Anonyme Tipps führten oft zu nichts – gelangweilte Jugendliche, die Blödsinn anstellten, oder irgendein verdrossener Einheimischer, der versuchte, der Polizei eins auszuwischen. Bestenfalls würde sich das Ganze also als Verarsche erweisen. Was sehr ärgerlich wäre. Aber immer noch besser als der schlimmste Fall. Und da seine Erwartungen, was einen schlimmsten Fall ausmachen könnte, seit letztem Jahr um einiges nach oben justiert worden waren, hatte er heute Morgen alle Register gezogen. Polizeiboot, Spurensicherung, das volle Programm. Und all das, während er schon bis zum Hals in den Ermittlungen zu dieser neuen Droge steckte, mit der die Insel überschwemmt wurde. Black Pearls nannten die Jugendlichen die Pillen, wegen ihrer Farbe und dem kleinen Totenschädel mit den gekreuzten Knochen, der in jede eingeprägt war. Grässliche Dinger, die bereits einen Jungen ins Krankenhaus gebracht hatten. Und sie wussten noch immer nicht, wo das Zeug herkam. Doch Michael konnte sich kein Zögern leisten. Weder bei den Drogenermittlungen noch bei dem, was da auf Sark vorging, was immer es auch war.

Weil nämlich die ganze Guernsey Police unter Beobachtung stand. Alles, was sie taten, alles, was sie je getan hatten, wurde von einem Team Spezialermittler unter die Lupe genommen. Sie hatten letztes Jahr solche monumentale Scheiße gebaut, dass sich jetzt Scotland Yard für Guernsey interessierte, ein verschlafenes kleines Nest weitab vom Schuss.

Also war Michael nervös. Stand unter Druck. Konnte sich während dieser kurzen Bootsfahrt nicht entspannen, weil er sich davor fürchtete, sich mit dem zu befassen, was ihn drüben erwartete. Menschliche Gebeine oder Tierknochen oder überhaupt keine Knochen, ihm stand in jedem Fall ein schwieriger Tag bevor.

Die kühle Brise, die ihm das Haar zerzaust hatte, als sie übers Wasser gejagt waren, würde auf Sark fehlen. Dort würde es heute höllisch heiß sein, dachte er. Er zitterte ein ganz klein wenig. Spürte ein Kribbeln im Rücken, wie die ersten Anzeichen einer Grippe. Wahrscheinlich lag das nur daran, dass es gestern Abend so spät und heute Morgen so früh gewesen war, und an den drei Tassen Kaffee, die er vor sechs Uhr morgens getrunken hatte. Er musste sich mal gründlich ausschlafen, und der Papierkrieg musste ein Ende haben. Und die Verantwortung, die dieser Job ihm heutzutage aufbürdete, musste anders verteilt werden. Aber die Alternative war noch schlimmer. In Pension zu gehen. All die Zeit zum Nachdenken. Zum Grübeln. Er zuckte die Achseln. Irgendwann würde er es tun müssen. Er würde sich wohl daran gewöhnen. Vor vielen Jahren hätte er sich ein Leben ohne seine Frau und seine Tochter niemals vorstellen können. Und jetzt schau sich einer das an. Sheila war schon länger mit ihrem zweiten Mann verheiratet, als sie und Michael ein Ehepaar gewesen waren. Und Ellen war schon genauso viele Jahre tot und begraben, wie sie auf Erden gewandelt war.

Das Brüllen des Motors wurde zu einem Grollen, als sie die Bucht erreichten. Michael war noch nie vom Meer aus in die Derrible Bay gekommen, immer nur über den steilen Pfad, der sich von der Landzunge her die Klippe hinunterwand und zu einem felsigen Plateau führte. Das war bei Flut die einzige Stelle, wo man sich hinsetzen konnte. Der Pfad führte den Besucher behutsamer an die Szenerie heran, ließ ihn langsam in seine Umgebung eintauchen, deren Wucht und Ausmaße Michael erst jetzt wirklich erfasste. Die Klippen wirkten bedrohlich und düster, schwarze Schatten im frühen Morgenlicht; die Höhlenöffnungen waren klaffende Mäuler. Der Strand lag nicht einmal zur Hälfte frei, ein schmaler Halbmond aus Kieseln und Steinen; der Sand war unter dem zurückweichenden Wasser verborgen.

Der Bootsführer, ein schweigsamer Mann namens James Després, dessen Wortkargheit ihm den Spitznamen »Gobby Jim« – Großmaul Jim – eingetragen hatte, brachte sie so nahe ans Ufer heran, wie er konnte, steuerte einen flachen Felsen an und ließ den Bug dagegen laufen. Missmutig betrachtete Michael das ungefähr einen halben Meter tiefe Wasser unter ihnen. Das war merkwürdig an Sark, ganz gleich, wie warm die Luft war, das Wasser war immer eiskalt. Er zog Schuhe und Socken aus und krempelte seine Hosenbeine hoch. In diesem Sommer war er bisher nicht viel draußen gewesen, und seine Beine waren bleich wie gerupfte Hühnerschenkel. Unwillkürlich jaulte er auf, als er vom Bootsrand rutschte und die Füße ins Wasser tauchte. Dann schwankte er von einer Seite zur anderen, bemühte sich, mit den Füßen auf den glatten Kieseln am Meeresgrund Halt zu finden, ehe er schließlich sein Gleichgewicht wiederfand und ans Ufer marschierte. Das Salz brannte auf seiner trockenen Haut. Am Strand angekommen, wackelte er mit den Zehen, die aussahen, als sei jegliches Blut daraus verschwunden, während er auf Marquis wartete, der ein ganzes Stück kleiner war als Michael und das mit dem Hochkrempeln der Hosenbeine nicht besonders gut hinbekommen hatte. Bei jedem Schritt, den er machte, entrollten sie sich ein bisschen mehr und waren bis über die Knie nass, bevor er auf dem Trockenen ankam.

»Schön.« Michael stülpte Socken und Schuhe wieder über die noch nassen Füße. »Wo sind die verdammten Dinger?« Er hob die Hand, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen, die vor ihnen über die Klippen von Hogsback gestiegen war.

»Müssten die denn nicht seit gestern Abend von der Flut weggespült worden sein, Sir?« Marquis ließ den Blick über das kleine Stück trockenen Strand und Seetang wandern, das vom Meer unberührt geblieben war.

»Laut unserem Tippgeber sind die Knochen in einer Höhle.« Michael zeigte auf ein Felsensims, das fünf Meter über dem Strand aus den Klippen hervorragte; darüber war eine runde Öffnung von gut anderthalb Metern Durchmesser. »Die da passt zu unserer Beschreibung.«

Michael ging voraus und kletterte eine Reihe breite, flache Felsen hinauf, ehe er bei dem Sims ankam. Er stemmte sich hoch und blieb einen Moment sitzen, um wieder zu Atem zu kommen. Dann stand er am Eingang und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Die Höhle war größer, als sie von außen aussah, mannshoch. Platz für zwei Menschen, solange die nicht zu viel herumzappelten. Der Boden bestand aus Fels und Kieseln. Keine Fußabdrücke. Keine Knochen. Vielleicht die falsche Höhle. Oder wohl eher falsche Informationen. Noch einmal ließ er den Lichtstrahl umherwandern. Er blieb an einem Haufen hellerer Steine in der Ecke hängen. Die sahen aus, als gehörten sie nicht hierher. Einer oder zwei lagen auf dem Boden der Höhle, als seien sie von dem Haufen heruntergefallen.

»Sehen Sie irgendwas, Sir?«

»Halten Sie das mal, ja? Leuchten Sie da drüben hin.« Michael stieß einen der Steine an. Er war locker. Er nahm ihn weg, legte ihn hinter sich. Dann einen zweiten. Und noch einen. Bis eine Öffnung sichtbar wurde. Eine zweite kleine Höhle, über einen Meter hoch, vielleicht einen breit, höchstens. Michael spähte hinein. Die Formen dort drin waren verwirrend, das Licht, das von hinten kam, prallte von blassen Wölbungen ab, wurde von dunklen Ausbuchtungen geschluckt.

»Was ist das, Sir? Noch eine Höhle?« Marquis quetschte sich neben Michael und leuchtete mit der Taschenlampe direkt hinein. Umrisse wurden deutlicher.

Michael fuhr zusammen und trat zurück.

»Das ist keine Höhle, Marquis. Das ist eine Grabkammer.«

5. Kapitel

Jenny

Die Venture war eine kleine, fröhliche Fähre mit leuchtend blauem Rumpf, weißem Kabinenaufbau und rotem Dach. Auf dem unteren Deck gab es reichlich Sitzplätze und eine Kaffeebar, doch Jenny strebte schnurstracks auf die Bänke zu, die entlang des Oberdecks standen. Sie fand einen Platz ganz hinten; von dort aus hatte man den besten Blick auf Guernsey, das hinter ihnen lag. Als sie klein gewesen war, hatte sie in Charlies Boot, der Jenny Wren immer auf demselben Platz gesessen und Guernsey zum Abschied zugewinkt, während die Insel sich von den Klippen von St. Martin im Süden bis zu den Schornsteinen des Kraftwerks im Norden zu einem Panorama ausgedehnt hatte, um dann ganz langsam in der Ferne zusammenzuschrumpfen, bis sie nur noch ein graugrüner Punkt am Horizont war.