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Livia wächst in einem brasilianischen Armenviertel auf, in einer Favela. Sie ist 15 und der lebendige Beweis dafür, dass es Barbiepuppen auch in Kaffeebraun gibt. Sie leidet an einer seltsamen Störung. Wenn sie Rhythmen hört und ihre Augen schließt, sieht sie bunte Partituren vor sich. Niemand glaubt ihr, dass sie Musik sehen kann, und auch sie selbst weiß nicht, dass Ärzte so etwas Synästhesie nennen. Aber sie hat einen Plan. Sie schließt sich einer afro-brasilianischen Trommelgruppe an, einem Bloco Afro, und trommelt mit ihrem Talent in Kürze all die großschnauzigen Jungs an die Wand. Livia will mehr, sie will in die weltbeste Sambaschule. Ihr Talent soll zu ihrem Ticket aus der Armut werden, zur einzigen Chance, die sie je bekommen wird. Sie reißt von zu Hause aus und begeht bald einen Fehler nach dem anderen. Sie macht sich die falschen Feinde: Débora, die eifersüchtige Bitch, der jedes Mittel recht ist, um Livia zu schaden, Senhor Sebastião, der einflussreiche alte Geldsack, der auf junge Dinger wie Livia spezialisiert ist, und Mestre Espada, der seine Sambaschule mit brutaler Faust kontrolliert. Immer auswegloser verfängt Livia sich in einer Welt von großen Egos und skrupellosen Geschäftsinteressen. Eine Hetzjagd auf Leben und Tod beginnt. Livias Hetzjagd geht quer durch Brasilien, vom Karneval im Sambadrom von São Paulo bis zum Karneval von Salvador da Bahia, der fettesten Streetparty der Welt. Die Geschichte ist auch ein Streifzug durch die Highlights der afro-brasilianischen Kultur: Capoeira, Candomblé und Samba-Reggae. Sie zeigt die faszinierende Schönheit von Brasilien genauso wie die soziale Not und Korruption hinter den bunten Karnevalskulissen. Ein umfangreiches Glossar erklärt alle portugiesischen Begriffe der brasilianischen Percussion und Sambakultur.
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2014
www.tredition.de
Die Story
Livia wächst in einem brasilianischen Armenviertel auf. Sie ist 15 und der lebendige Beweis dafür, dass es Barbiepuppen auch in Kaffeebraun gibt.
Sie leidet an einer seltsamen Störung. Wenn sie Rhythmen hört und ihre Augen schließt, sieht sie bunte Partituren vor sich. Niemand glaubt ihr, dass sie Musik sehen kann, und auch sie selbst weiß nicht, dass Ärzte so etwas Synästhesie nennen. Aber sie hat einen Plan.
Sie schließt sich einer Trommelgruppe an und trommelt mit ihrem Talent in Kürze all die großschnauzigen Jungs an die Wand. Livia will mehr, sie will in die weltbeste Sambaschule. Ihr Talent soll zu ihrem Ticket aus der Armut werden, zur einzigen Chance, die sie je bekommen wird.
Sie reißt von zu Hause aus, begeht bald einen Fehler nach dem anderen und macht sich die falschen Feinde: Débora, die eifersüchtige Bitch, der jedes Mittel recht ist, um Livia zu schaden, Senhor Sebastião, der einflussreiche alte Geldsack, der auf junge Dinger wie Livia spezialisiert ist, und Mestre Espada, der seine Sambaschule mit brutaler Faust kontrolliert. Immer auswegloser verfängt Livia sich in einer Welt von großen Egos und skrupellosen Geschäftsinteressen. Eine Hetzjagd auf Leben und Tod beginnt.
Über den Autor
Luis Kranebitter hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studiert und seine Laufbahn in einer Investmentbank nach zehn Jahren als Leiter einer Auslandsrepräsentanz beendet. Die Hochzeit eines Schulfreundes hatte ihn 1998 erstmals nach Brasilien geführt, mit schwerwiegenden Folgen: Seit damals verbrachte er zahlreiche Studienaufenthalte bei brasilianischen Sambaschulen und Blocos Afros und dirigierte mehrere von ihm in Europa mitgegründete Sambagruppen, darunter die ersten in Russland und Kroatien.
Luis Kranebitter unterrichtet auch Samba-Percussion an Musikschulen, er spielt als Bassist in verschiedenen Latin- und SoulFormationen und setzt sich als NGO-Aktivist für eine sozial gerechte Weltwirtschaft ein.
Luis Kranebitter
Schwarze Römerin
Das Sambamädchen aus der Favela
Roman
www.tredition.de
© 2014 Luis Kranebitter Illustration: David Chou Verlag: tredition GmbH, Hamburg ISBN: 978-3-8495-7208-2
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Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Glossar
Anmerkungen des Autors
Danksagungen
1
L
2
Jedes Mädchen in Brasilien wünscht sich einen fünfzehnten Geburtstag wie aus der Telenovela: ein Großereignis im Ballkleid, mit fünfzehn Debütantenpaaren und einer Riesentorte im angemieteten Festsaal – eine Generalprobe für die Hochzeit. Nach dem ersten Walzer übergibt der Vater seine Tochter ihrem Prinzen.
Die Realität in der Favela reicht da zwar nicht heran, doch selbst die Ärmsten halten den fünfzehnten Geburtstag ihrer Töchter hoch. Jahrelang legen Mütter Monat für Monat ein paar Reais zur Seite, um schließlich auch die entferntesten Cousins zu bewirten. Es darf an nichts fehlen. Der schwere Bohneneintopf Feijoada blubbert in riesigen Töpfen, picksüße Torten überbieten einander in Farbenpracht und Luftballons schmücken die staubige Straße des Geburtstagskindes. Die Jungs von der lokalen Sambagruppe stimmen ihren Pagode an, ihren Hinterhofsamba, und hören erst wieder auf, wenn der letzte Gast mit dem Müll unter dem Tisch hervorgekehrt wird.
Auch Livias fünfzehnter Geburtstag stand unmittelbar bevor. Die Sache mit Diego war vor einem knappen Jahr passiert. Ein halbes Jahr lang hatte sie nichts außer sterben wollen, danach hatte sie sich tapfer bemüht, Diego zu vergessen. Obwohl sie Prinzen und Hochzeiten für alle Zukunft aus ihrem Leben gestrichen hatte, wollte sie dennoch wenigstens ihren fünfzehnten Geburtstag feiern. Eine Torte, ein bisschen herumblödeln, Livia in der Mitte ihrer Freunde.
#
Livia lebte mit ihrem Brüderchen Emilio, neun und ein Goldstück, und ihrer Tante Célia, strohdumm und ein Ärgernis. Es gab keine vorausblickende Mutter, die Geld für Livias Geburtstag hätte zur Seite legen können, denn Mutter war vor vier Jahren gestorben, an einer Kugel, die Livias Vater gegolten hatte. Der hatte sich und seine Familie mit kleinen krummen Jobs für den Favelaboss Vagner über Wasser gehalten. Bis er sich eines Tages so dumm oder gierig angestellt hatte, dass er es auf irgendwessen Abschussliste schaffte. Er überstand zwar den Anschlag, dem versehentlich Livias Mutter zum Opfer fiel, kurz danach jedoch verschwand er spurlos. Hatten sie ihn doch noch erwischt, oder war es die Polícia gewesen, oder war er kurzerhand untergetaucht? Keiner wusste es.
Kein Vater für Livias ersten Walzer also, kein Prinz für den zweiten, keine Mutter für die liebevolle Ausrichtung des Ganzen und obendrein reichte das Geld nicht einmal für ein selbst genähtes Kleid. Schlechte Voraussetzungen für eine ausgelassene Party. Dennoch wollte Livia zumindest ein paar Freunde zu sich einladen, deren Namen sie auf der Rückseite der Stromrechnung säuberlich zusammengeschrieben hatte.
»Sieh mal, Tante Célia«, sagte Livia, »hier links habe ich die Mädchen notiert und rechts die Jungs.«
Mit einer Nagelschere in der Hand kauerte Tante Célia in der Nachmittagssonne auf der Türschwelle und kümmerte sich um ihre Fußnägel. »Wie viele sind es?«, fragte sie ohne aufzublicken.
»Fünf Mädchen und fünf Jungs.«
»Is’ nich’ drin.«
»Alles klar. Feiern wir meinen Fünfzehnten halt in einem Jahr. Oder in zwei oder drei.« Livia verstellte der Tante das Sonnenlicht und stemmte ihre Fäuste in die schmalen Hüften.
»Es sind zu viele«, sagte die Tante.
»Die meisten habe ich doch schon gestrichen! Sind nur mehr ganz wenige übrig, meine allerbesten Freunde.«
Endlich blickte Tante Célia auf. Sie schob sich ihre viel zu große Brille zurecht, die Livia Flaschenböden nannte.
»Kindchen«, krähte Tante Célia, »auch deine allerbesten Freunde wollen Feijoada essen und trinken. Das kostet Geld, das wir nicht haben. Sie brauchen Stühle, die wir nicht haben, und Platz, den wir nicht haben. Zehn Gäste! Wo sollen die alle hin?«
Sie hausten zu dritt in einer winzigen Ziegelbaracke. Zwei verschlissene Matratzen lagen nachts auf dem feuchten Boden, eine für die Tante, die andere für Livia und Emilio. Um die Eingangstür öffnen zu können, lehnten sie die Matratzen tagsüber an die Wand. Wer sich setzen wollte, hatte die Wahl zwischen einem alten Plastikstuhl, der gerne seitlich einknickte, und einer ausgedienten Gasflasche mit einem Holzbrettchen als Sitzauflage. Davon abgesehen saß man auf dem groben Betonboden. Zu besseren Zeiten hatte es auch noch ein Tischchen gegeben, auf dem vier Teller Platz hatten, bis dieses altersschwach zusammengebrochen war. Gegessen wurde seither mit dem Teller in der Hand und die Tischplatte lehnte seither hinter den Matratzen an der Wand. Kein Mann im Haus, der sich des Tischchens annehmen würde, und kein Geld, um den Tischler zu bemühen.
Livia versuchte es andersrum: »Marcos hat gesagt, wir können bei ihm feiern. Du kennst doch sein Haus, eines mit Zimmern, oben an der Straße.«
»Marcos?« Tante Célia hob ihre Nagelschere. »Der will sich nur ranmachen an dich, protzt mit seinem Motorrad in der Gegend ’rum. Woher hat er denn sein Geld? Ich weiß es! Und seine Schwester? Ha! Ich weiß auch, wo die ihres her hat.«
Tante Célia rappelte sich hoch und schob sich ihre Lockenpracht aus der Stirn, die zwar keine Perücke war, aber dennoch so aussah: zu schwarz, zu lockig und zu pompös. Sie fasste Livia am Handgelenk. »Die Kleine schläft den ganzen Tag und abends geht sie aus dem Haus. Aufgedonnert, mit Stiefeln bis hier rauf und einem Minirock gerade mal bis hierher.« Betroffen markierte Tante Célia die Maße. »Und«, sie senkte ihre Stimme, »sie hat sich schon ein Kind wegmachen lassen. So ein hübsches Ding und gerade erst in deinem Alter!«
»Auch bei uns in der Familie war nie alles – «
»Das müssen wir nicht jetzt besprechen«, klappte Tante Célia das gefährliche Thema schnell wieder zu und ließ ihr Hinterteil wieder auf die Türschwelle nieder. »Komm, hilf mir lieber mit dem Nagel hier, ich komm’ nicht recht hin. Aber Vorsicht!«
Während Livia sich an Tante Célias großer Zehe zu schaffen machte, kehrte diese zum eigentlichen Thema zurück: »Wir können hier bei uns feiern, vor dem Haus, der Platz reicht für eine Handvoll Gäste, nicht mehr.«
Livias Ziegelbaracke lag am unteren Ausläufer der Favela von São Geraldo, in Salvador da Bahia. Die asphaltierte Rua Aurélia, die verputzten Häuser, die Bäckerei und der Gemischtwarenladen, kurzum die Zivilisation – das alles lag »dort oben«, auf dem Hügelrücken von São Geraldo.
Entstanden war die Favela, sowie alle anderen auch, durch allmähliche Invasion. Einer entschließt sich, ein Stückchen Grün am Straßenrand zu roden, und bastelt sich eine behelfsmäßige Unterkunft. Ein Zweiter lehnt seine Baracke daneben an und ein Dritter baut darunter am Hang. Keine Stadtverwaltung fragt, kein Bauamt will einen Plan sehen. Der Strom wird ungefragt vom nächsten Mast abgezapft, das E-Werk schickt jemanden, der die irregulären Leitungen kappt, die am nächsten Morgen doch wieder angeschlossen sind. Das geht so lange, bis es dem E-Werk zu bunt wird und sie den Strom einleiten. Damit die Rechnungen auch zugestellt werden können, werden die Baracken durchnummeriert. Einige Jahre später haben sich Wellblech und Sperrholz in Ziegelsteine verwandelt und es gibt eine Einwohnervereinigung, deren Vorsitzender so lange im Rathaus stört und Geschenke verteilt, bis endlich Wasser und Kanalisation folgen.
Auch wenn das Rathaus von Salvador darauf bestand, dass es in Salvador keine »Favelas« gab, man Salvador doch nicht mit Rio de Janeiro gleichsetzen konnte, und den harmloseren Ausdruck »Peripherie« bevorzugte, so wusste dennoch jeder, dass die Chancenlosigkeit da wie dort dieselbe war, man also getrost »Favela« nennen konnte, was eine Favela war.
Zu Livias Ziegelbaracke gelangte man nur zu Fuß, ein enges Gewirr von Durchgängen und Treppengassen hinab, an bemoosten Hausmauern vorbei, an Winkeln, in denen der Unrat sich sammelte, und unter Wäscheleinen und Kabelsalat hindurch. An der Vorderseite von Livias Baracke sorgten wenige Quadratmeter roter Lehmboden für eine bescheidene Terrasse, dann folgte der Abhang, der schon zu steil zum Bauen war. Dort unten überwucherten Bananenstauden und Palmen den Sperrmüll der Favela.
»Steht Pedro auf deiner Liste?«, fragte Tante Célia.
»Doch nicht Pedro, der Brunzer?«
»Is’ ein netter Junge. Den werden wir einladen.«
»Ha!« Livia unterbrach ihre Maniküre. »Der ist ein Bettnässer, über den sich die ganze Nachbarschaft lustig macht.«
»Das ist er nicht mehr«, verteidigte ihn Tante Célia. Dabei war er es in der Tat gewesen, bis eines Morgens sein alleinerziehender Vater eine drastische Maßnahme ergriffen hatte. Er jagte den armen Pedro, nur mit der durchnässten Unterhose bekleidet, die ganze Favela rauf und runter, mit einem Pappschildchen an der Brust: »ICH BIN EIN BETTNESER«. Alle hatten tagelang nur ein Thema, aber es half. Pedro hatte seither die hartnäckige Bettnässerei abgelegt, im Gegenzug allerdings den noch hartnäckigeren Beinamen »der Brunzer« abbekommen.
Livia war nicht dumm. »Ich weiß genau, was du vorhast. Du willst dich an seinen Vater ranmachen!«
»Senhor Alfredo hat Arbeit in der Schuhfabrik.« Tante Célia plusterte sich ihre Locken zurecht. »und er versäuft sein Geld nicht in der Imbissstube.«
»Das ist mein fünfzehnter Geburtstag, nicht deiner!«
»Und ich sage dir, wie wir ihn feiern werden: Dona Marlene kommt, sie bringt einen Topf ihrer Feijoada mit, und Dona Ofélia kommt, die macht eine Torte, Pedro kommt und du kannst noch eine von deinen Freundinnen einladen. Eine!«
Livia machte sich erneut mit der Nagelschere ans Werk.
»Eine Freundin?«
»Eine.«
»Nur eine einzige?«
»Andere haben gar keine Feier zum Fünfzehnten.«
Es floss nicht sonderlich viel Blut, aber Tante Célia schrie und tobte gehörig, als Livia nach einem sicher schmerzvollen Stich flink die Treppengasse hinauf entkam.
#
Tante Célia hatte Livia nie geschlagen, sie bevorzugte endlose Standpauken, die mit einem gelegentlichen »Ja, meine Tante« oder »Verstanden, Tantchen« zu bewältigen waren. Gerne drohte die Tante auch mit Enterbung unter Hinweis auf das Juwel in ihren Vermögenswerten, das Fernsehgerät. Livia trug es mit Fassung.
Was hingegen schmerzte, war Essensentzug. Nach dem Tod ihrer Mutter und dem Verschwinden ihres Vaters waren Livia und Emilio ganz auf sich gestellt und auf Almosen aus der Nachbarschaft angewiesen gewesen. Oft vergingen einige beißend hungrige Tage, bis Livia wieder den Mut fand, abermals um Essen zu bitten. Schließlich nahm sich Vagner ihrer an, der Favelaboss, für den Livias Vater gearbeitet hatte.
Ohne, oder womöglich gegen Vagner ging in São Geraldo gar nichts. Er kontrollierte den Drogenhandel, die freiberuflichen Straßenräuber lieferten ihm seinen Anteil ab, der Vorsitzende der Einwohnervereinigung stand bei ihm tief in der Schuld, der lokale Polizeivorsteher auf seiner Gehaltsliste, und Vagner gehörte jedes dritte Haus in der Favela, einschließlich Livias Baracke.
In letzter Zeit sah man ihn kaum mehr auf der Straße, er zog es vor, die Geschäfte vom Sofa aus zu regeln. Niemand wagte zu fragen warum.
Vagner sorgte für die, die auf seiner Seite standen. Er bezahlte die Begräbnisse für seine im Dienst verschiedenen Mitarbeiter, stellte im Bedarfsfall Rechtsanwälte bei und finanzierte dringende ärztliche Eingriffe, etwa zur Behandlung von Schussverletzungen.
Damals hatte Vagner veranlasst, dass Tante Célia, die ledige Schwester von Livias Mutter, aus dem Landesinneren in die Stadt gekommen war, und er hatte ihnen ihre Baracke mietfrei überlassen. Weiter mussten sie selbst sehen. Tante Célia ließ einen Sack grüne Bohnen im Gemüseladen anschreiben, nahm vor dem Laden auf einer Bierkiste Platz und begann die Bohnen von den Schoten zu trennen, eine Arbeit, die vielen zu langwierig war. Die ausgelösten Bohnen verkaufte sie mit einem kleinen Aufpreis. Mal verkaufte sie mehr, mal weniger, es reichte in der Regel für die tägliche Portion Bohnen mit Reis und ab und zu ein Huhn.
Nach ihrem Attentat mit der Nagelschere ertrug Livia zähneknirschend Tante Célias Standpauke, die Enterbung und auch den Essensentzug. Tante Célia sagte den Geburtstag zur Gänze ab. Dann entsann sie sich der Feijoada und der Torte, und der Geburtstag fand nun doch wieder statt.
#
Es war eine armselige Gesellschaft, die sich auf dem Fleckchen Lehmboden vor der Baracke eingefunden hatte. Tante Célia hatte den Plastikstuhl in Beschlag genommen, und ihr ausgestrecktes Bein thronte hochgelagert auf der Gasflasche mit einem enormen weißen Verband um die Zehe – eine dramatische Inszenierung, die Tante Célia die mitfühlende Anteilnahme Dona Marlenes und Dona Ofélias sicherte, die ihre Hintern auf mitgebrachten Holzschemeln balancierten.
Livia, in nabelfreiem Top, Röckchen und Gummisandalen, saß mit ihrer besten Freundin Maria Clara auf der Türschwelle und hatte deren Söhnchen Ronaldinho auf dem Schoß. Der Kleine zerrte entzückt an Livias Haaren, mit denen sie ihm das Näschen kitzelte. Zwischen Tante Célias Tratschpartie und den Mädchen saß Pedro, der Brunzer, etwas verloren an der Wand. Er studierte die Geburtstagstorte, die auf einem Klapptischchen vor ihm glänzte. Dona Ofélia hatte sich Mühe gegeben. Dicke Schlagsahne rundherum und ein farbenfroher Fruchtsalat obendrauf: Ananas, Sternfrüchte, Bananen, Guaven und Mangos. Ob das Innenleben etwas mit Schokolade oder eher mit hellem Biskuit zu tun hatte, war nicht ersichtlich, da die Torte noch unversehrt war. Pedro kratzte sich am Kinn.
Livias Brüderchen Emilio kam die Treppengasse herab um die Hausecke geflitzt, seine Kumpel José und João im Schlepptau.
»Livia, schau, José und João haben Geburtstagsgeschenke für dich!«
Die beiden kamen etwas verlegen vor den Mädchen zum Halt. »Leg los!«, rempelte Emilio José an. »Du zuerst!«
»Nein, zuerst João.«
João ermannte sich, kramte aus den Tiefen seiner Hosentasche einen Lollipop hervor und hielt ihn Livia hin. Ein rosa-weißes Herz am Stiel, eingewickelt in Zellophan. Bevor Livia zugreifen konnte, schoss Josés Geschenk dazwischen. Zwei zusammengehende Herzen am Stiel in Zellophanhülle.
»Ooh, obrigada, vielen Dank!« Livia nahm die Lutscher mit einem breiten Lachen entgegen.
»Welchen magst du lieber?«, wollte João wissen.
»Natürlich meinen«, wusste José, »der hat zwei Herzen.«
»Dafür ist meiner doppelt so groß!«
»Ich mag sie beide!«, entschied Livia. »Kommt, ich geb’ euch ein Stück von der Torte.«
Sie verschwand in der Baracke und tauchte gleich darauf mit einem Küchenmesser wieder auf. Tante Célia unterbrach ihren Tratsch und sprang unvermutet gewandt vom Plastikstuhl.
»Du wirst doch nicht die Torte anschneiden wollen?«
»Doch. Ich möchte den Jungs was davon geben.«
3
São Salvador da Baía de Todos os Santos, kurz Salvador da Bahia, und noch kürzer Salvador, Hauptstadt des Bundesstaates Bahia im Nordosten Brasiliens. Bahia ist, von wo die Brasilianer Samba und Sonne her haben. 1549 von der portugiesischen Krone zur Hauptstadt der Kolonie erklärt, war Salvador jahrhundertelang die größte und reichste Stadt des Landes, das Zentrum des Zuckeranbaus und des Sklavenhandels. Noch heute haben neun von zehn Bahianern dunkle Haut in ansehnlichen Schattierungen von Caramel Macchiato bis Espresso Schwarz. Alles, was bis in die 1980er-Jahre sonst noch von früher übrig geblieben war, waren eine UNESCO-geschützte barocke Altstadt, afrikanische Götterkulte, unberührte Palmenstrände, wirtschaftlicher Niedergang und aussichtslose Armut.
Dann geschah etwas Unerwartetes. Aus dem Nichts wurde ein neuer Industriezweig zum bedeutendsten der Stadt: die Musik. Von Jahr zu Jahr kamen mehr Touristen, Salvador wurde zum Muss für die reichen Kids aus São Paulo, und der Karneval von Salvador hatte bald mehr Besucher als der von Rio de Janeiro.
Was war passiert?
Samba-Reggae war passiert.
Die einfache Kombination zweier Rhythmuslinien, einer für Basstrommeln und einer für hochtönende Trommeln. Samba-Reggae war nicht aus dem Tonstudio gekommen, sondern aus der Favela. Dort waren sie auf die Idee gekommen, dass schwarz zu sein Grund genug sein könnte, Stolz zu zeigen. Ein paar Übermütige fanden sich zu Blocos Afros zusammen, schwarzen Perkussionsgruppen, und zogen los, um mit ihrem neuen Rhythmus den traditionellen Karneval aufzumischen. Sie waren schwarz, sie waren zornig und sie machten einen Höllenlärm auf ihren selbst gebastelten Trommeln. Über die Jahre hinweg wurden sie zunächst beschimpft, dann bemitleidet und letztendlich bejubelt. Alle verfielen diesem neuen Rhythmus, dem schweren, erdigen Sound des afrikanischen Erbes. Bald hatte jedes Viertel seinen eigenen Bloco Afro.
Die Regentschaft des Samba-Reggaes war angebrochen.
Samba-Reggae war der Rhythmus, der die Stadt veränderte, die Droge für Millionen wiederkehrender Touristen und die geheime Zutat für bahianische Axé-Musik, die seither die landesweiten Charts dominierte. Samba-Reggae war das Erfolgsgeheimnis des Karnevals von Salvador.
#
Drei Reais von ihrem ersten eigenen Geld hatte Livia in ein Busticket in den Nachbarbezirk Liberdade investiert. Wenn sie vor zehn Uhr zu Hause war, würde Tante Célia keinen Verdacht schöpfen.
Umgeben von einer Hundertschaft Anhänger hatte der Bloco Afro über zwei Stunden lang getrommelt und immer noch war keiner ermüdet. Die muskulösen Oberkörper von zwei Dutzend Trommlern glänzten in der tropischen Abendhitze. Zwei oder drei von ihnen trugen weit ausgeschnittene T-Shirts mit dem orange-roten Schriftzug ROMANOS PRETOS, Schwarze Römer. Die Menge wogte auf dem Asphalt im Gleichschritt. Beine, Schultern, Arme – alles glitt synchron in der Choreographie, kraftvoll und leichtgängig.
Livia war die Einzige, die regungslos verharrte, den ganzen Abend schon. Die Menge schob und schubste sie von allen Seiten, ihre zarten Füße in den billigen Flip-Flops mussten zahlreiche Tritte aushalten, doch es kümmerte sie nicht. Ebenso wenig bemerkte sie die beiden Halbwüchsigen, die hinter ihr wiederholt besonders tief in die Knie gingen. Wer von beiden als Erster die Farbe des Slips unter Livias Röckchen bestimmen konnte, hatte gewonnen.
Atemlos verfolgte Livia die Trommler. Die schweren Jungs in der ersten und letzten Reihe stemmten abwechselnd ihre gewaltigen Basstrommeln, ihre Surdos, in die Höhe und schlugen sie über ihren Köpfen. Zwischen dem Geschützdonner der Surdos kam der beharrliche Wirbel der Marschtrommeln durch, der Caixas. Den Pulsschlag lieferten unterdessen die Handtrommeln, die Timbas, und über all den anderen Trommeln knallten die Schläge der Tenortrommeln, der Repiniques. Jede der vier Gruppen – Surdos, Caixas, Timbas und Repiniques – spielte einen anderen Rhythmus, und alles ergänzte sich zu einer kraftvollen Symphonie. Livias Blicke hüpften von einem Trommler zum anderen, sie wollte alle gleichzeitig im Auge behalten. Dann wieder – als ob alles zu viel für sie wäre – schloss sie eine Zeit lang ihre Augen.
Der Dirigent, der Mestre, hatte ein Auge auf Livia geworfen. Ein zierlicher, athletischer Bursche, dessen hübsches Gesicht von einem getrimmten Hip-Hop-Bärtchen eingefasst war. Seine Rastazöpfe hatte er mit einem gelben Tuch zusammengebunden. Er trug kein Shirt, nur tief sitzende Shorts, alte Turnschuhe und seine Repinique um die Hüften gebunden. Zwischen energischen Handzeichen und Trommelsignalen für den Bloco warf er immer wieder einen Blick auf Livia.
Auf einmal streckte der Mestre einen Arm in die Höhe, verweilte einen Augenblick regungslos, schloss die gespreizte Hand blitzartig zu einer Faust, und im selben Augenblick war es totenstill. Mit einem letzten Knall waren die Trommeln verstummt.
Der Mestre stellte seine Repinique auf den Boden und bahnte sich den Weg durch die Menge, auf Livia zu und an Livia vorbei. Er fasste die beiden Jungs hinter ihr am Genick und führte sie wie unfolgsame Welpen aus der Menge heraus.
»Heh, Mann, was soll der Scheiß?«, protestierte einer und war dann nicht mehr zu hören.
Wortlos kehrte der Mestre zurück und setzte zum Finale der Show an. Mit einer Hand auf dem Boden schlug er ein Rad. Seine Trommler reagierten wie ein einziger Mann. Dann schlug er noch eines und dann eines ohne Bodenberührung, dann kamen Saltos, vorwärts und rückwärts, aus dem Schritt und aus dem Stand. Er wirbelte, kickte und überschlug sich in alle Richtungen mit fliegender Rastamähne. Der Bloco quittierte jede seiner Bewegungen mit Breaks, Rhythmuswechseln und Stopps. Das war es, worauf die Menge gewartet hatte. Sie feuerten ihn lautstark an. Sie kamen regelmäßig zu den Auftritten des Blocos und der Mestre war ihr Star. Er hatte nicht nur seine Trommler im Griff, sondern auch die Akrobatik der Capoeira, des bahianischen Kampftanzes.
Irgendwann ging ihm dennoch die Luft aus und der Bloco kam mit einem weiteren großen Knall endgültig zum Stillstand.
Es war bereits elf. Livia wandte sich hastig zum Gehen, kam allerdings nicht weit. Jemand tippte ihr auf die Schulter, es war der Mestre.
»Heh, ich seh’ dich heute zum ersten Mal hier.« Er war noch immer außer Atem, musterte sie mit warmen Blicken.
»Und weiter?«, fragte Livia.
»Komm das nächste Mal besser mit Shorts.« Er deutete auf ihr Röckchen.
»Nur, wenn du das nächste Mal im Röckchen kommst.«
Der Mestre krümmte sich rückwärts vor Lachen und machte daraus einen einarmigen Handstand mit Überschlag.
Wieder auf festen Beinen sagte er: »Nein, du verstehst nicht! Du hast ein blaues Höschen an, mit rosa Teddys.«
Mit einer Hand fuhr Livia sich den Rock hinab, die andere knallte sie dem Unverschämten ins Gesicht Er mimte den Schwerverletzten mit spaßhafter Hingabe und taumelte einen Schritt zurück.
Aus sicherer Entfernung sagte er: »Du hast die Jungs nicht bemerkt, die dir unter den Rock geschielt haben. Die ganze Zeit schon. Die hab ich rausgeschmissen.«
»Und dabei gleich selbst nachgesehen!«
»Aber nein, nur ein wenig nachgefragt. Ich mach es wieder gut. Komm, ich fahr dich nach Hause. Wo wohnst du?«
»São Geraldo.«
Livia nahm sein Angebot ohne zu zögern an. Sie ersparte sich ein Busticket, immerhin mehr als ein Zehntel ihres Barvermögens, und sie war ohnehin viel zu spät dran.
#
Behutsam lenkte der Mestre seinen rostigen Käfer um Schlaglöcher und über Fahrbahnschwellen. Die harten Sitze quietschten bei jeder Unebenheit, der Unterboden streifte über die Schwellen.
»Wer sagt denn, dass ich wieder kommen will – egal ob mit oder ohne Shorts?«, fragte Livia.
»Ich weiß es. Ich hab dich beobachtet. Du hast nicht ein einziges Mal deinen Hintern bewegt. Ich weiß, warum.«
»Warum?«
»Du warst zu beschäftigt.« Er setzte an, eines seiner Trommelkommandos zu imitieren: «Tra-ta-ta-tam.«
»Tam-ta-ta-bum«, kam es von Livia zurück.
Der Mestre wählte ein anderes Kommando: »Tra Ta Ta Ta, tra-ta-ta-ta.«
Und wieder zögerte Livia nicht: »Ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta-ta-bum.«
»Du hast dir alles auf Anhieb eingeprägt!«
»Was ist daran so besonders?«
»Was daran so besonders ist? – Nicht einmal ich könnte das, und unsere Trommler müssen wochenlang üben, bis sie das draufhaben.«
Sie waren in der Rua Aurélia angelangt, Livia lotste ihn zu ihrem Durchgang.
»Komm am Donnerstag zu unserer nächsten Probe«, sagte der Mestre eindringlich, als sie ausstieg. »Ich erwarte dich. Ich muss dir was zeigen. Die Leute nennen mich Rasta. Frag nach mir und du findest mich.«
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Am Donnerstag nach der Schule hatte Livia kein Problem, die Romanos Pretos in einer Seitenstraße der Rua do Curuzu zu finden. Der Proberaum glich einer baufälligen Scheune: ebenerdig gemauert, keine Fenster, ein Dach aus Palmblättern und eine löchrige Holztür. Rechts und links der Tür zierten die brasilianische und die jamaikanische Flagge in Großformat die Hausmauer, sie hätten einen neuen Anstrich vertragen können.
In der brütenden Nachmittagssonne probten die Jungs mitten auf der Straße vor dem Proberaum. Das Getöse war in ganz Liberdade zu hören. Wenn einer mit dem Auto unbedingt vorbeimusste, machten sie ihm behäbig Platz, selbstverständlich ohne den Rhythmus zu unterbrechen.
Rasta, heute mit einem roten Tuch um seine Zöpfe, empfing Livia mit einer innigen Umarmung. Konversation ist zwecklos, wenn gleichzeitig 30 Bahianer ihre Trommeln verdreschen. Also schnallte er Livia kurzerhand eine Repinique um die Hüfte und stellte sie in die zweite Reihe zu den anderen Repiniques.
Das erste Mal eine Trommel um, das erste Mal Sticks in der Hand, und es ging tatsächlich leichter, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie musste bloß die elastischen Kunststoffsticks im richtigen Rhythmus auf das Fell knallen, und die Rhythmen hatte sie ohnedies im Kopf. Einfach drauflos. Der Junge neben Livia half ihr bei den Breaks, wo die Kunst darin bestand, nicht in eine plötzliche Pause hineinzutrommeln. Jedes Mal, wenn die Repiniques aussetzen mussten, hielt er ihr seinen Stick blockierend über das Trommelfell. Klappte auch tadellos.
Noch nie zuvor hatte Livia bei irgendetwas so viel Freude empfunden wie jetzt. Hier war sie zu Hause, im Rhythmus, bei den Trommlern. Gemeinsam waren sie stark, laut und eins. Jetzt war alles gut.
Nach der Probe war Livia begierig darauf, die anderen kennen zu lernen. Der Junge an der Repinique neben ihr war Robinho, Rastas Nr. 2. Er war bei genauerem Hinsehen älter als der Rest und hatte seine schütteren Haare zu bemitleidenswert kleinen Rastazöpfchen geflochten. Robinho war ein Scherzkeks mit großen Kulleraugen, Schnauzbärtchen und einem kleinen Rundbauch. Er ließ keine Gelegenheit aus, die anderen mit seinen zusammengelogenen Geschichten zu unterhalten. Livia bog sich vor Lachen.
Da erkannte sie Nelson, der mit ihr zur Schule ging. Ein Analphabet aus der bahianischen Provinz, der keinen geraden Satz herausbrachte und die ganze Zeit über ungeniert auf die Konturen von Livias winzigen Brüsten starrte. Ein harmloser Trottel. Sie freute sich, ihn hier zu sehen.
Basílio beeindruckte Livia, ein massiges Dinosaurierbaby, das es fertig brachte, seine schwere Basstrommel eine halbe Stunde lang hochgestemmt über dem Kopf zu spielen.
Und es gab noch viele andere, deren Namen sich Livia nicht auf Anhieb merken konnte.
Livia entdeckte auch ein zweites Mädchen im Bloco, Ana. Livia hatte sie zunächst nicht bemerkt, da sie in der letzten Reihe Basstrommel spielte und ihr rabenschwarzes Gesicht unter einem enormen Black-Power-Wuschelkopf verbarg. Anas Körpermaße reichten beinahe an die von Basílio heran.
»Heh, Schwesterchen«, sagte Ana, »wo kommst denn du her?«
»Rasta hat mich eingeladen.«
»Mann, bist du ’n hübsches Ding.« Ana strich Livia mit der Hand über die Wange. »Weißt du, was wir mit dir machen? Wir verpassen dir ’ne neue Frisur.«
»Was stimmt denn mit meiner nicht?« Livia trug ihre unbändigen, schulterlangen Haare am liebsten am Hinterkopf zusammengebunden.
»Sie sind zu wenig afro. Ich werde dir geile Zöpfchen flechten. Das wird Hammer, wirst sehen. Die binden wir oben zusammen und dann melden wir dich für den Afro-Schönheitswettbewerb von Tìbínù an. Du wirst die nächste Ebenholzprinzessin!«
»Du faselst genauso viel Quatsch wie Robinho.«
Tìbínù war nicht irgendeiner, sondern der größte und stolzeste Bloco Afro des Landes. Das waren Kämpfer – für Chancengleichheit, gegen Rassismus, für eine Rückbesinnung auf das afrikanische Erbe. Bis heute nahmen sie ausnahmslos Schwarze auf. Die jährlichen Wahlen zur Ebenholzprinzessin waren ein Meilenstein für das schwarze Selbstbewusstsein.
Rasta kam hinzu und Ana verlor keine Zeit: «Rasta, wo hast du denn die her! Wir werden sie zur Ebenholzprinzessin anmelden.«
»Macht nur, aber jetzt möchte ich mit ihr alleine sein. Komm mit, Livia.«
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4
Livia war noch nicht einmal ganz zur Tür herein, da legte Tante Célia los: »Seit wann kommst du nach der Schule nicht nach Hause? Für wen, denkst du, koche ich hier?«
Sie war so aufgebracht, dass sie sogar ihrer Telenovela den Rücken zudrehte. Mit erhobenen Händen schrie sie aus dem Plastikstuhl mit dem Fernseher um die Wette: »Und glaub nicht, dass ich nicht bemerkt habe, wie du letzte Woche spätnachts nach Hause gekommen bist. Damit werden wir aufhören! Sofort! Schluss damit!«
Livia war nicht nach Schreien zumute. Zu sehr stand sie noch unter dem Eindruck von Rastas Worten. »Es tut mir leid, Tante.« Sie trat einen Schritt näher, um sich hörbar zu machen. »Ich möchte mit dir über meine Zukunft reden.« Sie zögerte ein wenig. »Ich spiele jetzt in einem Bloco Afro mit und werde mit ihnen üben und auftreten, im Karneval dabei sein.«
»Ein Bloco? Ein Bloco Afro? Ha! Gar nichts wirst du! Räuber, Dealer, Einbrecher! Jeder einzelne von denen ist vom Candomblé. Die taugen alle nichts, und du hast bei denen nichts verloren.«
»Ich kann Musik sehen. Sehen! Verstehst du?«
»Rede keinen Unsinn. Weißt du, was ich sehe? Einen Haufen Krimineller, die ein Mädchen ködern wollen.«
»Das stimmt doch nicht. Ich kann trommeln und du ahnst nicht, wie viel Spaß es mir macht. Und ich kann damit auch Geld verdienen. Für manche Auftritte zahlen sie Geld und sie wollen mich für die Ebenholzprinzessin nominieren. Dort kann ich eine Prämie gewinnen.«
Schnaubend stellte Tante Célia den Fernseher ab und mühte sich aus ihrem Stuhl. »Ich weiß, was hier gespielt wird. Fang dir nichts mit Jungs an! Hast du vergessen, wie es dir mit Diego ergangen ist? Und selbst wenn sie sich nicht mit Dealern herumtreiben, hängen sie dir zumindest ein Kind an und machen sich dann aus dem Staub. Und was wird aus der Schule? Schau dir Maria Clara an. Seit sie Ronaldinho bekommen hat, ist sie keinen einzigen Tag mehr zur Schule gegangen.«
»Was versäumt sie dort? Die Schule ist zu nichts gut. Die Hälfte der Zeit geht für sinnlose Projekttage drauf und die andere für Lehrerstreiks. Die Lehrer sind doch selbst Analphabeten. Dort lernen wir nichts, was uns einen Job verschafft.«
Tante Célia ließ sich wieder in ihren Plastikstuhl fallen, faltete die Hände in den Schoß und sagte, mehr zu sich als zu Livia: »Und ich habe mein Leben am Land für euch aufgegeben. Meine Zukunft geopfert.«
»Welche Zukunft hast du geopfert? Du warst am Land bettelarm und bist es jetzt in der Stadt.«
»Senhor Marivaldo war meine Zukunft, heute ist er Unternehmer. Hätte ich ihn geheiratet, wäre ich heute Millionärin.«
»Marivaldo liefert mit seinem alten Pick-up Wassermelonen. Wie viele Millionen verdient er damit? Und geheiratet hätte er sowieso eine andere.«
»Ich habe zumindest meine eigene Hütte gehabt, im Garten Mais und Zwiebeln angepflanzt und ab und zu ein Huhn geköpft. Dann hab ich alles verkauft, nur um zu euch zu ziehen und euch über die Runden zu bringen. Erinnere dich daran, wie ihr gehungert habt!«
Das bisschen Geld aus dem Hausverkauf hatte Tante Célia sich bei erster Gelegenheit von einer Kirche abschwatzen lassen. Die verschiedensten »Kirchen« gingen in der Favela von Haus zu Haus auf der Suche nach Opfern. Sie hatten einen Riecher für ahnungslose Neuankömmlinge vom Land.
»Andere Mädchen leben auf der Straße, auf der Mülldeponie. Du weißt, wie es dort zugeht. Du hast hier ein Dach über dem Kopf, bekommst jeden Tag was zu essen, musst nicht arbeiten und kannst zur Schule gehen. Das möchtest du alles wegwerfen?«
»Ich möchte gar nichts wegwerfen«, sagte Livia leise. »Du verstehst das nicht.«
Tante Célia packte Livia an den Schultern: »Ich werde dir sagen, was ich verstehe. Früher hatte ich mein eigenes Bett. Jetzt schlafe ich auf dem Boden. Wegen euch. Das verstehe ich.«
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In der Schule war großer Rummel angesagt. Die Oberstufe hielt einen ihrer Projekttage ab, den Naturwissenschaftstag. In Kleingruppen präsentierten die Schüler im Festsaal ihre Arbeiten. Eltern, Lehrer und die gesamte Schule waren gekommen.
Livias Gruppe stellte das Mikroskop vor und dessen Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt. Das graue Mikroskop aus dem Schullabor glänzte verloren auf ihrem Schautisch. Die Besucher, die hineinblickten, sahen ein stark vergrößertes Nichts und gingen enttäuscht zum nächsten Tisch weiter. Livia wollte etwas Schwung in die Sache bringen, war um Anschaulichkeit bemüht, brauchte dazu aber einen richtigen Knaller. Warum nicht eine Spermaprobe? Sie sah sich um und erblickte Nelson, den Trottel, der drei Tische weiter seinen Dienst versah zum Thema »Pilze und Schwäme – Wunder der Nadur«. Nelson hatte einen roten Pilzhut aus Pappe auf, mit weißen Pünktchen.
Livia musste ihn nicht zweimal fragen, doch er bestand darauf, dass sie ihm dabei zusehen sollte. Neugierig war sie schon, warum also nicht? Sie zogen sich zu zweit in einen leer stehenden Klassenraum zurück. Unter Livias gebanntem Blick war Nelson gerade beschämt mit sich selbst beschäftigt, als die Tür aufflog und Professora Tereza, die Geographielehrerin, sie überraschte. Sie hatte kein Verständnis für wissenschaftliche Anschaulichkeit.
Es folgten ein Riesendonnerwetter und betretene Gesichter im Kabinett des Schuldirektors.
»Euch ist klar, dass ich euch von der Schule verweisen muss?«, polterte Senhor Paulo, der kurzatmige Direktor, während er hinter seinem Schreibtisch auf und ab schlurfte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
»Wir haben doch nichts angestellt«, wiederholte Livia felsenfest zum x-ten Mal.
»Es geht nicht nur um euch. Wir hatten letzten Monat die Schießerei. Im Schulhof. Die halbe Oberstufe dealt. Die Gangs machen sich ihre Streitigkeiten … in der Schule aus.« Senhor Paulo begann zu schnaufen. »Wir mussten die Abendklassen auflösen. Weil keiner sich mehr am Abend … in die Gegend traut. Ich weiß genau, … wie viele von den Mädchen anschaffen gehen. Wisst ihr, wie schwierig es ist … überhaupt Lehrer zu finden, die hier unterrichten wollen? Bei dem Gehalt?«
»Das hat mit uns nichts zu tun!« Livia stand auf verlorenem Posten. Von Nelson war keine Unterstützung zu erwarten.
»Hat es doch, Senhorita. Wir greifen jetzt hart durch. Ich habe diesen Monat neun Schüler entlassen. Ich werde von ehemaligen Schülern bedroht! Habe in meinem Haus neue Fenstergitter einsetzen lassen. Ich kann es mir nicht leisten, dass einer kommt … und fragt, warum ausgerechnet ich und warum der andere nicht. Versteht ihr? Gleiches Recht für alle. Jede kriminelle oder sittenwidrige Handlung … hat dieselben Konsequenzen.«
»Ihr könnt jetzt nach Hause gehen«, schloss er. »Der Portier wird euch ab morgen … nicht mehr reinlassen.«
Da hatte Livia bereits die Tür von außen zugeknallt.
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Draußen schüttete es in Strömen. Livia hatte fünfzehn Minuten zu gehen, der Regen war ihr scheißegal. Gullys gibt es keine, das Wasser schoss die Straße entlang, die knöcheltiefe Flut zog Livia einen Schuh vom Fuß, der kurzerhand in der rotbraunen Brühe verschwand. Sie suchte nicht danach.
Zu Hause fand sie Emilio alleine vor. Er zerbröselte sich über die billigen Nachmittagscartoons im TV. Livia streifte sich ihr triefendes Schul-T-Shirt und die Jeans ab, hängte beides zum Trocknen auf die Kühlrippen des Eisschranks und rieb sich mit dem Handtuch trocken. Sie breitete eine Matratze aus und rief Emilio zu sich. Dann setzten sie sich gegenüber voneinander in den Schneidersitz und fassten einander an den Händen. So hatten sie es von klein auf mit Mutter gemacht, wenn es etwas zu besprechen gab.
»Sie haben mich heute aus der Schule geschmissen«, begann Livia.
»Que bom! Wie schön!« Emilio war begeistert. »Was hast du angestellt? Ich möchte auch, dass sie mich rauswerfen.«
Livia lachte auf. »Das erzähl ich dir, wenn du groß bist. Es war keine gute Idee. Erst gestern habe ich mit Tante Célia gestritten. Sie glaubt, dass ich die Schule hinschmeißen werde, weil ich in dem Bloco spielen möchte.«
»Du möchtest in einem Bloco spielen? Is’ ja Hammer! Trittst du dann im Karneval auf?«
»Tante Célia hat mir den Bloco verboten. Und am nächsten Tag flieg ich tatsächlich aus der Schule. Dabei hat das mit dem Bloco null zu tun. Gar nichts!«
Emilio zuckte mit den Schultern. »Dann erzählen wir es ihr halt nicht.«
Er war erst neun, seine Lösung aber war einwandfrei. Livias Gesicht hellte sich auf.
Es war kühl geworden. Die ersten Tropfen rannen innen an den durchfeuchteten Wänden herab. Livia und Emilio verkrochen sich unter die Decke und schlummerten in fester Umarmung ein.
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Unter ihrem blauen Schulshirt trug Livia ein grünes Top. Auf halbem Weg zwischen São Geraldo und Liberdade verschwand das Schulshirt in der Schulmappe. Schon über eine Stunde war Livia in der Vormittagshitze marschiert. Wo es möglich war, ging sie auf der schattigen Straßenseite. Der Bus hätte für dieselbe Strecke mit vielen Stopps und Umwegen keine 15 Minuten gebraucht, doch die 27 Reais in ihrer Tasche würde Livia nur im Notfall anrühren.
Der Proberaum stand offen, als sie ankam. Draußen war niemand zu sehen. »Oi! Rasta?«, rief Livia, als sie eintrat.
»Der ist nicht da«, kam es zurück.
Ein dürrer, älterer Kerl mit einem Ziegenbärtchen saß in der Mitte des Raumes auf einem Holzschemel. Er war über eine Surdo gebeugt und damit beschäftigt, die Trommel neu zu bespannen.
»Ich komm zur Probe«, sagte Livia.
»Heute ist keine Probe.«
Livia zögerte. Sie würde nicht sofort den ganzen Weg wieder zurückgehen. Wohin auch? Offiziell war sie jetzt in der Schule und die war erst zu Mittag aus. »Kann ich alleine üben?«
Er deutete auf den Trommelberg an der Wand: »Such dir eine aus.«
Den ganzen Vormittag übte Livia, probierte mit schwerfälliger Schlagtechnik alle ihr bekannten Rhythmen durch, während der mit dem Ziegenbärtchen stillschweigend an Spannreifen schraubte und Dellen aus Trommelkesseln hämmerte.
Zu Mittag verließ er wortlos das Haus und kehrte nach einiger Zeit mit zwei dampfenden Tellern zurück. Gebratenes Fleisch, Bohnen, Süßkartoffeln und extra viel geröstetes Maniokmehl.
Livia langte kräftig zu, während er erzählte. Sein Name war Tatu. Er wohnte in einer Cabana hinter dem Haus, einer Holzhütte, und er war der Presidente des Blocos, kümmerte sich um dieses und jenes. Eigentlich lief ohne ihn gar nichts. In den Wochen vor dem Karneval war es besonders stressig.
Tatu roch nach Zuckerrohrschnaps.
Livia schmeckte der Braten. »Was ist das?«
»Beutelratte. Selbst erlegt.«
Er fuhr regelmäßig aus der Stadt und jagte dort, was er erwischte. Gürteltiere, Korallenschlangen, Schildkröten, manchmal lief ihm auch eine Katze vors Schießeisen. Lebende Exoten verkaufte er an einen, der sie nach Belém brachte. Sein bester Fang war eine ganze Boa-Constrictor-Brut gewesen. Das Geschäft ging mal so, mal so, oft fing er wochenlang nichts und dann wieder ein paar Stück auf einmal.
Nach dem Essen war es Zeit für Livia zu gehen.
»Volte sempre!«, rief Tatu ihr nach. »Komm bald wieder!«
Als Livia am nächsten Tag wieder kam, war Rasta da. Sein Kopftuch war heute grün. Er freute sich riesig sie zu sehen und sie machten sich gemeinsam ans Werk, gingen zahllose Trommelkommandos und -antworten durch. Livia verblüffte Rasta erneut mit ihrer Sicherheit, obwohl sie bei schnelleren Kombinationen technisch noch nicht mitkam.
Tatu servierte diesmal gewöhnliches Huhn. Sagte er.
Livia kam nun jeden Tag. Sie arbeitete hart, übte mal alleine und mal mit anderen, die nach unvorhersehbarem bahianischem Zeitplan kamen und gingen, die Zeit totschlugen, herumalberten.
Rasta war oft anwesend und übte gerne zu zweit mit Livia. Ihre Fortschritte begeisterten ihn, doch ihre spezielle Gabe hatten sie seither nicht wieder angesprochen. Sie blieb auch das Geheimnis der beiden vor all den anderen.
Débora hatte ein empfindliches Gespür für Geheimnisse, ganz besonders, wenn Rasta und ein schönes Mädchen daran beteiligt waren. Sie suchte Rasta regelmäßig während der Proben auf und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn und Livia im Auge behielt. Déboras Familie war tief verwurzelt in der afrikanischen Götterwelt des Candomblé. Wie alle Candomblé-Anhänger war auch Débora auf der Suche nach Axé, der positiven Energie der Götter. Wann immer Rasta mit Livia zusammensteckte, konnte Débora kein Axé weit und breit ausmachen.
Zu Hause bei Livia lief es unterdessen ruhig. Die ganze Zeit über war Livia immer nur vormittags bei den Romanos Pretos. Die wöchentlichen Nachmittagsproben in voller Besetzung musste sie auslassen, ebenso wie die abendlichen Auftritte. Tante Célia war ahnungslos, es schien ihr einzig, dass Livia ein wenig appetitlos war, wenn sie mittags von der Schule heimkam. Im Bloco aber sprach sich Livias Schulverweis langsam herum, Nelson konnte seinen Mund nicht halten.
Livia trommelte mit geschlossenen Augen im Übungsraum. So ging es am besten. Im Geiste sah sie ihre bunten Partituren vor sich und spielte vom Blatt.
»Oi, Negerlein, dir werden noch die Finger abfallen, wenn du nicht irgendwann mal ’ne Pause machst.« Ana war hereingeplatzt, mit einem breiten Lachen unter ihrer Wuschelfrisur und Robinho im Schlepptau.
»Oi! Was geht ab?», fragte Livia.
»Wann hörste endlich mit der Klopferei auf und lässte mich dir die Zöpfchen flechten?», fragte Ana.
»Genau«, sagte Robinho, »Ana kann das gut, schau dir meine Prachtmähne an.« Er ließ seine kümmerlichen Zöpfchen durch die Finger gleiten. »Hat Ana fabriziert. Die Frauen stehen drauf.«
»Die Frauen möcht ich sehen,« sagte Livia.
»Er macht seine Aufrisse, nicht wegen, sondern trotz des Wischmopps auf dem Kopf. Da hab ich getan, was ich konnte, besser geht’s nicht. Robinho erzählt den Frauen wilde Märchen, es findet sich immer eine, die drauf reinfällt. Alles dumme Tussis. Was ist denn deine aktuelle Geschichte?«
»Heh, was kann ich dafür, wenn die Frauen mir alles abkaufen?« Er streckte seine Brust heraus und setzte mit gewichtiger Stimme an: »Gestatten, meine Liebe, ich bin der Konsul von Angola. Hat man Ihnen schon gesagt, dass Sie zwei verschiedene Augen haben? Eines schöner als das andere.«
Seine Vorstellung mit bemüht afrikanischem Akzent erheiterte Livia und Ana außerordentlich.
»Das ist noch gar nichts«, sagte Robinho, wieder als Brasilianer. »Ihr müsst mich erst mit Anzug und Krawatte sehen, viel besser als der echte Konsul.«
»Und bist du noch wer anderer, außer dem Konsul?«, fragte Livia.
»Im Sommer bin ich der Producer von Yvonne Gomez. Der zieht gewaltig. Jede will VIP-Tickets für den Karneval. Ich hab auch den Präsidenten des Poloklubs probiert, aber den hat mir keine abgekauft.«
»Es würde wahrscheinlich helfen«, sagte Livia, »wenn es einen Poloklub gäbe in Salvador.«
Débora stelzte herein. Sie schaffte es, sogar auf dem Lehmboden mit ihren Absätzen zu klappern.
»Hallo Leute!«, sagte sie. »Ich hol nur meine Tasche.« Sie hatte ihre Handtasche auf der Theke stehen lassen und begann darin zu stöbern. »Wo ist denn nur …?« Sie kramte Schlüssel hervor, ein Handy, Kaugummis. »Da war doch …« Es folgten Lipgloss, Tampons, ein Spiegel.
Theatralisch wirbelte sie herum. »Leute, ich suche meine Sonnenbrille.« Débora breitete ihre Hände aus. »Sie war hier drinnen, als ich die Tasche vorhin hergestellt habe. Das ist eine echte Ray-Ban, die habe ich nicht am Strand gekauft. Jemand muss sie gestohlen haben.«
»Wer soll denn hier eine Sonnenbrille klauen?«, fragte Ana.
»Livia zum Beispiel. Sie war allein hier drinnen, hat mit geschlossenen Augen geübt, als ich die Tasche hergestellt habe.«
»Du hast sie wohl nicht alle! Ich hab mein Leben lang noch nichts mitgehen lassen!«
»Nein? Miss Blütenweiß hat wohl noch nie was angestellt? Wieso bist du dann von der Schule geflogen?«
»Das geht dich einen Dreck an! Und deine Sonnenbrille kannst du dir wohin stecken!«
»Täte ich, wenn du sie mir nicht gestohlen hättest.«
Robinho musste dazwischen gehen. »Gente! Leute! Débora, überleg dir, was du sagst, und denk noch mal nach, wo du sie hingegeben haben könntest.«
»Sie war in der Tasche, ganz sicher.«
»Hat überhaupt jemand gesehen, dass sie in der Tasche war?«, fragte Livia aufgebracht.
»Hier ist sie jedenfalls nicht«, sagte Robinho, »also werden wir sie suchen.«
Déboras Markenbrille tauchte bald wieder auf. In Livias Schulmappe.
»Habe ich es nicht gesagt?« Débora steckte sich die Brille in die Haare und rauschte ab.
Livia war fassungslos. »Sie hat mir die Brille untergejubelt. Ihr glaubt mir doch?«
Ana legte ihren Arm um Livias Schulter. »Nimm dich in Acht vor ihr. Die hat sie nicht alle.«
»Wie kann Rasta nur mit so einer zusammen sein?«
»Hast du ihre Beine gesehen?«, fragte Robinho.
»Robinho, lass den Blödsinn«, sagte Ana. «In Wahrheit weiß das keiner. Sie sind beide Candomblé-Anhänger. Kann sein, dass es damit zu tun hat.«
»Und mit ihren Beinen«, beharrte Robinho.
Livia würde Rasta nichts von dem Vorfall erzählen. Wessen Seite würde er ergreifen? Sie blickte nicht durch. Die Romanos Pretos waren mittlerweile zu ihrem wahren Zuhause geworden und zu ihrer Zukunft, wenn sie nur hart genug an sich arbeitete. Nicht auszudenken, wenn Rasta sie rausschmeißen würde wegen dieser blöden Kuh.
Offensichtlich hatte auch die blöde Kuh den Vorfall verschwiegen, denn Rasta war das nächste Mal derselbe wie immer. Diesmal hatte er etwas Besonderes auf Lager für Livia. »Weißt du, was dein Problem ist?«
»Ich hab viele. Wo möchtest du anfangen?«
Er schmunzelte. »Da sind sicher welche dabei, für die ich nicht zuständig bin. Ich meine deine Schlagtechnik. Du hast es längst drauf, bis auf die schnellen Rechts-Links-Kombinationen. Ta-ta-ta-ta. Ta-ta-ta-ta. Siehst du? Das sind 32stel-Noten und es ist eine Frage der Zeit, bis du die mit den Kunststoffsticks in den Griff bekommst.«
»Wie lange wird das noch dauern?«
»Lange. Die weichen Kunststoffsticks haben fast keinen Rückschlag, du musst die 32stel ausspielen, jeden Schlag einzeln. Ta-ta-ta-ta. Aber es gibt einen Trick, mit dem du schneller 32stel spielen kannst.«
»Worauf wartest du?«
Er nahm die Holzsticks zur Hand, mit denen er selbst spielte.
»Ta-ta-ta-ta. Siehst du?«
Mit zwei minimalen Fingerbewegungen hatte er alle vier Schläge gespielt, ganz schnell hintereinander. 32stel. Livia war begeistert.
»Noch mal! Aber langsam! Wie machst du das?«
Geduldig zeigte er ihr die Schlagtechnik für Holzsticks. Kantenschläge, Doppelschläge, Wirbel und die Königsdisziplin, Presswirbel. Wenn Rasta Presswirbel spielte, dann war das Resultat ein endloses Rasseln ohne Akzente und Pausen, wie im Zirkus beim Trapezakt.
Livia probierte es. Nicht einmal ein einfacher Doppelschlag gelang ihr.
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Die kleine Terrasse an der Rückseite von Maria Claras Baracke bot einen angenehmen Schatten, einen Rundblick über das Barackenchaos im gegenüberliegenden Hang und eine Hängematte, in der die beiden Mädchen faulenzten.
»Drei Wochen lang hast du das jetzt schon durchgezogen?«, fragte Maria Clara.
»Jeden einzelnen Tag«, sagte Livia.
»Und du weißt, was du tust?«
»Ich kann die Rhythmen sehen. Sehen! Das ist meine Welt. Da gehöre ich hin«
»Hör endlich auf. Niemand kann Rhythmen sehen.«
»Ich lüge doch nicht! Du redest wie Tante Célia.«
»Was, wenn sie dahinterkommt, dass du nicht mehr zur Schule gehst?«
»Sie hat keine Ahnung.«
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Fast zwei ganze Monate lang war alles gut gegangen. Morgens Fußmarsch hin. Romanos Pretos. Mittags Fußmarsch zurück und schon war Livia mit Schulshirt und Schulmappe wieder aus der Schule heimgekehrt. Keiner ahnte etwas.
Diesmal war es anders. Emilio erwartete Livia ungeduldig auf der Rua Aurélia und lief ihr entgegen.
»Livia! Ich glaube, sie hat einen Verdacht, sie ist heute ganz komisch.«
Livia erstarrte. »Wieso komisch?«
»Sie hat mich gefragt, wo du bist.« Emilio schnappte nach Luft. »Ich habe gesagt, in der Schule, und sie hat gesagt, in der Schule, nicht wahr. Sie hat das so komisch gesagt und gezittert.«
»Woher sollte sie es denn wissen?«
Emilio zuckte mit den Achseln und zappelte von einem Bein aufs andere.
Livia strich ihm über seine Kräuselborsten. »Geh nur, ich muss da alleine durch.«
5
Als Livia die Tür öffnete, stand Tante Célia wie jeden Tag am Gaskocher. Tante Célia hob den Kopf leicht über die Schulter, ohne sich umzudrehen, dann widmete sie sich wieder ihren Bohnen.
Livia ging, ebenfalls wie jeden Tag, hinter den Vorhang duschen, zog sich ein frisches Top und Shorts an und schlüpfte gerade in ihre Sandalen, als Tante Célia zu ihrem blubbernden Topf sprach. »Und? Wie war’s in der Schule heute?«
»Wie immer. Nichts Neues.«
»Ein Examen gehabt?«
»Nein, erst nächste Woche.«
»Welches Fach?«
»Mathe.«
»Mathe, nicht wahr?«
»Mathe«, sagte Livia mit Bestimmtheit zu Tante Célias Hinterkopf, und der antwortete: »Wie geht’s eigentlich Gustavo?«
Gustavo? Der fesche Gustavo aus Livias Klasse? Der das Schuljahr bereits zum dritten Mal wiederholte und um den sich schon mal die Mädels prügelten?
»Ganz gut«, tastete sich Livia heran.
»Ein hübscher Junge«, sagte Tante Célia. »Hat er noch immer diese blauen Kontaktlinsen?«
»Die Kontaktlinsen? Ich glaub schon. Er sitzt am anderen Ende, so genau sehe ich das nicht.«
Langsam drehte Tante Célia sich um, starrte Livia in die Augen und zischte: »Gustavo haben sie letzte Woche tot aufgelesen. Kehle durchgeschnitten. Drogen. Schon vor Wochen ist er aus der Schule geflogen.«
Erwischt.
»Tante, ich kann dir das alles erklären.«
»Nein, ich werde dir jetzt was erklären. Erinnerst du dich an Hamilton? Was ist mit ihm passiert?«
»Gestorben.«
»Gestorben? Einfach so?«
»Erschossen«, kam es leise zurück.
»Erschossen und vorher ist auch er aus der Schule geflogen. Seinen Eltern hat es das Herz gebrochen. Und Isabela?«
»Im Gefängnis.«
»Im Gefängnis«, wiederholte Tante Célia dramatisch. »Hat sich beim Einbrechen schnappen lassen. Und vorher aus der Schule geflogen, genauso wie Gustavo und Hamilton und so gut wie alle anderen, die es erwischt hat.«
Fehlte nur noch, dass sie auch noch Diego aufzählte. Doch der war mit der Schule bereits fertig gewesen, als es ihn erwischt hatte.
»Ich habe mit Drogen nichts zu tun und ich gehe auch nicht einbrechen!«, fuhr Livia auf.
»Nein, du bist nur aus der Schule geflogen und verbringst deine Tage hinter meinem Rücken mit Drogenhändlern und Einbrechern in einem Bloco. In einem Bloco! Hinter meinem Rücken!«
Livia hielt Tante Célia ihren ausgestreckten Unterarm dicht vors Gesicht und klopfte aufgebracht mit dem Finger darauf. »Siehst du das? Siehst du das? Ich bin schwarz und du weißt, was das bedeutet! Die Schule kann ich vergessen. Zukunft hab ich mit oder ohne Schule keine. Der Bloco ist meine einzige Chance!«
»Zukunft! Ha! Ich werde dir etwas sagen über deine Zukunft. Es kümmert mich einen Dreck, ob du in der Schule was lernst oder nicht. Die Schule hält dich von der Straße fern. Das zählt. Wenn es die Schule nicht tut, werde ich es tun. Du gehst nicht mehr aus dem Haus, bis du wieder zur Schule gehst. Hausarrest.«
»Zur Schule kann ich nicht zurück! Der Direktor nimmt mich nicht mehr.« Livia verschränkte ihre Arme vor der Brust.
»Dann Hausarrest, bis du volljährig bist.« Tante Célia wandte sich zur Tür, versperrte sie zweimal mit Nachdruck, versenkte den Schlüssel in ihrer Rocktasche und nahm sich wieder ihre Bohnen vor.
Und die Tür blieb verschlossen. Als Tante Célia am nächsten Tag zur Arbeit ging, versperrte sie die Tür von außen, und als sie zurückkam, versperrte sie die Tür von innen. Gesprochen wurde zu Hause nichts mehr. Eiszeit.
Livia protestierte, sie brüllte Tante Célia an, sie ging sogar mit den Fäusten auf sie los. Tante Célia gab nicht nach.
Die Stunden und Tage der Isolation vergingen in Zeitlupe. Woher wusste Tante Célia vom Bloco? Livia war so sorgfältig gewesen, immer pünktlich aus dem Haus gegangen und zurückgekommen. Manchmal war sie sogar an erfundenen Hausaufgaben gesessen.
So ungerecht! Wenn Livia verzweifelte, bekam sie Magenschmerzen und hielt sich den Bauch. Sie sah fern, schlief, weinte, schrie und hämmerte an die wuchtige Herrenhaustür. Keiner kam ihr zu Hilfe. Tante Célia hatte dafür gesorgt, dass die Nachbarschaft Bescheid wusste.
Einzig Maria Clara kam öfter vorbei und setzte sich mit Ronaldinho im Arm draußen auf die Türschwelle. Sie erzählte Livia von der Sonne und vom Regen, wen sie auf der Straße getroffen hatte und was sonst noch abging in São Geraldo. Livia hatte in den heimlichen Romanos-Pretos-Wochen alle ihre Freunde vernachlässigt. Maria Claras Geschichten waren die einzige Aufmunterung.
Endlich brachte das Fernsehen was Interessantes. Sie berichteten ausführlich über den Umzug am Tag der Consciência Negra, am Tag des Schwarzen Selbstbewusstseins. Unzählige Blocos Afros zogen die enge Rua do Curuzu hinauf, über die Estrada da Liberdade aus Liberdade hinaus und über Lapinha, Santo Antônio und Carmo in die historische Altstadt, den Pelourinho. Dicht gedrängt begleiteten Hunderttausend den stundenlangen Umzug im rhythmischen Gleichschritt des Samba-Reggaes.
Die ganz großen Blocos waren zu sehen, allen voran Tìbínù, mit ihren wallenden Afrogewändern in Schwarz, Himmelblau und Silber. Tìbínùs Ebenholzprinzessin rotierte hoch oben auf einem Umzugslaster, einem Trio Elétrico. Der Bloco Ajeun folgte mit hochgestemmten Surdos, und dann die grimmigen Jungs von Párádà, die auf ihre Repiniques eindroschen. Auch viele kleinere Blocos gingen mit. Karò aus Brotas mit ihren knallroten Surdos, Lamí-Lamí, wo ausschließlich Mädchen mitspielten, und Tita aus dem Pelourinho.
Dann kamen die Romanos Pretos ins Bild. Tatu machte fast einen brauchbaren Presidente her, wie er da feierlich voranschritt im silbernen Glitzeranzug, die Hosenbeine ein wenig zu kurz, das Sakko windschief. Rasta war in Bestform. Seine fliegende Mähne war mit einer grün-gelb-roten äthiopischen Flagge umbunden. Er überschlug sich in alle Richtungen, war mehr in der Luft als auf dem Boden. Da war Robinho und dort Ana, Basílio mit breitem Lachen!
Schnitt. Interviews mit enthusiastischen Teilnehmern und verärgerten Autofahrern, die stundenlange Staus in Kauf nehmen mussten. Ende der Übertragung.
Livia riss die Küchenlade auf und durchwühlte Tante Célias Kochlöffelsammlung, bis sie zwei annähernd gleich große gefunden hatte. Das Brotmesser verrichtete gute Arbeit als Sägenersatz und bald hatte sie zwei fast perfekte Holzsticks. Der bestgeeignete Kochtopf war schnell ausgemacht und Livia legte los.
Zu Beginn war sie selbst geschockt vom Höllenlärm des Kochtopfes, aber sollten es doch alle hören. Wenn sie nicht mehr im Bloco spielen durfte, dann würde sie zu Hause trommeln. Auf dem Programm stand Wirbeltechnik, nur wollte ihr kein einziger Wirbel gelingen. Aber sie hatte Zeit im Überfluss, so viel, dass sie das Gefühl dafür verlor. Bald konnte sie nicht mehr sagen, wie viele Tage oder Wochen sie alleine mit ihren Holzsticks und dem Kochtopf verbracht hatte.
Tante Célia war bei Senhor Paulo, dem Schuldirektor, gewesen. Der wollte sie zunächst nicht empfangen, doch sie ließ sich nicht abwimmeln. Er war kurz angebunden. Es gab für Livia kein Zurück in seine Schule. Eine andere würde sie auch nicht nehmen, da er nicht bereit war, einen positiven Histórico auszustellen, ein Schulzeugnis mit einer positiven Betragensnote. Es wäre wohl besser, meinte er, wenn Livia sich eine Arbeit suchen würde.
Siegesgewiss unterbreitete Tante Célia Livia ihren Plan. Ein Stück weiter stadtauswärts, an der Schnellstraßenausfahrt, gab es einen Gemüseladen, wo noch keiner die Bohnen schälte. Dort würde Livia Stellung beziehen und Bohnen auslösen.
»Niemals«, sagte Livia.
»Mein Kind, wenn du kein Geld verdienst, wirst du hungern müssen. Du weißt nicht, wie gut es dir bei mir geht«, sagte Tante Célia.
So schnell würde Livia nicht aufgeben. Vorerst gingen die Wirbeltechniktage umso verbissener weiter, mit ersten Erfolgen. Das konnte ihr Tante Célia nicht nehmen, obwohl sie es sicher gerne getan hätte.
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»Ra-ta-ta-ta.« Gar nicht übel, die einfachen Wirbel kamen schon ganz gut. Jetzt dasselbe von links: »Ra-ta-ta-ta.«
»Tam-ta-ta-tam.« Jemand hatte an die Tür gepocht.
Livia stutzte.
Noch einmal trommelte sie: »Ra-ta-ta-ta.«
Und wieder rumste es an der Tür: »Tam-ta-ta-tam.«
Livia schmiss die Sticks hin und stürzte zur Tür. »Rasta!«
6
»Livia!«, rief Rasta von draußen. »Was machst du hier für einen Krach? Ein schwerhöriger Blinder findet zu dir.« Er rüttelte am Türgriff. »Mach doch auf!«
Livia wurde ganz warm, als sie seine Stimme hörte. »Ich kann nicht aufsperren!«
»Was ist los? Wieso kommst du nicht mehr? Die Consciência Negra war richtig fett! Bist du krank?«
Livias Schilderungen überschlugen sich. Sie strampelte mit den Beinen, warf die Arme um sich und hüpfte hin und her, als alles gleichzeitig aus ihr hervorbrach. Das Schulverbot, die geheimen Proben, die aufgeflogenen Lügen, die hirnlose Tante und zuletzt schon zwei Tage nichts zu essen. Tante Célia hatte die Küche leer geräumt und das wenige Essbare bei Dona Marlene untergebracht. Zum Wohle des Kindes, wie Tante Célia nicht müde wurde zu betonen.
»Du musst hier raus.« sagte Rasta betroffen.
»Wie denn?«