Schwarzes Requiem - Jean-Christophe Grangé - E-Book

Schwarzes Requiem E-Book

Jean-Christophe Grangé

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Beschreibung

Ein Höllenritt ins Herz afrikanischer Finsternis.

Niemand hält seine dunklen Geheimnisse so gut verschlossen wie Grégoire Morvan: Familientyrann, skrupelloser Geschäftsmann und graue Eminenz des französischen Innenministeriums. In den 1970er Jahren brachte Morvan im Kongo einen bestialischen Killer zu Fall. Der »Nagelmann« ließ seine Opfer einem grausamen Ritual folgend mit Nägeln und Spiegelscherben gespickt zurück.
Und nun scheint er einen mysteriösen Nachfolger zu haben, der Morvans gesamte Familie bedroht! Morvans Sohn Erwan, Kommissar bei der Pariser Polizei, reist im Alleingang in den Kongo, um die wahre Geschichte seines Vaters zu ergründen. Er ahnt nicht, dass er damit das Tor zur Hölle öffnet ...

»Ein meisterhaft gesponnenes Netz aus Angst, Gewalt und Lüge.« LIRE

»Ein herausragender Thriller und Abenteuerroman voller tragischer Wendungen und unerwarteter Enthüllungen.« LE FIGARO

Schwarzes Requiem ist das Sequel zu Purpurne Rache um das blutige Erbe eines Ritualmörders und die dunkle Vergangenheit eines skrupellosen Familienpatriarchen.

Weitere spannende Meisterwerke des Thriller-Genies bei beTHRILLED:

Der Flug der Störche
Der steinerne Kreis
Das Imperium der Wölfe
Das schwarze Blut
Das Herz der Hölle
Choral des Todes
Der Ursprung des Bösen
Die Wahrheit des Blutes
Purpurne Rache

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Seitenzahl: 914

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INHALT

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitelI · Das rote Herz der Erde12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758II · Kleiner Bastard5960616263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103104105106III · Pharmakon107108109110111112113114115116117118119120121122123124125126127128129130131132133134135136137138139140141142143144145146Über den AutorWeitere Titel des AutorsImpressum

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Über dieses Buch

Niemand hält seine dunklen Geheimnisse so gut verschlossen wie Grégoire Morvan: Familientyrann, skrupelloser Geschäftsmann und graue Eminenz des französischen Innenministeriums. In den 1970er Jahren brachte Morvan im Kongo einen bestialischen Killer zu Fall. Der »Nagelmann« ließ seine Opfer einem grausamen Ritual folgend mit Nägeln und Spiegelscherben gespickt zurück.

Und nun scheint er einen mysteriösen Nachfolger zu haben, der Morvans gesamte Familie bedroht! Morvans Sohn Erwan, Kommissar bei der Pariser Polizei, reist im Alleingang in den Kongo, um die wahre Geschichte seines Vaters zu ergründen. Er ahnt nicht, dass er damit das Tor zur Hölle öffnet …

JEAN-CHRISTOPHE GRANGÉ

SCHWARZESREQUIEM

Aus dem Französischen von Ulrike Werner-Richter

IDAS ROTE HERZ DER ERDE

1

Flughafen von Lubumbashi, Kongo-Kinshasa. Die Luft war erfüllt vom Kerosingestank. Rund um das Flugzeug, das auf die Schnelle noch gestrichen worden war, herrschte ein Durcheinander aus schwarzen Menschen und weißen Packballen. Heftiges Gerangel beim Einsteigen. Rufe. Gesten. Wallende Gewänder. Kartons. War dieses Ringen schlicht typisch für diesen Ort? Oder gar ein bestürzendes Exempel sozialen Rückschritts?

Grégoire Morvan stellte sich diese Frage lange nicht mehr. Er wusste, dass am Ende des Rollfelds Menschenfleisch stückweise zur familiären Verkostung verkauft wurde. Dass der Pilot vor dem Abflug im Cockpit seinen persönlichen Zauberer konsultierte. Dass ein Großteil der Ersatzteile längst vertickt worden war, um defekte Motoren zu reparieren. Und was die Passagiere betraf …

Aber diesen Flieger würde Morvan nicht nehmen. Er war nur gekommen, um alles Notwendige für seinen Flug am nächsten Tag zu regeln. Er hatte eine Antonow gechartert und das aus eigener Tasche finanziert. Er hatte die Zollbeamten, die Einreisebehörden und die verantwortlichen Militärs bestochen, und dabei auch die »Protokollanten« nicht vergessen, jene unzähligen Schmarotzer, die auf dem Flughafen herumlungerten und sich ausschließlich von Bakschisch ernährten. Auch die notwendigen Papiere hatte er besorgt, darunter Flugplan, Kennzeichen, Versicherungsunterlagen, Zeugnisse und Genehmigungen. Natürlich alles gefälscht. Aber daran würde sich niemand stören. Im Kongo gab es keine Originale, nur Kopien.

Zwei Tage zuvor war er mit seinem Sohn Erwan nach einem kurzen Zwischenstopp in Kinshasa in Lubumbashi gelandet. Neun Stunden Flug bis zur Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, vier weitere bis zu jener der Provinz Katanga, dem reichsten und ständig von Krieg bedrohten Gebiet des Landes. Keine besonderen Vorkommnisse.

Vater und Sohn reisten gemeinsam, aber aus unterschiedlichen Gründen. Erwan wollte in der Asche der Vergangenheit herumstochern. Er war auf dem Weg nach Lontano, um eine Ermittlung zu überprüfen, die Morvan höchstpersönlich vor vierzig Jahren in der Bergbausiedlung im Norden Katangas gegen den sogenannten Nagelmann geführt hatte. Der Serienmörder hatte ausschließlich weiße Frauen attackiert, doch Erwan war der Meinung, dass Grégoire Morvan sich damals geirrt hatte. Der Nagelmann sei keineswegs, so Erwan, für das siebte Opfer, Catherine Fontana, verantwortlich. Was zum Teufel weißt du überhaupt darüber?

Grégoire hatte alles versucht, um seinen Sohn von diesem sinnlosen Kreuzzug abzubringen, aber als er im Polizeipräsidium hörte, dass Erwan unbezahlten Urlaub beantragt und ein Flugticket gekauft hatte, wurde ihm klar, dass nichts und niemand Erwan von seinem Vorhaben abhalten konnte. Also hatte er beschlossen, ihn zu begleiten. Schließlich hatte er selbst in Katanga auch etwas zu erledigen …

»Sollen wir, Boss?«

Grégoire wandte sich um. Am Rand des Rollfelds stand Michel mit einem riesigen Schlüsselbund in der Hand, als gehöre ihm der gesamte Flugplatz. Michel war klein und zierlich, sein Hals lang und dünn. Wegen seines riesigen krausen Haarschopfs wurde der Schwarze nur die Matte genannt. Er trug eine Trevirahose und ein schreiend buntes Hemd. Michel war Morvans Vertrauensmann – in Lubumbashi ein recht relativer Begriff.

Grégoire folgte dem Schwarzen. Die Sonne brannte erbarmungslos und rang alle Gefühle nieder, allenfalls eine Art Lichtlähmung war zu spüren, ein betäubendes, weißes Strahlen, das jeden Gedanken und jede Hoffnung erstickte.

Die Ausrüstung befand sich in einem doppelt verschlossenen Hangar, der von Soldaten bewacht wurde. Die Matte schloss das Tor auf und ließ es auf der Laufschiene zur Seite gleiten.

»Bitte sehr.«

Im Hangar standen zwei Renault-Kübelwagen und drei Toyota-Geländefahrzeuge ohne Passagiersitze, die man im Monat zuvor anderen Bergbaugesellschaften abgekauft hatte. Die Mittel dafür hatte Morvan sich bei der Hauptversammlung von Coltano genehmigen lassen, dem von ihm selbst in den 1990er-Jahren gegründeten Bergbauunternehmen. Als Grund für den Bedarf hatte er notwendige Erneuerungsmaßnahmen in der Gegend von Kolwezi angeführt. Tatsächlich jedoch hatte er vor, von seinen Geologen entdeckte neue Vorkommen, die sich als wahre Goldgrube entpuppen könnten, an der Gesellschaft vorbei zu erschließen.

Morvan bückte sich und überprüfte die Reifen. Lenkräder und Motoren befanden sich da, wo sie hingehörten.

»Sprit?«

»Wenn wir dort sind.«

Die Fässer überprüfte er nicht. Es gab Wichtigeres.

»Und der Rest?«

Mit konspirativem Ausdruck zeigte Michel auf die im Schatten aufgereihten Feldkisten, suchte einen Schlüssel aus seinem Bund und öffnete eine. In der Metallkiste lagen vierzig FAMAS-Sturmgewehre, Magazine und Handfeuerwaffen. Die Schwarzen im Busch waren zwar nicht in der Lage, diese Waffen zu bedienen, aber das würde Cross, der seine Truppen befehligte, ihnen schon beibringen.

»Wo hast du die denn gefunden?«

»MONUSCO.«

Die UN-Friedensmission im Kongo. Mehrere Tausend Blauhelme, die sich seit fünfzehn Jahren mit diesem Saustall herumschlugen. Riesige Truppen, aber winzige Ergebnisse. Im allgemeinen Wirrwarr gingen dann und wann Waffen und Munition verloren, um sich später in gewissen Metallkisten in gewissen Hangars wiederzufinden …

Grégoire griff nach einem FAMAS und betätigte den Verschluss. Die kleine Bewegung ließ gallenbittere Erinnerungen aufsteigen. Viele Jahre Kampf, Eroberung und Gewalt mitten in seinem geliebten und gleichzeitig so verhassten Afrika.

Er wählte eine Glock 9 mm, steckte sie hinten in den Gürtel und stopfte sich mehrere Magazine in die Hosentaschen. Als Geschenk für Erwan. Auch wenn er ihn daran hindern wollte, seinen Plan in die Tat umzusetzen, wollte er ihn doch keinesfalls nackt dastehen lassen. Unter keinen Umständen.

»Wir haben auch einen Vorrat an 7,62 mm M43.«

Patronen für das AK-47. Der Klassiker, natürlich, die gute alte Kalaschnikow des modernen Afrikaners.

»Perfekt. Wie viele Leute nehmen wir mit?«

»Acht.«

»Sichere Kandidaten?«

»So sicher wie ich selbst.«

»Beunruhigend.«

Michel kicherte, aber Morvan scherzte nicht. Noch vor einer Sekunde hatte er sich wie ein fünfundzwanzigjähriger Kämpfer gefühlt, als Pionier in einer neuen Welt, aber nun spürte er plötzlich die Nähe des Grabes. Die Vorstellung, sich mit einer Bande von Faulpelzen auf der Suche nach verborgenen Erzlagern durch den Busch zu quälen, schlauchte ihn schon jetzt.

»Boss, die von mir ausgewählten Männer haben alle mal der kongolesischen Armee angehört und …«

Morvan hörte nicht mehr hin. Wenn alles gelaufen war wie geplant – in Afrika ein Ding der Unmöglichkeit –, waren etwa tausend Kilometer nördlich schon Schächte in die Minen gegraben und zudem eine Straße bis zum etwa zwanzig Kilometer entfernten Rollfeld angelegt worden. Darauf könnten die ersten Tonnen Coltan mit Lkws zum Flugzeug transportiert werden und die Förderung möglichst schnell vonstattengehen. Ein paar Monate lang würde er Schleichhandel mit Ruanda betreiben und anschließend mit gut gefüllten Taschen seine Partner informieren, darunter die Behörden von Katanga, die kongolesischen Aktionäre und seine europäischen Teilhaber. Dann erst würde er teilen, was von den Vorkommen noch übrig war.

Soweit die Theorie. Die letzten Nachrichten jedoch – lakonische Mails, die versprachen, dass alles in trockenen Tüchern war – stimmten ihn nicht gerade optimistisch.

»Gute Arbeit, Michel.«

Morvan begutachtete die Ausrüstung, und seine Laune besserte sich. Dies hier gab ihm die Möglichkeit, auch noch mit siebenundsechzig den afrikanischen Fitzcarraldo zu spielen. Letztendlich hatten die Racheanwandlungen seines Sohnes ihn dazu getrieben, bis an die Grenze zu gehen. Außerdem konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: reich werden und den Kleinen ein wenig bremsen.

»Sieh zu, dass wir morgen Vormittag hier wegkommen.«

»Kein Problem, Boss.«

Morvan wandte sich um und ging unter der sengenden Sonne davon. Er trug ein einfaches blaues Leinenhemd über seiner beigen Stoffhose – ein Zugeständnis an das Klima, denn üblicherweise verzichtete er unter keinen Umständen auf seinen makellos gebügelten schwarzen Anzug.

Ein Stück entfernt setzten sich dröhnend die Motoren des Flugzeugs in Bewegung. Menschentrauben hingen an der Fluggastbrücke, die langsam zurückgeschoben wurde. Es kam zu Prügeleien. Morvan, von der Statur her wie die Eingeborenen und doch mit heller Haut, kratzte seinen krausen Haarschopf und verscheuchte mit einer einzigen Geste die Bettler, die ihn erspäht hatten.

Diese Reise würde seine letzte Lüge sein.

2

Erwan saß auf der Hotelterrasse, als sein Vater sich zum Abendessen zu ihm gesellte. Es war noch nicht einmal neunzehn Uhr, aber bereits stockdunkel.

»Wir fliegen morgen früh«, verkündete der Alte triumphierend.

»Ich habe es dir schon hundertmal gesagt«, antwortete Erwan, ohne von der Speisekarte aufzublicken, »ich begleite dich nicht.«

Morvan ließ sich schwerfällig auf den Plastikstuhl fallen. Mit hundert Kilo auf einen Meter neunzig entsprach sein Äußeres in etwa der kongolesischen Norm.

»Wir wollen in dieselbe Richtung, also flieg einfach mit.«

»Nein, ich will eigenständig bleiben.«

Grégoire lachte auf.

»Du wirst mir doch hoffentlich keine Beamtenbestechung vorwerfen.«

Erwan sah seinen Vater an, dessen Umrisse sich vor dem beleuchteten Swimmingpool abzeichneten. Über dem türkisfarbenen Wasser hingen Wolken von Mücken wie ein vibrierender Heiligenschein.

»Ich will nicht, dass du mir im Weg stehst«, erklärte Erwan. »Ich muss meine Informationen selbstständig finden. Unabhängig bleiben. Objektiv.«

»Du redest wie ein Journalist.«

»Eine vierzig Jahre alte Sache wieder auszugraben ist eher die Arbeit eines Historikers.«

Erwan war nach Katanga gekommen, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Manchmal verdächtigte er seinen Vater, den wahren Mörder von Catherine Fontana zu decken, dann aber dachte er wieder, dass der Alte, wie alle anderen, fest an die Schuld des Nagelmanns mit Namen Thierry Pharabot geglaubt hatte. Vor allem aber fiel es ihm schwer, sich eine Ermittlung ohne Team, ohne technische Ausrüstung, ohne Indizien und ohne Zeugen vorzustellen.

Der Kellner näherte sich. Die Terrasse wurde nur vom Pool und den ultravioletten Mückenlampen beleuchtet, und so waren im Halbdunkel lediglich sein weißes Hemd, die Fliege und der V-Ausschnitt seiner Weste zu sehen. Sein wiegender Gang verlieh ihm die Gestalt eines kopflosen Schlafwandlers.

»Zwei Mal Fingerfisch«, bestellte Morvan kurz entschlossen.

»Schon wieder?«

»Hier gibt es doch nichts anderes. Es ist der beste Fisch im Fluss. Und mit Reis hält er bis übermorgen satt. Ein Tag weniger Scheißerei.«

Genau das Gleiche hatte er auch schon an den beiden vergangenen Tagen bestellt und behauptet. Wenn das so weiterging, würde Erwan wohl einen Monat lang unter Verstopfung leiden.

»Ich will die Wahrheit herausfinden«, fuhr der junge Morvan schulmeisterlich fort. »Das ist doch vollkommen legitim, oder?«

»Aber sicher. Nur – wonach genau suchst du? Geht es dir um ein vierzig Jahre altes Verbrechen? Um ein verschwundenes Mädchen, von dem du absolut nichts weißt, in einer Stadt, die es längst nicht mehr gibt? Wie kannst du so sicher sein, dass der Nagelmann dieses Mädchen nicht auch getötet hat?«

»Weil er sich zum Zeitpunkt des Mordes achtzig Kilometer von Lontano entfernt aufhielt.«

»Was weißt du schon darüber?« Der Alte stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Glaubst du, in Afrika kann man sich auf Daten verlassen? Oder auf Entfernungen? Auf Zeugenaussagen? Ich finde es ziemlich arrogant von dir, meine Arbeit über ein Geschehen anzuzweifeln, das sich vor deiner Geburt ereignet hat.«

Erwan reagierte friedlich, der zum x-ten Mal wiederholte Streit zwischen Vater und Sohn führte ohnehin zu nichts. Besser war es, Ruhe zu bewahren.

»Und genau das ist der Grund«, sagte er. »Du warst zu nah dran. Mittendrin. Aber mit einem gewissen Abstand – vielleicht …«

Morvan wollte ihn schon anbrüllen, besann sich dann aber und lehnte sich lächelnd zurück.

»Du bist Bulle. Du weißt ebenso gut wie ich, dass Fakten nicht immer logisch sind und auch nicht immer in ein Zeitschema passen. Glaubst du nicht auch, dass es ziemlich wahrscheinlich ist, dass das Mädchen von einem Mörder getötet wurde, der zuvor schon sechsmal auf die gleiche Weise gemordet hat?«

Erwan nahm sich eine Handvoll Erdnüsse, denn die Fingerfische brauchten jeden Abend so lang, dass man meinen könnte, sie müssten den Fluss in seiner ganzen Länge gegen den Strom hinaufschwimmen, bevor sie auf ihren Tellern landeten.

»Wenn dem so ist, werde ich die entsprechenden Indizien finden und alles innerhalb weniger Tage überprüft haben.«

»Aber wo willst du deine Indizien finden?«

»In den Prozessakten des Falles Pharabot.«

»Die existieren nicht mehr.«

»Doch. Ich habe sie wiedergefunden.«

Morvan erstarrte.

»Wo?«

»Ganz hier in der Nähe. Im Collège Saint-François-de-Sales.«

»Hast du sie schon durchgesehen?«

»Morgen früh gehe ich hin. Mir wurde versichert, dass sie dort eingelagert sind.«

»Die haben dich verarscht.«

Erwan breitete fatalistisch die Hände aus. Sein Phlegma nervte seinen Vater, und weil er das wusste, übertrieb er noch ein wenig.

»Das sehen wir ja dann«, gab er bedächtig zurück.

Morvan schlug mit der Hand auf den Tisch. Das Papiertischtuch dämpfte das Klirren der Teller.

»Wir sind hier im Kongo, verdammt. Spuren verschwinden innerhalb von zwei Stunden, Berichte nach zwei Tagen und Archive nach einem Monat. Beständig sind hier nur drei Dinge: der Regen, der Schlamm und der Busch. Alles andere kannst du vergessen.«

Erwan musste ihm zustimmen. Am Tag zuvor war er auf der Suche nach alten Zeitungsartikeln erfolglos durch die Stadt gelaufen. Er hatte nach juristischen Instanzen und Behördenstrukturen geforscht. Auch nichts. Heute war er auf dem Rathaus, am Sitz der Erzdiözese von Lubumbashi und in den Büros der Minengesellschaften gewesen. Alles umsonst. Jetzt blieb nur noch Saint-François-de-Sales.

»Ich nehme an, du wirst auch nach Zeitzeugen suchen«, fuhr Grégoire Morvan fort.

»Ich will es zumindest versuchen.«

»Aber du weißt um die Lebenserwartung in Afrika?«

Erwan antwortete nicht. Sein Vater hatte genug von der Auseinandersetzung und hob sein Glas mit einem exotischen Früchtecocktail. Morvan trank niemals Alkohol.

»Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück.«

Sie prosteten einander zu und begruben die Streitaxt.

»Aber Spaß beiseite«, meinte Morvan wohlwollend, »wie willst du nach Lontano kommen?«

»Es gibt Linienflüge nach Ankoro, westlich des Tanganjika-Sees.«

»Die sind schon seit Monaten eingestellt. Es gibt dort gar keine Landebahn mehr.«

»Davon hat am Flughafen keiner etwas gesagt.«

»Für ein ordentliches Bakschisch versprechen sie dir auch, dass du auf einem Nilpferd dorthin reiten kannst.«

Erwan zuckte die Schultern und griff wieder zu den Erdnüssen.

»Mal angenommen, du kommst irgendwie dahin«, räumte Morvan ein, »dann liegt Lontano immer noch mehr als hundert Kilometer weiter nördlich.«

»Weiter geht es mit einem Frachtkahn auf dem Fluss. Ich habe mich erkundigt: Auf diese Weise werden die Dörfer so versorgt, das nutzen sogar chinesische Händler.«

»Aber du weißt schon, dass du dich in Nord-Katanga befindest?«

»Ja, und?«

»Dort herrscht Krieg, Herzchen!«

Auf die Vorlesung über den Kongo-Konflikt wartete Erwan schon seit ihrer Ankunft. Aber warum nicht? Vor der Abreise hatte er alles gelesen, was er darüber finden konnte, allerdings nicht sehr viel verstanden.

»Ich will dir die Situation mal erklären«, fuhr Morvan im Dozententon fort.

Schon zwei Monate zuvor, anlässlich des Begräbnisses von Philippe Sese Nseko, dem Direktor von Coltano, hatte Morvan versucht, seinem Sohn die Umstände zu verdeutlichen. Aber Erwan hatte kaum zugehört – damals glaubte er nicht, jemals wieder in diese Gegend zu kommen.

»Das Tohuwabohu hier hat weder Anfang noch Ende, aber weil wir mit irgendetwas beginnen müssen, nehmen wir mal den Völkermord in Ruanda 1994. Innerhalb weniger Tage wurden eine Million Tutsi von den Hutu abgeschlachtet. Afrikanischer Irrsinn vom Feinsten. Ich nehme an, dir sind die Einzelheiten bekannt, also gehe ich nicht näher darauf ein.

Das war nämlich erst der Anfang. Als die Tutsi in Kigali wieder an die Macht kamen, flohen die Hutu zu den Großen Seen im Osten des Kongo. Binnen weniger Tage kamen Millionen Flüchtlinge nach Kivu, und die Einwohnerzahl der Städte verdoppelte, verdreifachte oder vervierfachte sich innerhalb einer Nacht. Hastig wurden Lager aufgebaut. Niemand wusste, was man mit den Hutu anfangen sollte, außerdem fürchtete man rachsüchtige Tutsi.

Paul Kagame, selbst Tutsi und neuer Präsident von Ruanda, schickte ihnen natürlich sofort seine Truppen hinterher und entledigte sich bei dieser Gelegenheit auch gleich des alten Mobutu. Er hätte ihn nach dem Völkermord an seinem Stamm sogar enthaupten können, ohne dass der Westen Einspruch erhoben hätte. Aber um seine Invasion wenigstens ansatzweise legitim erscheinen zu lassen, zettelte er eine vorgebliche Revolte der Kongolesen an, indem er ein paar ehemalige Rebellen versammelte, unter ihnen auch Laurent-Désiré Kabila, ein Veteran aus den 1960ern und seit einer halben Ewigkeit im Ruhestand.«

»Und so begann der erste Kongokrieg«, schnitt Erwan ihm das Wort ab.

Grégoire seufzte. Er hielt sich für einen ausgewiesenen Fachmann in afrikanischen Angelegenheiten, und genau aus diesem Grund sprach er selten darüber. Seiner Ansicht nach gab es in Afrika weder Probleme noch Lösungen, sondern lediglich ein undurchdringliches Wirrwarr, das von Tag zu Tag neu bewältigt werden musste.

»Der erste Krieg dauerte nur wenige Monate und endete 1997. Als Kabila wieder an der Macht war, zeigte er seine Dankbarkeit auf sehr eigene Weise: Er lehnte sich gegen Kagame auf und verjagte die Tutsi aus dem Land, die er als ›dreckige Eindringlinge‹ beschimpfte.«

Der Fisch war immer noch nicht auf den Tellern. Am Tag zuvor hatten sie über eine Stunde warten müssen, und als die Bestellung schließlich kam, war der Fingerfisch kalt gewesen und sie hatten keinen Hunger mehr gehabt.

Erwan lauschte nicht nur seinem Vater, sondern auch dem Rascheln im Busch ringsum. Er empfand das wimmelnde Leben in der Finsternis beinahe als tröstlich. Von Zeit zu Zeit stimmten die Ochsenfrösche ein Solo an.

Er nahm es noch einmal mit seinem Vater auf.

»Über diese Dinge habe ich viel gelesen. Als Vergeltungsmaßnahme bewaffnete Kagame seine Truppen noch einmal und fiel in die Gegend um die Großen Afrikanischen Seen ein. Zweiter Kongokrieg.«

»Richtig«, bestätigte Morvan zögernd. »Aber die Ausgangssituation hatte sich verändert. Kabila hatte genügend Zeit gehabt, neue Truppen zu rekrutieren. Die berühmten kadogos, die Kindersoldaten. Außerdem bewaffnete er die Hutu, also die gleichen, deren Ermordung er im Osten des Landes angestiftet hatte. Darüber hinaus hatte er in Angola und Simbabwe neue Verbündete gefunden. Kagame hingegen paktierte mit Uganda und Burundi.

Und so brach mitten in Afrika eine Art Kontinentalkrieg aus, der eine Kettenreaktion nach sich zog. Milizen wie die Mai-Mai, Stämme wie die Banyamulenge und Rebellen beteiligten sich. Selbst innerhalb der kongolesischen Armee brachen zwischen den ehemaligen Streitkräften von Zaire und den Kindersoldaten alte Rivalitäten aus … Wenn wir weiter so ins Detail gehen, werden wir nie fertig.«

»Aber nach allem, was ich gelesen habe, hat sich die Situation wieder beruhigt, oder?«

»Von wegen! Es gab Unmengen von Verhandlungen, Waffenstillstandsvereinbarungen und Allianzen, aber immer wieder ging es von vorn los. Ehrlich gesagt weiß niemand, was noch kommt.«

»Außer dir.«

»Den Anspruch erhebe ich nicht, aber zwei Dinge sind sicher: Erstens wäre dieser Krieg längst beendet, wenn er nicht auf einem so reich mit Bodenschätzen gesegneten Landstrich stattfinden würde. Und zweitens ist immer die Zivilbevölkerung die Leidtragende. Bisher hat es bei den Auseinandersetzungen mindestens fünf Millionen Tote gegeben – mehr als in Jugoslawien, Afghanistan und im Irak zusammen. Am schlimmsten betroffen sind natürlich Frauen und Kinder, die darüber hinaus Opfer von Epidemien, schlechter Ernährung, Vergewaltigungen und mangelhafter Hygiene werden.«

In diesem Augenblick wurde der Fisch aufgetragen. Trotz der langen Wartezeit und des unerfreulichen Themas machten sie sich hungrig über ihre Mahlzeit her und kauten schweigend den geschmacklosen Fisch. Erwan überlegte. Sein Vater bestätigte im Prinzip alles, was er gelesen hatte, aber die Fakten wurden mit dem Klang seiner Stentorstimme sehr viel realistischer.

Nach wenigen Minuten hakte er nach.

»Eine Information hast du mir noch vorenthalten: Ist es heutzutage ruhiger – ja oder nein?«

»Die Blauhelme haben einiges bewirkt, also ja. Anführer wurden festgenommen und man verhandelt; trotzdem sind immer noch Waffen im Umlauf, die Minen werden zur Finanzierung sogenannter Selbstverteidigungsgruppierungen auf Teufel komm raus ausgebeutet, und die Zentralregierung hat in dieser Gegend nicht die geringste Macht.«

»Laut meinen Quellen ist der Norden einigermaßen sicher. Der Krieg spielt sich in Kivu ab und …«

»Hörst du eigentlich zu, wenn ich mit dir rede? Noch mal: Niemand weiß, was passieren wird, schon gar nicht in der Gegend um Tanganjika. Die Tutsi können von einem Tag auf den anderen wieder aufmucken. Und dann flammen die Feindseligkeiten gegenüber den Streitkräften sofort wieder auf.«

»Na, du machst einem ja Mut.«

»Das ist mein Job.«

Erwan wusste, dass Morvan die Erschließung neuer Vorkommen nördlich von Lontano vorbereitete, und musste anerkennen, dass der Padre mit seinen fast siebzig Jahren noch ordentlich Mumm in den Knochen hatte.

»Jedenfalls reisen wir in die gleiche Richtung«, fuhr Morvan fort. »Du solltest mein Angebot annehmen und mitfliegen. Ich setze dich in Ankoro ab und komme nach ein bis zwei Wochen zurück und sammele dich wieder ein. Du hast also alle Zeit der Welt für deine Angelegenheiten.«

Erwan suchte vergeblich nach der Falle in diesem Angebot. Sein Vater hatte nicht den geringsten Grund, ihm zu helfen. Ganz im Gegenteil. Hastig dachte er nach. Der Flug würde ihm tatsächlich viel wertvolle Zeit ersparen, und Grégoire hatte vermutlich Besseres zu tun, als ihn zu überwachen.

»Vor zwei Uhr nachmittags schaffe ich es aber nicht«, wandte er ein, um nicht zu schnell nachzugeben. »Ich muss zuerst noch zum Saint-François-de-Sales.«

»Ich warte auf dich«, versprach Morvan und reichte ihm die Hand.

Erwan griff danach, konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, sich damit eine Schlinge um den Hals zu legen.

3

Die Stadt mit ihren breiten, palmenbestandenen Alleen und den Häusern mit Dachterrassen lag wie verlassen unter der gleißenden Sonne. Erwan wusste, dass er träumte, aber sein Traum war stärker als alles andere und bildete ein geschlossenes Universum, aus dem er nicht entkommen konnte.

Jeder Schritt fiel ihm schwer. Seine Füße versanken trotz des harten Asphalts im Boden. Es war sein eigener Körper, der nachgab wie Schlamm. Seine Gliedmaßen enthielten keine Knochen und keine Muskeln mehr. Das Licht verstärkte die Auflösungserscheinungen noch. Er schmolz in der Hitze …

Unter den Torbögen entdeckte er braune Flecken, die wie Gestalten aussahen. Als er sich näherte, erkannte er geschwärzte, fettige Häute, die fast sternförmig und etwa einen Meter breit an die Türen genagelt waren.

Menschenleder …

Er erinnerte sich, dass diese Stadt für ihre Gerber berühmt war, die ausschließlich Menschenhaut gerbten.

Er hörte einen Schrei, dann noch einen und noch einen. Erwan versuchte, schneller zu laufen, aber seine Beine verschmolzen immer mehr mit dem Asphalt. Er floh nicht, er sank ein … in sich selbst.

Die Schreie wurden so unerträglich, dass sein Schädel wie eine Muschel zerbarst. Er öffnete die Augen. Durch das Moskitonetz sahen die Zimmerwände aus, als zuckten sie. Von draußen drangen aufgeregte Stimmen herein. Sie waren echt. Brandgeruch lag in der Luft. Erwan richtete sich auf und verstand, dass irgendwo etwas in Flammen stand.

Er kämpfte sich zwischen den Gazestreifen hindurch, stieg schwitzend aus dem Bett und tapste zum orange leuchtenden Fenster.

Bäume versperrten den Blick auf die Straße, doch das Geschrei von draußen war deutlich zu hören. Hotelgäste und Personal standen im Garten, ihre langen Schatten überschnitten sich auf dem Rasen. Erwan blickte auf die Uhr: vier Uhr am Morgen.

Er schlüpfte in Hemd und Hose, griff nach dem Zimmerschlüssel und ging hinaus. Seinen Vater zu wecken konnte er sich sparen, der befand sich sicher längst draußen. Der Alte schlief nie – zumindest nicht so wie normale Menschen, um sich auszuruhen und seinen Geist zu entspannen.

Draußen hatte Erwan den Eindruck, nackt in einen Heizkessel einzutauchen. Der Hof. Die Straße. Brandgeruch kroch in seine Nase und verstopfte seine Lunge. Der Himmel war rot, es knackte wie ein gigantischer Kamin. Die Leute schrien, rannten aufgeregt umher, rempelten sich gegenseitig an. Erwan stellte fest, dass die Menschenmenge nicht etwa flüchtete, sondern im Gegenteil auf die Katastrophe zulief.

Er folgte dem Strom und empfand dabei eine seltsame Fiebrigkeit, ähnlich der erwartungsvollen Erregung in seiner Kindheit angesichts eines aufziehenden Gewitters. Alle schienen von den gleichen ambivalenten Gefühlen getrieben, von denen niemand genau wusste, ob es sich um Angst, Bestürzung oder Freude handelte. Auch Kinder rannten wie besessen auf die Flammen zu.

Es ging in eine Seitenstraße, und Erwan stellte fest, dass die Leute mitten in der Nacht scheinbar ohne Probleme ihre Häuser verließen. Lubumbashi: die Stadt, deren Mauern aus Wind zu bestehen schienen. Wieder kam ihm die Siedlung aus seinem Traum in den Sinn, ihre breiten Straßen, die hellen Fassaden, die öligen Häute. Ganz anders als die lauten, düsteren Gassen ohne Straßenbeleuchtung hier. Übelkeit stieg in ihm auf.

Schließlich erreichten sie einen Platz aus festgetrampeltem Lehmboden, überdacht von einer Kuppel aus Rauch. Kupferfarbene Adern und purpurne Lichter durchzogen den dichten Qualm wie Vulkanspalten. Hier herrschte blanke Panik. Männer und Frauen rannten wild durcheinander in alle Richtungen, beladen mit Taschen und unterschiedlichsten Dingen, stießen schimpfend gegeneinander. Sie verließen das Viertel, bevor es den Flammen zum Opfer fiel.

Im Augenblick brannte nur ein einziges Gebäude, ein dreigeschossiger Block, dessen Fenster rote Flammen und schwarzen Ruß ausspuckten. Der Brand schien sich an seiner eigenen Wucht zu ergötzen und sich wie trunken in der glutheißen Nacht auszubreiten.

Erwan kam ein Gedanke. Er zupfte eine Frau am Ärmel, die mit einem Kind unter dem einen und mehreren Tüten unter dem anderen Arm davonrannte.

»Was ist das für ein Gebäude?«

Die Fliehende blickte ihn verwirrt an. Entweder verstand sie die Frage nicht, oder sie empfand sie als absurd.

»Was brennt da?«, wiederholte Erwan.

»Saint-François-de-Sales. Das Kolleg.«

Erwan ließ die Frau los und betrachtete das Gebäude, auf das er all seine Hoffnungen gesetzt hatte. Es war nur noch eine rot glühende Struktur, deren Wände wie Zucker zerschmolzen. Kurz dachte er an die Schüler der Einrichtung, aber vermutlich befand sich niemand im Innern.

Als er sich umsah, bemerkte er die armseligen Hilfsmittel der Feuerwehrleute. Die Männer in Shorts und Hemd bekämpften die Feuersbrunst unter den Augen der Blauhelme, die mit hängenden Armen die Befehle eines Vorgesetzten zu erwarten schienen, mit Eimern, Wassersäcken und Schaufeln voll Erde.

Erwan stand wie versteinert da. In dem Kolleg befand sich zweifellos nicht sehr viel Brennbares, mit Ausnahme der Archive, auf die er so gezählt hatte. Zeugennamen, ausführliche Details über die Verbrechen des Nagelmanns, Verhörprotokolle und Plädoyers gingen vor seinen Augen in Flammen auf.

Die gerade erst begonnenen Ermittlungen endeten schon hier.

Dieser Gedanke ließ ihn Ausschau nach seinem Vater halten. Er brauchte sich nur umzudrehen, denn der Alte saß direkt hinter ihm. Er hatte sich an eine Mauer gelehnt, und malte mit einem Zweig auf den Boden. Sein rußgeschwärztes Gesicht erinnerte an eine Totenmaske. Weder die Feuersbrunst noch das Tohuwabohu ringsum schien ihn zu interessieren.

Als fühle er sich beobachtet, hob er den Blick und entdeckte seinen Sohn. Dann setzte er mit einer Hand zu einer entschuldigenden Geste an, und Erwan wurde klar, dass er es war, der den Brand im Collège Saint-François-de-Sales gelegt hatte.

4

Jetzt kannst du schon mittags mit mir fliegen.«

»Du kotzt mich an!«

Sieben Uhr morgens. Erwan nahm am gleichen Tisch wie am Vorabend gegenüber seinem Vater Platz. Egal, wo auf der Welt man sich befindet, zwei Tage reichen aus, um sich etwas anzugewöhnen. Erwan hatte nicht mehr einschlafen können, sondern wütend und ohnmächtig vor sich hin gegrübelt. Sollte er auf die Ermittlung verzichten? Nein, das kam nicht infrage. Er musste jetzt unverzüglich zur nächsten Etappe übergehen, allerdings im Blindflug. Es galt, die letzten Zeugen in den Mordfällen ausfindig machen, ohne deren Namen und sonstige Informationen zu kennen, und außerdem Fakten, Daten und Orte ohne den geringsten Anhaltspunkt neu zusammenstellen.

»Wenn du glaubst, ich hatte meine Finger im Spiel …«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

Morvan schenkte ihm Kaffee ein. Mit seiner dunklen Sonnenbrille wirkte er noch undurchschaubarer als sonst. Er trug ein rosa Leinenhemd und eine makellose, cremefarbene Hose. In seiner Anwesenheit hatte Erwan immer das Gefühl, sich geschmackloser zu kleiden als ein Penner.

»Die Gewissheit der Jugend …«, murmelte Grégoire.

Natürlich war das ironisch gemeint, denn Erwan hatte die vierzig längst überschritten. Er setzte nun ebenfalls seine Sonnenbrille auf, wodurch sie zumindest mit gleichen Waffen kämpften, und trank den lauwarmen, geschmacklosen Kaffee. Das Croissant war wesentlich besser.

»Weißt du, was wir tun sollten?«, begann Erwan. »Wir sollten uns einfach gegenseitig ignorieren. Du fährst zu deinen Minen, ich kümmere mich um meinen Kram.«

»Willst du immer noch den Fluss hinauffahren? Ein bisschen Apocalypse Now im Kongo? Das wird dann so wie im ursprünglichen Roman von Conrad, der …«

Erwan hörte nicht zu. Er dachte an das unvergleichliche Schauspiel, das ihm die Regengüsse im Morgengrauen geboten hatten. Vom offenen Fenster aus hatte er die Geschosse aus Millionen Funken bewundert, die den Boden überschwemmten, während der Brandgeruch noch in der Luft hing. Die Flut brachte den Brand zweifellos unter Kontrolle, aber niemand hier hatte sich die Mühe gemacht, die Hollywoodschaukeln in Sicherheit zu bringen oder Tische und Stühle fortzuräumen. Man ließ den heftigsten Guss der Welt einfach gewähren.

Noch ein Croissant. Je mehr der Alte redete, desto stärker erwachte Erwans Streitsucht wieder zum Leben. Der Hass auf seinen Vater war schon immer seine stärkste Triebfeder gewesen.

»Aber du gestattest mir doch sicher, dir ein paar Ratschläge mitzugeben?«

»Du solltest aufhören, dich wie der König des Kongo zu gebärden.«

»Mein Reich endet genau hier in Lubumbashi. Jenseits davon solltest du dich lieber ganz klein machen. Da oben im Norden nutzt mein Name dir gar nichts.«

»Ich hatte nicht vor, mich seiner zu bedienen.«

»Hast du an deine Genehmigungen gedacht?«

Erwan unterdrückte einen Fluch. Er war von seiner Ermittlung so besessen, dass er für die Expedition selbst nichts unternommen hatte.

»Welche meinst du?«, erkundigte er sich aufs Geratewohl.

»Die vom Provinzgouverneur, vom Tourismusministerium, von der MONUSCO, vom Amt für Infrastruktur und vom Bergbauamt. Die Kandidaten für Erpressung sind hier ziemlich zahlreich vorhanden.«

»Ich habe noch gar nichts unternommen«, gab Erwan zu.

»Wende dich an den Mächtigsten, um die Mäuler der anderen zu stopfen. Und verrate nie, wohin genau du willst.«

»Und wenn ich da bin?«

»Dann bezahlst du. Es wird vielleicht ein bisschen teurer, mehr nicht.« Morvan legte seine Hände flach auf den Tisch, als rolle er eine Karte von Katanga auseinander. »Mal angenommen, du kriegst die Papiere zusammen und findest auch einen Flieger, der dich nach Ankoro bringt, dann nimmst du deinen Frachtkahn, richtig?«

»Richtig.«

»Hast du schon mal einen gesehen?«

»Nein.«

»Normalerweise fahren immer zwei zusammen. Sie sind mehrere Hundert Meter lang und transportieren alles, was du dir vorstellen kannst, unter anderem Familien, Vieh, Nahrungsmittel, Baumaterial, Sprit, Soldaten, Priester, Prostituierte. Ziemlich urig, die Stimmung.«

»Wie lange braucht man bis Lontano?«

»Ein paar Tage. Genaue Angaben gibt es nicht. Seit wieder Krieg droht, halten die Schiffe immer nur kurz, laden Leute, Lebensmittel, Medikamente der NGOs und manchmal Waffen aus und fahren so schnell wie möglich weiter, bevor sie die Aufmerksamkeit der Milizen erregen.«

»Wie sieht es mit der Rückfahrt aus? Wann kommen die Frachtkähne zurück?«

»Sie kommen nicht zurück. Zumindest nicht auf dieser Seite des Flusses.«

»Es gibt doch Schiffe, die nach Ankoro zurückfahren, oder?«

»Schon möglich. Solltest du allerdings vorhaben, ein paar Tage in Lontano zu bleiben, tendieren deine Überlebenschancen gegen null. Du wirst deine Nachforschungen während der wenigen Stunden Aufenthalt erledigen müssen. Danach gehst du wieder an Bord und dankst dem lieben Gott, falls du noch einigermaßen intakt bist.«

»Gestern hast du mir vorgeschlagen, mich für ein oder zwei Wochen dort abzusetzen.«

»Ja, aber mit einer Eskorte aus meinen eigenen Leuten. Allein hältst du dort keinen Tag durch.«

»Das ist doch absurd!«

»Du sagst es! Eine solche Expedition für gerade einmal ein oder zwei Stunden am Zielort!«

Erwan kam eine Anfängerfrage in den Sinn.

»Ist der Fluss eigentlich schon der Kongo?«

»Sein Oberlauf. Er heißt Lualaba. Hast du übrigens dein Chinin eingenommen?«

»Ja, ein Medikament namens Lariam.«

»Keine gute Idee. Darin ist Mefloquin, das kann böse Nebenwirkungen haben. Ich habe erlebt, wie Leute von dem Scheißzeug verrückt oder blind wurden oder Herzanfälle bekamen.«

Erwan antwortete nicht. Er war schließlich keine zehn mehr!

»Bis du überhaupt schon einmal in unsicheren Ländern unterwegs gewesen?«, hakte der Padre nach.

»In Indien, als ich Loïc geholt habe.«

»Das ist nicht das Gleiche.«

»Einmal hatte ich einen Auftrag in Guyana und …«

»Guyana gehört zu Frankreich.«

»Was willst du mir eigentlich sagen?«

Morvan beugte sich vor wie ein alter Pirat in einer finsteren Kaschemme.

»Dass sich Kongo-Kinshasa noch in der Steinzeit befindet. Vermeide jede Art von Verletzung, weil du innerhalb von achtundvierzig Stunden an einer Infektion krepierst. Trink niemals nicht aufbereitetes Wasser. Und schmier dich unbedingt mit Repellent ein, denn Hauptüberträger von Krankheiten hier im Busch sind stechende Viecher.«

»Ich habe eine Reiseapotheke dabei.«

»Behalt sie im Auge, als wäre sie deine Rückfahrkarte. Und lass die Finger von schwarzen Frauen.«

Morvan griff nach einem Eastpak-Rucksack am Boden, nahm ihn auf die Knie, holte etwas heraus, das in ein Tuch gewickelt war, und schob es zwischen Kaffee und Croissants auf den Tisch.

»Du kannst zumindest nicht behaupten, ich würde mich nicht um dich kümmern.«

Erwan hob einen Zipfel des Tuchs hoch und sah einen Polymer-Kolben mit dem eingeprägten Logo GLOCK, dessen G die anderen Buchstaben umschlang.

»Die Magazine sind im Rucksack«, sagte Grégoire und legte die Waffe ebenfalls wieder hinein. »Zuverlässiges, der MONUSCO geklautes Material.«

Erwan musste sich beherrschen, seine Entrüstung nicht zu zeigen.

»Danke, aber ich glaube, die brauche ich nicht.«

»Du hast keine Ahnung und solltest auf mich hören.« Morvan schob erneut die Hand in den Rucksack und förderte ein Mobiltelefon zutage, das etwas größer war als üblich und über eine imposante Antenne verfügte. »Ein Iridium-Satellitentelefon. Damit kannst du mich von überall anrufen, sogar aus dem finstersten Loch im Urwald. Dafür ist es gemacht.«

»Du meinst, falls ich Probleme bekomme?«

Sein Ton war ironisch und unnötig provokant.

»Ich halte mich etwa fünfzig Kilometer flussaufwärts auf und kann innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein Flugzeug startbereit haben. Meine Nummer ist eingespeichert.«

Erwan schwor sich, seinen Vater ganz sicher nie anzurufen. Plötzlich fiel ihm auf, wie zwiespältig die ganze Angelegenheit war: Er suchte nach dem Mörder von Catherine Fontana und hoffte insgeheim, seinen eigenen Vater in die Enge treiben zu können – aber ausgerechnet sein Vater beschützte ihn.

Der Alte zog den Reißverschluss zu und reichte seinem Sohn den Rucksack. Erwan rang sich zum Dank lediglich ein Kopfnicken ab.

Sie gönnten sich eine zweite Runde Kaffee. Erwan erhielt weitere Ratschläge für unterwegs.

»Du solltest wissen, dass die Kämpfer, die du unterwegs triffst, nichts mit den Mördern gemein haben, wie du sie vom Präsidium kennst. Die meisten von ihnen sind Kannibalen und hängen allen möglichen bescheuerten Aberglauben an. Die Mai-Mai glauben zum Beispiel, dass Gewehrkugeln zu Wassertropfen werden, sobald sie ihren Körper berühren. Die Tutsi laufen mit Taschen voller menschlicher Geschlechtsteile herum, und die Hutu vergewaltigen Frauen auf den Gedärmen ihrer Männer, die sie zuvor ermordet haben.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass ich bei der Kriminalpolizei arbeite?«

»Das versuche ich dir ja gerade klarzumachen. Hier geht es nicht um irgendwelche Spießer, die ihre Gattinnen ins Jenseits befördert haben. Nicht einmal um Psychopathen, auf deren Konto gleich mehrere Opfer gehen. Ich rede von Irren, die Hunderte Menschen umgebracht haben und in der Lage sind, eine Frau zu zwingen, ihr eigenes Kind zu essen, nachdem sie es vor ihren Augen gekocht haben. Wenn du auf solche Typen triffst, bleibt dir keine Zeit, den vorurteilsfreien Bullen zu geben.«

Erwan tat, als hätte er die Lektion verstanden. In Wirklichkeit aber glaubte er seinem Vater kein Wort. Diese Abscheulichkeiten klangen allzu sehr nach Busch-Legende, verformt und aufgebauscht durch ständiges Weitererzählen.

Auf jeden Fall meiden würde er allerdings die Warlords. Er war nicht gekommen, um die Welt zu retten. Er wollte lediglich Zeugen finden, ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen und herausfinden, was sich tatsächlich im April 1971 in Lontano abgespielt hatte – und damit basta.

»Ich gehe packen«, verkündete Morvan und stand auf. »Willst du nicht doch lieber …?«

»Schon gut, Papa. Lass gut sein.«

Grégoire versetzte ihm einen freundlichen Klaps auf die Schulter.

»Ich bin wahrscheinlich längst zurück, bevor du aufbrichst.«

5

Morvan war auf dem Weg durch die Hotelhalle, als der Portier ihm mitteilte, dass jemand hinter dem Hotel auf ihn warte, und zwar im Hinterhof, genannt »Atrium«, warum auch immer.

»Wer ist es?«

Der Schwarze deutete eine entschuldigende Geste an. Entweder wusste er es nicht, oder er wollte nichts sagen. Grégoire fluchte leise, ging um den Empfang herum und durch einen Gang, der dem Personal vorbehalten war. Der Morgen begann bescheiden.

Ein Koloss, so breit, dass er den gesamten Platz einzunehmen schien, lief in dunklem Anzug und mit Ray-Ban-Sonnenbrille im Hinterhof auf und ab. Brigadegeneral Trésor Mumbanza höchstpersönlich, begleitet von einem ebenso großen, jedoch gertenschlanken und in einen Kampfanzug gekleideten Büttel.

»Grüß dich!«, brüllte der Riese und breitete die Arme weit aus.

»Ich wollte dich heute noch anrufen«, log Morvan.

»Das will ich doch hoffen. Niemand hat mir gesagt, dass du kommst.«

»Vermutlich ein Irrtum im Büro.«

Seiner Verunsicherung und schlechten Laune zum Trotz gefiel Morvan das Ambiente. Sie befanden sich in einem jener verborgenen Winkel, die das Gefühl vermittelten, in die Kulissen Afrikas einzudringen. Der Boden der Veranda war mit rotem Sägemehl und den in der Nacht gefallenen Blättern bedeckt. In dem mit einem Lattenzaun umgebenen, sich selbst überlassenen Garten wuchsen urige graue Bäume mit riesenhaften Wurzeln. Man hätte sich in einem nach oben offenen Gewächshaus oder in einem Probestück tropischen Regenwalds wähnen können.

Der Leibwächter griff nach einem Plastikstuhl und schob ihn Morvan hin. Es war eher ein Befehl als eine Geste der Höflichkeit. Grégoire setzte sich, die beiden anderen blieben stehen.

»Ich bin gekommen, um dir deine Genehmigungen für die Reise nach Tanganjika zu bringen.«

Mumbanza reichte ihm eine von der Luftfeuchtigkeit bereits gewellte Mappe, die fast ein Kilo unterschriebenen, gegengezeichneten, gestempelten und von einer ganzen Armee von Beamten für gültig erklärten Papierkram enthielt.

»Wer sagt denn, dass ich in den Norden will?«

»Tss, tss, tss, du weißt ganz genau, dass ich alles mitbekomme, mein Lieber.«

Michel hatte Fahrzeuge in gutem Zustand sowie Treibstoff, Waffen und Männer aufgetrieben. Da konnte man nicht auch noch Diskretion von ihm erwarten.

»Ich will mir ein paar potenzielle Vorkommen ansehen«, sagte Morvan, ohne ins Detail zu gehen.

»Mir scheint eher, dass du dich auf den Abtransport von Bodenschätzen vorbereitest.«

Mumbanza wurde in Lubumbashi »der Boss« genannt und war der uneingeschränkte Herrscher von Katanga. Er befehligte die Armeen der Provinz und hinderte den Krieg, bis in die reichsten Gebiete des Kongo vorzudringen. Nachdem Philippe Sese Nseko, der Direktor von Coltano vor Ort, ermordet worden war, hatte der General ganz selbstverständlich seinen Platz an der Spitze des Unternehmens eingenommen. Zwar hatte er keine Ahnung vom Bergbau, aber er konnte Ordnung in der Umgebung der Minen garantieren, und das war das Wichtigste überhaupt. Seine neuen Funktionen hinderten ihn jedoch nicht daran, nach höheren Weihen zu streben. Alle Welt wusste, dass er Gouverneur von Katanga werden wollte.

»Ist das eine Inspektion im Auftrag von Coltano?«

»Nein. Von Kabila.«

Der Schwarze runzelte die Stirn.

»Seit wann arbeitest du für unser Land?«

»Seit Kabongo mich darum gebeten hat«, improvisierte Grégoire.

Der Name der grauen Eminenz des Rohstoffabbaus in der Demokratischen Republik Kongo verfehlte seine Wirkung nicht. Selbst anderthalbtausend Kilometer von Kinshasa entfernt war es nicht empfehlenswert, die Zentralregierung zu kränken. Es waren schon Leute wegen kleinerer Vergehen degradiert worden oder gar verschwunden.

»Dann machst du also Überstunden?«

»In Tanganjika wird es allmählich ruhiger. Ich will herausfinden, ob es sich lohnt, dort einzusteigen.«

»Und wo genau?«

Morvan lächelte, antwortete aber nicht. Fast unmerklich gewann er wieder die Oberhand. Mumbanza würde ihm vermutlich nicht glauben, aber wie sollte er die Angaben überprüfen?

»Ich hoffe, du bist nicht gerade dabei, dein eigenes Unternehmen zu hintergehen …«

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil du im vergangenen Monat deine gesamten Aktien verkauft hast.«

Morvan wunderte sich wie immer wieder über die detaillierten Informationen der Kongolesen. Nach Nsekos Tod war bei Coltano so gut wie alles schiefgelaufen. Die Aktienkurse waren nach geheimnisvollen Ankäufen plötzlich in die Höhe geschossen. Morvan jedoch wollte unbedingt vermeiden, dass die Öffentlichkeit sich für sein Unternehmen interessierte und dadurch von der Existenz der neuen Vorkommen erfuhr. Außerdem befürchtete er, dass seine afrikanischen Partner ihn verdächtigten, hinter diesen Transaktionen zu stecken. Letztendlich war es ihm gelungen, das Feuer zu löschen, indem er sein gesamtes Portfolio mit großem Verlust verkaufte.

»Dabei ging es um etwas ganz anderes, das hoffentlich der Vergangenheit angehört.«

Der Schwarze klatschte in die Hände, fand zu seiner guten Laune zurück und wies auf seinen Begleiter. »Darf ich dir Oberst Laurent Bisingye vorstellen? Er ist der neue Oberbefehlshaber der Einsatztruppen in Nord-Katanga. Seit ich unter die Zivilisten gegangen bin, kümmert er sich um die Landser.«

Der Mann trat einen Schritt vor und verbeugte sich knapp. Seine Größe übertraf einsneunzig, trotzdem wirkte er leichter als die welken Blätter zu seinen Füßen. Morvan hatte ihn inzwischen wiedererkannt. 1994 waren Hunderttausende unschuldiger Tutsi unter fürchterlichen Umständen von den Hutu ermordet worden, aber es hatte auch von Uganda bewaffnete und ausgebildete Tutsi gegeben, die den Völkermördern in nichts nachstanden. Zu ihnen gehörte Bisingye. Er hatte in Kivu Milizen aufgebaut und sich einen beängstigenden Ruf erworben, weil er eigene Foltern erfand. So wurde er dadurch berühmt, dass er in der Vulva kleiner und neugeborener Mädchen Plastik zerschmelzen ließ. All das jedoch hinderte ihn nicht daran, fest an Gott zu glauben. Hätte es ihn nicht zum Militär verschlagen, wäre er Pfarrer geworden. Für Hutu jedoch gab es keinen Platz im Himmel.

Sein Aussehen passte zu seinem Beruf. Sein schmales, für die Ethnie typisches Gesicht trug an der Seite Narben. Nicht verursacht durch Macheten, sondern rituelle Kriegerabzeichen. In Afrika ist der Grat zwischen einer Narbe als Zeichen des Leidens oder als Zeichen des Mutes sehr schmal.

»Falls du vor Ort Probleme bekommst, kannst du dich jederzeit an ihn wenden«, fügte Mumbanza hinzu.

Probleme würde Morvan mit Sicherheit bekommen, und zwar vor allem mit den Verbündeten von Bisingye. Und ausgerechnet in einem solchen Fall sollte er sich also an den Offizier wenden. Im Klartext lautete Mumbanzas Botschaft: Dort oben im Norden kann sich ein Weißer im Nullkommanichts in ein hübsches Feuerchen verwandeln.

Morvan stand auf und schüttelte dem Oberst die dürre Hand.

»Sehr erfreut.«

Der Folterer schwieg und lächelte nicht. Grégoire setzte sich wieder und ließ seine Gedanken einem düsteren Fatalismus folgen. Um an die Bodenschätze seiner neuen Minen zu kommen, hatte er sich hinter dem Rücken der Regierung mit Kabongo abgesprochen. Beim kleinsten Hindernis wäre er gezwungen, hinter Kabongos Rücken auch mit Mumbanza einen Deal zu schließen …

Wenn das so weiterging, würde seine Ausbeute dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne.

Der General erging sich in einem Monolog über die aktuelle Situation und warnte vor eventuellen Scharmützeln zwischen der kongolesischen und der ruandischen Armee diesseits und jenseits des Flusses. Angeblich gab es sogar Waffenlieferungen.

Das hingegen glaubte Morvan nicht. Im Übrigen war es ihm im Augenblick egal, er ließ sich lieber von der Atmosphäre ringsum einlullen – den riesigen, mit Lianen behängten Bäumen, den Sonnenflecken, über denen Staub flirrte, den Insekten, die flüchtige Arabesken in den Morgendunst zauberten. Eine Mischung aus Pilzgeruch und Rindenduft lag in der Luft, die einerseits an weit entfernte Länder erinnerte, ihm zugleich aber irgendwie vertraut vorkam. Es roch wie in einem von göttlichem Strahlen erhellten, etwas muffigen Keller.

»Hörst du mir überhaupt zu?«

»Entschuldige.« Morvan konzentrierte sich. »Was hast du gesagt?«

»Ich habe dich gefragt, was dein Sohn hier zu schaffen hat.«

Erwan war Morvans Achillesferse, vor allem, wenn er in Lubumbashi blieb. Seinen Widersachern wäre es ein Leichtes, den Jungen ins Visier zu nehmen, sobald es darum ging, den Kuchen aufzuteilen.

»Das hat nichts mit mir zu tun. Er sammelt Material für eine Ermittlung, die er in Paris führt.«

»Hier in Katanga? Ganz schön weit weg von Paris, mein Lieber!«

»Im vergangenen September hat in Frankreich jemand gemordet wie der Nagelmann.«

Diesen Namen im Kongo auszusprechen war, als rede man in England über Jack the Ripper oder in Frankreich über Landru. Der Nagelmann war ein Mörder, dessen Namen jeder kannte und der fast eine Art Nationalstolz auslöste. Mumbanza nickte langsam. Er hatte von dem Nachahmer in Frankreich gehört.

»Erwan hat den Schuldigen verhaftet«, fuhr Morvan fort.

»Du meinst, er hat ihn getötet.«

Morvan tat, als hätte er nichts gehört.

»Er ist gekommen, um die Prozessakten im Fall Pharabot in den Archiven einzusehen, damit er das Verfahren abschließen kann.«

Der Koloss stapfte langsam über die Terrasse und kickte bisweilen nach einem Blatt.

»Ich dachte mir bereits, dass der Brand im Kolleg nicht rein katholischen Ursprungs war.«

Er lachte über seinen eigenen Witz und warf Grégoire einen vielsagenden Blick zu.

»Mir hat man gesagt, es war ein Unfall«, sagte Morvan.

»Ganz Afrika ist ein Unfall.«

»Was glaubst du denn?«

»Dass da jemand aufgeräumt hat. Im Saint-François-de-Sales lagerten alte Akten. Niemand sieht es gern, wenn in der Vergangenheit herumgeschnüffelt wird.«

Innerlich dankte Morvan dem Himmel, dass sein Sohn erst nach den Ereignissen geboren worden war. Er konnte die hinter den Fakten liegenden Abgründe allenfalls erahnen.

»Dann fliegt er also wieder zurück?«, erkundigte sich der Schwarze mit den Händen in den Hosentaschen.

»Er will noch ein paar Spuren verfolgen, bevor er wieder nach Frankreich zurückkehrt.«

»Hier?«

»In Lontano.«

»Dazu bekommt er keine Genehmigung.«

Die Großkotzigkeit des Generals ärgerte Morvan allmählich.

»Es sei denn, ich kümmere mich darum.«

Mumbanza baute sich vor ihm auf. In der strahlenden Sonne unter den seltsamen Bäumen, die ebenso alt zu sein schienen wie die Welt, nahm er eine geradezu mythische Dimension an: Er war einer jener Riesen aus der Kosmologie der Provinz Niederkongo, die bereits den Nagelmann inspiriert hatten.

»Willst du das wirklich? Möglicherweise hat der gute weiße Papi gar kein Interesse daran, dass das Söhnchen in seiner Vergangenheit herumstochert.«

»Du nervst«, grummelte Morvan und stand auf. »Ich muss packen.«

Trésor verbeugte sich entschuldigend. Seine Gestik war einer Theatervorstellung würdig, er spielte mit ausdrucksvollen Grimassen und Pantomime. Morvan kam es vor wie Commedia dell’Arte mit Pili-Pili-Soße.

»Pontoizau wird deinen Sohn niemals reisen lassen.«

»Wer bitte?«

»Der neue Oberbefehlshaber der MONUSCO. Ein ziemlich harter Brocken.«

Morvan erinnerte sich, den Mann am Flugplatz gesehen zu haben: ein Kanadier mit einem FAMAS-Gewehr auf dem Rücken. Es würde Erwan tatsächlich schwerfallen, aus Lubumbashi hinauszukommen.

Morvan beschloss, ein Thema anzuschneiden, das alle zufrieden stimmen würde.

»Was ist eigentlich mit den Ermittlungen zu Nseko?«

»Welche Ermittlungen?«, erkundigte sich der Schwarze lachend.

Der Mann vom Stamm der Bemba war in seiner Villa mit geöffnetem Brustkorb aufgefunden worden. Das Herz fehlte. Der oder die Mörder hatten ihn mit einer Kreissäge aufgeschnitten, aber niemand zeigte Interesse daran, die Schuldigen zu finden. Lediglich das Symbol der Tat war im Gedächtnis geblieben: Nseko hatte einen Fehler gemacht und war dafür bestraft worden. Eine geradezu banale Botschaft in einem Land, das sich seit zwanzig Jahren im Kriegszustand befand.

»Ich wünsche dir eine gute Reise, Bruder«, sagte der General. »Lass mal von dir hören.«

Nachdenklich blickte Morvan ihm nach. Wer mochte Nseko getötet haben? Konkurrenten auf dem Coltan-Markt vom Stamm der Tutsi? Verbündete in einem Schmuggelabkommen? Mumbanza selbst? Vielleicht wurde es allmählich Zeit, der Frage wirklich nachzugehen.

Nseko war einer der wenigen Kongolesen gewesen, die über die neuen Vorkommen Bescheid wussten. Hatte er vor seinem Tod geredet? Falls dem so war, würde Morvan in den Hügeln mit dem Gewehr im Anschlag und einer Kreissäge in der Hand erwartet werden.

Als wolle er den Verdacht bestätigen, drehte sich Mumbanza noch einmal um und legte seinem düsteren Büttel demonstrativ den Arm um die Schulter.

»Vergiss nicht«, rief er lachend, »wenn es Ärger gibt, wende dich vertrauensvoll an den hier anwesenden Oberst Bisingye!«

6

Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen.«

»Haben Sie mich deshalb angerufen?«

»Ich war beunruhigt.«

»Ich weiß, was Sie mir sagen wollen.«

»Gut, dann sprechen Sie es aus.«

»Eine Therapie muss regelmäßig stattfinden. Dass ich nicht mehr gekommen bin, hat alles zunichtegemacht, und es gibt keine Chance mehr auf Heilung.«

»Auf diesem Gebiet kann man nicht von Heilung sprechen.«

Gaëlle seufzte. »Jetzt bin ich noch keine fünfzehn Minuten hier, und schon gehen Sie mir mit Ihrer Wichtigtuerei wieder auf den Zeiger. Lassen Sie doch diese Haarspaltereien.«

»Setzen Sie sich.«

»Ich ziehe die Couch vor.«

»Wie Sie wollen.«

Sie legte sich hin und genoss den seltsam vertrauten Kontakt mit dem nepalesisch bestickten Kopfkissen. Seit der Pubertät und ihren Anorexieschüben hatte sie viele Psychiater und Psychotherapeuten kennengelernt. Eric Katz war der vorerst letzte. Im vergangenen Mai hatte sie beschlossen, die Therapie zu beenden – ohne ihn darüber zu informieren.

Der Mann hatte bei ihr einen tieferen Eindruck hinterlassen als seine Vorgänger, aber die Wucht der Ereignisse im September hatte alles in den Hintergrund gedrängt. Nun war er es gewesen, der sie angerufen und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte. Sie hatte sich einverstanden erklärt mit einer Konsultation ohne jegliche Verpflichtung, und die Aussicht darauf hatte ihr Herz erwärmt. Schließlich gehörte es zum guten Ton, sich in seinen Seelenklempner zu verlieben.

Im Zimmer wurde es still. Sie erinnerte sich an Sitzungen, während derer sie kein einziges Wort gesprochen hatte. Eine Ewigkeit. Sie entdeckte vertraute Dinge wieder. Die Risse in der Decke. Die Bücher von Freud und Lacan, die in ihr Blickfeld gerieten, wenn sie den Kopf leicht anhob. Der Zedernduft des Zimmers. Sie hatte den Eindruck, in einem lauen Bad zu liegen, das nach und nach ihren Widerstand auflöste.

Katz brach das Schweigen als Erster.

»Ich habe trotzdem einiges über Sie erfahren.«

»Von wem?«

»Von der Klinik Sainte-Anne.«

»Sie und Ihresgleichen – die reinsten Stasi-Manieren.«

»Wieso? Sie haben schließlich eine Krankenakte. Ich bin Ihr Psychiater und …«

»Hat man Sie angerufen?«

»Ja, gleich am nächsten Tag.«

»Und Ihnen alles erzählt?«

»In groben Zügen. Die Einzelheiten möchte ich lieber von Ihnen selbst hören.«

Schon war der Charme des Wiedersehens gebrochen. Innerhalb weniger Sekunden war die Couch zum Bratrost geworden. Gaëlle schwieg. Der Psychiater machte nicht das geringste Geräusch. Man hätte glauben können, er sei sich durch eine Geheimtür verschwunden.

»Ich hatte einen Plan«, begann Gaëlle schließlich. »Ich wollte meinen Vater vernichten.«

»Darüber haben wir schon oft gesprochen.«

»Aber dieses Mal hatte ich ein konkretes Mittel, mit dem ich ihn hätte erledigen können.«

»Wie wollten Sie es anstellen?«

»Ich gelangte durch einen Zufall an geheime Informationen über Coltan-Vorkommen im Kongo.«

»Coltan? Was ist das?«

»Ein sehr seltenes Erz, das in Zentralafrika gefördert wird. Man braucht es für elektrische Schaltkreise, vor allem in Mobiltelefonen und Spielkonsolen. Mein Vater ist mit diesem Erz reich geworden.«

»Ich dachte immer, er wäre Präfekt.«

»Das eine schließt das andere nicht aus. Parallel zu seinem Polizistenberuf hat er auch immer Geschäfte im Kongo gemacht.«

Sie brach ab. Er fragte nicht sofort weiter. Vielleicht notierte er sich etwas.

»Wie sahen die Informationen aus?«

»Im vergangenen Jahr fand ein Erkundungstrupp reiche Vorkommen in einem Gebiet, das vom Unternehmen meines Vaters kontrolliert wird. Es dürfte trotz des Krieges möglich sein, sie auszubeuten. Außer meinem Vater hat niemand davon erfahren.«

»Haben Sie diese Informationen verkauft?«

»Nein, aber ich habe sie für lau an einige Bankiers in meinem Bekanntenkreis weitergegeben.«

»Wo haben Sie die Herren getroffen?«

»Das wissen Sie ganz genau.«

Wieder Schweigen, aber kein Urteil.

»Wie sah Ihr Plan aus?«

»Einen konkreten Plan hatte ich nicht. Ich habe keine Ahnung von Finanzgeschäften, wusste aber instinktiv, dass die Hinweise den Laden ganz schön aufmischen könnten. Und ich behielt recht. Die Bankiers kauften massenhaft Coltano-Aktien, was zu einer unvorhergesehenen Hausse des Papiers führte und meinen Vater in die Scheiße ritt. Seine kongolesischen Partner glaubten, dass er selbst gekauft hätte, um sich das Unternehmen unter den Nagel zu reißen.«

»Wäre das denn so schlimm?«

»Man merkt, dass Sie diese Leute nicht kennen. Ich selbst übrigens auch nicht. Aber laut meinem Vater sind sie alles andere als lustig.«

»Immerhin lag es nicht an Ihrem Vater …«

»Die Schwarzen fragten sich natürlich, warum es plötzlich eine so große Nachfrage nach der Coltano-Aktie gab, denn die Mine schnarchte eigentlich leise vor sich hin. Und mein Vater befürchtete natürlich, dass sie Wind von der Existenz der neuen Vorkommen bekämen.«

»Er hatte ihnen nichts davon gesagt?«

»Ja, verstehen Sie denn nicht? Er wollte die Bodenschätze in aller Stille hinter dem Rücken seiner Gesellschafter schürfen und den Gewinn in die eigene Tasche stecken. Aber das habe ich auch erst später erfahren.«

»Dann haben sie es also herausbekommen?«

»Nein. Mein Vater hat sich aus der Affäre gezogen. Wie immer. Um den Kurs wieder zu drücken, hat er seine eigenen Aktien mit Verlust auf den Markt geworfen. Meine Bankiers haben daraufhin ebenfalls verkauft und sich vermutlich gedacht, dass mein Tipp nichts taugte. Die Kongolesen ließen die Angelegenheit fallen, und Coltano versank wieder im Dornröschenschlaf.«

»Dann haben Sie Ihren Vater ruiniert?«

Gaëlle gluckste, aber ihr Lachen klang wie der letzte Atemzug eines Ertrinkenden.

»Wo denken Sie hin? Er hat einen Haufen Knete verdient und wird alles wieder zurückkaufen, dessen bin ich sicher. Inzwischen dürfte er seine blöden Vorkommen längst ausgebeutet haben. Er ist übrigens gerade dort unten und treibt vermutlich die armen Kerle an, die sich in den luftlosen Schächten abplagen.«

»Hassen Sie ihn dafür?«

»Natürlich nicht.«

Wieder entstand eine Pause. Dieses Mal war sich Gaëlle sicher, dass er schrieb.

»Aber es ist noch etwas viel Schlimmeres passiert, nicht wahr?«, fuhr er schließlich fort.

Gaëlle schluckte. Ihre Kehle fühlte sich an wie Schmirgelpapier.

»Als mein Vater erfuhr, was ich getan hatte, ging er zu meinem Bruder Loïc«, murmelte sie. »Ich war gerade bei ihm, um auf seine Kinder aufzupassen. Ich sah ihn kommen und bekam Panik … Dabei hatte ich genau gewusst, dass es so kommen würde … Eigentlich hatte ich geradezu auf diese Begegnung gehofft … Ich wollte seinen zugrunde gerichteten Anblick genießen … Ich …«

Sie hielt inne. Bloß nicht weinen.

»Was ist passiert?«

»Ich bin aus dem Fenster gesprungen. Loïc wohnt im dritten Stock.«

Sie gestand sich eine Minute des Schweigens zu, eine Art stillen Nachruf. Sogar ihren Freitod hatte sie versiebt.

»Dank einiger Bäume und eines Autodachs, ganz genau weiß ich es nicht mehr, bin ich noch einmal davongekommen«, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. »Ich bin davongekommen, um zu begreifen, dass ich nie und nimmer davonkommen werde.«

»Erklären Sie mir das genauer.«

»Auch wenn ich meinen Vater hasse und ihn zu zerstören versuche, weiche ich damit nur aus. Das einzig wirkliche Gefühl in mir ist Angst. Eine unkontrollierbare, primitive Angst.«

»Warum?«

Gaëlle richtete sich auf einem Ellbogen auf wie ein Patient, der im letzten Augenblick eine Amputation verweigert.

»Müssen wir das wirklich alles noch einmal durchkauen?«

»Was Sie in Worte fassen, hilft Ihnen. Ganz gleich, wie oft Sie ein und dieselbe Geschichte erzählen – immer entschlüpft Ihnen dabei noch etwas anderes und verschafft Ihnen Erleichterung.«

Katz hatte eine metallische, geschlechtslose Stimme, deren Klang die Neutralität seiner Präsenz noch verstärkte. Er war weder Mann noch Frau, er war lediglich ein Ohr.

»Sein Leben lang hat dieses Arschloch unsere Mutter geschlagen«, fuhr Gaëlle fort. »Ich bin mit vielen Ängsten aufgewachsen, habe meinen Vater nie geküsst und habe ihm nie erlaubt, sich mir zu nähern. Sollte ich ihn jemals anfassen, dann nur, um ihn zu töten.«

Genau das hatte sie sich geschworen, als sie sich nach dem Fenstersturz zwischen zwei Autos wieder aufrappelte. Doch dieser Entschluss war auch nicht mehr wert gewesen als alle anderen. Sofort war der Alte ihr zu Hilfe geeilt. Alles Bisherige löschen und von vorn anfangen.

Immer noch liegend suchte sie in ihrer Tasche nach einem Tempo, tupfte sich die Augen und schnäuzte sich. Sie musste unbedingt wieder die arrogante und zynische Gaëlle werden. Ihre Worte hatten Gift zu sein, keine Tränen.

»Und was geschah in Sainte-Anne?«

Gaëlle fing an zu lachen wie ein kleines Mädchen, das auf keinen Fall weinen will.

»Wollen Sie mich fertigmachen?«

»Die Wunde muss gereinigt werden.«

»Nach dem Fenstersturz wurde ich ins amerikanische Hospital gebracht. Dort hat man mich untersucht und in die geschlossene Abteilung in Sainte-Anne überwiesen.«

»Weil Sie noch nicht belastbar waren.«

»Nicht belastbar?« Gaëlles Stimme wurde schrill. »Ich hatte gerade den großen Sprung gewagt. Glauben Sie, dass es gut für mich war, mit noch depressiveren Menschen zusammengesperrt zu werden?«

Der Psychiater machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Gaëlle hatte den Eindruck, in ihrem Kissen zu versinken wie in einer brackigen Pfütze zwischen zwei schwarzen Felsen.

»In der nächsten Nacht wurde ich in der Klinik angegriffen«, fuhr sie schließlich fort. »Ein Mann in einem Latexanzug versuchte mich umzubringen. Er hat einen Krankenpfleger und den Polizisten getötet, der zu meinem Schutz abgestellt war. Ich konnte fliehen. Dafür, dass ich mich noch am Tag zuvor umbringen wollte, eigentlich nicht schlecht. Wahrscheinlich muss ich davon ausgehen, dass meine letzte Stunde einfach noch nicht schlagen sollte.«

»Immerhin haben Sie etwas aus der Sache gelernt.«

»Ersparen Sie mir diesen herablassenden Ton.«

»Hat man den Angreifer identifiziert?«

Gaëlle fluchte und schrie Katz an: »Lesen Sie eigentlich jemals Zeitung?«

»Hören Sie auf auszuweichen, Gaëlle. Es spielt keine Rolle, was ich lese oder weiß – Ziel dieser Sitzung ist es, dass Sie, Sie ganz allein, mir erzählen, was Ihnen passiert ist.«

Gaëlle atmete hörbar aus. Es klang wie das Zischen eines Schnellkochtopfs.

»Der Mann, der mich in der Klinik angegriffen hat, war der Nagelmann. Besser gesagt, ein Mörder, der vom ersten Nagelmann inspiriert war. Der Nagelmann war ein Serienmörder, den mein Vater in den 1970er-Jahren in Katanga verhaftet hat. Aber ich warne Sie: Ich habe nicht vor, mich über eine der beiden Geschichten näher auszulassen.«

Sie hörte, wie Katz einen leichten Seufzer ausstieß, der auch ein Lachen sein konnte, und fragte:

»Wie endete die Sache schließlich?«

»Mein Bruder Erwan hat die Ermittlungen übernommen und den Mörder gefunden.«

»Er hat ihn getötet, nicht wahr?«

»Ich habe ihn getötet.«

Dieses Mal spürte sie den Schock, den ihre Enthüllung auslöste, sehr deutlich. Offiziell hatte Erwan Morvan, ein hoher Beamter im Polizeipräsidium, den Mörder eliminiert, nachdem dieser sich in seine Wohnung geschlichen hatte. Niemand wusste, dass Gaëlle, die zufällig bei ihrem Bruder übernachtete, das Messer geführt hatte.

Vielleicht war sie gekommen, um sich von dieser Last zu befreien. Vielleicht aber auch um des Vergnügens willen, Doktor Katz zu provozieren. Sie stellte sich seine erweiterten Pupillen und den halb geöffneten Mund vor. Sein Äußeres stieß sie ab: sein unmännliches Gesicht, sein ungesund magerer Körper und sein viel zu ausstaffiert wirkender Kleidungsstil.

Sie richtete sich auf, setzte sich mit brennenden Augen aufrecht auf die Couch und umklammerte mechanisch ihre Handtasche mit beiden Händen.

»Ich sage jetzt nichts mehr«, flüsterte sie. »Für heute reicht es.«

»Unsere Zeit ist ohnehin um.«

Immer muss er das letzte Wort haben