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Bremen, 2002. Eine Spur der Gewalt zieht sich durch die Hansestadt. Ein Imam, ein Polizist und ein Rettungssanitäter werden Opfer verschiedener Gewaltverbrechen. Kriminalhauptkommissar Álvarez und sein Ermittlungsteam müssen zwei Morde und das plötzliche Verschwinden ihres Kollegen aufklären. Gibt es ein Motiv, das die drei Verbrechen miteinander verbindet? Neben seinen Ermittlungen bemüht sich Álvarez zudem, ein privates Geheimnis zu verbergen. Als sich zu einem der drei Verbrechen ein Tatmotiv abzeichnet, gerät der Hauptkommissar immer stärker in Bedrängnis. Kann er seinen Kollegen und Kolleginnen trauen? Und dieselbe Frage stellt sich in Hinblick auf das Verschwinden ihres Teamkollegen: Führen die Spuren womöglich in die eigenen Reihen? Sein neuer Fall stellt Kriminalhauptkommissar Álvarez und sein Ermittlungsteam vor große Herausforderungen. Hochspannung garantiert!
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Seitenzahl: 505
Veröffentlichungsjahr: 2024
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SCHWARZ
WEIß
TOT
Elias Mateo
Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek
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Hinweis des Autors:
Der Text enthält sprachliche Ausdrucksformen von gruppenbezogenem Hass wie Homophobie und Rassismus. Diese spiegeln weder die Ansicht des Autors noch des Verlages wider. Vielmehr charakterisieren sie die Romanfiguren, die sich dieser sprachlichen Ausdrücke bedienen oder in ihren Äußerungen andere Figuren des Romans zitieren.
Die Handlung steht vor dem gesellschaftlichen und politischen Hintergrund der frühen 2000er-Jahre und reflektiert die Sichtweisen und Handlungsmuster der damaligen Zeit.
DER GROßE PLANVOL. 1: DIE APOKALYPTISCHEN REITER
Dienstag, 11. September 2001
Ronny hatte einen Plan. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Ronnys ganzer Alltag spielte sich nach streng einzuhaltenden Plänen ab. Musste.
Anders würde alles den Bach runtergehen. So wie die Welt da draußen. Da geraten die Dinge zunehmend außer Kontrolle, dachte Ronny besorgt. Hier, in seinen eigenen vier Wänden (strenggenommen die vier Wände seiner Mutter), hatte er die Dinge gerade noch im Griff. Aber da draußen machte jeder, was er wollte. Deshalb brauchte es einen Plan. Und der begann sich langsam, wie es Ronnys Art war, in seinem Kopf abzuzeichnen.
Einen Plan zu haben, verlieh Ronny ein Gefühl der Befriedigung und Erleichterung. Es durchströmte ihn förmlich und setzte sich bis in die äußersten Schichten seines schwergewichtigen Leibes fort. Einen Plan zu haben, war nicht nur gut, es war die Rettung.
Ronny spürte, wie sein Körper sich bei diesen Gedanken nach und nach völlig entspannte, und vor lauter Wohlempfinden setzte er sich erst mal in den Fernsehsessel, in dem seine Mutter die letzten Jahre verbracht hatte, bevor sie so bettlägerig geworden war, dass sie nunmehr im Schlafzimmer vor sich hindämmerte. Ronny hatte erst vor einer Stunde ihre Windeln gewechselt. Ein wenig Ruhe hatte er noch, bis er wieder einem ihrer Bedürfnisse nachkommen musste, deshalb nahm er die Fernbedienung, die griffbereit auf dem Beistelltischchen lag, und knipste das Fenster zur Welt an. Offenbar lief gerade einer dieser Science-Fiction-Endzeitschocker, das war ihm gerade recht. So sah es eben aus in der Welt, und so würde alles enden.
Als er seine düsteren Zukunftsprognosen ausreichend bestätigt sah, wechselte er den Sender. Zu seinem nicht geringen Erstaunen schien dort derselbe Film zu laufen, oder die Kanäle hatten sich wieder einmal von selbst verstellt. Er schaltete von einem Sender zum nächsten, aber es war stets das gleiche Bild zu sehen. Mit offenem Mund betrachtete er den Feuerball auf dem Bildschirm und beobachtete, wie ein Flugzeug in den danebenstehenden Wolkenkratzer rauschte. Erst nach einigen Sekunden kam er auf die Idee, den Ton dazuzuschalten.
1 ROSCHHASCHANA
Freitagnachmittag, 6. September 2002
Bremen leuchtete. Die ehrwürdige Hansestadt lag entspannt im Rotgold der Septembersonne und ließ die Leinen locker. Auf ihren Straßen und Plätzen stand die Gastronomie jedoch unter Vollbesegelung – man bekam kaum noch einen freien Platz an den zahllosen Tischen, die sich über die Straßenzüge der Stadt verteilten. Das ganze Viertel war auf den Beinen. Auf dem Ostertorsteinweg drängelten sich Radfahrer und Fußgänger aneinander vorbei, während die Ladeninhaber vor den Türen ihrer Geschäfte standen, um noch einen Rest des Sonnenlichts zu erhaschen, das sie den Tag über nur durch die Scheiben ihrer Schaufenster wahrgenommen hatten.
Am Goetheplatz, dem vorderen Ende der quirligen Avenue, genoss man italienische Küche mit einem gepflegten Glas Wein in freudiger Erwartung der in Kürze beginnenden Theatersaison. Aus den geöffneten Fenstern des Stadttheaters drangen bereits Kantilenen einiger Sängerinnen und Sänger, die, an den Flügeln von ihren Repetitoren begleitet, ihr Repertoire für die neue Spielzeit probten. Die ornamental verschlungenen Beiträge aus der Opernliteratur unterschiedlicher Epochen ergaben ein interessantes Klangbild, und zwischendrin erschollen Posaunen aus den Tiefen der Orchesterproberäume. Dieser farbige Klangteppich unterlegte das Treiben der Flaneure; es herrschten, mit den Worten des großen Dichters, »Lässigkeit und hastloses Schlendern in all den langen Straßenzügen des Nordens«.
Von geringer Lässigkeit waren indes die durchaus hastigen Schritte einer Gestalt, die sich, ihre Fäuste tief in die Taschen eines schwarzen Hoodies gestemmt, den Weg durch das entspannte Treiben pflügte. Die Kapuze weit in die Stirn gezogen, eilte die dunkle Gestalt in einer entschlossenen Geradlinigkeit den Ostertorsteinweg entlang, die die Flaneure dazu nötigte, zur Seite zu treten, um eine Karambolage mit dem rucksackbeladenen jungen Mann zu vermeiden. Man warf ihm einen verwunderten, teils verärgerten Blick zu und schlenderte dann weiter, gönnte den Schaufenstern der Ladengeschäfte ein wenig Aufmerksamkeit, verweilte etwas länger an den Auslagen der Buchhandlung am Ulrichsplatz, bevor man sich an einem der Tische gegenüber zu einem Getränk niederließ.
Auch Yaakov und Manuel waren im Viertel unterwegs. Kriminalhauptkommissar Manuel Álvarez hatte etwas früher Dienstschluss gemacht, eigentlich um noch eine kurze Joggingrunde zu drehen. Aus Rücksicht auf Yaakovs tägliches Trainingspensum als Tänzer hatte er sich dann aber doch auf einen kurzen Spaziergang mit anschließendem Essengehen herunterhandeln lassen. Ohnehin, fand Manuel, sahen die beiden sich durch ihre sehr unterschiedlichen Arbeitszeiten unter der Woche viel zu wenig. Deswegen hatte er Yaakov an dem ehemaligen Lagerhaus abgeholt, das der Tanzcompagnie den Sommer über als Trainings- und Probenraum gedient hatte. Um das ursprüngliche Spaziervorhaben abzukürzen, schlenderte er an der Seite seines Freundes Richtung Ulrichsplatz, um dort gleich zum gastronomischen Teil des Abends überzugehen. Er wusste genau, dass Yaakov nach der Arbeit keine Gefangenen machte, wenn es ums Essen ging. Und durch Unterzuckerung herbeigeführte schlechte Laune seines Freundes wollte Manuel nicht riskieren.
Sie bogen in den Ostertorsteinweg ein und hielten am Ziel nach einem freien Tisch Ausschau. Der fand sich schließlich in Sichtweite des besagten Buchladens, vor dem ein schwarz gekleideter, offenbar jüngerer Mann sich mühte, an den Betrachtern des Schaufensters vorbeizueilen, dieses Vorhaben jedoch für einen kurzen Moment aufgab, selbst einen Blick auf die Auslagen warf und das wohlwollende Urteil der anderen Flaneure offenbar nicht teilte. Für einen kurzen Augenblick wandte er sich Richtung Fahrbahn ab, sodass er Manuel und Yaakov beiläufig das Gesicht zuwandte und dabei einen Ausdruck ausgeprägter Antipathie unter seiner Kapuze erkennen ließ. Manuel fragte sich, was wohl das Missfallen des jungen Mannes hervorgerufen haben mochte, doch dieser Gedanke streifte ihn nur kurz, und er wandte sich wieder seinem Freund und vor allem der Speise- und Getränkekarte zu.
Während sie deren Angebot studierten, zog mit ohrenbetäubendem Lärm ein Großaufgebot an Löschzügen, Rettungswagen und Polizeiautos an ihnen vorbei. Yaakov hielt sich reflexartig die Ohren zu; er war sehr geräuschempfindlich, wie Manuel wusste. Aber auch Manuel musste zugeben, es war ein Höllenspektakel.
Nachdem sich die Straße wieder beruhigt hatte, fragte Yaakov beunruhigt: »Hast du Bereitschaft?«
Er sah den gemeinsamen Wochenausklang schon in Gefahr, doch Manuel schüttelte den Kopf. »Nein, keine Sorge, heute sind die Kollegen dran.«
Sein Freund entspannte sich wieder, und die beiden vertieften sich erneut in die Auswahl des Tagesmenüs und eines dazu passenden Weins; eine schwere Entscheidung.
* * *
In einem flachen Hinterhaus in Hulsberg, das früher einmal gewerblich genutzt worden war, lag in würdiger Ruhe der Gebetssaal einer muslimischen Gemeinde und erholte sich von dem Trubel des Freitagsgebets. Die Tordurchfahrt im Vorderhaus, die zu dem kleinen Hinterhofgebäude führte, wurde für gewöhnlich von einer einzelnen Funzel beleuchtet. Selbst an ihren guten Tagen verbreitete diese eher Düsternis als Licht, den Rest der Zeit funktionierte sie gar nicht. So auch heute. Dass der Durchgang dennoch durch flackerndes Licht erleuchtet wurde – und zwar kräftiger als sonst –, lag an den hellen Flammen, die aus einer geborstenen Fensterscheibe des Gebetshauses schlugen. Beißender Rauch breitete sich aus und weckte die Aufmerksamkeit einer Bewohnerin des Vorderhauses, die daraufhin die Feuerwehr alarmierte.
Nach dem gewaltsamen Öffnen der Saaltür kippte den Einsatzkräften ein menschlicher Körper entgegen, dessen eine Hälfte bereits stark versengt war. Bevor sie sich der Brandbekämpfung widmeten, bargen die Feuerwehrleute zügig den Körper und übergaben ihn an die beiden Kollegen des Rettungsdienstes, die mit ihrem Einsatzwagen nur wenige Minuten nach der Feuerwehr eingetroffen waren. Der Rest war Aufgabe von Kriminaltechnik, Rechtsmedizin und Kripo.
»Was haben wir?«, fragte Kriminalhauptkommissar Christoph Eschbach, der kurz nach dem Rechtsmediziner Dr. Volker Landis am Ort des Geschehens eingetroffen war.
Landis fragte sich wie so häufig, warum es die Kollegen vom Dezernat für Körperdelikte immer erst schafften, eine ganze Weile nach ihm selbst an Tat- beziehungsweise Fundorten aufzutauchen, selbst wenn sie direkt aus dem Präsidium kamen.
»Männlich, zwischen vierzig und fünfzig, wohl Erstickung durch Rauchgas, bevor er auch Brandwunden erlitt. Er muss das Bewusstsein bereits verloren haben, bevor die Flammen die Tür erreichten. Die war offenbar verschlossen, jedenfalls hat er es nicht mehr herausgeschafft.«
Eschbach nickte nach Kenntnisnahme der ersten Informationen zu den Todesumständen und zur Person des Geschädigten. Er wusste, dass sich Landis bei Erstbegutachtungen nicht zu spekulativen Äußerungen hinreißen ließ, was die Leichenschau anbelangte, und im Unterschied zu seinem Kollegen Álvarez betrieb Eschbach vorzeitige Fragen in dieser Richtung nicht als Sport.
Deswegen wandte er sich nun dem Brandmeister zu. »Habt ihr eine erste Einschätzung?«
»Bisschen früh. Aber der Geruch lässt vermuten, dass da nachgeholfen wurde. Jedenfalls sofern das Gebäude nicht auch noch als Tankstelle genutzt wurde.«
Der intensive Benzingeruch war auch dem Hauptkommissar unmittelbar beim Eintreffen aufgefallen. Er ließ seinen Blick über die etwas unaufgeräumte Szenerie gleiten.
»Was ist das da?«, fragte er einen uniformierten Kollegen, der unweit des Brandmeisters den Brandort absicherte.
Der Kollege folgte mit seinem Blick Eschbachs ausgestrecktem Arm, der auf ein kleines, verkokeltes Stück wies. Es lag nicht weit von der Tür entfernt. Eschbach pfriemelte einen Einweghandschuh aus seiner Jackentasche, der Kollege reichte ihm einen Asservatenbeutel. Der Gegenstand erwies sich als Keilholz, wie es für das Feststellen geöffneter Türen verwendet wurde.
Einer der Feuerwehrleute sah den transparenten Beutel, erkannte seinen Inhalt wieder und sagte: »Steckte unten im Türspalt. Die Tür war von außen blockiert.«
Wieder nickte Eschbach. Die Auskunft des Feuerwehrmanns würde aus Sicht der Staatsanwaltschaft hinreichend die Aufnahme von Ermittlungen in Hinblick auf ein mögliches Tötungsdelikt begründen, da war sich der Hauptkommissar sicher.
Er warf dem Kollegen von der Schutzpolizei einen fragenden Blick zu, und der ging sofort in die Defensive. »Ich war nicht dabei, als die Tür geöffnet wurde.«
Eschbach sparte sich den Hinweis darauf, dass er den Keil ja auch später hätte bemerken können. Er übergab den Beutel der Kriminaltechnik und unterzog den Schauplatz einer weiteren eingehenden Inspektion, während derer irgendwann der Kollege Jonas Bargfrede eintrudelte. Die kaum noch zu erkennenden Spuren publizistischen Schaffens an der verrußten Hauswand entdeckten sie beide gleichzeitig: Von einem wohl gesprayten Hakenkreuz waren gerade noch der obere Teil und der Winkel des rechten Arms zu erkennen. Etwas seitlich darunter bezeugte die Wand noch weitere Spuren der Inanspruchnahme des Rechts auf freie Meinungsäußerung, deren Botschaft man aufgrund der Brandschwärze jedoch nur noch erahnen konnte: Irgendwer sollte raus. Eschbach signalisierte dem Tatortfotografen, diese Wandzeitung sorgsam zu dokumentieren.
Dann machten er und Bargfrede sich daran, potentielle Zeugen im Vorderhaus zu befragen. Diese Routinemaßnahme lieferte allerdings keine bahnbrechenden Erkenntnisse. Eigentlich war die Anwohnerschaft erst auf das Geschehen im Hinterhof aufmerksam geworden, als die Geräusche zerspringender Scheiben, verbunden mit einem beißenden Brandgeruch partout nicht länger ignoriert werden konnten. Eine Nachbarin hatte schließlich 112 gewählt, erst daraufhin hatte der Aufruhr der Einsatzfahrzeuge Aufmerksamkeit bei den Bewohnern der angrenzenden Mietshäuser erregt. Eine Mieterin, deren rußgeschwärzte Fensterscheibe durch die abstrahlende Hitze einen Sprung bekommen hatte, fragte nach der Zuständigkeit und Finanzierung der Reparatur. Dazu konnten ihr die beiden Ermittler genauso wenig sagen wie die Nachbarin zum Hergang der Ereignisse. Auf die Frage der beiden Kommissare, wie lange denn das Graffito bereits auf der Wand des Nachbarhauses prange, wusste wiederum keiner der Anwohner eine Antwort. Sehr intensiv waren die nachbarschaftlichen Beziehungen offenbar nicht.
Mit diesen spärlichen Informationen fuhren Eschbach und Bargfrede zurück ins Präsidium, um dort eine Akte anzulegen, bis geklärt war, ob das Ganze überhaupt in einen Fall für sie münden würde. Im Anschluss an die Ermittlung zur Brandursache war erst zu klären, ob es sich bei dem Tod des Mannes um ein tragisches Unglück gehandelt hatte oder ob seinem Ableben möglicherweise nachgeholfen worden war, wie es der aufgefundene Holzkeil nahelegte. Die beiden Kommissare protokollierten die unergiebigen Zeugenaussagen; von Kriminaltechnik und Rechtsmedizin war vor morgen Mittag sicherlich nichts zu erwarten.
* * *
Kriminalhauptkommissar Manuel Álvarez und sein Freund Yaakov Shafira waren während ihres Spaziergangs durch das Viertel nicht unbemerkt geblieben. An einem Vierertisch einer der Open-Air-Schänken am Ulrichsplatz saß Álvarez’ jüngerer Kollege, Kriminalkommissar Ilan Weiss, gemeinsam mit Polizeimeisterin Nuria Aydin, die ebenfalls im Team der Kripo arbeitete. Zwei weitere Kollegen, die Ilan noch aus der Ausbildung kannte, vervollständigten das Quartett. Polizeiobermeister Artur Kempf und Polizeimeister Mohammed Rahmani waren im Unterschied zu Ilan Weiss nach der Ausbildung allerdings zur Schutzpolizei gegangen. Gerade hatte Ilan den ersten Schluck von seinem Feierabendbier genommen, als Álvarez und sein Begleiter in sein Blickfeld geraten waren. Die beiden waren an der kollegialen Tischrunde vorbeigelaufen, jedoch ohne sie im Zuge ihrer Suche nach einem freien Tisch wahrzunehmen.
»Was ist?«, fragte Nuria den Kollegen Weiss. Sie saß Ilan gegenüber und versuchte, sein Mienenspiel zu interpretieren.
Ilan schüttelte den Kopf. »Nichts«, erwiderte er. »Ich dachte, da lief gerade ein Kollege vorbei.«
Während Nuria noch darüber nachdachte, ob sie sich die Mühe machen sollte, sich umzudrehen, um diese Beobachtung zu überprüfen, stellte Artur Kempf sein Bierglas ab. Er saß neben Ilan und machte ein irritiertes Gesicht. »Die Schwuppe da vorne? Mit dem Elfchen nebendran?«
»Also, Artur, echt«, empörte sich Nuria.
Auch Ilan warf dem Kollegen einen pädagogisch wertvollen Blick zu. »Der ist doch nicht schwul«, widersprach er.
»Der da vorne?«, nahm Artur einen zweiten Anlauf und einen weiteren Schluck Bier. »Der ist so schwul, das seh’ ich bis hier.«
Jetzt war auch das Interesse des vierten Kollegen geweckt. Polizeimeister Mohammed Rahmani, genannt Mo, wandte sich in Arturs und Ilans Blickrichtung und ließ sich von ihnen die beiden schon weiter entfernten Männer zeigen.
»Aber hallo«, teilte er schließlich seine aus eigener Anschauung gewonnene Erkenntnis mit.
Nun setzte Ilan sein Glas mit Nachdruck auf dem Bierdeckel ab. »Der Álvarez ist nicht schwul. Muss ich ja wohl besser wissen.«
»Wieso? Hast du’s bei ihm probiert?«, feixte Mo, der Scherzkeks.
»Nein«, entgegnete Ilan ohne einen Anflug von Humor, »aber ich arbeite mit ihm.«
»Der Typ, mit dem er unterwegs ist, ist es aber definitiv«, bemühte sich Artur, doch noch ein wenig Recht zu behalten.
Es folgte ein kurzes Schweigen.
»Was hast du für ein Problem mit Homosexuellen?«, fragte Nuria schließlich etwas provokant.
Artur machte ein pampiges Gesicht. »Ich finde einfach, solche gehören nicht in den Polizeidienst.«
»Warum das denn jetzt nicht?« Der Klang von Nurias Stimme ließ deutlich erkennen, dass sie gerade ganz kurz davor war, die Geduld zu verlieren.
Artur brauchte trotzdem ein wenig Zeit, um eine Begründung für seine Behauptung zu finden. »Weil wir die Werte dieses Staats verteidigen«, brachte er schließlich hervor.
»Du meinst, Toleranz gegenüber Minderheiten?« Die Kollegin ließ ihn nicht von der Angel, und Artur begann, auf kleiner Flamme zu kochen.
»Die Keimzelle einer guten Gesellschaft ist die Familie. Mann, Frau, Kinder. Diese Schwuchteln zerstören das Fundament unserer Gesellschaft«, dozierte er giftig über den Tisch.
Mo nippte an seiner Cola und nickte. »Da muss ich Artur Recht geben. Und es gehört sich einfach nicht. Es ist ekelerregend.«
Es war selten, dass Mo und Artur einer Meinung waren. Artur, der aus einer russlanddeutschen Familie stammte, hatte selbst nur mittelgroße Sympathien für Einwanderer, insbesondere aus muslimischen Ländern, und deren Kinder wie Mo. Als Artur noch im Bremer Westen Streife gelaufen war, hatten solche Typen ihm den Berufsalltag ausgeprägt unbehaglich gemacht. Insgeheim lachte er sich ins Fäustchen, dass es nunmehr Mo zufiel, sich damit auseinanderzusetzen. Aber jetzt war er dem Kollegen dankbar für die argumentative Schützenhilfe, die dieser ihm leistete. Auch wenn beider Männer »Argumente« bislang nicht über den Status bloßer Behauptungen hinausgelangt waren.
Artur nickte Mo bestätigend zu. »Es ist krank. Die brauchen Therapie. Für den Polizeidienst taugt so was nicht.«
Ilan war sich nicht ganz sicher, auf wessen Seite er sich schlagen sollte – Nurias oder die der beiden anderen Kollegen. Im Grunde teilte er deren Ansichten, andererseits musste er sich fragen, ob er wirklich so weit gehen würde, einen Kollegen wegen seiner Homosexualität aus dem Dienst zu mobben. Er hielt den Kriminalhauptkommissar Álvarez für einen arroganten Schnösel, aber schwul war er seines Wissens nicht. Soweit er wusste, war keiner seiner Kollegen schwul. Unter den weiblichen Beamtinnen kannte er ein oder zwei Lesben, aber damit hatte er eigentlich kein so großes Problem. Wahrscheinlich hatten sie einfach noch nicht den Richtigen gefunden, mutmaßte er. Kein Wunder bei diesem Job. Warum also störte ihn – und offenbar viele andere – die Vorstellung, dass es homosexuelle Männer unter den Kollegen geben könnte? Er konnte sich diese Frage nicht beantworten. Musste irgendetwas mit der Vorstellung von Männlichkeit zu tun haben, die man unter Kollegen pflegte. War ihm aber alles zu kompliziert. Er trank einen Schluck Bier.
»Jedenfalls wüsste ich nicht, dass der Álvarez schwul ist. Der ist glücklich verheiratet.«
»Ach, echt?«, wunderte sich Nuria. Das war ihr neu.
»Mit seinem Beruf«, grinste Ilan. Er hoffte, das Privatleben seines Kollegen als Thema damit vom Tisch gewischt zu haben.
Aber Artur konnte einfach nicht aufhören. »Und deswegen zieht der abends mit so ’nem Typen um die Häuser? Lass mal einen von denen mit dem Gesetz in Konflikt geraten – Drogen, Belästigung, warum auch immer. Dann wackelt der Typ mit dem Popo, und deinem Kollegen läuft der Geifer runter.«
»Jetzt mach’ mal ’nen Punkt«, fuhr ihn Nuria stinkwütend an. »Glaubst du, Heteros sind in Beziehungsdingen weniger korrumpierbar?«
»Ich glaube, wir Normalos haben uns einfach besser im Griff«, trotzte Mo.
Nuria brach in schallendes Gelächter aus. »Also bitte«, meinte sie sarkastisch.
Mo schien einzusehen, dass seine Behauptung reichlich übertrieben war, blieb ihr jedenfalls eine Erwiderung schuldig.
Ilan nutzte das kurze Schweigen und versuchte, etwas Druck aus der Diskussion zu nehmen. »Und was heißt überhaupt ›Normalos‹. Álvarez ist so normal, dass er meistens total langweilig rüberkommt.«
Doch der Beschwichtigungsversuch schlug fehl. »Du weißt genau, was Mo meint«, gab Artur in ruhigem, aber extrem feindseligem Ton zurück.
Nuria hatte genug. »Mir reichts«, blaffte sie und kramte aus ihrem Portemonnaie einen Zehner, den sie in Ilans Richtung über den Tisch schob. »Bezahlst du bitte für mich?«
Ilan griff etwas geistesabwesend nach dem Geldschein, um Nurias Bitte nachzukommen. Eigentlich musste er selbst los. Er winkte der Servicekraft.
»Zahlen, bitte.«
»Jetzt schon?«, wunderte sich Mo.
Ilan nickte. »Hab’ noch einen Termin.«
Artur grinste etwas behäbig. »Wir auch. Also, ich. Ich werd’ dann auch mal die Kurve kratzen.«
Mo blickte etwas verdrossen drein. »Ihr seid ja Spaßbremsen.«
»Sorry, Digger. Aber uns drängen die Geschäfte.«
Mit dem Kopf wies Mo auf ein nahebei stehendes Chemie-Klo, das in leichter Schräglage neben einer Baustelle stand. »Na, dann pass mal auf, dass nichts in die Hose geht«, frotzelte er. »Und nicht vergessen: jedem seine eigene Bude …« Die Männer lachten.
Alle erhoben sich und rückten die Stühle zurecht. Als sie sich zum Gehen wandten, wurde Mo von hinten heftig angerempelt. »Ey«, beschwerte er sich prompt und brachte sich sofort in Stellung.
Doch der Zusammenstoß war wohl unbeabsichtigt gewesen und der Eile der schwarz gekleideten Gestalt geschuldet, die sich mit kapuzenbewehrtem Haupt hastig entfernte.
* * *
Auch Yaakov und Manuel beschlossen aufzubrechen. Nachdem sie bezahlt hatten, schlenderten sie entspannt durch die kleinen Sträßchen des Viertels. Im Schutze der beginnenden Dunkelheit und eines Hauseingangs blieb Yaakov stehen, legte seine Hand um Manuels Hüfte, zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Der Tänzer hatte einen großen Teil seiner Jugend in Amsterdam verbracht und war in Bezug auf Zuneigungsbekundungen im öffentlichen Raum wesentlich entspannter als der Hauptkommissar, der solchen Dingen befangener gegenüberstand. Außerdem war Manuel, nach erst einem halben Jahr Beziehung, noch nicht out.
Eine Gruppe junger Leute war, mit Getränkeflaschen bewaffnet und von dem küssenden Paar bisher unbemerkt geblieben, in einigem Abstand hinter den beiden gelaufen und zog nun johlend an ihnen vorbei. Einer machte mit gespitzten Lippen ein quietschendes Geräusch, das wohl einen Kuss imitieren sollte. Manuel blickte ihn irritiert über Yaakovs Schulter hinweg an, doch die Gesichter der Jugendlichen wirkten nicht unfreundlich, und mit fröhlichem Gelärme entfernten sie sich von dem Paar.
»Siehst du«, meinte Yaakov, »nicht alle sind feindselig.«
»Berufskrankheit«, entschuldigte Manuel sein Misstrauen. Yaakovs Feststellung überzeugte ihn nur mäßig.
In einigem Abstand zu dem fröhlichen Trupp folgte diesem eine ganz in schwarz gekleidete Gestalt. Sie hatte die Kapuze ihres Hoodies tief ins Gesicht gezogen und war im abendlichen Dunkel kaum zu sehen. Kurz bevor der Typ auf gleicher Höhe mit Manuel und Yaakov war, ließ er ein scharfes Räuspern hören und spie das Resultat seiner Bemühungen knapp hinter Yaakovs Ferse.
»Siehst du«, sagte Manuel, und bevor sie sich wieder in Bewegung setzten, navigierte er Yaakov vorsichtig um den feuchten Fleck auf dem Straßenpflaster herum.
»Idioten gibt’s immer«, konstatierte Yaakov. Er klang, als sei er im Unterschied zu Manuel über diesen Umstand nicht sehr besorgt.
Unter seiner Kapuze verborgen, hatte der schwarz gekleidete Mann beobachtet, wie diese beiden Männer am Ulrichsplatz losgegangen waren. Er hatte gesehen, wie der Jüngere dem etwas Älteren sanft die Hand auf den unteren Rücken gelegt hatte, während die beiden in eine Seitenstraße des O’wegs eingebogen waren. Die Männer wirkten sportlich, sie schritten zügig voraus, und die dunkle Gestalt beschloss, ihnen zu folgen. Etwas schien hier nicht mit rechten Dingen zuzugehen.
Und die Befürchtungen der Kapuzengestalt erfüllten sich: In einem stillen Winkel blieben die beiden stehen und begannen doch tatsächlich in aller Öffentlichkeit miteinander zu knutschen. Das war, fand der Kapuzenträger, ungeheuerlich. Er fragte sich empört, was wohl als Nächstes passieren würde. Sex in den Wallanlagen? Allerdings liefen die beiden in die entgegengesetzte Richtung.
Nachdem er seinem Unmut durch Ausspucken Ausdruck verliehen hatte, eilte der schwarz gekleidete Verfolger den beiden Männern weiter hinterher, vorsichtig, um nicht bemerkt zu werden. Vor einem zweistöckigen Haus blieben sie schließlich stehen; der Ältere zog seinen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Haustür auf. Wieder verirrte sich die Hand des Jüngeren auf das Hinterteil seines Begleiters.
Kein Wunder, dass in Sachen Familie alles vor die Hunde ging, wenn Männer nur noch mit Männern und Frauen nur noch mit Frauen schliefen. Niemand war mehr bereit, Verantwortung zu übernehmen und für die Zukunft zu sorgen. Wohin sollte das alles führen? Die beiden verschwanden im Haus, und der Kapuzenträger verspürte Ekel bei der Vorstellung, was sich da drinnen wohl gleich abspielen würde. Er sah vor seinem inneren Auge den Ablauf wie in einem Film, der sich geradezu in ihm einbrannte. Doch die beiden sollten nicht ungeschoren davonkommen.
Eigentlich hatte er ja auf dem schnellsten Weg nach Hause zurückkehren wollen; selten genug verließ er die eigenen vier Wände. Sein Tagesablauf folgte einer festen Struktur, und ungeplante Änderungen verdrossen ihn. Heute waren die Aufgaben des Tages noch nicht alle erfüllt, und jetzt musste er sogar noch eine weitere auf seine To-Do-Liste setzen. Aber manchmal galt es eben, unabdingbaren Verpflichtungen nachzukommen, und das war heute der Fall.
Nachdem die Haustür hinter den beiden Männern, wenn man die denn so nennen wollte, ins Schloss gefallen war, streifte die Gestalt im Hoodie ihren Rucksack ab und entnahm ihm eine Sprühdose. Aufmerksam sah der Mann sich um, konnte jedoch keinen zufälligen Beobachter ausmachen. Deswegen näherte er sich der Hauswand neben der Tür und sprayte zügig und routiniert eine Reihe von feuerroten Buchstaben auf den Putz. Dann warf er die Dose wieder in seinen Rucksack, zurrte hastig den Reißverschluss zu und verschwand.
* * *
Nachdem sich die kollegiale Runde am Ulrichsplatz so plötzlich aufgelöst hatte und Artur seinem drängendsten Bedürfnis nachgegangen war, musste er sich sputen, um pünktlich in seiner Dienststelle anzutanzen. Er hoffte, sein Kollege und Einsatzpartner würde nicht riechen, dass er sich vor dem Dienst noch ein Bier gegönnt hatte. Eine lange Nacht zu zweit im Auto erwartete sie. Artur hatte keine Zeit mehr gehabt, nach Hause zu fahren und zu duschen, deswegen warf er sich, nachdem er auf dem Revier seine Uniform angezogen hatte, gleich drei Pfefferminzbonbons in den Mund. Sein Einsatzpartner scharrte schon mit den Hufen, aber Polizeiobermeister Artur Kempf ließ es sich nicht nehmen, sein Aussehen vor dem Spiegel noch einmal penibel auf Korrektheit zu überprüfen. Das war trotz Zeitdruck für ihn unabdingbar. Respekt vor dem Amt hatte auch etwas mit repräsentativem Äußeren zu tun.
Dann eilten die beiden Kollegen zu ihrem Einsatzfahrzeug und fuhren los. Ihr Einsatzort lag in einem Stadtviertel, das sich durch Gediegenheit und vor allem durch Geld auszeichnete. Artur verspürte stets einen starken Widerwillen, wenn er die Stadthäuser und Villen des gutsituierten Bürgertums sah, die das Bild von Schwachhausen prägten. Er selbst pflegte nach außen einen Habitus von Herablassung oder gar Verachtung gegenüber den Bewohnern dieses Stadtteils, innerlich knirschte er jedoch mit den Zähnen vor Wut. Im Grunde empfand er bei jedem Einsatz, wenn es dort überhaupt mal einen gab, ein hohes Maß an Schadenfreude und Häme. Meist handelte es sich um Eigentumsdelikte, da hielt sich sein Mitleid in Grenzen. Aber normalerweise war es ruhig in diesem Stadtviertel. Gröpelingen, sein früheres Revier, stand in krassem Gegensatz zu diesem Hort wohlstandsgesättigter Schläfrigkeit. Aber mit dem Revier Gröpelingen konnte sich jetzt Kollege Rahmani herumschlagen. Dessen Leute waren schließlich, fand Artur, Teil des Problems. Nächte, in denen Mo darum kämpfen musste, dass ihm nicht im warmen Einsatzfahrzeug die Augen zufielen, waren wohl äußerst selten.
Artur hingegen stand genau so eine Nacht bevor. Wieder einmal waren er und der Kollege für den Wachdienst vor der Synagoge eingeteilt. Auch so eine Parallelgesellschaft, dachte Artur, die ruhen sich gemütlich auf ihrem Geld aus, während wir ihren sorgenfreien Schlaf bewachen und am Monatsende auf unsere Ausgaben achten müssen. Die Lebenshaltungskosten in dieser Stadt stellten einfache Polizisten vor Herausforderungen, von den Mieten ganz zu schweigen. Solche Probleme haben die da nicht, dachte er, als sie den Wagen mit Blick auf das Gebäude der jüdischen Gemeinde abstellten. Durch die Scheiben betrachtete Artur widerwillig das Hähen und Spähen vor dem Eingang der Synagoge. Es war mehr los als sonst an Freitagabenden. Vielleicht war ja ein besonderer Feiertag – Artur kannte sich da nicht so aus.
Eine Person in dem leutseligen Haufen kam ihm bekannt vor, und als diese sich umwandte, erkannte er Ilan Weiss. Deswegen also hatte er vorhin am Ulrichsplatz so einen Stress gemacht. Ilan blickte direkt in seine Richtung, das war Artur unangenehm. Er presste die Lippen aufeinander. Hatte Ilan ihn gesehen? Der Kollege Weiss konnte nicht wissen, dass ausgerechnet er, Artur, heute vor Ilans Gotteshaus Dienst schob, und das war Artur auch lieber so. Jetzt grüßte der Kollege auch noch mit einer Geste. Wahrscheinlich meinte er einen seiner Glaubensbrüder, wie Artur die Juden nannte, weil ihm kein treffenderer Ausdruck einfiel. Eigentlich betrachtete er sie zwar eher unter der Kategorie »Volk«, aber der Ausdruck »Volksgenossen« war für ihn der Bezeichnung seiner eigenen gesellschaftlichen Gruppe vorbehalten, und Artur fand, da gehörten die da definitiv nicht dazu. Auf keinen Fall würde er zurückgrüßen. Dumm genug, wenn Ilan ihn tatsächlich gesehen hätte. Das passte Artur heute Abend gar nicht. Sein Gehirn setzte sich in Bewegung, um alle Eventualitäten durchzuspielen und den Ablauf der nächsten Stunden anpassen zu können.
Er verlor sich in möglichen Szenarien, bis die Meute schließlich wieder aus dem Gemeindezentrum herausströmte und sich wortreich und lautstark voneinander verabschiedete. Ein geschwätziges Volk, dachte Artur angewidert. Das fanden offenbar auch einige junge Männer, die des Weges kamen und begannen, die Umstehenden anzupöbeln. Hallo Jungs, dachte Artur und setzte sich schließlich widerwillig in Bewegung, als der Kollege neben ihm aus dem Auto ausstieg, um zu intervenieren. Wozu sie ja hier waren.
Bis er und der Kollege an dem Tumult angelangt waren, hatte sich dieser allerdings fast wieder aufgelöst. Pro forma ließen sich die beiden Schutzpolizisten die Ausweise der übrigen Anwesenden zeigen und ignorierten deren Proteste, sie seien schließlich die Attackierten. Die Angreifer hatten sich längst aus dem Staub gemacht, der größere Teil der Gemeindemitglieder war ebenfalls verschwunden. Aus dem Augenwinkel versuchte Artur festzustellen, ob Ilan Weiss mittlerweile außer Sichtweite war. Dieser schien jedoch genauso abgezogen zu sein wie die erlebnishungrigen jungen Männer. Artur reichte die beiden Ausweise den letzten verbliebenen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde zurück und schickte die empörten Ausweisinhaber von dannen.
»Hast du die Personalien von den eventorientierten jungen Männern?«, fragte sein Kollege.
Artur nickte. Einen Scheiß hatte er. Vielmehr beschäftigte ihn, ob Ilan ihn gesehen hatte. Er selbst hatte sich absichtlich dem Teil der Menge zugewandt, deren Position ihm ermöglicht hatte, Ilan den Rücken zuzukehren. Genug Trubel war ja gewesen – aufgebrachte Juden, davonflitzende Jungs. Artur hatte es nicht für nötig gehalten, ihnen hinterherzujagen. Trotzdem schwitzte er in seiner Uniform. Die enthob ihn zwar eigentlich jeden Verdachts, doch in seinem Kopf malte er sich aus, dass Ilan sich empört bei Arturs Dienststellenleitung beschweren könnte, wie lax der Kollege die Situation gemanagt hatte. Ilan war ja nicht doof und zudem ein Kollege, der die Standardabläufe bei solchen Einsätzen genau kannte.
Da sich die Menge nach und nach zerstreut hatte, trotteten die beiden Beamten zurück zum Auto. Artur ging den kurzen Vorfall im Geiste noch mal durch und überlegte fieberhaft, ob sein Verhalten Anlass zu Beschwerden geben konnte.
In der gemütlichen Wärme des Dienstfahrzeugs riss der Kollege Artur kurz aus den Gedanken und fragte: »Machst du den Bericht fertig?« Artur nickte und trug auf dem Formular die Uhrzeit und »Keine besonderen Vorfälle« ein. Warum auch nicht, es war ja nichts passiert. Zeit für einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne. Auf der Straße, die mittlerweile in abendlichem Dunkel lag, war wieder Ruhe eingekehrt.
* * *
Als Rashid und Khalil am Abend ins Al Nour gestolpert kamen, schickte Khalils Vater Ayub Al-Waziri die beiden erst mal unter die Dusche.
»Was fällt euch ein«, gab er ihnen mit auf den Weg.
Er meinte wohl den Zustand, in dem die beiden sich befanden und den er in seinem Restaurant nicht duldete, war dieses doch um ein gewisses Maß an Eleganz bemüht. Auch die Reaktion der üblichen Runde von Stammgästen, die um den großen Tisch in der Ecke geschart saßen, reichte von einem spöttischen Grinsen bis zu pikiertem Kopfschütteln. Die beiden jungen Kellner waren bei den Gästen beliebt, aber was zu weit ging, ging zu weit. Ein Mindestmaß an Respekt konnte man ja wohl erwarten – und dies sollte sich auch in angemessener Kleidung und Körperpflege äußern, fanden die Älteren. Schlimm genug, dass man sich den Respekt hierzulande Tag für Tag erkämpfen musste. Und dies von Leuten, die sich höchstens einmal am Tag die Hände wuschen und ihre Mahlzeiten, die notwendigerweise Schweinefleisch enthielten und nicht selten im Stehen verzehrt wurden, bereits mittags mit Bier herunterspülten. Mit solchem Mangel an Esskultur fing der Niedergang an, prophezeite die Runde älterer Herren, und sie hätten eine Vielzahl von Beispielen aufzuzählen gewusst, womit sich dieser fortsetzte.
Schließlich tauchten die beiden Jungs tadellos gekämmt und in makellos sitzender Kellneruniform wieder auf. Eine Wolke von Wohlgeruch umgab sie. Ayub dirigierte sie unverzüglich mit einer Kopfbewegung und ohne weiteren Kommentar zur Durchreiche, wo eine größere Anzahl von Platten, Tellern und Schalen gut gefüllt vor sich hin dampfte.
»Tisch vier«, informierte sie Ayub knapp und balancierte gekonnt selbst mehrere Gedecke auf den Armen in Richtung des Tisches.
Rashid kam er manchmal vor wie ein Oktopus, wenn Ayub es, mit Tonnen von Tellern und Schüsseln beladen, immer noch schaffte, Personal durch den Raum zu dirigieren und gleichzeitig herzlich und zugewandt Gäste zu begrüßen oder zu verabschieden. Multitasking in Perfektion, und hätte Rashid selbst sich nicht größeren und wichtigeren Aufgaben zu widmen, wäre sein Onkel Ayub ein wirkliches Vorbild für ihn.
Aber Rashids Ziele lagen ganz woanders, nicht in diesem kleinbürgerlichen Dasein, das seinem Onkel und seinem Cousin Khalil zu genügen schien. Er, Rashid, war von mehr Ehrgeiz getrieben. Es ging im Leben um bedeutendere Dinge, als Tag für Tag in der immer gleichen Tretmühle zu stecken. Nicht, dass es nicht auch solche Menschen geben musste, aber es brauchte eben auch diejenigen, die sich dem großen Ganzen widmeten, die für die Rahmenbedingungen sorgten, innerhalb derer alles andere funktionierte und die den Menschen, der Gesellschaft Orientierung boten. Darin sah er seine Bestimmung.
»Yallah, beweg dich«, rief Khalil ihm zu, während Rashid sich, scheinbar träumend, in Zeitlupe durch den Gastraum bewegte.
Das Restaurant war den ganzen Freitagabend lang gut besucht gewesen, erst jetzt begannen die Gäste, nach der Rechnung zu verlangen, während andere noch Süßspeisen, einen Tee oder eine Tasse Mokka bestellten. Ein wenig ernüchtert beschleunigte Rashid sein Arbeitstempo wieder. Seine hochfliegenden Pläne mussten erst mal vertagt werden, bis der Job hier erledigt war.
Am späten Abend, nachdem sich die Zahl der Gäste auf ein Minimum reduziert und die Küche mehr oder weniger geschlossen hatte, kam das Team des Al Nour endlich dazu, selbst zu Abend zu essen. Khalil und Rashid hing der Magen mittlerweile wirklich in den Kniekehlen, und sie machten sich über den Inhalt der gut gefüllten Schüsseln und Platten her, die dampfend auf dem Tisch standen. Auch der Chef gönnte sich eine Pause.
»Wo um Himmels willen seid ihr gewesen? Ihr habt ja fürchterlich ausgesehen.«
»Einsatz«, nuschelte Khalil über seiner Riesenportion Sambusik-Taschen, Kibbeh-Fleischbällchen und Kafta-Spießen. Er war am Verhungern und hatte keine Lust auf ornamentale Erzählkunst.
Ayub erwartete jedoch genau das und blickte nunmehr Rashid auffordernd an, da von seinem eigen Fleisch und Blut wohl nichts zu erwarten war. Rashid war der redseligere von beiden.
»Üble Sache«, brachte dieser zwischen zwei Happen hervor. Auch er betrachtete es gerade als vordringlicher, seine Reserven wieder aufzufüllen als Erklärungen abzugeben.
»Hulsberg«, schob Khalil hinterher, da er den Mund für einen kurzen Moment weniger voll hatte.
Ayub blickte beunruhigt von einem zum anderen. In Hulsberg lag der Gebetsraum, den seine Familie und viele seiner Stammgäste zu besuchen pflegten.
»Was ist passiert?«, fragte er schließlich alarmiert, da ihm bis auf Weiteres nur lautstarkes Kauen und Schweigen entgegenschallten.
»Ein Feuer«, füllte Rashid schließlich die Informationslücke. »Der Saal ist hinüber.« Und nach einer weiteren Ladung Kibbeh-Fleischbällchen mit Batata, gewürzten Kartoffelschnitzen, fügte er hinzu: »Eine Riesensauerei mit dem ganzen Qualm und Löschschaum.«
Das erklärte wenigstens den Aufzug, in dem die beiden vorhin ihre Schicht angetreten hatten. Ihre zweite Schicht, denn zuvor hatten sie bereits acht Stunden Rettungsdienst abgerissen. Damit es zum Leben reichte, jobbten sie abends meist noch bei Ayub im Service.
Erst als sie ihren Stoffwechsel wieder auf Betriebstemperatur gebracht hatten, meinte Rashid: »Gab einen Toten.«
»Wer ist es?« Sein Onkel war deutlich beunruhigter als der junge Rettungssanitäter.
Der zuckte mit den Achseln. »War nicht zu erkennen.«
Ayub fragte sich, ob es an ihrem Beruf lag, dass sein Neffe und sein Sohn sich so abgebrüht gaben, wenn es um schlimme Ereignisse ging. Oder war es das Alter? Er selbst hatte das Gefühl, nicht abgeklärter, sondern immer dünnhäutiger zu werden.
»Was heißt ›War nicht zu erkennen‹? Ihr habt ihn doch beim Einsatz aus der Nähe gesehen.«
»Ja, aber er war ziemlich ver…, also, angesengt«, versuchte Rashid, es mit Rücksicht auf das Alter seines Onkels vorsichtig zu formulieren.
Ayub schüttelte fassungslos den Kopf. Er hatte das Gemeindezentrum in Hulsberg immer als eine Art Schutzraum betrachtet, auch wenn er es selbst nicht jeden Freitag schaffte, zum Gebet zu gehen – der Restaurantbetrieb ließ das viel zu oft nicht zu. Dafür schämte er sich nicht wenig. Dieses Versäumnis an religiöser Pflicht kompensierte er allerdings mit einer großzügigen Ausstattung des kulinarischen Angebots bei allen möglichen Festen und sonstigen Zusammenkünften der Gemeinde.
Ayub war der Ansicht, dass gemeinsame Mahlzeiten dem Frieden und dem Zusammenhalt zuträglich waren. Konfliktherde einzuhegen war in der Gemeinde schwierig genug, und diese Aufgabe gestaltete sich zunehmend schwieriger. Dazu kam, dass das Misstrauen in der nicht-muslimischen Bevölkerung seit letztem Jahr explosionsartig angestiegen war. Ayub teilte die Ansicht seines Imams, dass das beste Mittel, um Vertrauen wiederherzustellen, Offenheit und integrative Angebote waren. Dazu zählte zum Beispiel, Nachbarn und nicht-muslimische Mitbürger zu Gemeindefesten einzuladen. Er war gerne bereit, als Gastronom seinen Beitrag dazu zu leisten. Aber er wusste, dass er und der Imam für diese Friedensmission innerhalb der Gemeinde nicht nur Zuspruch erhielten.
Freitagabend, 6. September 2002 – Erev Rosch HaSchana, 1. Tischri 5763
»Barúch atá Adonái, Elohenu Melèch al kol ha-arez, mekadèsch haSchabbat weJisroèl wejóm hasikarón.« Mit dem Lichtsegen beendete Noemi Weiss die Vorgebete zum Schabbat, der heute zudem auf den Beginn des neuen Jahres fiel. Sie nahm die Hände wieder von den Augen, die stets abgeschirmt wurden, während man das Licht der beiden Schabbatkerzen auf dem Tisch segnete.
»Amèn«, beschloss ihr Mann Ilan sein anschließendes Gebet, und beide gossen ein wenig Wasser über ihre Hände, bevor sie einen Apfelschnitz zum rituellen Beginn des Abendmahls in Honig tunkten.
Als alle Teile des Rituals vollzogen waren, wartete Ilan ab, bis Noemi ihm seine Portion des Abendessens auf den Teller gefüllt hatte, das sie zubereitet hatte, während er noch in der Synagoge gewesen war. Er hätte ihr gerne geholfen, wusste jedoch, dass sie sich in ihre Pflichten und Vorrechte als Hausfrau niemals von ihm hineinfingern lassen würde. Was er respektierte, zumal die mehr als fünftausend Jahre alten Vorschriften an der zeremoniellen häuslichen Aufgabenverteilung keinen Zweifel ließen.
So war er, nachdem er sich von der kollegialen Feierabendrunde im Viertel verabschiedet hatte, in die Synagoge gefahren, um den Gottesdienst zu besuchen. Dieser hatte heute, am 1. Tischri – anders als an anderen Freitagabenden – nicht nur den Schabbat eingeleitet, sondern auch den Neujahrstag und damit den Beginn des neuen Jahres 5763. Es war Erev Rosch HaSchana, der Vorabend des Neujahrsfestes, an dem – trotz aller Süße der traditionellen Speisen – die Gemeinde mit dem Schofarblasen, dem zeremoniellen Blasen des gewundenen Widderhornes, zur Reue gemahnt wurde.
In der jüdischen Gemeinde hatte es immer wieder Debatten darüber gegeben, wann die Gottesdienste im Sommer beginnen sollten. Die orthodoxen Gemeindemitglieder beharrten stets darauf, dass man – getreu den Geboten – zu warten hatte, bis drei Sterne am Himmel zu sehen waren. Hier oben im Norden hätte das allerdings bedeutet, dass man in den Sommermonaten erst am späten Abend zusammenkommen könnte. Deswegen hatten die Pragmatiker in der Gemeinde die Ansicht geäußert, dass es nur darauf ankäme, überhaupt gemeinsam zum Gottesdienst zusammenzukommen. Immerhin solle man sich ja noch vor Sonnenuntergang zu Hause zum rituellen Abendessen einfinden. Die Abweichung vom vorgeschriebenen Zeitpunkt des Gottesdienstbeginns sei dabei ein eher lässliches Vergehen. Ein Vorschlag, der für die Orthodoxen inakzeptabel war, mit dem sich jedoch die Mehrheit – bestehend aus der konservativen und der liberalen Fraktion der Gemeinde – schlussendlich durchgesetzt hatte.
Wo zwei Juden waren, gab es drei Meinungen, besagte ein altes Sprichwort. Doch letzten Endes folgte man dem genauso alten Grundsatz, dass die Gebote auch mal flexibel angepasst werden konnten, wenn die Rahmenbedingungen es erforderten. Also begannen die Gottesdienste ab Pessach im Frühjahr und während des Sommers eben um neunzehn Uhr, egal, wie gut die Sicht aufs Firmament war. So viele bewölkte Tage wie in Bremen hatte es in Israel ohnehin zu keinem Zeitpunkt der Geschichte gegeben. Erst in zehn Tagen, abJom Kippur, dem Versöhnungsfest, würde man wieder in den Wintermodus wechseln und zu siebzehn Uhr zurückkehren, doch jetzt, an Rosch HaSchana, galt noch die gemeindespezifische Sommerzeit.
Entsprechend spät war Ilan nach Hause gekommen, um mit Noemi zu Abend zu essen, das anlässlich des hohen Feiertages etwas festlicher als sonst ausfiel. Beide genossen die Ruhe des Abendessens in trauter Zweisamkeit, solange dies noch möglich war, denn wohl schon in wenigen Tagen würde diese friedliche Stimmung ein für alle Male beendet sein. Jedenfalls ungefähr für die nächsten zwanzig Jahre, denn in einigen Tagen würden die beiden zum ersten Mal Eltern werden.
Sie sprachen wenig während des gemeinsamen Mahls, sie waren beide keine Plaudertaschen. Aber Ilan betrachtete seine Frau voller Liebe, auch wenn er seine Gefühle nicht so gut ausdrücken konnte. In seinen Augen war Noemi die schönste Frau der Welt, und er konnte sein Glück kaum fassen, dass er sie tatsächlich hatte erobern können. Ihr Vater war zunächst nicht sehr begeistert gewesen, seine Tochter einem Polizisten zur Frau zu geben, aber wenigstens hatte der Junge eine sichere Stelle, wenn man die Sache aus Sicht des Kündigungsschutzes betrachtete. An die religiösen Regeln hielt er sich wohl auch und besuchte die Synagoge, wann immer seine Dienstzeiten es zuließen. Es hätte schlimmer kommen können bei der unüblichen Wahl seiner Tochter, die nicht darauf gewartet hatte, bis ihr strenggläubiger Vater einen aus seiner Sicht geeigneten Mann vorgeschlagen hatte. Aber sie war stets eine gute Tochter gewesen, und da der Vater darauf vertraut hatte, dass sie keine unpassende Wahl treffen würde, hatte es nun nach seinem Willen eben ein Polizist sein sollen. Vielleicht war es in Hinblick auf die historischen Erfahrungen der Familie auch gar nicht so schlecht, einen Polizisten im engsten Kreis zu haben.
Als sie am späteren Abend ins Bett gingen, hätte sich Ilan gerne seiner Frau genähert, da er spürte, wie es ihn nach ihr verlangte. Der Respekt vor dem Feiertag und mehr noch vor den besonderen Umständen, in denen Noemi sich befand, hatten ihn jedoch daran gehindert, seinem Begehren nachzugeben. Ilan hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als er durch das Klingeln seines Handys wieder geweckt wurde. Zurzeit schlief er ohnehin nicht sehr tief, weil Noemi so kurz vor der Entbindung stand. Noemis Tasche für die Klinik stand bereits gepackt neben dem Bett, für alle Fälle. Aber momentan schnorchelte sie trotz des Gebimmels vor sich hin und schlief so fest, wie es mit ihrer unbequemen Körperform noch möglich war.
Trotz seines leichten Schlafs erst halb wach, sah Ilan nur noch, dass sein Handy blinkte. Jemand hatte wohl versucht, ihn zu erreichen. Allen Geboten der Schabbatruhe zum Trotz obsiegte in der Abwägung religiöser gegenüber dienstlichen Pflichten das Verantwortungsbewusstsein seines Berufsstands. Natürlich nur, sofern die Nachricht dienstlich wäre. Er griff das Gerät vom Nachttisch, drückte auf die Tasten und las die SMS, die ihn über einen Anruf in Abwesenheit informierte. Ilan bemühte sich, so rasch und so leise wie möglich aus dem Bett und dem Schlafzimmer zu kommen, um Noemi nicht zu wecken. Kurz vor der Tür betätigte er die Rückruffunktion seines altertümlichen Handys.
»Ilan?«, hörte er am anderen Ende der virtuellen Leitung.
»Ja.«
»Kommst du mal bitte? Es gibt hier Probleme.«
Offenbar handelte es sich bei dem Anrufer um einen Kollegen. Ilan hatte nach Annahme seines Anrufs nicht auf das Display nach der Nummer gesehen und holte das jetzt nach. Artur.
»Was denn für Probleme? Ich hab keine Bereitschaft«, informierte er seinen Kumpel.
»An der Synagoge. Ich glaub wirklich, es ist besser, wenn du herkommst.«
Ilan fühlte sich gleichermaßen elektrisiert wie irritiert. Natürlich beunruhigte es ihn, dass es offenbar schon wieder einen Vorfall an dem Gebäude der jüdischen Gemeinde gab, und das mitten in der Nacht. Brauchten diese Antisemiten denn keinen Schlaf?
Beim Verlassen der Synagoge einige Stunden zuvor waren ein paar Schläger auf die Synagogenbesucher losgegangen. Der Angriff hatte sich zwar dank des Eingreifens seiner wachhabenden Kollegen recht schnell wieder aufgelöst, doch die Beule an Ilans Stirn schmerzte immer noch. Noemi war sehr erschrocken, als sie ihren Mann bei seiner Heimkehr begrüßt hatte. Und jetzt schien dort schon wieder etwas aus dem Ruder zu laufen. Ilan fühlte sich einerseits verantwortlich, zu Ordnungsmaßnahmen beizutragen, denn er war ja sowohl Polizist als auch Mitglied der jüdischen Gemeinde. Andererseits gab es genug Kolleginnen und Kollegen im Dienst, die sich darum kümmern mussten.
»Artur, ich kann meine Frau jetzt nicht alleine lassen. Sie kann jederzeit Wehen bekommen.«
»Ich weiß, Alter, aber es ist wirklich dringend«, beschwor ihn Artur.
Ilan überlegte kurz, dann lenkte er seufzend ein: »Also gut. Wo seid ihr, direkt an der Gemeinde?«
»Direkt davor.« Artur klang erleichtert. »Beeil dich bitte.«
»Wir sehen uns dort«, kürzte Ilan das Gespräch ab.
Weil er Noemi nicht wecken wollte, zog er sich Klamotten an, die er am Abend zuvor zum Waschen in den Wäschekorb geworfen hatte. Nicht gerade angenehm, aber wer weiß, was ihn vor Ort erwartete. Meistens brachte ihn sein Job in Situationen, die sauberer Kleidung ohnehin abträglich waren.
Draußen war es mittlerweile stockdunkel, und Ilan konnte kaum etwas erkennen, als er in die Straße einbog, in der die jüdische Gemeinde ihren Sitz hatte. Auf wundersame Weise hatten in den letzten Tagen gleich zwei Straßenlaternen in einträchtiger Synchronizität den Geist aufgegeben und waren von der Stadt noch nicht ersetzt worden. So herrschte vor dem Tor der Grünanlage, in der das Gebäude der Gemeinde lag, geradezu stygische Finsternis. Sogar der Streifenwagen, der zum Schutz der jüdischen Gemeinde stets mit zwei Polizeibeamten in Wechselschicht besetzt war, schien in Dämmerschlaf gefallen.
Seit Jahren war nichts Gravierenderes vorgefallen als gelegentliche Sachbeschädigung in Gestalt aufgesprühter Hakenkreuze oder ähnlichen Geschmiers auf dem Gehweg oder dem Sockel des Sicherheitszauns. Der Dienst vor der Synagoge galt bei vielen Beamten als langweiliges Abstellgleis. Ilan parkte seinen Wagen einige Meter weiter, stieg aus und schritt zügig in Richtung des Geländes. Er wunderte sich, dass Artur ihn am Telefon so gedrängt hatte, denn das Schwachhauser Idyll schien ihm fern jeder Eskalation.
Doch dann geschah auf einmal alles gleichzeitig. Mit ohrenbetäubendem Lärm und grellem Licht brach ein Inferno aus. Vor lodernden Flammen zeichneten sich einige schwarz gekleidete Gestalten ab, die wieder und wieder Brandsätze über den Zaun in Richtung des Gebäudes schleuderten und offenbar auch Schreckschusswaffen mit sich führten, von denen sie in hoher Frequenz Gebrauch machten. In dem überwältigenden Szenario aus Feuer, Qualm und Lärm versuchte Ilan nach dem ersten Schreck, einen professionellen Überblick zu behalten. Wo waren verdammt noch mal die diensthabenden Kollegen aus dem Streifenwagen, der im Rauch auf der anderen Seite des Zaunes eher zu erahnen als zu erkennen war?
Unter den drei oder vier Gestalten, deren Schemen mit den grellen Flammen kontrastierten, glaubte er, Artur zu identifizieren.
Anstatt sich weiterhin lange zu wundern, schrie er dem Kollegen zu: »Habt ihr die Feuerwehr gerufen? Und wo sind die Kollegen?«
Er bekam Arturs Antwort, so sie denn kam, nicht mit, denn auf einmal explodierte ein weiteres Feuerwerk an seinem Hinterkopf und der Film riss ab.
* * *
Im gemütlichen Dunkel seines Dienstwagens war einer der beiden Schutzpolizisten hochgeschreckt. Ein der Nachtruhe durchaus abträgliches Getöse brach vor dem Gebäude der Gemeinde los. Zudem verbreitete sich ein durchdringender Gestank nach Benzin und Qualm, der unerbittlich durch die Ritzen der Fahrzeugtüren drang. Durch den Feuernebel war kaum etwas zu erkennen, und der kaum erwachte Schutzpolizist blinzelte irritiert gegen den Qualm und das blendende Licht an. Er wunderte sich, wo sein Kollege Artur Kempf steckte, aber den hatten vermutlich drängende Geschäfte metabolischer Natur in einen dunklen Winkel des Geländes getrieben.
Arturs Kollege griff zum Funkgerät und versuchte, den Polizeiobermeister Kempf über Funk zu erreichen, jedoch ohne Erfolg. Wäre die Angelegenheit nicht so dringlich gewesen, hätte ihn die Vorstellung amüsiert, wie Artur im Gebüsch gleichzeitig seine Notdurft zu verrichten und sein Funkgerät zu bedienen versuchte, aber der Kollege Kempf setzte offenbar Prioritäten, und die Funkfrequenz blieb stumm. Seufzend stieg der Diensthabende aus dem mollig warmen Fahrzeug und rief nach Artur, was bei dem Lärm auf der anderen Seite des Zaunes ein kommunikativ aussichtsloses Unterfangen war.
Da der Zaun ihn schützen würde, wagte er es schließlich, alleine in Richtung Tor zu traben, doch da ging das Spektakel bereits seinem Ende entgegen. Die letzten Flammen verglommen, die Rauchschwaden verzogen sich langsam, und durch die Eisenstangen hindurch sah er, wie ein Auto davonbrauste, nachdem mit lautem Rumms die Kofferraumklappe und danach die Türen zugeschlagen waren. Aus einer sich ausdünnenden Rauchwolke schritt ihm der ausstehende Kollege Artur Kempf entgegen wie der Protagonist einer Zombieapokalypse.
»Wo warst du denn?«, krächzte Polizeiobermeister Kempf ihm ungehalten entgegen, während er das Tor zum Vorhof der Synagoge öffnete und den Garten des geschützten Ortes betrat.
»Das wollte ich dich gerade fragen. Ich hab versucht, dich anzufunken«, verteidigte sich sein Kollege.
»Hab ich nicht gehört. War ein Höllenlärm.«
»Was ist passiert?«
Artur winkte ab. »Ach, nur ein paar Randalinskis mit Pyros und zu hohem Blutalkohol.«
»Und mit dem fahren sie jetzt Auto?«, fragte sein Kollege skeptisch.
Artur zuckte mit den Achseln. »Konnte ihnen ja schlecht alleine den Zündschlüssel abnehmen, oder?«, spielte er den Ball des Vorwurfs zurück.
»Hast du wenigstens das Kennzeichen?«
Polizeiobermeister Kempf schüttelte den Kopf. »Bodennebel.«
Der hatte sich mittlerweile gänzlich verzogen, und die beiden wachhabenden Kollegen schlenderten unverrichteter Dinge zurück in die Wärme ihres Einsatzfahrzeugs.
* * *
Manuel war auf angenehme Weise ermüdet, aber zu verliebt, um einschlafen zu können. Im fast dunklen Zimmer betrachtete er die Linien von Yaakovs Körper, der vom Mondschein stellenweise beleuchtet wurde. Sein Freund pennte tief und fest; unter Schlafstörungen litt er nur unmittelbar vor Premieren. Es kostete Manuel reichlich Überwindung, den Schlafenden nicht durch Berührungen zu stören.
Er drehte sich von der Seite auf den Rücken und hing, tiefsinnig die Decke seines Schlafzimmers betrachtend, verschiedenen durcheinanderlaufenden Gedankensträngen nach, bei denen, wie üblich, die Selbstvorwürfe überwogen. Warum hatte er früher so viel Lebenszeit damit verplempert, sich in Beziehungen zu stürzen, in denen sich schon früh abzeichnete, dass sie offenbar keinem der beiden Beteiligten guttaten? Warum hatte es so lange gedauert, bis er sich selbst eingestehen konnte, dass eben Männer das Objekt seines Begehrens waren und nicht Frauen? War ihm das wirklich erst bewusst geworden, als er Yaakov kennengelernt hatte?
Wenn er ehrlich war, nein. Im Dunkel spürte er, wie er errötete, als er an seine letzten beiden Schuljahre dachte und an einen seiner Mitschüler, in den er – nach heutigem Kenntnisstand – so unglaublich, aber natürlich unglücklich verliebt gewesen war. Der Mitschüler hatte ihn so verzaubert, dass er sich sogar zum Abfassen minderer Lyrik hatte hinreißen lassen. Schließlich hatte er jedoch eingesehen, dass Lyrik nicht seine Ausdrucksform war, und hatte sich auf den Entwurf eines Dramas gestürzt, für das er mehr Talent in sich vermutete. Bis das Oeuvre zur Aufführungsreife gelangt war, hatten allerdings alle prospektiven Darsteller das Abitur in der Tasche gehabt und sich in alle Welt verstreut. So hatte die Geschichte einer großen, unerfüllten Liebe geendet, und Manuel war zwanzig Jahre lang den Weg des geringsten gesellschaftlichen Widerstands gegangen.
Seit einem halben Jahr allerdings dräuten neue Gewitterwolken am Horizont, denn niemand in seinem kleinen Kollegen- und Bekanntenkreis wusste von Yaakov, außer ihrer beider besten Freundin Sylvie, durch die Yaakov und er sich kennengelernt hatten. Sie lebte allerdings weit weg in Paris und kam nur zu gelegentlichen Besuchen nach Bremen, wo ihre Eltern eine exklusive Kaffeerösterei und eine traditionsreiche Handelsfirma für feine Spezereien aus Übersee betrieben. »Papas Kolonialwarenladen« nannte Sylvie das Familienunternehmen scherzhaft, das immerhin genug abwarf, um Yaakovs Ballettcompagnie großzügig zu subventionieren. Sylvie und ihre Eltern waren eine Art Ersatzfamilie für Yaakov, und sie waren es inzwischen auch für Manuel geworden. Gegenüber seiner Dienststelle jedoch hielt er sein Privatleben streng geheim, trotz des guten kollegialen Verhältnisses zu seinem Team im Dezernat für Körperdelikte. Ein Coming-out dort hätte er nie gewagt. Gleichzeitig lauerte in seinem Unterbewusstsein der Gedanke, dass diese Heimlichtuerei irgendwie nicht fair gegenüber Yaakov war.
Manuel drehte sich wieder auf die Seite, seinem Liebsten zugewandt, und konnte sich nun doch nicht verkneifen, dem Schlafenden einige Zärtlichkeiten zuteilwerden zu lassen. Der reagierte wohlwollend, und im sanften Licht der Straßenlaterne verbreitete sich Liebe im Viertel.
Nacht zu Samstag, 7. September 2002
Während Ilan Stück für Stück erwachte, versuchte er erst einmal herauszufinden, wo er war. Sein Körper schien sich zusammengeknäuelt in einem sehr engen Raum zu befinden, der sich geräuschvoll bewegte und nach Benzin roch. Wohl der Kofferraum eines Autos, schloss er daraus, ohne diese Erkenntnis durch Augenschein verifizieren zu können, denn seine Augen waren – wie auch sein Mund – mit Klebeband zugeklebt. Dass seine Hände hinter dem Rücken zusammengebunden waren, förderte sein Wohlbefinden auch nicht gerade. Er ertastete Handschellen – wohl seine eigenen. So viel zu seiner Lage, sie war nicht schwer zu erforschen. Wie er hier hineingeraten war, war schon komplizierter zu ergründen. Ilan versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Allerdings hatte er so horrende Kopfschmerzen, dass Denken wirklich eine Herausforderung war.
Irgendetwas mit Feuer.
Aber eigentlich hatte er doch ruhig neben Noemi im Bett gelegen und ihr beim Schlafen zugehört.
Noemi.
Er geriet in Panik. Was, wenn sie jetzt zu Hause in den Wehen lag, ganz allein und in völliger Unkenntnis darüber, wo er war?
Ilan begann, sich wild hin und her zu bewegen, trat gegen die Wand unter seinen Füßen, zerrte an seinen Fesseln und wusste doch, wie sinnlos dieses Unterfangen war. Als wollte es seine Eskapaden bestrafen, ruckelte das Auto nun besonders stark. Ohne dass Ilan dazu beitrug, sprang sein Körper wie ein Gummiball auf dem Kofferraumboden auf und ab. Zeitgleich schaukelte der Kofferraum so sehr, dass Ilans Haut wahrscheinlich mit unzähligen blauen Flecke übersät wäre, wenn er hier erst mal rausgekommen war. Oder wenn man ihn fand. Vor Ilans innerem Auge manifestierte sich der Rechtsmediziner Dr. Landis, dessen Blick über Ilans nackten, auf einem Metalltisch ausgestreckten Körper streifte, bevor der Mediziner zu einem langen Schnitt mit dem Skalpell ansetzte. Obwohl Ilan fast an dem Klebeband über seinem Mund erstickte, versuchte er zu schreien. Dadurch durchstach ihm der Schmerz in seinem Hinterkopf fast das Gehirn. Also ließ er das mit dem Schreien und konzentrierte sich darauf, nicht zu hyperventilieren.
Er hätte nicht sagen können, wie lange er in diesem Zustand verharrt hatte – er hatte jegliches Zeitgefühl verloren –, aber irgendwann hörte das Geruckel plötzlich auf, und es trat für einen kurzen Moment Totenstille ein. Dann knallte eine Wagentür, und Sekunden später veränderte sich die abgestandene, benzingetränkte Luft in seinem Gefängnis. Jemand packte ihn, zerrte ihn über den Rand des mutmaßlichen Kofferraums, legte ihn unsanft auf dem Boden ab, zerschnitt das Klebeband, das seine Fußgelenke zusammengehalten hatte, trat ihn in den Hintern, zerrte ihn am Arm hoch. Beim ersten Schritt gaben Ilans Beine sofort wieder nach, er taumelte und wäre gestürzt, wäre er nicht von beiden Seiten wieder in die Senkrechte gezerrt worden. Es waren also mindestens zwei Typen, die sich um ihn kümmerten.
»Reiß dich zusammen«, fauchte der eine mit krächzender Stimme.
Ilan bemühte sich, die vor Anstrengung zitternde Muskulatur seiner Beine unter Kontrolle zu bringen. Schwerfällig bewegte er sich in die Richtung, in die seine beiden Begleiter ihn leiteten. Sehen konnte er natürlich nichts, und so war er gezwungen, ganz auf die beiden zu vertrauen, die ihn schubsten, wohin sie ihn haben wollten. Sie blafften höchstens mal »Stufe«, wenn er schon fast gefallen war.
Nach einem kurzen Weg an der frischen Luft war es erst ein paar Stufen hinauf gegangen, dann war das Öffnen eines Türschlosses zu hören gewesen. Sie betraten ein Haus, dessen unglaublich muffige Luft Ilans Gesicht förmlich einkerkerte. Fast wünschte er sich, sie hätten ihm die Nase auch noch zugeklebt. Vor Ekel blieb er unwillkürlich stehen. Seine Begleiter jedoch gönnten ihm keine Sekunde Pause und stießen ihn weiter. Hinter ihnen fiel die Tür wieder ins Schloss.
»Warte mal«, hörte Ilan einen seiner Begleiter sagen. Seine Anweisung richtete sich nicht an Ilan, sondern an den Kumpanen.
»Was?«, erwiderte dieser ungeduldig.
»Lass mal gucken, ob der ein Handy mithat.«
Der andere schien nicht ganz zu verstehen.
»Damit finden uns die Bullen.«
Meister Schlau begann, an Ilan herumzufingern und die Taschen seiner Kleidung zu durchforsten. Er schien Übung in Personenkontrollen zu haben. Prompt wurde er fündig, wenngleich es nicht Ilans Handy war, das er aus dessen Jackentasche zog.
»Kein Handy«, informierte er seinen Kumpel, und seinem Gefangenen dämmerte es mit Schrecken, dass er sein Telefon zu Hause vergessen hatte, als er so überstürzt losgezogen war. Stattdessen hatte der Typ etwas anderes gefunden, nämlich Ilans Polizeiausweis.
»Scheiße, Mann, der Jude ist ein Bulle«, fluchte der Typ.
»Siehste«, giftete sein Kollege, »sogar die Polizei ist in den Händen der Juden.«
Ilan überlegte trotz seiner Angst, ob er einen weiteren jüdischen Kollegen kannte, der diesen Anfangsverdacht erhärten würde.
»Was machen wir jetzt mit dem?«, fragte der Erste. Ilan fand, er klang einigermaßen gestresst.
»Schmeiß mal ’ne Idee auf den Tisch. War schließlich deine grandiose Nummer«, bekam er ruppig zur Antwort.
»Was denn? Hätten wir den etwa laufenlassen sollen?«, verteidigte sich Nummer eins.
»Umlegen?«, wurde als Vorschlag eingereicht, stieß jedoch nicht auf uneingeschränkte Zustimmung.
»Spinnst du?«
»Sei nicht so zimperlich. Ist doch nur ’n Bulle«, winkte der andere in hörbarer Gemütsruhe ab.
»Ey, hömma. Das war ich auch mal«, wandte ein dritter Sprecher ein, und Ilan war sich nicht sicher, ob er über diese neue Information erleichtert oder bestürzt sein sollte.
»Na los, du Ex-Superbulle. Dann mach du mal ’nen Vorschlag«, kam von einem der beiden anderen.
Nach einer kurzen, unproduktiven Stille einigte man sich auf: »Erst mal runter. Umlegen kann man den später immer noch. Aber vorher brauchen wir einen Plan, wie wir diesen Müll entsorgen. Abfallentsorgung ist wichtig.«
Es folgte grölendes Gelächter, das wohl als Zustimmung gewertet werden konnte. Dann spürte Ilan einen Stoß, der ihn weiter vorantreiben sollte.
Hinter einer weiteren Tür ging es eine längere Treppe hinab, ganz offenkundig in einen Keller, für dessen feuchtkaltes Raumklima Ilan nach dem Gestank oben beinahe dankbar war. Nach einem kurzen Gang kam eine weitere Tür, danach spürte und hörte er, wie einer der beiden Männer ihm eine zweite Handschelle an sein rechtes Handgelenk anlegte, die zweite Hälfte aber hinter einer Metallstange oder einem Rohr hindurchführte und sie dann erst um Ilans linkes Handgelenk schloss. Dann erst löste er das erste Paar Handschellen. Offenbar wollten die Typen kein Risiko eingehen, dass Ilan einen kurzen Moment zumindest einhändiger Freiheit hätte nutzen können, um einen Befreiungsversuch zu unternehmen. Schließlich drückte der eine Typ Ilan unsanft auf den Boden, sodass er zum Sitzen kam. Dann verließen sie ihn. Die Tür knallte ins Schloss, und Ilan hörte, wie sich ein Schlüssel zweimal darin drehte.
Einen kurzen Augenblick verharrte er reglos in der plötzlichen Totenstille. Dann begann sein Körper zu zittern. Er zitterte und zitterte, so stark, dass Ilan seinen Oberkörper nicht aufrecht halten konnte und in sich zusammensackte. Gefühlte Stunden verbrachte er zitternd und gekrümmt auf dem Boden, seine Hände hinter dem Rücken an irgendein Metallding an der Wand gefesselt, sodass er die Arme kaum noch spürte. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr geweint, aber jetzt quollen ihm die Augen über, sofern das unter den Klebestreifen möglich war.
Irgendwann musste er schließlich eingeschlafen sein, denn er erwachte von einem neuen Geruch – keinem angenehmen – und dem gleichermaßen unangenehmen Gefühl von Feuchtigkeit an seinem Schritt. Bereits im Auto hatte er einen gewissen Druck in seiner Blase verspürt, diesen dann jedoch in Anbetracht der Umstände wieder vergessen. Während er geschlafen hatte, war es seiner Blase wohl zu viel gewesen, und sie hatte sich kurzentschlossen geleert. Ihr Besitzer spürte, wie ihn trotz allem die Schamesröte ins Gesicht stieg. Er versuchte sich aufzurichten, was ihm erst im zweiten Versuch gelang. Durch die aufrechte Haltung floss wenigstens wieder ein wenig Blut in seine Hände.
Eine lange, sehr lange Weile passierte gar nichts. Ilan bemühte sich, sein Zittern mit den professionellen Mitteln, die ihm seit seiner Polizeiausbildung zur Verfügung standen, in den Griff zu bekommen, aber der Erfolg seines Bemühens blieb aus. Er hatte einfach eine Scheißangst. Von allem anderen Ungemach mal abgesehen, hatte Urin die unangenehme Eigenschaft, sich an die kalte Raumtemperatur anzupassen, bevor er zu trocknen begann, und davon war Ilans Hose noch weit entfernt. Dafür stank sie. Was Ilan jedoch stärker und zunehmend in Panik versetzte, waren die Schmerzen und die Taubheit verschiedener Körperteile, die der aufgezwungenen Körperhaltung geschuldet waren. Er bemühte sich, wie ein erwachsener Mann – oder was er dafür hielt – darüber hinwegzugehen und kühlen Kopf zu bewahren, aber er erlebte sich bebend und den Tränen nah wie ein kleines Kind. An sein künftiges Kind wagte er nicht zu denken. Vielleicht war es gut, dass es dieses Weichei von einem Vater nie kennenlernen würde. Ilan glaubte nicht daran, dass er hier je wieder herauskäme. Aber die Selbstaufgabe brachte ihn schließlich zu dem einzigen Mittel, das ihm half, sich ein wenig zu beruhigen. Er betete das Sch’ma Jisroel, das jüdische Glaubensbekenntnis, das jeder Jude und jede Jüdin auch noch vor dem unmittelbar bevorstehenden Tod aufsagte, um mit den letzten Worten – »adonai echad, der Herr ist einzig« – den letzten Atemzug zu tun. Das passierte zwar nicht, aber die vertrauten Worte lenkten Ilan ein wenig ab, sodass das Zittern aufhörte und sein Atem und sein Kopf sich beruhigten. Er gelangte in eine meditative Stimmung, die immer so lange anhielt, bis er trotz aller Schmerzen in einen Dämmerschlaf fiel, aus dem er einige Male hochfuhr, wenn sich die Taubheit in den Gliedern zu bedrohlich anfühlte. Doch mit einer Kombination aus Gebet und Erschöpfung gelang es ihm, nach einiger Zeit wieder einzunicken.
Samstag, 7. September 2002
Am Morgen des Schabbat wachte Noemi auf und musste feststellen, dass die zweite Betthälfte leer war. Das war nicht unbedingt außergewöhnlich; wenn es nachts einen Einsatz gab, konnten sich die anschließenden Tätigkeiten schon mal bis in den nächsten Tag hineinziehen, und seien es nur zu schreibende Einsatzberichte. Normalerweise meldete sich ihr Mann dann spätestens um die Mittagszeit und ließ sie wissen, ob in nächster Zeit mit seinem Heimkommen zu rechnen sei. Daher wartete sie ab. Ohnehin war Schabbat, und die Benutzung elektrischer Geräte inklusive des Telefons verbot sich aus religiösen Gründen, da diese Tätigkeiten mit dem Entzünden eines Funkens verbunden waren. Dies war Arbeit im Sinne der Torah. Sie haderte mehrere Stunden mit dem Dilemma zwischen Religion und Sorge um ihren Mann.