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Gustaf af Geijerstam gehört zu den bekanntesten schwedischen Schriftstellern und zählt zu den Vertreter des Naturalismus. In seinen Roman zeigt er immer wieder die Schwierigkeiten der Landbevölkerung mit der Einzug haltenden Industrialisierung. Dieser Roman beinhaltet folgende Werke: Die Menschen auf Braenna Das Buch vom Brüderchen Das ewige Rätsel Die Brüder Mörk Frauenmacht Gefährliche Mächte Karin Brandts Traum Liebe Das Geheimnis des Waldes Kristins Myrte Anders Petters Geld Sammel Die alte Bibel Tant'
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Seitenzahl: 2104
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Schwedische Geschichten
Gustaf af Geijerstam
Inhalt:
Gustaf af Geijerstam – Biografie und Bibliografie
Die Menschen auf Braenna
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Das Buch vom Brüderchen
Einleitung
Erster Teil
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zweiter Teil
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Dritter Teil
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Das ewige Rätsel
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Die Brüder Mörk
Vorgeschichte
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Die Brüder Mörk
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Frauenmacht
Einleitung
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Hugo Brenner
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Schluß
Gefährliche Mächte
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Karin Brandts Traum
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Liebe
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Das Geheimnis des Waldes
Kristins Myrte
Anders Petters Geld
Sammel
1.
2.
3.
4.
5.
Die alte Bibel
Tant'
1.
2.
3.
4.
Schwedische Geschichten, Gustaf af Geijerstam
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849615154
www.jazzybee-verlag.de
Schwed. Dichter und Schriftsteller, geb. 5. Jan. 1858 in Westmanland, verstorben am 6. März 1909 in Stockholm. Studierte in Uppsala und widmete sich bald ganz der Schriftstellerei. 1882 erschien seine Erstlingsarbeit, die Erzählung »Graukalt«, es folgten die Romane und Novellenzyklen »Streuwolken« (1883); »Arme Leute« (1884 u. 1889, 2 Bde.); »Erik Grane« (1885 u. 1897); »Bis auf Weiteres« (1887); »Pastor Hallin« (1887); »Erzählungen des Amtmanns« (1890); »Das Haupt der Medusa« (1895; deutsch, 3. Aufl., Stuttg. 1898): »Meine Jungen, ein Sommerbuch« (1896; deutsch, Münch. 1897); »Der Kampf um die Liebe« (Novellen, 2. Aufl. 1896); »Vilse i lifvet« (deutsch: »Ivar Lyth«, Berl. 1898); »Die äußersten Schären«, ein Küstenroman (1898; deutsch, Stuttg. 1900); »Die Komödie der Ehe« (Roman, 2. Aufl. 1898; deutsch, Berl. 1903); »Gesammelte Bauerngeschichten« (1898–99, 2 Bde., illustr.); »Das Buch vom Brüderchen«, ein Eheroman (2. Aufl. 1900; deutsch, 3. Aufl., Berl. 1904); »Frauenmacht« (1901; deutsch, das. 1904) und die Bauerngeschichte »Nils Tuefvesson und seine Mutter« (1903). Als Dramatiker hat G. besonders mit seinen Lustspielen: »Schwiegervater« (1888), »Nie im Leben« (1890), »Der Böse am Werkeltag« (1894) und seinen Volksstücken (»Svenska Bondepjeser«, 1894) viel Erfolg gehabt. Fast alle seine Werke sind auch in dänisch-norwegischen Ausgaben erschienen. Erst ein Strindberg nachahmender Realist, ging G. zu humoristischen Volksschilderungen und dann zu neuromantischer Mystik über. Er weiß durch populäre Motive und gefühlswarme Darstellung einen sehr großen Leserkreis zu fesseln. Als feinsinniger Kritiker und Essayist hat er sich in zahlreichen Zeitschriften sowie in den beiden Essaysammlungen »Ur Samtiden« (1883) und »Nya brytningar« (1894) betätigt.
Kari, die Witwe auf Braenna, erwachte und lauschte in die Stille hinaus. Die Hündin, die den ganzen Tag geknurrt und nach dem Walde hinübergeblafft, hatte sich beruhigt. Das wütende Gekläff, das Kari in Schlaf und unruhige Träume begleitet hatte, war verstummt. Sie schloß die Augen, – wollte weiter schlafen, es war sicher erst Mitternacht, und die winzige, bleigefaßte Scheibe stand wie ein mattgrauer Fleck in der weichen Dunkelheit, Es hatte den ganzen Tag geregnet, aber jetzt hatte es aufgehört und der Wind hatte sich gelegt. Durch das dumpfe Brausen des Flusses, der jetzt in der Frühjahrsschmelze mächtig rauschte, hörte sie den spröden Ton von Tropfen, die vom Torfdach fielen.
Die Hündin heulte wieder, sie blaffte nicht, sie winselte unheimlich und jammernd, – nicht so, als wenn sie das Kommen von Leuten ankündigte oder als wenn Landstreicher den Hof betraten, so heulte sie auch nicht um Wölfe oder Bären. Sie hatte eine neue Sprache, die Kari nicht verstand, die sie aber mit stechendem Entsetzen durchfuhr, was ist das? dachte sie. Warum ist die Hündin so toll?
Beängstigende Gedanken strichen an Kari vorbei, Glut, die irgendwo schwelte, um dann loszubrechen, wie in jener Nacht, deren sie sich aus der Kindheit erinnerte, als der Vater sie fast nackt hinaustrug und alles um sie her in Flammen stand, – jener Nacht, als der väterliche Hof abbrannte.
Der Hund verstummte wieder, und die Stille, die nun eintrat, war wie etwas Lebendiges, – Kari meinte sie mit Händen greifen zu können. Aber nun war es wieder da, das, von dem sie nicht wußte, was es war und woher es kam, ob nur aus ihren eigenen ängstlichen Gedanken oder irgendwo weit draußen aus der Nacht, die über der Erde brütete. Es klang wie das Weinen eines Kindes.
Sie hielt den Atem an und lauschte, bis das Blut in den Schläfen zu klopfen begann und sie das Herz wie mit wehen, bangen Schritten schlagen hörte. So hatte sie wohl auch dagesessen und gelauscht, als sie ihr Kind verlor, das klein und hilflos in ihren Armen lag und weinte. Das kleine Mädel, das sie bekam, als ihr Mann schon fort war. Dies leise, gequälte Wimmern, – sie war hier umhergegangen und hatte darauf gelauscht, noch lange nachdem es verstummt war.
Sie schob die Felldecke zurück, stieg aus dem Bett und preßte das Gesicht gegen die Scheibe, aber durch das buckelige Glas sah sie nichts als eine graugrüne Dämmerung, in der undeutlich ein paar alte Schuppen und ein Stück von der regennassen Galerie des Wohnhauses wahrzunehmen waren, in der die Feuchtigkeit glänzte und an einem geschnitzten, verwitterten Pfosten niederrann.
Wieder winselte die Hündin, kurz, heiser, kläffend, fast wie ein Fuchs, und jeder Ton schnitt Kari mit dumpfer Unruhe in die Brust. Ein Frösteln überlief sie, aber sie konnte sich nicht entschließen, wieder zu Bett zu gehen. Es war, als würde sie dort draußen gebraucht, als verlange irgend etwas nach ihrer Hilfe.
Still blieb sie am Fenster stehen und lauschte und wieder strich es an ihren gespannt wachen Sinnen vorbei, dies schwache Wimmern eines weinenden Kindes, wenn sie die Augen schloß, hörte sie es näher, stärker – es war, als hätte es lange geweint und wäre müde geworden. Es kam nicht vom Hof her – aus den alten Häusern und Gebäuden, die ihn schweigend umgaben. Die Nacht selber trug es von irgendwoher mit sich, von dort, wo die Felder aufhörten und der Wald begann, dunkel unter grauen Hochebenen und Bergen mit Schneestreifen.
Es ließ nicht nach. Kari zog einige Kleider an und ging zögernd zur Tür. Die Klinke kreischte so laut in der Stille, daß sie zusammenfuhr, der alte bekannte Ton, den sie sonst nicht beachtete, erschreckte sie so, daß sie fast umgekehrt wäre. Leise schlich sie sich durch die große Stube. Sie hörte das schwere Atmen der Knechte und die alte Ingrid, aus deren Nase ein Pfeifton kam, wenn sie schlief, wie das Zischen einer zornigen Wandermaus.
Sie stand draußen in der Galerie und sah, wie hell die Nacht war, – obwohl der Nebel wollig und schwer über allen Bergen lag. Nein, es regnete nicht mehr, aber alles glänzte kalt von Feuchtigkeit, – die ausgetretenen Steine der Türschwelle, das harte, welke Gras auf den Hausdächern, wohin die Ziegen nicht kamen. Und es roch streng und kalt nach Humus und Dünger von frischgepflügten Ackern.
Die Hündin kam herangeschlichen, grau, mit angelegten Ohren, den buschigen Schwanz zwischen die Beine geklemmt. "Still, Paßauf!" Sie beschwichtigte den Hund, als er Laut geben wollte, und er folgte ihr zögernd, als sie auf das große Einfahrttor zuging, das schwer, verschlossen und dunkel zwischen mächtigen Pfosten hing. Sie schob es einen Spalt weit auf und lockte den Hund, aber er wollte nicht, – er kroch hierhin und dorthin, und als sie ihn wieder scharf und bestimmt rief, rannte er zwischen die Gebäude und kam nicht wieder zum Vorschein. Unsicher blieb Kari in dem großen Tor stehen, was hatte der Hund nur? Ihr wäre es wie ein Gefühl der Sicherheit gewesen, ihn mitzunehmen. Am liebsten wäre sie zurück ins Haus gegangen, aber sie blieb doch stehen, während sie das Gefühl hatte, daß ringsum Gefahren lauerten, im Dunkel der Galerien und der verschlossenen Räume, auf den weiten Äckern, die sich mit sprossendem Korn und Gras dehnten, in dem schwarzen Wald und dem Nebel, der sich an grauen Hügeln mit zerzausten, winterverheerten Bäumen festklammerte. Alle Berge lagen in schwere, schwarze Wolken eingehüllt. Alles war so flach, fremd und unendlich. Traurigkeit beschlich sie, eine Lebensmüdigkeit, wie sie nie gekannt hatte, wieder dachte sie an das Kind, das sie verloren hatte, die Brust schmerzte. Alt fühlte sie sich, – klein, weich und schwach, wie sie hier stand, während rings alles schlief.
Alles um sie her, was ihr eigen war, wurde so klein, und sie selber auch, – sie war nur ein winziges kleines Ding, das hier in der Nacht stand, ohne zu wissen, warum. Sie begriff es nicht, – sie war doch sonst nicht so, – was ging nur in dieser Nacht mit ihr vor?
Wie sie da etwas gebeugt und grübelnd stand, die kräftige, aufrechte Gestalt, die den Kopf so sicher trug, die breite Stirn unter dem blonden Haar, das straff über die Schläfen gekämmt war, die großen grauen Augen, der Mund mit den schmalen Lippen, die energische Rundung des Kinns, – lag eine Last auf ihr, und sie hatte nicht die Festigkeit und Ruhe, wie ein Mensch sie hat, der eine Verantwortung trägt, der herrschen muß.
Plötzlich stand der Hof vor ihren Augen, wie er damals gewesen war an jenem Johannistage, da sie als Braut hier einzog, – funkelnde Sonne auf allen Höhen, alle Häuser mit Blumen und Grün zum Fest geschmückt, das gellende, hitzige Kreischen der Fiedeln und die Schüsse, die von den Bergen widerhallten, als sie und per durch das laubgeschmückte Tor ritten, und das Pferd, durch all den Lärm aufgeschreckt, sich aufbäumte, so daß sie fast die schwere vergoldete Brautkrone verloren hätte, die sie auf dem vollen Haar trug.
Auf dem Hof trat ihnen der Küchenmeister entgegen mit dem Willkommenstrunk in einem großen Silberbecher. Per trank daraus, und als sie getrunken hatte, nahm er den Becher, drückte ihn übermütig und lachend zwischen den starken Händen platt und schleuderte ihn unter die Leute. Sie erinnerte sich dieser Zeit, – festliche Tage und Nächte waren es, und über allem Per, der Mann, groß und stark. Ach ja, – Herrgott. Aber plötzlich lachte sie. Ihr fiel ein Wettreiten ein, das sie unternommen, – die Pferde hatten sie mit Bier wild und toll gemacht, und wild und toll waren auch die Reiter. Damals war es ihr nie eingefallen, vor irgend etwas Angst zu haben, was sie auch ausfindig machten, was sie auch taten, es war alles nur Spiel.
So lange Per lebte, lebten auch Hof, Wald und Felder, – alles lebte. Es waren schöne Jahre. Dann kam der Unfriede mit den Schwedischen, – er zog fort und kam nicht zurück. Er hätte zu Hause bleiben können, hätte nicht mitzuziehen brauchen, aber das lag ihm nicht. Und so schlimm es war, empfand sie es doch als einen Stolz, daß er so gewesen.
Nein, er kam nicht wieder. Kari starrte auf all die Jahre, die sie hier umhergegangen war und gewartet hatte, – gewartet, weil sie nie Gewißheit bekam. Er kehrte nicht zurück, – wo er gefallen war, wann und wie, das hatte sie nie erfahren. Nur die Jahre, die eins nach dem andern vergingen, löschten die Hoffnung aus, daß er endlich einmal wiederkommen würde.
Und die Jahre, die seitdem vergangen waren! Die Söhne hatte sie, Peter und Stig, und dann das Kleine, das sie verlor, das allerliebste, vielleicht weil der Tod es genommen hatte oder weil sie es gerade zu der Zeit bekam, als sie einsam wurde. Sie hatte keinen neuen Mann genommen, obwohl Freier genug gekommen waren, und die Leute hatten genörgelt und geredet, wie sie es zu tun pflegen, wenn einer seinen eigenen Weg geht. "Ich kann ja nicht sicher sein, daß ich wirklich Witwe bin", sagte sie wohl, wenn sie gut gelaunt war, ganz und gar war das nicht Scherz, denn im vollen Umfang konnte sie es nie verstehen, konnte nicht glauben, daß Per tot war.
So war sie ihren einsamen Weg gegangen, den Hof und alles, was zum Hofe gehörte, hatte sie geleitet. Hart hatte sie sich gemacht, zunächst weil sie glaubte, das müsse so sein, um die Leute zum Gehorsam zu zwingen, dann aber war es ihr eine Gewohnheit geworden.
Die Leute vergaßen, daß sie jung war, ja, sie vergaß es selber. Ihr Leben war zu Ende, obwohl sie Witwe geworden war, ehe sie noch ihr dreißigstes Jahr vollendet hatte. Ihre Freude war es, auf dem großen Hof umherzugehen, zu sehen, wie alles sich ordnete und wie nichts unter ihren Händen verloren ging, Die Familie wollte sie vorwärtsbringen und das, was der Familie gehörte. Ihren Söhnen konnte sie dies alles einmal geben, was ihr zu verwalten zugefallen war. Sie sollten sehen, daß sie es nicht verringert hatte.
Sie stand da und vergaß, was sie eigentlich veranlaßt hatte, hinauszugehen. Und während die Erinnerungen auf sie einströmten, fühlte sie sich wieder jung – all das, was sie in den vielen Jahren nicht berührt hatte, tauchte empor, kam auf kleinen, behutsamen Kinderfüßen herangetrippelt. Sie fühlte es wie rosige, weiche Händchen auf ihrer Brust, kleine, gierige Mündchen, die von ihr lebten. Sie errötete lieblich und jung, wie sie da stand, und die Glut, die auf Wangen und Hals brannte, war wohltuend und voller Süße.
Das Geheul des Hundes oben zwischen den Gebäuden riß sie plötzlich in die Wirklichkeit zurück. Sie schloß die Augen, denn dort unten, wo der Wald schwarz an das bebaute Feld grenzte, hörte sie wieder das zarte Wimmern eines Kindes, das nach Luft rang. Und jetzt hörte sie, bang und wunderlich zärtlich zugleich, daß jemand weinte, war es das ausgesetzte Kind, das dort am Waldmoor umging, das zwischen Gras und Wurzeln umherkroch und nach christlicher Erde, nach Wärme und Frieden jammerte?
Das Kind, das hier auf Braenna umhergegangen war, von dem die Leute erzählten – ja, die alte Ingrid hatte kleine, blutige Kinderspuren auf dem gefrorenen Schnee gesehen, wenn das Licht durch die mit Eisblumen bedeckten Fenster darauf fiel. Kari fühlte, wie ihr heiß und heftig, in einer Woge von Zärtlichkeit, die Tränen in die Augen stiegen. Daß eine Mutter so an ihrem Kinde handeln konnte!
Sie wollte das suchen, was dort im Waldesdunkel weinte, wollte es suchen und ihm helfen, wenn Gott wollte, würde es wohl Frieden finden. Wenn sie Jesu Namen nannte, würde es in der Erde schlafen können, ohne den Himmel zu vermissen, der ihm verschlossen war. Daß eine Mutter so etwas tun konnte!
Rasch, als fürchte sie, schwankend zu werden, sich anders zu besinnen, ging sie über den Acker, vorbei an dem großen Hünengrab mit den alten, kahlen Espen und den mächtigen Steinen, die in einem Kranz den Fuß des Hügels umgaben. Unwillkürlich trat sie vorsichtiger auf, aber alles war still – der Hüne schlief wohl in seinem steinernen Hause, schlief, wie alles schlief in dieser seltsamen Nacht. Jetzt heulte der Hund wieder oben auf dem Hof – es war, als rufe er nach ihr, als warne er sie.
Kari faltete die Hände, als sie weiter ging. In Jesu Namen, flüsterte sie leise, in Jesu Namen.
Da hörte sie einen lauten, drohenden Ton in dem Hünengrabe hinter sich, als ob ein Hammer auf einen Amboß schlägt. Der Ton hing lange in der Luft, wie das Klingen einer großen Kirchenglocke.
Es war sehr seltsam, aber sie bekam keine Angst. Vor ihr lag der Hochwald, dessen weiße Birken koboldhaft und verkrüppelt zwischen trotzigen Tannen und knorrigen Kiefern leuchteten. Die dichte Wacholderhecke, die das bebaute Feld schützen sollte, lag schwarz und von dem schweren Schnee des Winter plattgedrückt da. Kari stand einen Augenblick still und lauschte in die Dunkelheit, – aber jetzt hörte sie nichts. Leise ging sie weiter. Es roch streng nach vermodertem Laub und tauendem Boden. Überall sickerte und tropfte es von Feuchtigkeit.
Plötzlich schoß ihr das Blut zum Herzen – ihr wurde so seltsam und beklommen zumute –, leibhaftig und nah hörte sie Wimmern und ein müdes Schluchzen –, so wie Kinder wimmern und schluchzen, wenn sie sich in Schlaf weinen. Sie tastet sich in den Wald hinein, dem Ton folgend, und dort unter einer hängenden Tanne sieht sie es liegen, ein kleines, nacktes Mädchen, das die Beine an den Leib gezogen hat.
Es lebt, sie sieht, daß es sich bewegt. Kari preßt zornig den Mund zusammen, hebt das Kind auf und hüllt den blaugefrorenen, zitternden, kleinen Körper in ihren Mantel. Sie sieht sich rasch um, blickt auf das Gesichtchen, das vom Weinen verschwollen ist. Pack! murmelt sie vor sich hin, so gehen Tiere nicht mit ihren Jungen um!
Es funkelt etwas mit nassem Glanz im Moos zu ihren Füßen, – sie hebt es auf. Alte, vergoldete Münzen, Löwen und allerlei Figuren, auf eine kunstvolle Kette gezogen, die aus goldenen, verflochtenen Fäden geschmiedet ist. Das Geschmeide schimmert so seltsam hier in der Dunkelheit, es ist, als brenne es ihr auf der Hand, und sie wirft es von sich – es war kalt wie eine Schlange.
Da hört sie die Hündin wieder heulen, – und ein Schreck durchfährt sie, – ist das ein Echo, das hinter ihr aus dem Walde mit langem, zitterndem Schrei antwortet?
Rasch tastet sie sich zurück. Zweige, die schwer sind von kalter Nässe, schlagen ihr in das Gesicht, sie stolpert über glatte Wurzeln und welkes Gras; sie hält das Kind so fest, als hätte sie Angst, es würde ihr aus den Armen verschwinden. Sie will nicht hören, nur gehen, nach Hause kommen, aber da ertönt hinter ihr wieder der Schrei wie ein gellendes Lachen, – oder ist es ein Weinen?
Der Wald wird lebendig um sie her, es tappt neben ihr dahin, behutsam und schleichend, in Schatten und Finsternis verborgen. Wenn sie stehen bleibt, schweigt alles, lauert, wartet, – und wenn sie geht, kommt es wieder mit.
Wieder und wieder hört sie das Lachen hinter sich, – es wächst an zu herzzerreißendem, heulendem Weinen. Das Kind in ihren Armen beginnt zu schreien, lauter und immer lauter, zappelt mit Armen und Beinen, wirft sich hin und her, – es ist, als riefe es nach irgend etwas drinnen im Walde und bekäme Antwort.
Sie versucht es zu beschwichtigen, redet ihm gut zu, aber es will nicht verstummen. Außer sich, zerrt sie das Mieder auf, reißt das Hemd in Fetzen und legt das Kind an die Brust. Die kleine Nase stößt suchend gegen ihre nackte Haut, die harten Gaumen saugen sich fest und zerren gierig an der leeren Brust.
Mitten in der Angst quillt wieder die Zärtlichkeit in Kari auf. Sie fühlt sich so matt und weich, daß sie sich am liebsten hinsetzen und weinen möchte, – so hat seit so vielen Jahren kein Kind an ihrer Brust gelegen.
Sie geht weiter, taumelt aber so, daß sie zu fallen fürchtet, und die leere Brust beginnt zu brennen und zu schmerzen, – so wie damals, wenn sie mit so einem kleinen Wesen an der Brust eingeschlafen war.
Zwischen den Bäumen wird es hell, – der Wald lichtet sich, sie ist bald wieder daheim, geht unwillkürlich rascher. Als sie hinter dem Zaun auf den Feldern ist, sieht sie, daß der neue Tag zu dämmern beginnt. Hinter sich hört sie wieder den Schrei, und jetzt bekommt er Antwort, – oben von den schwarzen Höhen, wo die Wolken mit hellen Schneeschauern treiben, aus der Unendlichkeit des Waldes unter den schroffen Bergen, – von den weiten Sümpfen her. Als sie durch den großen Torweg geht, fährt der Hund kläffend auf sie zu, – sie beschwichtigt ihn, aber er will nicht still sein, er bellt ihr rasend nach, mit gesträubten Nackenhaaren, als wäre sie eine Fremde.
Als sie leise durch die große Stube in die Schlafkammer schleicht, hört sie einen der Knechte stöhnen, verdrießlich und schläfrig gähnend: "Ich glaub, der Teufel ist in den Wolf gefahren, – es ist, als hätte jemand ihm die Jungen genommen."
In aller Eile schließt Kari die Tür, legt das Kind auf das Bett und macht Feuer an. Dann wärmt sie Milch, nimmt das Kind auf, um ihm die Milch zu geben, aber es will sie nicht haben, – ihre Hände beginnen zu zittern, so daß sie die Milch verschüttet, – sie sieht, daß das Kind am Munde blutig ist.
Sie entblößt ihre Brust; aus kleinen Bißwunden rinnt das Blut über die weiße Haut, – das Hemd ist blutig.
Frierend zieht sie die Kleider wieder an, – legt das Kind unter die Felldecke des Bettes, setzt sich selber auf die niedere Bank am Fenster und legt den Kopf auf die Hände. Seltsam, das Schmerzen und Brennen in der Brust war wie eine Liebkosung. Die kleinen Bisse, – sie hatte das Gefühl, von ihnen gezeichnet zu sein, und als würden sie nie verheilen und vernarben ...
Schließlich schläft sie ein, und in den Träumen, die kommen, sieht sie einen Wolf auf den Hinterbeinen stehen und durch das Fenster in die Stube sehen; aber er hat nicht die schiefen, lauernden Augen des Wolfes, nein, sie sind tief und leer wie die Augen eines kleinen Kindes.
Als sie steif und durchfroren erwachte, war es voller Tag, aber grau und schwer, und der Regen goß in Strömen. Zuerst meinte sie geträumt zu haben, dann aber gewahrte sie das Kind im Bett.
Die Knaben erwachten. Peter quiekte munter und bemerkte das, was in Mutters Bett lag.
"Nein, sieh nur", sagte er zu dem Bruder. Sie krochen aus dem Bett, standen verwundert da und gafften. – "Wo hast du das her?" fragte Peter. Er war der Mutter ähnlich, blond und starkgliedrig wie sie. Stig war dunkel und zart, das Ebenbild des Vaters.
"Ich habe das Würmchen im Walde gefunden", erwiderte Kari und erzählte einiges.
"Hat das über Nacht so geschrien?"
"Nein, das ist wohl der Wolf gewesen."
"Daß der Wolf es nicht gefressen hat!" sagte Peter mit großen, bangen Augen.
"Nein, aber jetzt mußt du gehen und die alte Ingrid um warme Milch bitten."
"Was ist das für ein Geschwätz?" sagte die alte Ingrid in der Tür. "O je", rief sie und schlug die Hände zusammen, als sie das Kind im Bette bemerkte, "nein, Gott tröste uns, ich dachte, die Jungen schwatzten nur Unsinn! wo hast du das her?"
Kari errötete. Daß sie auf all dieses antworten und all dieses über sich ergehen lassen müßte, hatte sie nicht gedacht – all dieses Gerede hier und im ganzen Tal.
"Hast du es im Walde gefunden?" Die alte Ingrid wischte sich mit zitternder Hand die Nase und starrte angstvoll auf ihre Herrin. "Ich hörte wohl, daß eine Tür klappte. Dann bist du also draußen gewesen? O Gott behüte mich vor allem Bösen, was über Nacht unterwegs war! – Daß du das Kind genommen hast!" Es war, als könne sie es nicht glauben, – sie wiederholte es wieder und immer wieder. "Wem magst du es wohl genommen haben? Wahrscheinlich Zigeunern."
Karis Stimme war ruhig, aber innerlich zitterte sie. "Zigeuner, nein, Zigeuner... Seit dem Winter sind doch keine Zigeuner hier gewesen." Und ihre Kinder so in den Wald zu legen, lebend und hilflos, das tun Zigeuner doch nicht, das hatte die alte Ingrid nie gehört.
Draußen in der großen Stube, wo das Gesinde bei der Morgenvesper saß, war es ganz still geworden. Die Tür stand offen, – sie saßen und lauschten.
Die alte Ingrid spuckte auf den Boden und bekreuzigte sich, als das Kind im Bett zu wimmern begann. "Das klingt, als ob es ein Fuchsjunges wäre. Leg das Kind wieder dahin, wo du es hergenommen hast, Kari! Wie kannst du nur so etwas aufsammeln – es dem Walde stehlen? Zigeuner? Ja, wenn es ein Zigeunerkind ist, so rächt sich das, denn Zigeuner sind eben Zigeuner. Sie kennen ihre Leute, vielleicht kommen sie eines Tages und verlangen das Kind zurück. Und dann wollen sie nicht nur den Körper haben, wenn diese Leute, die weder an Gott noch an den Teufel glauben, das Kind aussetzen, so tun sie es aus Gründen, die man nicht auszusprechen und nicht zu denken wagt."
Die alte Ingrid trat zu dem Kinde und sah es an. "Es sieht nicht wie ein Zigeunerkind aus." Sie hob es auf, drehte und wendete es mit ihren harten Fingern hin und her. Irgendein Koboldzeichen hatte es nicht, so viel sie sehen konnte, – auch keine gespaltenen Ohren, aber ... sah Kari es wohl? ... das Kind hatte zwei kleine spitze Zähne! Gott schütze den, der so etwas nähren sollte! Und die Brauen, die in schwarzem Flaum über der Nasenwurzel zusammentrafen, – das Werwolfszeichen. Milch? O ja! Sie wollte ihm Milch geben: Ratten sollte es kriegen und Fellabfälle!
"Laß das Geschwätz," fuhr Kari auf und schickte Ingrid und die Söhne hinaus. "Narrengeschwätz!" sagte sie zu sich selber, und setzte sich mit dem Kinde auf dem Schoß auf den Bettrand, um es zu füttern. Die Hand zitterte ihr, sie verschüttete Milch auf den Fußboden, aber doch klang ihr das Geschwätz der alten Ingrid in den Ohren. Nein, sie hätte nicht auf das hören sollen, was draußen in der Nacht rief und lockte, – hätte sich nicht darum kümmern sollen. Jetzt war es hier, würde heranwachsen, hier leben.
Es stach ihr in der Brust, brannte und schmerzte in den kleinen Wunden. Dennoch traten ihr die Tränen in die Augen vor unruhiger, scheuer Zärtlichkeit, als sie das Kind durstig und gierig trinken sah.
Eines Tages vermißten sie den Hund, – er war verschwunden und blieb verschwunden, wie sie auch lockten und suchten; er mußte davongelaufen sein, oder der Wolf hatte ihn genommen, die alte Ingrid ging schimpfend umher. Das Tier weiß, was es tut, murrte sie, wären wir nur alle so gescheit wie der Köter.
Die alte Ingrid war in den Viehstall übergesiedelt, lag dort in einem leeren Stand, denn wie das Kind schrie, das konnte sie nicht länger anhören, – es schrie Nacht wie Tag. Nein, in der Nacht schlaflos liegen und den ganzen Tag um dieses Wechselbalgs willen verschlafen umhergehen, dann wollte sie lieber da liegen, wo sie jetzt lag! "Sie schreit ja nicht wie ein Christenmensch!" sagte sie.
"Da kann wohl Rat werden", erwiderte Kari kurz. Sie hatte daran gedacht, daß es wohl nicht getauft sei. Wenn sie nur das Kind in Gottes Hände legen könnte, würde sie Hilfe und Frieden finden, und all das, was sie schreckte, würde verschwinden. Immer größer war ihr Mitgefühl für das Würmchen geworden. Je mehr sie die düsteren Mienen der Leute sah und das zornige Murren der alten Ingrid hörte, um so stärker wurde ihre Zärtlichkeit.
Die alte Ingrid stimmte ein häßliches Lachen an. Das Kind taufen? Im Feuer vielleicht? Wer sollte im Kirchenbuch als Vater stehen? Der Wolf etwa? Und als Mutter? Hexen und Kobolde? Wo wollte sie einen Vater hernehmen? Wölfe und Käuzchen, all das Getier, das ebenso unheimlich schrie wie das Kind selber. Die alte Ingrid war gewohnt, alles zu sagen, was sie wollte, da sie schon so lange auf dem Hof war. Und niemand hörte mehr auf ihr Mundwerk. Aber jetzt bekam sie Angst, als sie Kari ansah. In jähem Erschrecken kam ihr plötzlich der Gedanke: Jetzt jagt die Kari mich vom Hof!
"Ja, ich habe eben über die Paten nachgedacht", sagte Kari mit kalter Stimme. "Ich hatte dich ausersehen, das Kind zu tragen."
"Mich?" stammelte die alte Ingrid und wehrte mit den Händen ab, "mich?"
"Ja, jetzt hast du es gehört!" Kari fragte nicht mehr, sie gab nur ihren Willen kund.
"Du ... du versündigst dich!"
"Ich versündige mich?" fiel Kari ein, "an dem Kind oder an dir?" Sie trat näher an die alte Ingrid heran und sagte leise: "Du hast hier ja kein Altenteil, soviel ich weiß!"
Die alte Ingrid brach fast zusammen. Sollte sie in solche Schande kommen und das um des Kindes willen! Sie wollte gehen, wagte es aber nicht, Kari blickte sie so seltsam an. "Es sei, wie du willst", murmelte sie und eilte davon, damit Kari nicht sehen sollte, daß sie weinte.
Geduckt und wütend ging sie von nun an umher und schimpfte. All das, was sie Kari nicht zu sagen wagte, sagte sie zu den Leuten.
"Ach, die Kari weiß selber am besten, wer die Eltern des Kindes sind, sollt ich meinen", grinste einer der Knechte.
Das mußte Kari erfahren haben; einige Tage darauf, als der Knecht im Stall war und die Pferde fütterte, kam sie auch hin. Sie tadelte etwas an dem Geschirr, das nicht so war, wie sie es haben wollte, und als der Knecht eine Antwort gab, sagte sie nur: "Du kannst morgen gehen!" Dann entfernte sie sich, ohne all das zu hören, was er, gekränkt und wütend, ihr nachrief. Die Kari mußte wirklich verhext sein, daß sie einen der besten Arbeiter mitten in der eiligsten Frühjahrsarbeit wegschickte.
Die Kari war nicht mehr die Alte, sie ging umher, als sei sie ständig auf der Hut, und alles Geschwätz verstummte, wenn sie kam. Die alte Ingrid zog wieder aus dem Stall aus, sie war ganz außer sich, wagte nicht länger dort allein abseits von den andern Leuten zu liegen, seit sie hatte versprechen müssen, den Wechselbalg über das heilige Wasser der Taufe zu halten.
Es regnete und regnete, – der Fluß stieg, grau von Schlamm wälzte er sich das Tal entlang, überschwemmte Feld und Sumpf, nahm Bäume und Mühlen hinweg, hier und da wurde eine Pfahlbrücke vom Ufer losgerissen und schwamm auch mit. Mächtige Lawinen stürzten die schroffen Hänge hinab, zogen mit Geröll, Erde und entwurzelten, geknickten Bäumen breite, braune Furchen durch den schmelzenden Schnee. Es half nicht viel, daß sie gesät hatten, – das Regenwasser rann in starken Strömen über die steilen Äcker und schwemmte das sprossende Korn mit. Das Futter für das Vieh begann knapp zu werden, – es konnte bei diesem Wetter nicht auf die Koppel. Nur Schafe und Ziegen grasten draußen, aber es dauerte nicht lange, bis sie nach Hause zurückkehrten, vor dem Stall standen und jammerten, während sie die Nässe abzuschütteln versuchten.
Unten in den Tälern regnete es, – auf den Bergen gab es Schnee, schweren, nassen Schnee. Die auf den Almen gewesen waren, sagten, daß weder Menschen noch Vieh durchkommen könnten. An solchen Schnee zu dieser Jahreszeit konnte sich niemand erinnern, wenn jetzt die Wärme zu rasch kam, so würde es eine Überschwemmung geben. Das konnte für die Leute in der Niederung schlimm werden, denn dort stürzte sich die Björn wildtosend vom Hochgebirge in den Nordfluß, der schwer und mächtig mit gewaltigen Wirbeln und weißköpfigen Stromschnellen durch das Tal zog.
Aber die alte Ingrid war es wohl zufrieden, denn so lange solches Wetter war, würde man sie wohl in Ruhe lassen. Es war nicht daran zu denken, zur Kirche zu fahren, wenn Kari wirklich so verrückt war, daß sie das, was sie damals gesagt, im Ernst gesprochen hatte.
... "Sieh, was ich gefunden habe", sagte Peter eines Tages, als er hereinkam, und zeigte eine lange Kette mit alten vergoldeten Münzen und Figuren daran. Kari wurde bleich. Die Leute drängten sich um Peter. So etwas hatte keiner von ihnen je gesehen.
"Wo bist du gewesen?" Karis Frage durchschnitt das leise, verwunderte Geschwätz. "Was hattest du im Walde zu tun?" Sie faßte den Sohn bei der Schulter und schüttelte ihn. "Wo bist du gewesen? Wo hast du dies gefunden?" Der Schmuck gleißte vor ihren Augen wie damals, – kalt wie eine Schlange.
"Er lag auf der Treppe zum Holzschuppen", flüsterte Peter erschrocken und begann zu weinen, obwohl er es nicht wollte, – es war so peinlich, alle Leute sahen ihn an. Am liebsten hätte er sich bei der Mutter verkrochen, aber das wagte er nicht. Er stand nur und rieb sich mit der geballten Faust immer wieder die Augen.
"Lüge nicht!" Kari umklammerte seinen Arm, "lüge nicht! Wo hast du dies gefunden? Du mußt es sagen!" Ihre Stimme bettelte förmlich.
Peter sah die Mutter unschlüssig an. "Es lag auf der Treppe." "Du darfst mich nicht belügen, – du sollst es sagen, wie es ist. Du hast dies im Walde gefunden?" Sie schüttelte ihn wieder.
"Ja–a", schluchzte er unsicher.
"Siehst du, – also hast du gelogen!" Kari ließ ihn los, ganz erschrocken, denn sie wußte ja, daß ihr Sohn jetzt log und daß sie ihn dazu getrieben hatte. Plötzlich bemerkte sie die Gesichter all der Leute, die sie ansahen, fragend, erschrocken und beschämt. Sie versuchte zu lachen, brachte es aber nicht fertig. Hilflos sagte sie. "Ich dachte schon, der Bub hätte im Hünengrab gestohlen!" Sie merkte, wie alle um sie her bei den groben Worten zusammenfuhren, – daß sie so etwas von ihrem eigenen Sohn sagen konnte! Sie nahm die Kette und ging in die Schlafkammer. Hinter sich fühlte sie die Stille, die von keinem Gemurmel unterbrochen wurde, nicht einmal als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie nahm das Kind auf und legte es auf ihren Schoß. Als sie seinen Augen begegnete, sah sie, daß es sie kannte. Es zappelte mit den Armen, als wolle es sie ihr entgegenstrecken, und sie hatte das Gefühl, daß es ihr zulachte. Es tat so seltsam wohl, so zu sitzen. Ihr war, als gehöre das Kind ihr allein, wie nichts anderes, was sie je besessen hatte. Lange saß sie so und wiegte es bin und her, – ja, es tat wohl, so zu sitzen.
Plötzlich begann das Kind zu weinen. Kari meinte nie ein Kind gesehen zu haben, das so unvermittelt, während es noch eben gutgelaunt war, zu schreien beginnen konnte, ohne jeden Grund, und dann war es nicht zu beschwichtigen, was sie auch anfing. Es war, als weine es nach etwas, was sie ihm nicht geben konnte. Sie nahm den Schmuck, den sie von sich geworfen hatte, und hielt ihn dem Kinde hin. Es griff danach und verstummte sofort. Doch als Kari die Kette wieder wegnahm, aus Angst, das Kind könne sich daran weh tun, begegnete sie wieder den seltsamen Augen, was sie in ihnen sah, konnte sie nicht erklären, aber von neuem überkam sie die dumpfe Angst, – sie wußte nur nicht, wovor.
Am Tage darauf sagte Kari zu der alten Ingrid: "Am kommenden Sonntag müssen wir mit dem Kinde zur Kirche fahren." Die alte Ingrid wand sich, versuchte gütlich auszuweichen: Man müsse doch wohl das Wetter abwarten! Kari hörte nicht auf sie.
"Soll ich allein Pate stehen?" winselte die alte Ingrid fast mit Tränen in der Stimme.
"Davor brauchst du keine Angst zu haben!"
"Wen hast du denn ausersehen, mit mir zusammen in der Kirche Gevatter zu stehen, – so viel kann ich doch wohl erfahren?"
Kari nannte einige Namen, Kätnerleute von Braenna.
"Hast du sie benachrichtigt?"
"Benachrichtigt?" wiederholte Kari spöttisch. "wir fahren so früh, daß wir sie abholen können."
"Das ist eine neue Sitte!" Die Stimme der alten Ingrid war zornig. So etwas konnte man nur bei den kleinen Leuten machen!
"Diesmal soll es so Sitte sein!" Kari richtete sich hoch auf, es war, als recke sie sich nach langem Schlaf, wie gut tat es, wieder zuzugreifen, zu handeln und zu gebieten. Aber trotzdem ließ sie denen, die mit in die Kirche kommen sollten, Nachricht senden.
... Kari trat mit dem gut eingehüllten Kinde auf den Hof. Matthias, der Knecht, hielt zwei gesattelte Pferde. Die alte Ingrid kletterte auf das eine, – sie sah fast sanftmütig aus, denn es war doch immerhin eine Ehre, daß sie einmal zur Kirche reiten durfte. "Soll ich nicht das Kind nehmen?" fragte sie.
Kari sah sie an. "Das wage ich nicht", sagte sie in einem Ton, daß die alte Ingrid auf dem Sattel sich zusammenkrümmte.
"Es schickte sich aber doch wohl!" Ingrids Stimme war ganz sanft.
"Nein, ich habe kein Vertrauen zu dir, – niemand weiß, was du tun könntest." Kari schwieg, schwang sich in den Sattel und beugte sich über das Kind, das der Knecht so lange gehalten hatte. Das Pferd scheute, bäumte sich.
"Prrr! Holla!" rief Matthias, aber das Pferd bäumte sich abermals auf.
"Kannst du es nicht halten, Matthias!" rief Kari, die auf dem unruhigen Pferde mit dem Kind auf den Armen hin und her schwankte. Sie hörte, daß die alte Ingrid vor sich hin murrte. Kari ergriff die Zügel, doch das Pferd wollte sich nicht beruhigen. Sie schnalzte, redete ihm gut zu, aber das Tier kaute Schaum und bäumte sich, es legte die Ohren an, seine Beine zitterten. "Du mußt es führen." Sie warf Matthias die Zügel zu. Er brummte: dafür sei er nicht angezogen; er sagte allerhand, was Kari nicht hören konnte.
"Denkst du, unser Herrgott kümmert sich darum, wie du aussiehst?" schnitt Kari ihm die Rede ab.
Mürrisch ergriff Matthias die Zügel, das Pferd folgte ihm, unwillig, Schritt für Schritt.
Als sie die langgedehnten Hügel hinter sich hatten und in den Wald kamen, fiel es Kari auf, wie still es auf dem Hof gewesen war, als sie fortritten. Das war ein wunderlicher Kirchgang. Nicht ein einziger war draußen gewesen, um sie wegreiten zu sehen. Es regnete nicht mehr, war aber trüb. Scharfe Windstöße fuhren durch den Wald, und schwere Wolken trieben an den Bergwänden entlang. Dann kam der Regen wieder – peitschende Schauer hüllten das Tal in grauen Nebel. Der Wind wurde zu Sturm – die Pferde gingen mit gesenkten Köpfen und flatternden Mähnen.
Matthias drehte sich ein paarmal um und sah Kari an. Das Regenwasser sickerte an ihm herunter – er hatte die Zügel um den Arm gewickelt und ging frierend und krummrückig dahin, die Fäuste tief in den Hosentaschen. Das Pferd folgte ihm widerwillig, die Hufe tasteten nach einem Halt zwischen den scharfen Steinen des Weges. Sie hörte Matthias jedesmal, wenn es stolperte, verbissen und rasend fluchen.
Sie versuchte sich dem wiegenden Gang des Pferdes anzupassen, damit sie weder sich noch das Kind an der harten messingverzierten Rückenstütze des Frauensattels stieße, und eine wunderliche Traurigkeit beschlich sie. Sie war unwillig über diesen ganzen Ritt durch Regen und Unwetter, um ein Kind zu taufen, das sie aus dem Walde nach Hause geschleppt hatte. Sie hätte die alte Ingrid und den Knecht schicken sollen, das hätte genügt, um das Kind taufen zu lassen. Aber hätte sie der alten Ingrid das Kind überlassen, so hätte sie es wohl nicht wiedergesehen, davon war sie überzeugt. Nein, sie traute keinem außer sich selber bei dieser Unternehmung.
Zu ihren Füßen toste der Nordfluß zwischen schwarzen Bergen in schäumender Wildheit. Das Pferd glitt auf den glatten Steinen aus, – die Hufe klirrten jedesmal, wenn sie auf das Geröll aufschlugen. Ihr wurde schwindelig, als sie hinunterblickte. Unwillkürlich umfaßte sie das Kind fester.
Nein, keinem andern hätte sie dies anvertrauen können. Der Weg wurde schmäler und stieg stark an, über schroffe Hänge, vorbei an senkrecht abfallenden Felswänden und weiten Geröllfeldern. In schwindelnder Tiefe, durch ziehenden Nebel und Regen, sah sie den Fluß, zwischen Windbruch und knorrigen Bäumen, die über den Abhang hingen und sich in Spalten und Klüften festklammerten. Es dampfte kalt aus schwarzen Abgründen, in denen mächtige Steine herumgewirbelt wurden. In den Bergen über ihr, die im Nebel lagen, heulte der Sturm. Ach nein, zu keinem andern als zu sich selber hatte sie Vertrauen. Sie richtete sich auf und drückte das Kind fester an sich.
Es war kühl geworden, so daß ein Zittern sie überlief, als sie ihren nassen Rücken gegen die Rückenstütze preßte, wo der Weg sich die langen Hügel hinunterschlängelte, bekam sie Aussicht über das Breitdorf. Sie sah nicht viel, die weiten, flachen Felder, über die der Fluß sich zu winden pflegte, waren nur ein See – groß und grenzenlos verschwamm er im Nebelmeer.
Matthias hielt das Pferd an und blieb stehen, um vorwärts zu blicken. "Wir kommen nie über die Brücke", sagte er kurz.
Die alte Ingrid lenkte ihr Pferd heran. Sie fror zum Erbarmen, das spitze Kinn zitterte, das Haar hing in Strähnen unter der Kappe vor, das Wasser troff an ihr herab.
"Wir müssen es versuchen." Kari blickte nachdenklich vor sich hin. Es war ärgerlich, jetzt umkehren zu sollen, wo sie soweit gekommen waren.
"Das heißt unsern Herrgott versuchen", meinte die alte Ingrid.
"Wir tun nur, was wir verantworten können."
"Und das Kind? Das arme kleine Leben!"
Kari begann zu lachen. "Du bist ja mächtig besorgt um das Kind!" Sie stieg aus dem Sattel. So würden sie eben zu Fuß gehen, – an den meisten Stellen war der Weg wie ein Wasserfall.
Unten auf den letzten Hügeln trafen sie Leute. "Nein, sind die Leute von Braenna bei solchem Wetter unterwegs?" Sie standen krummrückig im Regen, in Feiertagskleidern, – Anton Braataa und sein Bruder Lars. Hans Schar und Olea, die Frau. Ein paar halbwüchsige Kinder waren auch dabei.
Kari sah sie rasch und prüfend an. Sie hatte ihnen Nachricht zugehen lassen: daß sie heute in der Kirche Gevatter stehen sollten, Hans, seine Frau und Anton. Sie standen eine Weile im Regen, ohne etwas zu sagen.
"Wir dachten nicht, daß du bei solchem Wetter kommen würdest", sagte Anton endlich, "man kann ja nicht durchkommen", fügte er rasch und wie entschuldigend hinzu.
"Das will ich selber sehen."
"Du kannst uns glauben", Hans war ärgerlich, "der Fluß geht über die Ufer."
Kari bestieg ihr Pferd wieder. Sie antwortete nicht, aber sie setzte sich in Bewegung als sie die alte Ingrid hinter sich flüstern und tuscheln hörte. Sie kamen den Hügel hinab, und die Pferde wateten weiter durch den zähen Lehmschlamm. Wortlos bewegte sich die Schar durch den Regen, der in Strömen niedertroff; es war, als könne es nur immer regnen, und als wollten Sonne und Sommer nie wieder kommen. Matthias hielt das Pferd an. "Nein, es geht nicht!"
Die Brücke führte über den Fluß mitten in einem Wirrwarr von Baumstämmen, Haustrümmern und alledem, was der Fluß mitgeführt und an den Brückenpfosten aufgestaut hatte. Der Strom brodelte grau und wild und flutete in hitzigen, langen Brandungen an den Brückenenden über den Weg. Baumstämme richteten sich auf und wurden niedergedrückt, schoben sich auf die Brücke hinauf und prallten mit dumpfem Krachen gegen die Balken, und immer noch kamen neue angetrieben, die von dem Wirbel in die Tiefe gerissen wurden, kreisten, irgendwo gegenprallten und liegen blieben. Ein paar Männer standen mit Haken und Äxten am Ufer, aber eigentlich standen sie nur da und sahen zu. Es war so zwecklos. "Sollen wir heute hier stehenbleiben?" rief Kari Matthias zu. Er spuckte nur aus, sah sie nicht an.
Hinter sich hörte sie die andern, – erregt und ängstlich, da sie dachten, daß sie hinüber wollte. Einer von den Männern näherte sich ihr. "Willst du hinüber? Es ist nicht sicher!"
"Du bist selber doch auch hinübergegangen!" Kari wurde zornig; es war, als hätten alle sich zusammengetan, um diese Unternehmung zu hindern. Sie rief wieder Matthias an: "Du mußt dich jetzt beeilen!"
Er zog die Zügel straff, watete in das Wasser hinaus, das ihm schon fast bis zu den Knien ging, das Pferd platschte hinterdrein, unsicher und widerwillig. Sie fühlte die Brücke unter ihnen zittern und beben und mit dumpfen, saugenden Tönen nachgeben. Dann waren sie hinüber, das Pferd strauchelte und glitt auf Baumstämmen und Spänen aus, die an Land geschleudert waren.
Sie sah sich nach den andern um, einen Augenblick wurde sie schwach und schloß die Augen, als sie alle wie geängstigte Schafe in einem Haufen zusammengedrängt sah, – Anton trug Olea. Wo war Hans geblieben?
Sie ritt langsam weiter, – bis die andern sie wieder einholten –. "Wo ist Hans?"
"Er sagte ..." Olea sah sich ratlos um.
"Was sagte er? Wollte er nicht?"
"Er ... er ist nach Hause gegangen", stammelte Olea, wollte Erklärungen geben.
Kari hörte nicht auf sie, ritt nur weiter auf das Kirchdorf zu, das durch die ziehenden Regennebel zwischen den Hügeln auf der andern Seite des Tals schimmerte. Sie ritt durch das Dorf, ohne anzuhalten, sah flüchtig Gesichter hinter den Scheiben, – ein alter Mann kam vor die Haustür, stand da in roten Hemdärmeln, – das war Antor, der Gemeindepfleger. An einem Hause nach dem andern kamen sie vorüber, wo das Tal unter dem düsteren Berg eine Windung machte, ragte der teerschwarze Turm der Kirche auf, glänzend von Feuchtigkeit, zwischen alten Birken mit nackten Zweigen, in denen der Sturm rüttelte.
... Der Pfarrer blickte vom Schreibtisch auf, als es an die Tür klopfte. Merkwürdig, höchst merkwürdig, daß jetzt Leute kamen. Sie wußten – oder mußten es doch wissen in der Gemeinde nach all den Jahren, die er hier gewesen war, daß er kurz vor der Kirche nicht gestört werden wollte.
"Herein!" rief er verdrießlich; aber er erhob sich, als er sah, wer es war: Kari von Braenna. Er gab ihr die Hand und bat sie, sich zu setzen. "Ja, bist du bei diesem Wetter unterwegs? Ein Himmelsunwetter, – ja, ein Himmelsunwetter."
Kari nickte nur. Dann sagte sie, kurz und außer Atem und wurde rot dabei: "Ich wollte ein Kind taufen lassen." Der Pfarrer verstand nicht recht, stutzte, beugte sich vor. Suchte in seiner Erinnerung ... seine Frau hatte irgend etwas von den Dienstleuten gehört, eine sonderbare Geschichte. Hatte es sich nicht um Braenna gehandelt? Nein, er konnte sich nicht besinnen, was es gewesen war.
Kari erzählte kurz von dem Kinde, das sie gefunden hatte. Der Pfarrer hörte aufmerksam zu. Als sie schwieg, saß er grübelnd da. Hier war etwas, was ihm nicht gefiel. Nein, sie hatte nicht alles gesagt, – sie war ... ja, er konnte es nicht erklären, aber er hatte das Gefühl, als verheimliche sie ihm etwas.
"Seltsam", sagte er und sah Kari an. "Höchst seltsam. Es müßte wohl eigentlich angezeigt werden."
Kari zuckte zusammen ... die Obrigkeit, – daran hatte sie nicht gedacht, und der Gedanke durchfuhr sie, daß dies etwas sei, was Menschen nicht zu entwirren vermochten. Aber konnte sie das dem Pfarrer sagen? Würde er es verstehen und nicht nur darüber lachen? "Die Obrigkeit?" fragte sie langsam und unwillig.
Der Pfarrer blickte zu Boden. "Nun, vielleicht nicht, nein, seltsam", sagte er wieder, "war es ein neugeborenes Kind?"
"Nein, es mochte wohl einige Monate alt sein."
"Und ihr habt kein fahrendes Volk gesehen, – Finnen oder Zigeuner?"
"Seit Anfang des Winters nicht."
"Hm ..." Der Pfarrer versank wieder in Grübeln. "Ja, dann wissen wir nicht, wen wir als Eltern angeben sollen, nicht den Vater ...", er zögerte einen Augenblick, "und auch die Mutter nicht?" Der Pfarrer heftete die Augen auf Kari, als er das sagte.
Sie erglühte vor Zorn, als sie begriff, was er meinte, lachte aber nur kurz auf. "Nein", sagte sie.
Dem Pfarrer kam es vor, als klänge dies Wort ganz seltsam in ihrem Munde. Er lehnte sich im Stuhl zurück, indem er nach dem großen Kirchenbuch griff. "Dann müssen wir schreiben: Eltern unbekannt. Eltern unbekannt", wiederholte er. Im selben Augenblick setzten die Glocken zum ersten Läuten ein, er blieb einen Augenblick sitzen und hörte darauf. "Es ist eine Sünde an so einem Kinde, eine große Sünde, als wäre es nicht von Menschen geboren, – hinausgestoßen, einsam..."
Kari hatte ein wunderliches Gefühl, als er das sagte. "Es soll keine Not leiden."
"Ja, was gedenkst du mit dem Kinde zu tun?"
"Nun, Braenna kann ja wohl noch ein Kind ernähren, sollte ich meinen."
"Nun ja", der Pfarrer trommelte mit den Fingern auf dem aufgeschlagenen Buch, "ja, ich will nur hoffen, daß du das Rechte tust, Kari."
Seine Worte gaben all dem, was sie in Wald und Finsternis hatte rufen hören, all dem, was die alte Ingrid gefaselt, all dem, was sie in den Gesichtern der Leute gelesen hatte, neue Nahrung.
"Du hast die Absicht, es aufzuziehen? Das ist schön von dir, sehr schön ..." Er saß wieder eine weile nachdenklich da und spielte mit dem Federhalter. "Du weißt wohl, daß vielleicht der Tag kommt, da die Eltern es zurückverlangen?"
Die Worte durchdrangen sie wie Eis, sie mußte sich beherrschen, um nicht aufzustehen, hinauszugehen und davonzueilen. Der Pfarrer sah, daß sie bleich wurde. Nein, hier war wirklich etwas, was ihm nicht gefiel. Sie verbarg ihm etwas.
"Sie soll Berret heißen", sagte Kari plötzlich, so daß der Pfarrer stutzte.
"Berret? Nun ja ... hm ... Berret ..."
"So hieß meine Mutter."
Der Pfarrer erhob sich. Er scheute sich, etwas zu sagen. Heftig ging er ein paarmal in der Stube auf und ab. Die Kari tat dem Findelkinde Ehre an, große Ehre! Nein, er verstand es nicht, aber jetzt mußte er gehen. Er trat an eine Tür und rief etwas in das Haus hinein. "Ja, nun mußt du entschuldigen!" Er wendete sich zu Kari, die sich erhoben hatte. "Du kannst so lange zu meiner Frau gehen ... dich etwas stärken und trockene Kleider anziehen. Ich habe nicht daran gedacht, daß du ja durchnäßt sein mußt." Er reichte ihr die Hand. "Auf Wiedersehen in der Kirche, auf Wiedersehen! Du weißt wohl selber am besten, was du tust, Kari!"
"Du brauchst deine Frau nicht zu bemühen", sagte Kari rasch. "Ich muß mich nach meinen Leuten umsehen, die sind bei dem Küster."
Der Pfarrer drang nicht weiter in sie, er begleitete sie zur Tür und gab ihr die Hand, als sie ging. Er öffnete den Mund, um sie zurückzurufen, besann sich aber. "Seltsam!" murmelte er, während er den Schreibtisch zu ordnen und die Bücher hervorzusuchen begann, die er brauchen wollte.
Wieder läuteten die Glocken. Der Klang drang zu Kari, als sie aus dem Hause trat und zur Kirche hinunterging. Die große, geteerte Tür mit den rostigen Beschlägen stand offen. Es war ziemlich leer drinnen, – heute bei dem Wetter würden wohl nicht viele Leute kommen.
Sie kniete tief und langsam, ehe sie sich auf der Frauenseite auf einer Bank niederließ. Sie saß lange da mit dem Gesicht in den Händen und fühlte einen so tiefen, stillen Frieden über sich kommen, daß sie alles umher vergaß, alles, was sie geängstigt und erschreckt hatte.
Hier hatte sie in Trauer und in Freude gesessen. Hier war sie getauft worden, hier hatte sie die Hand in Pers Hand gelegt. Hier hatte sie ihre Kinder vor Gott gebracht und sie in seine Hände gelegt. Das kleine Mädchen, das sie verloren hatte ... jetzt dachte sie an dies Kind, das Geschenk, das der Herr zurückgenommen. Sie hatte getrauert und getobt, hatte sich nicht fügen wollen, warum hatte Er es genommen? Das Teuerste, was sie besaß?
Sie blickte zu dem Altar auf. Hinter ihr glitten die Leute leise und behutsam in die Bänke, aber sie drehte sich nicht nach ihnen um. Grau und weich sickerte der Tag durch die kleinen Scheiben oben im Chor, leuchtete mit dunklen Reflexen auf dem Gold des alten Altarbildes. Jesu Mutter, gebeugt in Trauer und Schmerz unter dem Kreuz, an das ihr gemarterter Sohn geschlagen war. Da stand Maria Magdalena, dort Johannes, und die Kriegsknechte würfelten um seine Kleider. Sich beugen, das hatte Maria getan. Kari meinte das noch nie empfunden zu haben: die Mutter, die das blutige Holz des Kreuzes umklammerte... es war ja doch ihr Kind, das dort hing. So dazustehen, ohne Rat und Hilfe zu wissen und mitanzusehen, wie das Liebste, das man besaß, gefoltert, geschlagen und getötet wurde! Klein und gering erschien Kari alles andere: das Mißtrauen des Pfarrers, – all das, was die Leute meinten und sagten ... ihre eigene unklare Angst. Sie fühlte nur die Zärtlichkeit in sich aufwallen, die Zärtlichkeit für dies winzige Lebewesen, das Gott ihr wohl geschenkt hatte für das Verlorene. Herr, Herr, ich lege es in deine Hände: Sie saß da und fühlte den Frieden tiefer und immer tiefer in ihre Seele dringen. Der Gottesdienst glitt an ihr vorbei, ohne daß sie sonderlich viel hörte. Sie sprach keine Gebete, aber während der stillen Gedanken kamen die alten Worte wieder und wieder mit Ruhe und Frieden: Herr, ich lege es in deine Hände!
Der Pfarrer war auf die Kanzel getreten. Sie hörte ihn den Text lesen: Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein, womit ihr euch selbst betrüget! Denn so jemand Hörer des Wortes ist und nicht sein Täter, ist er gleich einem Manne, der sein natürliches Antlitz in einem Spiegel betrachtete, denn er betrachtete sich selber und ging fort und vergaß sogleich, wie er war.
Die Worte berührten sie mit einer seltsamen Unruhe, aber als der Pfarrer sie nun auslegte, glitten sie fort, und sie sank wieder in ihre eigenen stillen Gedanken zurück, bis sie die alte Ingrid mit dem Kinde auf dem Arm durch die Sakristeitür kommen sah. Leise erhob sie sich und ging dorthin, wo die Alte saß, nahm ihr das Kind ab und flüsterte: "Ich trage es selber!"
Der Pfarrer stand jetzt neben dem Taufbecken. Kari blickte geradeaus; sie fühlte, daß ihr die Tränen kamen, als der Pfarrer den Kopf des Kindes mit Wasser benetzte und es mit dem Zeichen des Kreuzes segnete. "Berret taufe ich dich, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!"
Kari neigte den Kopf. Gott selber war zugegen. Herr, ich lege es in deine Hände! Berret, klein Berret war erwacht, Kari blickte in die tiefen Augen, und in einer Woge von Zärtlichkeit sah sie, daß es ihr entgegenlachte.
Die alte Ingrid band dem Kinde mit zitternden Händen die Mütze um, – so bang war sie nie in ihrem Leben gewesen wie an diesem Tage. Kari verließ die Sakristei zusammen mit den Paten, und als sie diese stumm und störrisch dastehen sah, fühlte sie mit einem Stich von Angst und Unwillen, daß alles so geblieben, wie es gewesen war. Nicht einer von ihnen sagte ein Wort, nicht einer wünschte Glück. Der Küster eilte ihr nach, als sie gehen wollte. "Der Pfarrer hat vergessen, die Paten aufzuschreiben."
Kari nannte sie, und der Küster schrieb. Da sah Kari das Gesicht der alten Ingrid, das hohl war vor Ärger und Unwillen, und plötzlich fiel ihr deren Ausspruch ein: Wer soll als Gevatter geschrieben werden? Eulen und Wölfe und all das, was so unheimlich schreit wie das Kind selber ...
Der Küster blickte auf. "Du sagtest Hans Schar, – war er hier;"
"Nein", sagte Kari, "er ist nicht gekommen."
"Soll er trotzdem aufgeschrieben werden;"
"Nein", ihr Gesicht wurde finster, "nein, er soll nicht aufgeschrieben werden." Sie sagte dem Küster Lebewohl und ging hinaus. Der Tag schnitt ihr in die Augen nach dem milden, friedvollen Licht in der Kirche.
Auf dem Kirchplatz standen einige Männer und Frauen. Kari ging auf sie zu, grüßte und sah sich um, als suche sie jemanden. "Eirik Vogelgrund ist nicht hier?"
"Nein, aber seine Frau."
Kari suchte sie auf, sprach einige Worte mit ihr und blieb dann noch eine Weile stehen, als überlege sie etwas. "Eirik hat mich diesen Winter gefragt, ob ich einen Platz für ihn hätte." Sie sagte das ganz laut, sie wollte, alle sollten es hören. "Damals hatte ich keinen, aber jetzt kann er den Scharhof bekommen."
"Will Hans denn fort? Davon habe ich noch gar nichts gehört?"
"Man hört vieles nicht, und das ist gut ..."
"Wohin geht er denn?"
"Das weiß ich nicht. Im kommenden Monat kannst du einziehen."
Sie ließ die Frau stehen, ohne auf ihren Dank zu hören, – und ging an Olea vorbei, die ratlos und verzweifelt dastand und von allem kein Wort verstand. Es tat Kari weh, sie zu sehen, und sie bereute, was sie getan hatte, – das arme Gesicht Oleas, so abgearbeitet und zerfurcht! Rasch wendete sie sich dem Küsterhause zu, sie fror und sehnte sich heim. Die alte Unruhe hatte sie wieder gepackt; all das, was drinnen in der Kirche durch den Frieden und die Stille zu ihr gesprochen hatte, war nur etwas Fernes, aber ihr Herz blutete vor Verlangen, es wiederzubekommen. –
Als Kari daheim auf dem Hof vom Pferde stieg, sah sie, daß es auf den Höhen geschneit hatte; sie lagen weiß in der grauen Dämmerung, plötzlich fuhr sie zusammen und die alte Ingrid schrie auf, – denn da kam Paßauf, der Hund, und begrüßte sie, abgemagert und mit struppigem Fell. "Da ist ja Paßauf!" sagte Peter, der darauf wartete, die Pferde in den Stall reiten zu dürfen.
"Wann ist der Hund wiedergekommen?" fragte Kari.
"Ich weiß es nicht, – ich habe ihn vorher noch nicht gesehen."
"Ja, das Tier weiß schon, was es tut!" Die alte Ingrid weinte vor Müdigkeit, als sie nun die Stufen hinauftappte und sich ins Haus begab.
Kari ging in die Schlafkammer, zog dem Kind die Kleider aus und hüllte es in eine große Wolldecke, die sie gewärmt hatte. Dann gab sie ihm zu trinken, und als es eingeschlafen war, zog sie sich selber auch um.
Sie ging mit einer Flasche Branntwein hinaus, um den Leuten ein Glas einzuschenken, aber es war schon still in der großen Stube. Die alte Ingrid schlief. Matthias war nicht da. Selbst die Allerärmsten und Geringsten pflegten doch an einem solchen Tage den Leuten Essen und Trinken vorzusetzen. Sie hatte es vergessen.
Ohne sich auszukleiden, legte sie sich zu Bett. Als sie allmählich warm wurde, fühlte sie den Schlaf kommen. Es tat so wohl, still zu liegen, sie wollte am liebsten gar nicht schlafen, nur hier liegen und die Ruhe fühlen. Und während sie daran dachte, schlief sie bereits.
Draußen auf der Schwelle saß der Hund und horchte in die Nacht hinaus; aber alles schwieg, Wald und Berge. Der Regen sickerte unaufhörlich. Dann kroch das Tier hinter die Treppe des Holzschuppens und begann die wunden Pfoten zu lecken.
Der Himmel klärte sich auf, die Bäume bekamen junges Laub, das Feld wurde grün, es war wie ein Wunder. Es sah endlich aus, als wäre der Frühling gekommen. Der Birkhahn balzte oben auf den Bergen, die Elstern hatten sich in den alten Bäumen um den kleinen Garten neue Nester gebaut. Das Vieh war auf die Koppel getrieben.
Eines Abends ging Matthias zum Fluß hinunter, – er wollte es mit dem Fischen versuchen. Es hatte sacht und fein geregnet, so daß es jetzt von Wärme und gutem Brodem dampfte und prächtiges Fischwetter war. Der Fluß war beinahe zu groß, war zu beiden Ufern weit in den Erlenwald hineingeflutet. Das Flußbett war wie ein einziger brodelnder Wasserfall. Es war fast nicht möglich, auf anständige Weise eine Angel auszuwerfen, aber er wollte jedenfalls versuchen, ob er nicht eine Vertiefung im Fluß fände. Matthias gab sich alle Mühe.
Er versuchte einige Würfe, hatte aber selber keinen Glauben daran, und wenn einer keinen Glauben hat, fängt er auch keine Fische, – das ist ein wahres Wort. Überall lagen Gerümpel und Späne herum, Äste und Baumstümpfe, Rasenschollen