Schweig, bis sie dich kriegen - Patrick Fogli - E-Book

Schweig, bis sie dich kriegen E-Book

Patrick Fogli

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Beschreibung

Der letzte Sommer der Unschuld.

Ein Mädchen verliert die Sprache, ein Mann das Gedächtnis, drei Menschen ihr Leben. In einem glutheißen Bologneser August versucht Commissario Marra das unentwirrbare Knäuel ihrer Schicksale zu entflechten. Doch irgendjemand behindert seine Ermittlungen, begleitet ihn wie ein unsichtbarer Schatten, weiß, was er weiß - und sucht wie er die letzte Zeugin ...

"Unter den Krimischriftstellern der neuen Generation ist Patrick Fogli wohl der begabteste." La Repubblica.

"Schnell, atemlos, wie ein Kinofilm." Corriere della Sera.

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Über Patrick Fogli

Patrick Fogli, geb. 1971 in Bologna, Informatiker und Schriftsteller, hat sich mit seinen ebenso akribisch recherchierten wie spannend verpackten Romanen zur neueren italienischen Geschichte bereits einen Namen gemacht. Bisher auf Deutsch erschienen: »Langsam, bis du stirbst«, »Schweig, bis sie dich kriegen«.

Verena von Koskull, geb. 1970, hat Italienisch und Englisch in Berlin und Bologna studiert. Sie übertrug u.a. Matthew Sharpe, Curtis Sittenfeld, Tom McNab, Carlo Levi, Simona Vinci und Claudio Paglieri ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Der letzte Sommer der Unschuld.

Ein Mädchen verliert die Sprache, ein Mann das Gedächtnis, drei Menschen ihr Leben. In einem glutheißen Bologneser August versucht Commissario Marra das unentwirrbare Knäuel ihrer Schicksale zu entflechten. Doch irgendjemand behindert seine Ermittlungen, begleitet ihn wie ein unsichtbarer Schatten, weiß, was er weiß – und sucht wie er die letzte Zeugin.

»Unter den Krimischriftstellern der neuen Generation ist Patrick Fogli wohl der begabteste.« La Repubblica

»Schnell, atemlos, wie ein Kinofilm.« Corriere della Sera

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Patrick Fogli

Schweig, bis sie dich kriegen

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Inhaltsübersicht

Über Patrick Fogli

Informationen zum Buch

Newsletter

Erster Teil Staub und Schlamm

Zweiter Teil Im Licht

Dritter Teil Die tausend Farben des Himmels

Quellenangaben

Impressum

Gewidmet

Liliana,

für das Leben, die Zärtlichkeit und das Lächeln

Roberto,

für seine Ausdauer und Kraft

Alessandra,

die noch immer lachen, weinen und von ganzem Herzen leben kann

Und Marina Quattrocchi

Lucas Corso wusste es besser, er wusste, dass es immer noch möglich war, sich ein Schlachtfeld zu suchen und sich seinen Lohn als Söldner zu verdienen, der luzid blieb, selbst wenn die Schlacht verloren war. Im dunklen Raunen Tausender von Verlierern, die auf dem Rückzug waren, hielt er standhaft Wache zwischen Gespenstern aus Papier und Leder.

Arturo Pérez-Reverte, Der Club Dumas

Wenn ich ganz reglos bleiben könnte, ohne zu sprechen oder zu denken, ohne zu flehen, zu weinen, zu erinnern oder zu hoffen, wenn ich mich in das vollkommene Schweigen versenken könnte, vielleicht würde ich dich dann hören können, Tochter.

Isabel Allende, Paula

Das Wasser ist ein blindes Geräusch in der Nacht.

Der Polizist sieht es in der Ferne mit der mondlosen Nacht verschmelzen.

Ein einziger schwarzer Spiegel, der alles verschluckt. Nur unten an der Gasse blitzt hier und da ein Lichtreflex auf; manchmal so flüchtig, als wäre er nur Einbildung. Wie die Geschichte, die er gerade gehört hat. Ein Märchen wie geschaffen für den Karneval, den er drei Stockwerke tiefer vorbeiziehen sieht.

Nur, dass sie wirklich passiert ist.

»Schildern Sie mir bitte alles noch einmal. Von Anfang an.«

Pantalone hat die Maske hochgeschoben. Er hat sie aus dem Gesicht gezogen, als er vor fast einer Stunde hereingekommen ist. Trotz der abendlichen Kälte steht ihm der Schweiß auf der Stirn und seine Augen sind gerötet.

»Das ist das dritte Mal, Herr Inspektor«, stammelt er.

Der Polizist legt sich die Hand auf die Brust als wäre sie sein Gewissen.

»Bitte. Wiederholen Sie es noch einmal.«

Pantalone nimmt die Maske herunter. Behutsam legt er sie auf den Tisch. Er sieht Colombina an. Auch ihre Augen sind rot. Das Haar quillt unter der Haube hervor, die Hände liegen im Schoß und sind so fest ins gestreifte Kleid verkrallt, dass die Fingerknöchel weißer sind als der Stoff.

Irgendwo draußen explodiert ein Knaller. Doch niemand im Zimmer erschrickt. Das, was ihnen Angst macht, ist so viel realer.

»Na, komm …«, flüstert Colombina. Ihre Stimme ist kaum zu hören.

Pantalone starrt sie an, als erkenne er sie nicht. Dann zieht er die Nase hoch und fängt von vorn an.

Es sind nur wenige Worte. Vielleicht ein paar hundert. Und es sind immer die gleichen.

Dann stützt er die Ellenbogen auf die Knie und vergräbt das Gesicht in den Händen.

Colombina hingegen sitzt kerzengerade da, mit bemüht erhobenem Kopf, den Blick starr geradeaus gerichtet.

»Sie ist doch so klein, Herr Inspektor. Finden Sie meine Paola wieder.«

Der Polizist sieht zuerst seinen Vize an und dann hinab auf die vor Menschen wimmelnde Straße. Als er sich wieder dem Zimmer zuwendet, hofft er, am Ende des Flurs einen seiner Männer mit dem Mädchen an der Hand auftauchen zu sehen. Das Prinzessinnenkleidchen verdreckt, die Augen tränennass.

Doch da ist nichts. Nichts als die defekte, flackernde Neonröhre jenseits der offenen Tür.

»Eine Bauta. Es war eine Bauta«, wiederholt Pantalone.

Der Polizist sieht diese Maske vor sich, vor der er sich schon immer gefürchtet hat. Den Dreispitz, den schwarzen Umhang, die fließende, alles verschleiernde Silhouette.

Ein Schatten in der Nacht.

»Sie werden sie finden, nicht wahr?«

Colombina sieht ihn an, als würde sie gleich zerbrechen. Ein trockener Ast unter einem allzu schweren Fuß.

Der Polizist will etwas antworten.

Dann beginnt am Canale Grande das Feuerwerk, und alles wird vom Lärm verschluckt.

Erster Teil Staub und Schlamm

Ich habe mir die Hände in schlammigem Wasser gewaschen, ich habe mir die Hände gewaschen, doch sie sind nicht sauber geworden.

Salman Rushdie, Der Boden unter ihren Füßen

Freitag, 20. August 2004

Die Straße hat die Farbe des Staubes.

Wie alle Straßen in Bagdad. Ich habe mich oft gefragt, ob es schon immer so war oder ob auch das mit dem Krieg gekommen ist. Selbst die Luft ist so, getrübt von einem Dunst, der sich rasch im allzu tiefen Blau des Himmels verliert. Es gibt kaum etwas, das diesen Himmel befleckt. Abgesehen von den Hubschraubern.

Abdel zeigt sie mir. Rechts über einer Häusergruppe lösen sie sich vom Horizont. Von weitem sehen sie aus wie drei kleine, graue, am Augusthimmel taumelnde Fliegen.

Ich stehe auf, und während ich sie fotografiere frage ich mich, was es dort so Wichtiges gibt, das sie anzieht. Welche Scheiße sie diesmal umschwirren. Ob sie selbst sie vom Himmel haben fallen lassen oder jemand am Boden sie verbrochen hat. Ich frage mich das jedes Mal, wenn ich sie sehe.

»Das war’s«, sagt Abdel, und ich weiß nicht, was er meint.

Er lächelt über meinen ratlosen Blick. Ich lasse die Kamera auf die Brust sinken und sehe ihn an. Wir sitzen in einem Restaurant vor einem auf unerfindliche Weise eisgekühlten Bier. Die Sonne steht senkrecht am Himmel, ein paar Autos fahren vorbei, von weitem ist der Trubel des Marktes zu hören. Ich reibe mir die Augen, und einen Moment lang habe ich das Gefühl, an einem normalen Ort zu sein, auf der Veranda eines x-beliebigen Restaurants, um Kebab zu essen und mit jemandem, den ich seit über zehn Jahren kenne, Schwachsinn zu reden, während die Leute ringsum miteinander plaudern und die Stadt sich scheinbar grenzenlos vor mir erstreckt.

Dann öffne ich die Augen wieder, und das Erste, was ich sehe, ist ein Militärkonvoi und ein paar irakische Polizisten, die Richtung Markt unterwegs sind. Irgendwo ertönt ein Knall, der alles Mögliche sein könnte. Eine Hinrichtung ebenso wie eine Hochzeit.

Dieser Ort ist absurd.

»Ich kann diese Hubschrauber nicht mehr sehen«, sage ich und trinke von meinem Bier. Abdel schüttelt den Kopf, als hätte ich etwas Lustiges gesagt. Er ist dürr wie ein Besenstiel. Doch er hat dieses Lächeln, das sich ins Gedächtnis gräbt und einen nicht mehr loslässt. Vielleicht hat al-Dschasira ihn auch deshalb hierher geschickt und vor die Kamera gestellt. Er macht nicht nur einen guten Job, er ist auch noch marokkanischer Moslem, der ohne große Mühe Arabisch, Englisch und Italienisch spricht. Nachdem er drei Jahre in Bologna studiert hatte, wurde ihm klar, dass Medizin nichts für ihn ist. Und dass ihm Italien zu eng werden könnte.

Er spielt mit dem Saum seines karierten Hemdes und lässt den Blick von mir zu meinem Objektiv wandern.

»Wie viele von diesen fliegenden Dingern hast du schon fotografiert?«

»Zu viele«, antworte ich und starre an den Marines vorbei, die gerade eine Häusergruppe kontrollieren. Ich bin nervös. »Was hast du vorhin gemeint?«

»Dass du nach Hause fährst.« Er hält mir seine Colaflasche hin, um mit mir anzustoßen. Ich proste ihm zu, und während mir das Bier die Kehle hinabrinnt und ein Schweißtropfen über die Schläfe perlt, denke ich, dass er mir fehlen wird. Ich werde gleich meine Sachen packen und mich aus dem Staub machen, er wird noch ein wenig bleiben. Dieser Drink ist mein letzter Ausflug hier, zumindest für eine lange Zeit.

Es gibt hier nichts mehr zu erzählen. Nichts, das sich wirklich zum Guten wenden könnte. Es ist zu viel Unkraut gesät worden, als dass es sich mit Gartenarbeit ausmerzen ließe. Und im Grunde hat niemand wirklich Lust, den Gärtner zu spielen.

»Ich habe ein Geschenk für dich.«

Er sagt das einfach so, während der fast vergessene Duft von gegrilltem Fleisch die Luft erfüllt.

»Du bist ein Arsch.«

»Vorsicht. Schimpfwörter sind das erste, was wir Ausländer von deiner Sprache lernen.«

»Du bist trotzdem ein Mistkerl.«

»Wahrscheinlich hast du recht, ich hab’s nämlich im Auto liegenlassen.«

Er steht auf und winkt unserem Fahrer Aji zu, der neben der Kasse steht und sich eifrig mit seinem Vetter, dem Restaurantbesitzer, unterhält. Hier scheint jeder mit ihm verwandt zu sein. Einmal hat er versucht, uns seinen Stammbaum darzulegen, bis ich ihn schließlich gebeten habe, aufzuhören. Ich weiß nicht, ob es an Abdels Übersetzung aus dem Arabischen lag oder daran, dass sämtliche Namen gleich klangen, aber er schien ständig von derselben Person zu reden.

»Ich bin sofort wieder da. Wenn ich zurückkomme und es fehlt was von meinem Fleisch, hacke ich dir die Hände ab. Du weißt doch, was sie bei uns mit Dieben machen?«

Er entfernt sich einen Schritt und fängt die Autoschlüssel, die Aji ihm zuwirft. Der Schlüsselbund fliegt über einen Tisch mit drei Europäern hinweg, einer fetter als der andere. Als ich zu Abdel Arsch gesagt habe, hat sich einer nach mir umgedreht. Italiener, ganz eindeutig. Hier wimmelt es nur so von Europäern, die hier nichts verloren haben. Niemand weiß, dass sie hier sind, noch, was sie hier wollen. Und so werden im Zweifelsfalle alle zu Geschäftsleuten.

Ich trinke mein Bier aus und sehe ihm nach. Eilig verschwindet er in Richtung der Allee, die parallel zu der Straße vor dem Restaurant verläuft. In der gleißenden Sonne sind seine Khakihosen kaum zu sehen. Er sieht aus wie ein Rumpf, der mager und orange wie sein kariertes Hemd durch die von Staub und Hitze flirrende Luft schwebt. An unserem Geländewagen bleibt er stehen und beugt sich hinein.

Irgendwo hört man Autoreifen quietschen, doch ich achte zunächst nicht darauf. Dann sehe ich den Konvoi dunkler Wagen die Allee heraufkommen. Von ganz hinten links tauchen sie auf. Es sind vier. An der Spitze fährt ein Panzer der Marines. Zwei Männer schauen aus dem Turm heraus, ein dritter steht auf einem seitlichen Trittbrett, das wie eine Flosse aussieht. Die Maschinengewehre im Anschlag, als hielten sie nach etwas Ausschau.

Ich weiß nicht warum, aber ich kann meinen Blick nicht losreißen. Den vier Wagen folgt ein zweiter Panzer. Vier Männer, vier Gewehre.

Abdel bückt sich noch immer in den Geländewagen. Jetzt hat er sich auf den Sitz gekniet und scheint im Handschuhfach herumzukramen. Das gefällt mir nicht. Ich wünschte, er würde aufhören und wieder zurückkommen.

Der Konvoi hat die Allee halb zurückgelegt.

Meine Hände schwitzen. Ich stehe auf und mache ein paar Schritte nach vorn. Der dicke Italiener dreht sich kurz nach mir um.

»Na los, Abdel, das Geschenk kannst du mir doch auch nachher geben. Komm da weg.«

Aji dreht sich um und sieht mich an. Ich muss einen recht merkwürdigen Gesichtsausdruck haben, denn er macht mir Zeichen. Ich deute auf den Konvoi, und er hält inne. An einem Ort wie diesem steht das Gefühl im Vordergrund. Manchmal zählt nichts anderes. Doch Aji teilt mein Gefühl offenbar nicht, er scheint auf der Straße nichts Auffälliges zu entdecken.

Fünfzig Meter von unserem Geländewagen entfernt parkt ein graues Auto. Es ist ein alter Mercedes aus den Siebzigern. Die Stoßstange ist verbeult, ein Scheinwerfer kaputt. Es gibt hier unzählige davon. Und es ist auch nicht das Auto, das ich anstarre.

Es sind die beiden Typen darin. Sie sitzen vorn. Reglos. Von der Veranda des Restaurants aus, im Gegenlicht und mit der Sonne, die sich grell auf der Karosserie spiegelt, sehen sie aus wie Schatten, wie Pappschablonen, die als Attrappe für etwas dienen.

Weg da, Abdel. Schnell weg.

Sie öffnen die Tür und steigen aus. Es sind zwei Männer. Zwei Durchschnittsgesichter in T-Shirts und stinknormalen Hosen. Sie tragen weder Jacken, unter denen sie etwas verstecken könnten, noch halten sie etwas in der Hand, das nach Fernsteuerung aussieht. Sie wechseln ein paar Worte, die ich nicht verstehe, und kommen auf das Restaurant zu.

Der Konvoi kriecht an ihnen vorbei, nähert sich unserem Geländewagen, beschleunigt und fährt weiter. Mein Blick wandert zu Abdel zurück, der die Tür zuwirft. Er hält ein blaues Päckchen in der Hand.

Er sieht zu mir herüber und winkt mir zu.

Vielleicht werde ich paranoid. Ich wische mir die Hände an meinen Jeans ab und winke zurück. Dann greife ich nach meinem Fotoapparat und richte das Objektiv auf ihn.

Ich habe gerade das erste Bild gemacht, als auf der Allee alles in die Luft fliegt.

Das Einzige, was ich noch sehe, ehe die Druckwelle und der Instinkt mich unter einen Tisch katapultieren, ist ein Fleck von der Farbe seines Hemdes, der nach links fliegt.

Er hebt ab und wirbelt empor wie ein Blatt Papier im Wind.

Es ist zu hell.

Das Gefühl hat er ständig, seit er aufgewacht ist. Ein gleißendes Licht, das in seinem Kopf explodiert und ihn am Denken hindert.

Jemand redet.

Er ist nicht mehr an Worte gewöhnt. An den Klang, an die Gesten der Leute, die sie aussprechen. Und an das Licht. In den schlimmsten Momenten glaubt er, dass er sich deshalb an nichts mehr erinnert. Das Licht dringt durch die Augen ein und lässt die Gedanken bersten. In dem Lärm, den all diese Worte machen, geht das, was er wissen müsste, unter.

Also bittet er immer um Ruhe. Mühsam, denn seine Stimme gehorcht ihm noch nicht, und manchmal ist es, als wäre seine Kehle mit winzigen Schnitten übersät, die mit jedem Atemzug, mit jedem winzigen, schmerzhaften Versuch, etwas herunterzuschlucken, wieder aufreißen.

Nach fast sechs Monaten Koma braucht die Stimme Zeit, um wieder Stimme zu werden. Das Gleiche gilt für die Augen. Deshalb besteht er auf heruntergelassene Rollläden, die die Augustsonne aussperren.

Doch wenn er dann dort im stillen Halbschatten liegt, fehlen ihm das Licht und die Worte. Es gibt viele Dinge, an die er sich nicht mehr erinnert, doch dass er die Sonne immer gemocht hat, weiß er nur zu genau.

Ebenso die Worte. Ihnen zuzuhören, wohlgemerkt. Denn zu sagen hatte er noch nie viel. Zu denken allerdings schon.

Und jetzt muss er auch noch seinen Erinnerungen nachjagen und auf die Suche nach sich selbst gehen.

Eine Obsession, die ihn eiskalt erwischt hat, kaum dass er die Augen aufgeschlagen und die Zimmerdecke der Intensivstation des Ospedale Maggiore von Bologna erblickt hatte. Riesig, ein weißer, unbekannter Ozean.

Er hat einmal gehört, während des Komas habe man seltsame Träume, manch einer sehe sogar einen Tunnel mit einem Licht am Ende. Und dieses Licht sei das Paradies oder etwas Ähnliches. Er war nie religiös, für ihn hatte es sich lediglich angefühlt, als wäre er völlig erledigt aus einem ewig langen Schlaf erwacht, der ihn mit dem brennenden Wunsch weiterzuschlafen wieder in die Wirklichkeit entließ.

Und während dieses Schlafs sind einige Dinge seines Lebens abhandengekommen, untergegangen in einem Nichts, das er verzweifelt zu durchdringen versucht. Das ist das Schlimmste. Nicht das Bewegen der Arme und Beine. Nicht die vorsichtigen Sprechversuche, bei denen selbst die einfachsten Worte Mühe kosten.

Ja, nein, Licht, danke.

Nichts dergleichen.

Erinnern.

Man hat ihm erzählt, er hätte einen Unfall gehabt. Er sei auf der Via di Casaglia mit dem Auto in das Tor einer Villa gerast. Zuerst ließ ihn das völlig kalt. Während sie mit ihm sprachen, war ihm aufgefallen, dass er weder Arme noch Beine bewegen konnte, und das hatte seine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag genommen. Doch dann hatte er angefangen nachzudenken und festgestellt, dass er sich an nichts erinnern konnte.

Nicht an den Unfall, nicht an den Tag des Unfalls, nicht an den Grund, weshalb er um elf Uhr abends auf der Casaglia unterwegs gewesen war, während seine Frau mit einer Freundin im Kino gesessen hatte. Dasselbe galt für zahllose andere Kleinigkeiten. Allen voran für die Bremsung.

Man hatte ihm gesagt, sein Auto sei bei einer jähen Vollbremsung von der Fahrbahn abgekommen, als hätte er einem Hindernis ausweichen wollen.

»Ein Tier«, hat er gedacht. Manchmal rennen die einem ganz plötzlich vors Auto und geraten unter die Räder. Doch da war nichts gewesen. Nur die Reifenspuren auf dem Asphalt, wie ein Echo von Etwas, das seinen Weg gekreuzt hat und im Nichts verschwunden ist.

»An was denken Sie, Doktor Ferrari?«, fragt eine Stimme rechts von ihm, und er wendet den Kopf.

Ferrari, genau. Michele Ferrari.

Und Doktor, denn er ist Diplomingenieur. Wenn man sich weder erinnert, was man gemacht hat, noch wer man ist, sind ein Name und ein Titel nicht viel wert. Aber sie sind ein Anfang.

»Dass ich gern in der Sonne lag«, flüstert er langsam. Wenn er sich reden hört, kommt er sich noch immer vor wie ein irrer Telefonstalker aus einem amerikanischen Horrorfilm.

Die Krankenschwester sieht ihn an und lächelt. Ihr Lächeln ist nett, nicht aufgesetzt.

»Es ist Zeit für Ihre Medizin und für die Therapie.«

Michele stützt sich auf die Ellenbogen. Vor drei Wochen war er noch nicht einmal in der Lage, den Kopf zu drehen. Dank der Physiotherapie kann er jetzt wieder gehen und sich bewegen. Allmählich erinnert sich sein Körper wieder, und das immer schneller.

Hoffentlich nimmt sich sein Gedächtnis ein Beispiel daran.

Er schluckt die rote Pille. Die Schwester hilft ihm beim Hinlegen. »Ihre Frau ist draußen, soll ich sie herholen?«

»Ja, danke.« Er legt den Kopf auf das Kissen.

Seine Frau. Mirella. Braunes Haar und sanfter Blick. Mirella, die ihn übermorgen wieder nach Hause holen wird. Und bei der er sich an etwas erinnern zu müssen glaubt. Etwas, das ihm ganz und gar nicht gefällt.

»Was glauben Sie, wie lange sie schon dort liegt?«, fragt links eine Stimme, und Kommissar Giovanni Marra dreht sich um.

Staatsanwalt Antonio Terzi steht neben ihm am Grubenrand. Er sieht nicht hinunter. Sein Blick geht woandershin, wie bei fast allen an diesem Punkt des Parco Talon, der sich bis zum Ufer des Reno hinabzieht. Nur Marras Aufmerksamkeit ist auf den Inhalt der Kuhle gerichtet. Seine und die der beiden Helfer, die mit dem Schippen fast fertig sind.

»Fragen Sie den Gerichtsmediziner. Er muss jeden Augenblick hier sein«, antwortet er, sieht wieder in die Grube hinab und wischt sich den Regen von der Stirn. Es regnet seit mindestens drei Stunden, und der anfängliche Wolkenbruch ist einer nicht enden wollenden Dusche kleiner, schneller Tropfen gewichen, die wie ein aus dem Takt gekommenes Metronom auf Staatsanwalt Terzis Anglerhut trommeln.

»Ich frage aber Sie. Sie werden doch irgendeine Vermutung haben.«

Natürlich hat er eine. Aber er will damit nicht herausrücken. Vielleicht weil er hofft, dass sie nicht zutrifft. Weil er Hüte und Mützen hasst und bis auf die Knochen durchnässt ist. Weil das, was die Erde dort freigibt, dermaßen absurd und zugleich so sonnenklar ist, dass sich Doktor Terzi seine eigene Meinung bilden soll.

»Sehr lange«, sagt er nur, ohne den Blick abzuwenden.

Einer der Helfer schafft einen großen Erdhaufen zur Seite. Quälend langsam stößt er den Spaten in den Schlamm. Sobald das Metall auf etwas trifft, hält er inne, hebt das Werkzeug und leert es. Dann fängt er von vorn an. Seit fast einer Stunde arbeiten die beiden so vor sich hin, mit geräuschlosen, harmonischen Bewegungen, als vollführten sie ein Ritual.

Dann hören sie plötzlich auf.

»Wir sind fertig, Signor Commissario.«

»Danke«, raunt Marra, tritt näher heran und hockt sich hin.

Die Erde wimmelt von Würmern. Die Leiche steckt in einem großen, durchsichtigen Plastiksack, der an zwei Seiten offen ist. Sie liegt auf der linken Seite, fast rücklings. Das Haar ist hell, womöglich blond. Es schaut an einer Seite des Sackes hervor, zusammen mit einer Hand. Die Hand ist emporgereckt, als wolle sie auf etwas zeigen. Das Fleisch ist grau wie ein Gewitterhimmel. Wie der Himmel heute. An vielen Stellen ist deutlich der blanke Knochen zu sehen. Alles andere ist unter dem verdreckten Kunststoff verborgen.

Es ist ein Kind.

Marra hat es sofort gesehen. Die kleinen Finger, das zarte Handgelenk. Die schmalen Schultern, die sich durch das blinde Plastik nur erahnen lassen.

Ein Kind. Vielleicht ein Mädchen. Das wird sich bei der Autopsie herausstellen.

Oder wenn das fehlende Stück gefunden wird.

Auch das hat er gleich gesehen. Als der plastikverhüllte Körper unterm Lehm allmählich zum Vorschein kam, war ihm sofort klar, dass er zu klein ist. Die Proportion zwischen der Hand und dem Rest ist beängstigend falsch.

Er dreht sich nach Terzi um. Jetzt sieht auch der in die Grube. Jemand nähert sich und weicht fluchend und hustend zurück. Der Geruch, der aus der Kuhle aufsteigt, erstickt alles andere. Selbst den Duft des Augustregens. Marra hebt den Kopf und sucht den Blick des Staatsanwalts, dem der Regen in silbernen Dolchen von der Krempe rinnt.

»Sie haben sie durchtrennt«, sagt er. »Kurz über dem Schambein. Das ist einfacher.«

»Die muss seit dem Frühjahr hier liegen.«

»Vielleicht auch länger.« Er verstummt und steht auf, den Blick auf die Leiche geheftet. Es herrscht eine unwirkliche Stille. Nur das entfernte Rauschen des Reno ist zu hören. »Wir müssen graben.«

Terzi nickt. »Es ist ein Mädchen.« Seine Worte klingen gedämpft, als trüge er eine Atemmaske.

Marra mustert die Haarsträhne, die aus dem Sack hervorlugt, die ausgestreckte Hand, die nach irgendetwas zu greifen scheint. »Es ist ein Mädchen«, wiederholt er, doch nur aus Instinkt.

Dann bemerkt er etwas. Es steckt im Schlamm, direkt unter dem Handgelenk. Er tritt näher.

»Giusti!«

Ein Beamter der Spurensicherung eilt herbei. Marra streckt den Finger aus.

»Sehen Sie das?«

Giusti sagt nichts. Er bückt sich und zieht eine Art Pinzette und einen Plastikbeutel hervor. Er sticht die Pinzette in den Schlamm und hält Marra schließlich den Beutel hin.

Ein Armband ist darin. Zwischen den Erdklumpen, die daran kleben, sind die Buchstaben einer Gravur zu erkennen: PaoVi ni.

»Verdammt«, wispert Marra. Einen ganzen Monat lang hat er dieses Armband gesehen, jeden Tag. Und mit ihm sämtliche Italiener, die die Verbrechensmeldungen verfolgen, und zwar die blutrünstigsten, die jeden Nachmittag im Fernsehen laufen. Er tritt auf Terzi zu.

»Paola Vigliani«, sagt er und zeigt ihm das Armband.

Dann geht er Richtung Schotterstraße davon, um wieder atmen zu können.

Der Anruf kommt gegen vier Uhr morgens.

Ich gehe ran, ohne den Namen auf dem Display zu lesen.

»Hallo«, krächze ich.

»Hallo«, erwidert sie. Es klingt wie eine Fahrt in der Achterbahn: das a leicht erhöht, das o fast entglitten, eine flüchtige Liebkosung.

Giulia.

Ich stütze mich auf die Ellenbogen, rücke das Telefon zurecht und versuche mich zu räuspern.

»Was verschafft mir die unverhoffte Ehre?«

»Habe ich dich geweckt?«

Sie überhört meine Frage. Wie immer, wenn sie nicht antworten will oder kann. Wenn ihre Worte zu viel von ihr preisgeben könnten.

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Kurz vor zwei«, flüstert sie.

Vor zwei Jahren hatte ich mich unter anderem wegen ihrer Art zu sprechen in sie verliebt. Heute, wo nichts mehr zwischen uns ist, bohrt sie sich lediglich wie ein Nagel in meine Kehle. Ganz langsam.

»Hier ist es vier.«

»Wieso, wo bist du denn?«

Sie hat sie einfach so hingeworfen, die Frage. Wie ein Bonbonpapier, das man fallen lässt und dabei hofft, dass es niemand sieht.

»In Kuwait City«, antworte ich.

Um sicherzugehen, schalte ich die Nachttischlampe ein und atme kurz den Geruch nach Neuem ein, der weltweit allen Zimmern großer Hotels zu eigen ist.

»Ach«, sagt sie nur.

Am liebsten würde ich sie fragen, weshalb sie mich nach sieben Monaten Funkstille anruft und ob sie weiß, weshalb ich hier bin. Ob sie weiß, dass ich, nur um ihr zu entkommen, in der größten Kloake der Erde gelandet bin und einen Freund wie ein weggeworfenes Streichholz habe sterben sehen.

Am liebsten würde ich sie noch ganz viele andere Dinge fragen, die ich irgendwo in meinem Kopf vergraben habe. Aber ich bin nicht schnell genug.

»Wie geht es dir?«

»Abdel ist tot.«

Ich sage es brüsk und ohne Vorwarnung. Um ihr wehzutun, denn immerhin kannte sie Abdel auch. Sie ist auch mit ihm essen gegangen, hat mit ihm gelacht, mit ihm rumgeflachst oder ihn plötzlich ganz ernst von seiner Heimat und seiner Arbeit reden hören. Jetzt soll sie gefälligst auch ihre Portion Schmerz abkriegen.

»Eine Autobombe«, fahre ich fort und hämmere die Worte in unsere Sprachlosigkeit. Und während ich ihr von Abdel erzähle, sehe ich den harten, grimmigen Gesichtsausdruck vor mir, mit dem sie einen ansieht, wenn sie Anteil nimmt.

Dass ich nur darauf gewartet hatte, dass etwas passiert, als die Autobombe hochgegangen ist.

Dass ich schon seit Tagen darauf gewartet hatte, dass etwas passiert.

Dass ich damit gerechnet hatte, dass dieser Drecksmercedes in die Luft fliegt, und dass sie stattdessen die Einzelteile der beiden Typen in zehn Meter Entfernung aufgesammelt haben.

Dass ich ihn fotografiert habe, als es passiert ist, und mit meiner Kamera den Augenblick eingefangen habe, als alles in die Luft flog, aber noch nicht den Mut hatte, es mir anzuschauen.

Dass er aussah wie ein Schnipsel Konfetti, das die Kinder zu Karneval in die Luft werfen, um den grauen Himmel bunt zu färben.

Dass ich, nachdem ich mich hochgerappelt hatte und über die Straße gelaufen bin, während mir die Kamera wie eine Faust gegen das Brustbein schlug, ihn sofort gesehen habe.

Dass ich einen Marine angebrüllt habe – fackjuässhole, habe ich ihm ins Gesicht geschrien –, weil er mich nicht vorbeilassen, nicht sehen, nicht hören wollte.

Dass alles voller Qualm war.

Dass, als ich mich über ihn beugte, er ein Auge geschlossen hatte, die Haut seines Gesichtes aussah wie ein zerfleddertes Buch und sein Haar unglaublich schwarz und glänzend war.

Dass ich meinen Blick einfach nicht von diesen Haaren losreißen konnte.

Dass er später in einem großen Aluminiumsack, aus dem nur der Kopf hervorschaute, ins italienische Rot-Kreuz-Krankenhaus gebracht wurde, das einzige, das in Bagdad auf schwere Verbrennungen spezialisiert ist. Und dass ich mir sicher bin, dass er mir zugelächelt hat.

Dass, als er mich gesehen hat und ich begriffen habe, dass er mir etwas sagen will, nur ein morphinbelegter Hauch zu hören war.

»Mach dieses Foto nicht, mach es nicht.«

Ich habe es nicht gemacht, aber er ist trotzdem sofort gestorben. Ohne ein Wort zu sagen bin ich vier Stunden später ins Flugzeug nach Kuwait City gestiegen. Und während sich der Tag langsam hinterm Horizont aus Wüstensand und Wolkenkratzern verkroch, habe ich gedacht, dass es nicht fair ist, ausgerechnet an diesem Tag so einen Sonnenuntergang geboten zu kriegen.

Das alles sage ich.

Ob zu ihr oder zu mir spielt keine Rolle mehr.

»Wie geht es dir?«, fragt sie noch einmal. Und für einen kurzen Moment erfüllt ihre Stimme wieder jeden Winkel meiner Welt.

Du glaubst, du hättest ihr endgültig den Rücken gekehrt, ihr den Platz einer harmlosen Erinnerung zugewiesen, da taucht sie plötzlich wieder auf. Eine SMS, irgendeine läppische Kleinigkeit, und schon kommt alles wieder hoch.

»Es geht«, sage ich, nachdem ich nach einer angemessenen Antwort auf ihre Frage gesucht habe. Und es stimmt.

In Wirklichkeit weiß ich selbst nicht so recht, was ich denke. Ich weiß nicht, ob ich froh bin, sie zu hören. Doch auch wenn ich sie nicht mehr will, weiß ich, dass ich sie hin und wieder brauche.

Das ist eines der wenigen Dinge, die mir klargeworden sind, als ich mich ein paar tausend Kilometer von ihr entfernt habe.

»Was hast du denn in Bagdad gemacht?«, fragt sie, doch ich habe keine Lust mehr zu antworten.

»Ich bin müde«, sage ich. »Entschuldige. Ciao.«

»Ciao, Nicola«, höre ich sie noch sagen, als ich auflege. Und für einen kurzen Moment fällt mir wieder ein, was für einen absurden Effekt es auf mich immer hatte, sie meinen Namen sagen zu hören.

Jedes Mal, wenn sie auftaucht, treffen ihre Worte mich wieder an einem Punkt, den nur sie zu erreichen und zu zerstören weiß.

Doch es dauert nur kurz. Sofort kommt mir das Foto wieder in den Sinn, das ich nicht gemacht habe und das ich noch lange sehen werde, jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, um ihnen eine Pause zu gönnen.

Als ich das Licht ausmache, kommt die SMS.

Melde dich, wenn du wieder in Italien bist.

Natürlich konnte sie mir das nicht vor einer Sekunde am Telefon sagen. Sie muss es mir schreiben.

Ich antworte nicht.

Samstag, 21. August 2004

»Können Sie sich inzwischen an etwas erinnern, Doktor Ferrari?«

Der Chefarzt Professor Righi sieht ihn an, und Michele versucht, ein freundliches Gesicht zu machen.

»Nein, noch immer nicht.«

Aber das stimmt nicht.

Superman wäre die richtige Antwort.

»Keine Sorge, früher oder später kommt alles wieder. Genau wie ihre Beweglichkeit.«

Gleiche Miene.

»Ja«, sagt er, doch das Einzige, woran er denken kann, ist Superman. Ein unterschwelliges Summen, das seine Gedanken begleitet. Ein Lichtstrahl im Dunkel der Erinnerungen.

Mirella sieht ihn an, streichelt seine Finger. Sie steht neben dem Bett und lauscht den Worten des Professors, als könnten sie sie vor dem Tode retten. Michele fährt ihr mit dem Daumen über den Handrücken. Nicht, weil ihm danach ist, sondern damit sie sich beruhigt und nach der Visite gleich wieder geht.

Er muss allein sein. Er muss nachdenken.

Über seinen Kopf, der sich anfühlt, als geriete er gleich ins Schleudern. Und über Superman. Er hat keine Ahnung, was es damit auf sich hat, doch es ist der erste Splitter, der aus dem Treibsand der Erinnerungen aufgetaucht ist und den er herausziehen muss, damit alles andere nachkommt.

»Sag mal, habe ich eigentlich Comics gelesen?«, hat er Mirella gestern während seiner Turnübungen gefragt. Seit Stunden schon war ihm diese Frage im Kopf herumgegangen, und er konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten.

»Nein«, hat sie geantwortet und ihn mit großen Augen angesehen wie einen Volltrottel.

Und jetzt, während Professor Righi etwas über seinen Muskeltonus erzählt, fragt er sich, ob sie weiß, was Superman zu bedeuten hat. Denn seit dieser Frage hat sie etwas Wachsames an sich. Sie hat sich sogar angewöhnt, sich an sein Bett zu stellen und seine Hand zu berühren. Und sie lächelt ihn öfter an.

Ein Lächeln, das sie wieder aussehen lässt wie mit zwanzig, als sie sich kennenlernten. Damals, als er mit seinem tollen Diplom in der Tasche der verhassten ingenieurwissenschaftlichen Fakultät der Uni Bologna den Rücken gekehrt hatte.

Zweiundzwanzig Jahre ist das nun her, und manchmal hat sie diesen Ausdruck heute noch. Dann fällt ihm wieder ein, weshalb er sein Leben mit ihr teilen wollte.

Ehe Superman kam.

»… doch Ihre Gymnastik werden Sie auch weiterhin machen müssen«, sagt der Professor, und Michele hat nicht den leisesten Schimmer, wie der erste Teil des Satzes lautete.

»Selbstverständlich«, antwortet er und würde ihn am liebsten anbrüllen, er solle verschwinden.

Er wird sich erst dann wieder lebendig fühlen, wenn er weiß, was passiert ist. Und dieses Wort, das ihm im Kopf herumschwirrt, ist das Erste, an das sich seine Hoffnung klammern kann. Er weiß zwar nicht, weshalb, doch er ist sich sicher, dass es etwas mit der Nacht des Unfalls zu tun hat. Vielleicht sogar mit dem Unfall selbst.

Er muss es herausfinden.

Gerade jetzt, da Mirella ihn ansieht und versucht, seine Gedanken zu lesen. Jetzt, da sein Verstand ihm sagt, dass sie sich Sorgen macht und fürchtet, es könnte ihm nicht gut gehen, derweil seine nimmermüden Gedanken ihm zuraunen, dass sie ihn nicht deshalb so sorgenvoll ansieht.

Sondern weil sie befürchtet, er könnte sich erinnern.

An Superman vielleicht.

»Bevor Sie morgen gehen, schaue ich noch einmal vorbei«, sagt Righi und hält ihm die Hand hin.

Diesmal kommt Micheles Lächeln von Herzen. Endlich kann er Mirellas Hand loslassen. In wenigen Augenblicken wird er wieder allein sein.

Allein mit seiner Angst.

Als ich im Pendolino von Rom nach Bologna aufwache, habe ich sofort das Parfum in der Nase.

Es muss Tommy für Männer sein. Dabei bin ich mir sicher, dass mir eine Frau gegenübersitzt. Vielleicht, weil ich ihre Haut herauszuriechen meine.

Ich höre die raschelnden Bewegungen eines bekleideten Körpers und habe das Gefühl, seine Wärme dicht an meinen Beinen zu spüren. Dann öffne ich die Augen und verkneife mir ein Lächeln.

Sie ist ungefähr so alt wie ich. Um die fünfunddreißig, schlank und zart. Ein rotes Herrenhemd schmiegt sich um ihre Schultern. Die obersten Knöpfe sind geöffnet und zeigen gebräunte Haut. Dazu ein kurzer, aber nicht zu kurzer dunkler Rock. Instinktiv überlege ich mir, wie viele Zentimeter kürzer er sein müsste, damit man ihren Slip sehen könnte. Sie ist in einen Krimi von Giampaolo Simi vertieft. Das braune Haar fällt ihr in die Stirn.

Schließlich hebt sie den Kopf und sieht mich an. Dunkle Augen, die sich in meine Gedanken graben. Zuerst wirkt sie ein wenig verstört, doch dann huscht ein Anflug von Erleichterung über ihr Gesicht.

Gern würde ich noch mehr herauslesen, doch sie lässt mir keine Chance. Wortlos sieht sie wieder in ihr Buch und bläst sich eine Haarsträhne aus den Augen. Ehe ich mich’s versehe, höre ich mich etwas sagen.

»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe.«

Offenbar ist sie die dämliche Anmache von Fremden gewohnt, denn sie schaut nur kurz auf.

»Wie bitte?«

Ihre Stimme ist weich und akzentfrei.

»Mein Anblick schien Sie zu enttäuschen.«

Sie lächelt. Ein Ausdruck, in dem alles Mögliche liegt. Sie wirkt verstört.

»Überhaupt nicht. Außerdem sitze ich Ihnen ja schon eine ganze Weile gegenüber.«

Sie scheint unschlüssig, ob sie das Buch zuklappen oder sich endlich der Lektüre hingeben soll. Jetzt kann ich auch ihren Blick besser deuten. Das, was wie Furcht aussah, könnte genauso gut Einsamkeit sein.

Einen Augenblick lang hängt sie dem Schweigen nach, den Finger zwischen die Seiten geklemmt. Sie scheint darauf zu warten, dass ich etwas sage.

Doch ich mache nichts.

Irgendwo zwei Reihen weiter klingelt ein Handy. Ich schaue kurz hin und sehe einen kleinen, dicklichen Kerl, der sich das Telefon ans Ohr drückt und sich umblickt. Als ich mich wieder umdrehe, ist sie erneut in ihr Buch vertieft.

Ich lehne mich zurück und sehe hinaus. Florenz liegt bereits ein Stück hinter uns, und die endlose Folge von Tunneln beginnt. Die Landschaft fliegt vorbei.

Ich muss eine Pause machen. Meine Gedanken zur Ruhe kommen lassen, versuchen, etwas zu verstehen. Lernen, eine Stufe nach der anderen zu nehmen, ohne zu stolpern.

Mir ist, als schlüge ich ständig hin. Wenn das Leben mir ein Bein stellt und meinen Kopf mit dem Fuß zermalmt, wie im Irak. Oder wenn ich nicht den Mut aufbringe, mit etwas zu brechen, das sowieso nur noch Erinnerung ist. Wie bei Giulia.

Ich hole tief Luft und schlage die Repubblica auf. Ich habe sie in Fiumicino am Kiosk gekauft, während oben auf der Terrasse ein blau uniformierter Polizist sein Maschinengewehr im Anschlag hielt. Nicht einmal durchgeblättert habe ich sie, so hundemüde war ich. Vieles von dem, was ich jetzt lese, bringt mich an den Ort zurück, den ich soeben verlassen habe. Vielleicht war es keine gute Idee, den Finger in noch blutende Erinnerungswunden zu stecken.

»Darf ich kurz mal hineinsehen?«

Ich hatte die junge Frau fast vergessen. Ich blicke sie an.

»In die Zeitung. Nur eine Sekunde.«

Ich falte sie zusammen und gebe sie ihr. Sie überblättert die ersten zwei Seiten. Dann bleibt ihre Aufmerksamkeit auf den beiden Folgeseiten hängen. Während sie liest, fährt der Zug in einen Tunnel, und als wir wieder herauskommen, gibt sie mir lächelnd die Zeitung zurück. Ich lege sie auf den Nebensitz.

»Was gefunden?«

»Nein. Ich hab ein Stellenangebot gesucht. Angeblich sollte es heute drin sein, aber das war wohl ein Irrtum.«

»Was machen Sie denn beruflich?«

»Ich bin Dolmetscherin. Wenn ich die Zeit dazu finde.«

Ich glotze sie an und bin dermaßen verlegen, dass mir nichts Besseres einfällt, als sie erneut anzulächeln. Ich fühle mich wie der Klassentrottel, der mit dem schönsten Mädchen der Schule im Aufzug stecken geblieben ist.

Schließlich befreit sie mich aus meiner peinlichen Lage.

»Und Sie?«

»Fotograf.«

»Hochzeiten, Firmungen, Kommunionen?«

»Nicht direkt. Zuletzt entferntes Ausland. Krieg vor allem.«

»Verzeihen Sie bitte. Ich wollte nicht …«

»Ich verzeihe Ihnen nur, wenn Sie mich duzen«, unterbreche ich sie und wundere mich über meine plötzliche Kühnheit.

»Wenn das alles ist, kein Problem. Ich heiße Sara.«

»Nicola.« Ich strecke ihr die Hand hin. Sie greift danach, ohne zu zögern.

Ich habe einmal gehört, der Charakter eines Menschen zeige sich an seinem Händedruck. Wenn das stimmt, dann ist Sara ein energischer Typ. Ihre Haut ist weich, die Finger schlank und gepflegt. Ich lasse sie nur ungern los und würde sie am liebsten streicheln. Nur, um etwas Lebendiges und Warmes zu spüren.

»Und weshalb Krieg?«

Ihr Gesichtsausdruck hat sich verändert. Als hätte sie mit unserer Berührung plötzlich beschlossen, dass sie mir vertrauen kann.

Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll, ohne von Giulia zu sprechen. Also erzähle ich ihr nur einen Teil der Wahrheit, doch das reicht nicht, um meine inneren Beweggründe zu erklären.

»Ich finde, mache Dinge muss man zeigen, wie sie sind.«

Sie steckt ein Lesezeichen zwischen die Buchseiten. Dann klappt sie es zu und legt es sich in den Schoß. Sie schlägt die Beine übereinander, und mir fällt auf, dass sie eine Tätowierung hat, direkt über dem Knöchel. Ein seltsames Motiv, das aussieht wie eine längs geteilte Sonne.

»Und ist dir das gelungen?«

»So halb und halb. Es gibt Dinge, die wollen die Leute partout nicht sehen. Und es gibt Leute, die glauben, es ist besser, sie nicht zu zeigen.«

»Du aber nicht.«

Das ist keine Frage.

»Nein. Ich nicht. Wie gesagt, manche Dinge gehören einfach erzählt. Man begreift nicht, was es bedeutet, wenn eine Bombe neben einem Krankenhaus runterkommt, solange man nicht zeigt, was vom Krankenhaus und seinen Insassen übrig geblieben ist. Oder was passiert, wenn sich jemand mitten in einer Menschenmenge in die Luft sprengt. Das kann man nicht begreifen. Weder was passiert, noch warum es passiert. Wenn man nur davon berichtet, ist das wie ein Film. Ein ganz schlechter allerdings.«

Eine ganze Weile sieht sie mich schweigend an. Sie greift nach einer Haarsträhne und lässt sie langsam durch die Finger gleiten.

»Die Menschen haben Angst und lassen die anderen dafür bezahlen«, sagt sie schließlich. Es ist fast ein Flüstern. Sie scheint zu etwas tief in sich drin zu sprechen.

Dann senkt sie den Blick und hängt einem fernen Gedanken nach, der den Ausdruck auf ihrem Gesicht fahl werden lässt. Am liebsten würde ich ihn fotografieren, diesen Ausdruck. Vielleicht würde ich dann verstehen, was ihn auslöst. Und welchen Geschmack sie auf der Zunge hat, wenn sie ihn kommen spürt.

Er dauert nur kurz. Und als er verschwunden ist, fährt sich Sara mit den Händen übers Gesicht und versucht zu lächeln.

»Das ist bestimmt kein Zuckerschlecken.«

»Vor allem muss man lernen, möglichst schnell zu kapieren, wen man vor sich hat.«

»Und was hast du bei mir kapiert?«

Meine Antwort kommt so schnell, dass mir fast scheint, ich hätte sie nur gedacht.

»Du wirkst traurig.«

Sie versucht überrascht zu tun.

»Traurig?«

»Ja.«

»Und weshalb?«

»Vielleicht entwickelt man durch das Fotografieren so ein Gespür.«

»Einen sechsten Sinn?«, fragt sie, und ihre Stimme klingt herausfordernd.

»Schon möglich. Oder vielleicht bekommt man einen Blick dafür, wie die Augen das Licht auffangen oder die Sonne widerspiegeln. So was in der Art.«

Wieder spielt sie mit einer Haarsträhne und dreht sie um den Finger.

»Und wie sieht es aus?«

»Bei deinen Augen?«

»Ja.«

»Als läge ein Schleier darüber. Als hättest du etwas davorgezogen, damit man nicht sieht, welche Farbe sie haben.«

Sie wickelt die Strähne noch fester um den Finger.

»Welche Farbe haben sie?«

»Ich weiß es nicht. Aber es kommt mir so vor, als würdest du glauben, ihre Farbe könnte schöner sein.«

Ohne zu antworten wirft sie mir einen flüchtigen Blick zu, den Kopf ein wenig nach links geneigt. Giulia machte es genauso, wenn sie sich nicht sicher war, ob ich sie gerade auf den Arm nahm oder nicht. Ich musste mich abwenden.

Die Tunnel liegen hinter uns, und allmählich drosselt der Pendolino das Tempo. Ich stehe auf. Plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis, mich zu bewegen, meine Sachen zu schnappen, wegzukommen. Vor der Tür zu warten, bis sie sich öffnet, wie ein Gefangener, der seine Strafe endlich abgesessen hat.

»Ich muss gehen«, sage ich und weiß nicht, wie meine Stimme klingt. Doch sie lächelt mir zu. Diesmal liegt keine Traurigkeit darin.

»Viel Glück, Nicola.«

Ohne sie anzusehen, hieve ich meine beiden Taschen herunter.

»Dir auch viel Glück.«

»Hoffentlich. Ich kann’s gut brauchen.«

Ich will etwas sagen, doch überlege ich es mir anders. Stattdessen setze ich das x-te dämliche Gesicht auf, drehe mich um und gehe den Gang zwischen den Sitzen hinauf.

Das Tageslicht vor dem Bahnhof ist zu stark und zu schön für das, was ich mit mir herumschleppe. Ich halte ein vorbeifahrendes Taxi an, sage dem Fahrer die Adresse und setze mich stumm und ohne auf die Straße zu sehen nach hinten.

Eine Weile lang hängt mir das Bild von Sara nach und vermischt sich mit Abdel, mit seinem Tod, mit dem, was ich weiß und nicht wissen sollte. Und mit Giulias Stimme, die sich überall einschleicht wie ein lästiger Ohrwurm.

Zu Hause angekommen, betrete ich das Dunkel meiner Wohnung. Ich stelle die Taschen im Flur ab, ziehe mich aus und lasse mich aufs Bett fallen. Dann schließe ich die Augen und falle in bleiernen Schlaf.

Die Sonne bedrängt ihn.

Sie dringt durch die geschlossenen Jalousien seines Büros, die die Hitze, den Sommer und diesen Augustnachmittag, an dem Bologna ihn abermals vergessen zu haben scheint, aussperren sollen.

Kommissar Giovanni Marra sitzt an seinem Schreibtisch und spielt mit dem Druckknopf eines Kugelschreibers, um der Stille nicht das Feld zu überlassen. Seit gestern lässt sie ihn nicht mehr los. Seit dem in Regen und Schlamm versunkenen Wäldchen.

Beklemmend wie die Augen von Paola Vigliani.

Wie die lachenden auf dem Foto, das in allen Zeitungen zu sehen war, auf dem das Sonnenlicht weiße Reflexe in ihr Haar malt.

Wie die blicklosen, weißlich überschlierten, die beim Öffnen des ersten Plastiksackes flüchtig zum Vorschein gekommen waren.

Den zweiten hatten sie wenig später gefunden. Es hatte gereicht, ein paar Meter rund um die erste Stelle zu graben. Die Beine des Mädchens lagen auf der Seite. Wie blasse Kartoffeltriebe staken sie aus der Erde und waren knapp unterhalb der Leiste abgetrennt. Den Rest, das Schambein, den Beckenknochen, den ganzen Ansatz der unteren Gliedmaßen, haben sie nicht gefunden.

Den gesamten Park haben sie auf den Kopf gestellt wie eine Schublade, in der man sein wertvollstes Schmuckstück vermutet.

Sie werden ihn nicht finden. Wer auch immer den Körper dieses elfjährigen Mädchens in drei Teile gehackt hat, wollte auf Nummer sicher gehen.

Bei einem Kind dieses Alters ist der Beckenknochen kaum breiter als zwanzig Zentimeter und nur unwesentlich höher.

Das hat ihm Doktor Giorgi heute Morgen erklärt.

Nachdem er die Autopsie durchgeführt hatte, soweit das überhaupt möglich war. Unter Umständen wurde sie unter Drogen gesetzt, ehe man sie umgebracht hat. Eine Schulter ist ausgerenkt, die Nasenscheidewand gebrochen, ein Knöchel verstaucht. Womöglich war sie gefesselt und ist ungefähr im Februar verscharrt worden. Der kalte Winter, der Märzschnee und der Sommer, der bereits Herbst ist, ehe er überhaupt richtig begonnen hat, haben dafür gesorgt, dass etwas übrig geblieben ist.

»Man hat ein großes Messer benutzt. Vielleicht ein kleines Beil«, hat Giorgi gesagt. »Eine gerade, glatte Klinge. Keine Sägen, keine Jagdmesser.«

Er hat versucht, sachlich zu bleiben, doch selbst durchs Telefon war seine Betroffenheit zu hören.

Marra hat seine Großmutter vor sich gesehen, wie sie mit einem kleinen Beil ein Kaninchen auf dem Küchentisch zerlegt. Sauberes Fleisch in einer Rose aus Knochensplittern. In dem Sack waren keine Knochensplitter gewesen. Und auch kein Blut. Nicht ein Tropfen. Nicht der winzigste Fleck. Wer auch immer diese Arbeit gemacht hat, er hat sie gründlich gemacht. Er hat die Leiche in Ruhe ausbluten lassen, sie gewaschen und von jeder Spur befreit.

Ohne Hast.

Nur etwas hat er übrig gelassen, das der Schlamm rein zufällig freigegeben hat. Etwas, das man der Mutter zurückgeben kann.

Er erinnert sich noch genau an Daniela Vigliani. Eine zierliche Frau mit venezianischem Tonfall, der in jedem Wort der in sämtlichen Nachrichten gezeigten drei Fernsehappelle mitschwang.

»Sie ist mein kleines Mädchen«, sagte sie immer wieder. Die Vokale erschienen wie zu hohe Stufen, auf denen der Atem schluchzend ins Stolpern geriet. Er sieht sie ganz deutlich vor sich. Ihren Mann, der schweigend ihre Schultern umfasst, während sie um jedes Wort ringt. Das Foto in der Hand. Die kleine Paola im Sonnenschein, mit diesem Lächeln.

Die kleine Paola, die er hingegen nie mehr anders vor sich sehen wird, denn als grauen, toten Klumpen, der in zwei Plastiksäcken in der Erde liegt.

Er steht auf, lehnt sich ans Fenster und sieht hinaus. Grell teilt die Sonne den Platz entzwei und zwingt einen, zu blinzeln. In der Ferne fährt ein Bus vorbei, das einzig reale Geräusch in der Stille, in der dieser Tag zu ersticken droht. Er dreht das Radio an. Ein alter Eagles-Song, der es auch nicht besser macht.

Unendlich müde setzt er sich wieder hin.

»Wer weiß, ob je einer begriffen hat, wie es in dir drin aussieht«, hatte Marzia ihm einmal gesagt. Er kann sich noch genau an den Tag erinnern. Ein Sonntag Mitte Januar.

Er hatte nicht geantwortet und bei sich gedacht, dass die Stadt, in die er zum Studium aus Rimini gekommen war und die er nicht mehr verlassen hatte, im Grunde genauso war wie er. Große Palazzi, mächtige rote, scheinbar unverwüstliche Ziegelsteine. Und darunter Wasser, das alles umspült, unsichtbar und lautlos. Als sollte es niemand bemerken, so entsetzlich schwach, wie es eigentlich ist. Hin und wieder taucht es auf, an einer Schleuse oder in einem vergessenen Kanal hinter einem Fenster, holt Luft und verschwindet wieder.

Wer weiß, ob Marzia begriffen hatte, wie es in ihm drin aussah. Ob ihr das wirklich gelungen war oder ob sie es nur so dahingesagt hatte. Ob sie ihn je betrogen hatte, ob sie jemals bereut hatte, ihn geheiratet zu haben, obwohl sie ihn kaum kannte. Ob ihr sein Leben gefiel. Und wieso sie ihm, als ein Auto sie auf der Via San Vitale überfuhr, noch nicht gesagt hatte, dass sie schwanger war.

Hätte er sie zum Untersuchungstermin begleitet, wäre das nicht passiert. Es war auch ein Mädchen. Heute wäre es neun Jahre alt. Manchmal versucht er, es sich vorzustellen. Manchmal träumt er sogar von ihm. Niemand hat je erfahren, dass Marzia ein Kind erwartete. Vielleicht ist es auch besser so, denn nur so kann er sich auf das konzentrieren, was ihm als Einziges geblieben ist.

Aufs Vergessen.

Marzia, seine Tochter, den Wunsch, wieder glücklich zu sein, der ihm die Kehle zuschnürt, die Sonntagnachmittage, das schlechte Gewissen, das ihn packt, wenn es ihm gelingt, wieder zu lachen und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Wenn er eine Frau in den Armen hält und ihre Haut schmeckt.

Alles vergessen, nur für einen Moment. Auch Paola Vigliani im Plastiksack.

Im Grunde macht er seit neun Jahren nichts anderes, auch wenn es keiner bemerkt. Hätte er diesen Pakt mit sich selbst nicht geschlossen, wäre er verrückt geworden. Doch jetzt scheint alles wieder auseinanderzubrechen, aufgerissen von den Fingern eines Mädchens, die aus der nassen Erde staken. Sein Körper in zwei Plastiksäcken. Der dritte Sack unauffindbar.

Um den Grund zu verbergen, weshalb jemand sie in der Erde verscharrt und vor den Augen der Welt versteckt hat.

Die Straße ist dünn wie Pergamentpapier.

Michele Ferrari geht darüber hin und hört, wie sie mit jedem Schritt reißt. Die Risse durchlaufen den Asphalt wie feine, mit den Jahren ergraute Äderchen.

Eigentlich müsste ihm diese zerbrechliche Oberfläche Angst machen. Angst, irgendwo hinabzustürzen, in eine Finsternis, die schwärzer ist als der mondlose Himmel über ihm.

Doch das schreckt ihn nicht.

Er hat Angst vor dem Monster.

Dort oben am Ende der Steigung, wo die Straße eine Kurve macht und in der Nacht verschwindet, wird es auftauchen. Er weiß es. Es wartet auf ihn. Er geht ihm entgegen. Ganz ohne Hast.

Sie sind verabredet.

Er weiß es von Anfang an, obwohl er diesen Traum zum ersten Mal träumt.

Und er weiß auch, dass er nicht ausweichen kann. Er kann es nicht umgehen. Er kann sich nicht auf die Straße legen und sich klein machen wie ein Marienkäfer. Wenn er es täte, würde die Erde ihn Stück für Stück verschlingen.

Die Erde ist hier für ihn und für das Monster.

Für Superman.

Von weither hört er ihn kommen.

Ein leises Zittern des Asphalts, der unter seinen Fußsohlen kitzelt. Es kommt und geht. Es kommt und geht, während sein Atem zu einem Segel im Sturm wird.

Er versucht stehenzubleiben. Genau auf der Mittellinie.

Jetzt ist er nicht mehr weit. Er hört ihn jenseits der Kurve, direkt hinter dieser falschen Mauer, die aussieht, als würde sie gleich einstürzen. Am Ende dieses Stücks Nacht, in dem sich die Bäume, der Hügel und weiter unten die ganze Stadt verbergen.

Niemand wird wissen, dass er dort ist. Nicht, ehe dieses Licht, das auf ihn zukommt, nicht direkt vor ihm ist. Und dann jenseits, sonst wo. Um andere wie ihn aufzusammeln.

»Von uns gibt es viele«, flüstert er.

Und das Auto taucht in der Kurve auf.

Er versucht sich zu rühren, die Füße zu heben, doch er schafft es nicht. Die Knie zu bewegen, zu drängen, zu treten, aber es geht nicht.

Er hat die Straße vergessen.

Und die Straße hat sich alles einverleibt.

Sie schmilzt unter ihm wie eine Praline in der Sonne und hält ihn fest. Sie umspült seine Knöchel, klammert sich an seine Füße.

Und das Auto kommt näher. Grau, glänzend. Schweres Blech, das kilometerschnell auf ihn zurast.

Es steuert auf die Fahrbahnmitte, die Reifen links und rechts der Linie.

Es schlingert, fängt sich wieder, nimmt ihn ins Visier, gibt Gas.

Es wird schneller.

Noch schneller.

Schneller.

Schneller.

Und Michele schreit.

Er schreit, als das Auto bremst und ebenfalls zu schreien anfängt. Ein Schrei, der ihm das Hirn von einem Ohr zum anderen durchschießt.

Dann versinkt alles in einem einzigen Knall.

Am Ende ist nur noch Dunkel.

»Mach die Augen auf.«

Ein Dunkel, so dünn wie die Straße.

»Hab keine Angst.«

Ein Dunkel, das anders ist als die Nacht. Weich. Salzig.

»Mach die Augen auf«, sagt jemand. Und Michele öffnet sie.

Er sitzt am Steuer. Ein langer Metallstab hat die zerborstene Windschutzscheibe durchstoßen, bohrt sich in seine rechte Schulter und nagelt ihn an den Sitz. Der Airbag ist explodiert, es riecht nach verschmortem Fleisch und verschmortem, geschmolzenem Plastik.

Seine Finger sind voller Blut.

Seine Lippen.

Alles ist voller Blut.

Und seine Augen sind schwer.

»Mach die Augen auf.«

Er versucht die Finger zu bewegen, den Kopf zu wenden, der schlaff an der Eisenstange lehnt. Doch er schafft es nicht. Es geht nicht. Er spürt seine Beine nicht. Er spürt seine Arme nicht. Er spürt seinen ganzen Körper nicht. Nur das kalte Metall im Fleisch.

Nur diese entsetzliche Müdigkeit.

Er schließt die Augen.

»Mach sie auf.«

Er ist da. Er weiß es.

Er hat kein Gesicht. Kein Aussehen. Keinen Körper.

Als hätte die Nacht Gestalt angenommen.

Seine Stimme ist zu dünn, um wirklich da zu sein.

»Tu mir nichts«, sagt er.

Dann wacht er auf.

Er sitzt auf dem Bett.

Der Spätnachmittag kriecht durch die heruntergelassenen Rollläden. Schweiß auf der Stirn. Der Rücken schmerzt. Er tastet nach einem Punkt zwischen den Schulterblättern. Der Schmerz lässt ihn fast aufschreien.

Ein Schmerz aus einem Traum.

Ein Schmerz, der mit einem anderen, viel unergründlicheren einhergeht.

Roberta wirft die Nudeln auf die Wage. Hundertzwanzig Gramm Rigatoni, auf die sie ihre ganze Aufmerksamkeit zu richten versucht.

Nebenan schläft Lisa.

Vor zehn Minuten hat sie das letzt Mal nach ihrer Tochter gesehen, die mit eng umschlungenen Knien daliegt, der verzweifelte Versuch, sich einen Panzer gegen alles und jeden zu schaffen.

Sie sieht nach dem Nudelwasser, öffnet eine Dose Thunfisch und nimmt mit der Gabel zwei Stücke heraus.

Lisa mag Nudeln mit Thunfisch. Also kocht sie sie. Damit ihre Tochter sich irgendwie zu Hause fühlt. Damit die Mauer, hinter der sie sich verschanzt hat, mit jedem Tag ein bisschen brüchiger wird. Granit, der zu Backstein wird, und eines Tages hoffentlich zu Staub.

Und dann zu Luft.

Luft, durch die wieder die Stimme ihrer Tochter klingt.

Seit sechs Monaten hat Lisa nicht mehr gesprochen.

Es war an einem merkwürdigen Februartag, mit einem Himmel so weißgrau wie Greisenhaar.

»Meine runde Kuschelmama«, hat sie gesagt und sie in die Wange gekniffen. Sie sagt das immer, um sie zu necken. Denn Roberta ist dünn, mit schmalen Schultern und zurückhaltendem Blick, der sich manchmal weit öffnet und der Welt kaum standzuhalten vermag.

»Meine runde Kuschelmama«, flüstert sie. Selbst jetzt meint sie es zu hören. Als geschähe es in diesem Moment.

Lisa hatte ein rotes Band im Haar, sie trug eine Jeans, die ihre Beine noch länger und dünner aussehen ließ. Zwei Stoffarmbändchen am rechten Handgelenk. Die Swatch, für die sie ihr letzte Weihnachten ewig in den Ohren gelegen hatte.

Und dieses lichtblaue Lächeln, das die ganze Welt zu umarmen schien und einen glauben machte, dass es sich in ihr noch zu leben lohnte.

»Schluss jetzt, raus mit dir. Sonst kommst du noch zu spät«, hatte Roberta mit dem gleichen Lächeln wie ihre Tochter gesagt und sich gefragt, ob sich ihre Mutter wohl auch so erschreckend deutlich in ihr gesehen hat, als sie dreizehn Jahre alt war.

»Ciao, Kuschelmama«, hatte Lisa gesagt und ihr einen schmatzenden Kuss auf die Stirn gedrückt. Dann war sie ausgestiegen, hatte die Autotür zugeschmissen und war mit einem vor Büchern berstenden Rucksack auf die Schule zu gerannt. Sie hatte ihr nachgesehen, bis sie hinter der großen Glastür verschwunden war.

Es war der zwölfte Februar.

An dem Tag war alles passiert. Ein Tag, der ihr jetzt, da die sinkende Sonne ein melancholisches Orange über Bolognas Dächer legt, unendlich weit weg erscheint. Ein Tag, den sie nie hinter sich gelassen hat.

Der zwölfte Februar.

Das Loch im Leben ihrer Tochter, die mit einem Lächeln davonging und nach zwölf ungewissen Stunden mit der Angst zurückkehrte. Sie sieht sie noch vor sich, wie sie an jenem Abend ausgesehen hat. Ein verletztes Tier, das mit geweiteten Augen verzweifelt nach Schutz sucht. Das sie ansieht, ohne ihre Kuschelmama zu erkennen; als wäre sie jemand, den sie zwar kennen müsste, an den sie sich aber nicht erinnert.

Das Wichtigste ist, dass ihr nichts passiert ist, hat sie sich später immer wieder gesagt. Das Wichtigste ist, dass sie ihr nichts getan haben, denkt sie jetzt wieder, während sie in den großen Badezimmerspiegel starrt und die Rigatoni in der Küche im Salzwasser schwimmen.

»Sie haben ihr nichts getan«, sagt sie. Sie weiß, dass das nicht stimmt.

Sie weiß, dass sie sich das nur deshalb jeden Tag aufs Neue einredet, um sich glauben zu machen, das Leben ginge weiter. Es ginge voran und könnte irgendwann wieder werden wie vorher.

Die wahren Verletzungen betreffen fast nie Haut und Fleisch. Vergeblich haben zahllose bemühte Ärzte den Körper ihres Kindes von außen und innen danach abgesucht.

Sie sind tief in ihr verborgen wie ein Wrack auf dem Meeresgrund. Versteckt im Dunkeln, vergraben in einem Winkel, in den niemand vordringen darf. Zum Verrotten verdammt, bis sie irgendwann an die Oberfläche steigen. Oder sie in die Tiefe ziehen.

Dennoch sagt sie sich diesen Satz immer wieder, wie ein Mantra. Um der Wirklichkeit etwas vorzugaukeln und zu glauben, alles könnte werden wie vorher. Man könnte weitermachen ohne die Erinnerung an jenes Grauen, das sich wie eine Klinge in ihr Herz gebohrt hat, kaum hatte sie ihr Kind gesehen. Barfuß, die Nase rotzverkrustet, die Augen tränenverklebt. Dieses Grauen, das nicht stattfand, da keiner ihr etwas angetan hat. Niemand hat ihre Tochter angerührt. Auch wenn jener zwölfte Februar ihre Kindheit beendet hat.

Sie beugt sich über das Waschbecken und spritzt sich beißend kaltes Wasser ins Gesicht, um die Tränen zurückzudrängen. Dann kehrt sie langsam in die Küche zurück und sieht nach den Nudeln. Mit einer brüsken, männlichen Handbewegung gießt sie sie ab, rührt die Soße unter und füllt die Teller. Dann schleicht sie in Lisas Zimmer.

An der Wand hängt ein Robbie-Williams-Poster. Darunter, auf dem von einem Sonnenstrahl entzwei geteilten hellblauen Laken liegt ihre Tochter, überwältigt von einem Alptraum, der ihr den Atem nimmt.

»Du lieber Gott, nicht schon wieder …«, raunt Roberta und setzt sich aufs Bett.

»Wecken Sie sie nicht. Oder wenn, dann nur ganz sanft«, hatte ihr ein Kinderpsychiater einmal gesagt, den sie vergeblich aufgesucht hatte, um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen.

Also weckt sie sie nicht. Sie sieht ihr zu, wie sie den Schatten der Vergangenheit zu widerstehen versucht. Zitternd, wie flatternde Flaggen am Strand, die Finger zu Klauen gekrümmt, die Halsmuskeln gespannt, den Kopf zurückgeworfen wie bei einem epileptischen Anfall.

Sacht streichelt sie ihr übers weiche, duftende Haar.

Sie versucht ihr etwas ins Ohr zu flüstern, kauert sich über Lisas langen, dünnen Körper, nimmt ihre Hand und will mit ihr fliehen, ganz weit weg. Wo nichts ihr mehr etwas anhaben kann.

»Ich bin ja da. Ich bin ja da, mein Liebling«, wiederholt sie immer wieder. Und ganz allmählich kehrt sie zurück. Die Hände öffnen sich, der Atem wird ruhiger, langsam strecken sich die Beine; ein Wasserspiegel, der sich nach einem Sturm wieder glättet.

Roberta setzt sich auf und sieht zu, wie ihre Tochter erwacht. Und sie fragt sich, welcher Schrecken sich von ihrem Schlaf nährt. Und was an jenem verfluchten Tag versucht hat, sich sie und ihr Leben einzuverleiben.

Ich erwache aus einem Traum, an den ich mich nicht erinnere, und versinke in Stille.

Rücklings aufs Bett gestreckt, beobachte ich die orangegelben Lichtflecken, die der Nachmittag an die Decke malt. Ich versuche mir vorzustellen, was draußen gerade los ist und merke, dass es mir scheißegal ist.

Alles ist gleichgültig geworden. Erst jetzt, wo ich wieder zu Hause bin und vor einem vorbeifliegenden Hubschrauber oder einem Fußgänger auf der Straße keine Angst mehr haben muss, wird mir das bewusst. Jetzt, wo ich mich endlich darüber wundern dürfte, liefe einer mit einer Pistole oder einem Gewehr durch die Gegend, jetzt, wo ich einfach ins Bad spazieren, den Wasserhahn aufdrehen und so lange duschen kann, wie ich will.

Zusammen mit Abdels Leben hat diese Autobombe auch all die lächerlichen farbigen Brillen fortgerissen, die ich mir aufgesetzt hatte, um alles positiv sehen zu können.

Ich stehe auf und ziehe den Rollladen hoch, stütze die Ellenbogen auf die Fensterbank und sehe hinaus. Der Asphaltstreifen der Via Saragozza zehn Meter unter mir sieht aus wie ein schmaler, menschenleerer Strom. Im Sommer vergisst Bologna alles und lässt dich fallen wie eine Geliebte, die die Nase voll von dir hat.

Draußen ist es fast Abend. Ich gehe vom Fenster weg, einen siedenden Schweißfilm auf der Haut. Ich schalte den Fernseher an, drehe eine Runde durch die Wohnung, öffne die Jalousien, stoße die Fenster auf und lasse ein wenig Licht herein.

Schluss mit dem Dunkel. Schluss mit der Trübsal, verdammt noch mal. Ich stelle mich unter die Dusche und lausche reglos dem Geräusch des Wassers, das mir die Glieder massiert. Dann trockne ich mich hastig ab und gehe ins Wohnzimmer.

In den Regionalnachrichten läuft etwas, das ich nicht verstehe, das mich aber dennoch aufhorchen lässt. Gebannt starre ich auf den Bildschirm.

Man sieht eine Bologneser Vorortstraße, möglicherweise im Mazzini-Viertel, wo ich als Kind gewohnt habe. Die Stimme des Berichterstatters erzählt von jemandem, der von der Nachbarin gefunden wurde. Den ganzen Tag über habe sie die Wohnungstür offenstehen sehen, doch nichts sei zu hören gewesen. Also ist sie hineingegangen und hat die Leiche gefunden.

Jetzt zeigen sie sie. Sie liegt auf einer Krankentrage, die von zwei Sanitätern weggebracht wird. Ein Fußknöchel lugt unter dem Leichentuch hervor, und einen Moment lang meine ich etwas zu sehen, das ich nicht sehen will. Ein seltsames Symbol, das wie eine längs geteilte Sonne aussieht. Dann nimmt das Foto den gesamten Bildschirm ein.