Schweig still - Mikaela Sandberg - E-Book

Schweig still E-Book

Mikaela Sandberg

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Als die 14-jährige Nelli Larsson auf der Polizeiwache im schwedischen Ystad erscheint, ist sie verwirrt, leicht angetrunken und völlig am Ende. Sie meldet ihre Mutter Stina als vermisst, die sie kurz zuvor in einer großen Blutlache in der heimischen Küche gefunden hat. Kommissarin Hannah Lundqvist nimmt gemeinsam mit ihrem Kollegen Gunnar Nyberg sofort die Ermittlungen auf. Bald schon finden die beiden heraus, dass Stina Larsson sich verfolgt gefühlt hat, ja sogar vor einem Stalker nach Ystad geflohen war. Ist der Mann wieder da und hat Stina entführt? Die Polizisten fischen in einem Sumpf aus Lügen, nichts ist, wie es scheint. Und dann ist plötzlich auch Nelli verschwunden …

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Die AutorinMikaela Sandberg ist das Pseudonym von Michaela Stadelmann. Sie schreibt seit 2007 unter verschiedenen Pseudonymen Romane in unterschiedlichen Genres. Von ihr sind u.a. zwei erfolgreiche Ballettroman-Serien erschienen. Seit 2016 ist die gebürtige Niederrheinerin mit transsilvanischen Wurzeln und Zertifikat als geprüfte psychologische Beraterin freie Lektorin und Autorin. Der Roman Schweig still ist ihr erster Krimi als Mikaela Sandberg.

Das BuchAls die 14-jährige Nelli Larsson auf der Polizeiwache im schwedischen Ystad erscheint, ist sie verwirrt, leicht angetrunken und völlig am Ende. Sie meldet ihre Mutter Stina als vermisst, die sie kurz zuvor in einer großen Blutlache in der heimischen Küche gefunden hat. Kommissarin Hannah Lundqvist nimmt gemeinsam mit ihrem Kollegen Gunnar Nyberg sofort die Ermittlungen auf. Bald schon finden die beiden heraus, dass Stina Larsson sich verfolgt gefühlt hat, ja sogar vor einem Stalker nach Ystad geflohen war. Ist der Mann wieder da und hat Stina entführt? Die Polizisten fischen in einem Sumpf aus Lügen, nichts ist, wie es scheint. Und dann ist plötzlich auch Nelli verschwunden …

Mikaela Sandberg

Schweig still

Ein Schweden-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight. Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95819-089-4  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

1

Nelli

»Ein Samstag ohne Alkohol ist sinnlos«, hat Anka mal gesagt. Heute wäre ich trotzdem lieber ohne Bierfahne hergekommen, und normalerweise meide ich diese Ecke auch. Aber weil ich so bin, wie ich bin, stehe ich an diesem nebeligen Samstagmorgen wieder vor dem Polizeirevier.

Allein. Übermüdet. Tot im Kopf.

Ich habe Schwierigkeiten, halbwegs gerade die Treppe hinaufzugehen und die Schwingtür aufzuschieben. Das blöde Ding hat mich mal böse am Kopf erwischt. Ich hasse es, daran erinnert zu werden. Ich war definitiv schon zu oft hier. Als ob ich kein Zuhause hätte!

Irgendwie überwinde ich die Strecke vom Eingang zum Empfangsschalter. Hier drin besteht die Welt aus dem Geruch nach altem Linoleum und dem Schweiß der übermüdeten Männer im Wartebereich. Sie tragen alle schwarze Trainingsjacken mit den charakteristischen Streifen. Anscheinend haben sie an die Runde Wodka eine Tracht Prügel angehängt … Noch kann ich umkehren. Doch Mamas Stimme, die unaufhörlich in meinem Kopf dröhnt, hält mich zurück. Immer wieder höre ich ihre letzten Worte, bevor …

Meine Gedanken versinken in Watte.

»Ich muss mit jemandem reden.« Ungeschickt stütze ich mich am Schalter ab. Die Polizistin hinter dem Sicherheitsglas mustert mich.

»Es ist dringend«, nuschele ich.

»Hallo, Nelli«, sagt die Polizistin.

Verdammt, sie kennt mich! Aber mir fällt ihr Name nicht ein. »Wirklich dringend«, wiederhole ich, um nicht darüber nachdenken zu müssen. »Können Sie Inspektor Hansson …«

»Er ist im Urlaub.« Ihre klare Stimme schneidet mir das Wort ab. »Soll ich deine Mutter anrufen?«

Ich starre sie an. Genau da liegt das Problem. Ob ich ihr das irgendwie verklickern kann?

»Ich muss erst mit jemandem sprechen«, flüstere ich matt. »Bitte.«

Wenn sie mich jetzt nach Hause schickt, dann … Krampfhaft würge ich den aufsteigenden Kloß hinunter. Befriedigt stelle ich fest, dass die Polizistin mit einem Schlag sehr gerade auf ihrem Stuhl sitzt. Wäre ja noch schöner, wenn ich ihr vor den Empfangsschalter kotze! Aber ich behalte alles bei mir, auch weil die Russen auf den Plastikstühlen zu mir herüberstarren.

Ohne hinzuschauen, greift sie nach dem Telefonhörer. Der frisch gestärkte Ärmel ihres hellgrauen Hemdes raschelt leise. »Setz dich, ich rufe einen Kollegen.«

»Geht auch eine Frau?«, rutscht es mir heraus.

Für einen Moment verschwimmen die Gesichtszüge der Polizistin. »Ich frage mal nach.«

Aufatmen. Das wäre geschafft.

Ich schlurfe in den Wartebereich und lasse mich auf den Stuhl in der Ecke fallen. Nein, das ist nicht mein Stammplatz, obwohl wahrscheinlich nicht mehr viel dazu fehlt. Hier sitze ich am weitesten von den Russen entfernt, die mich auch in den folgenden Minuten nicht aus den Augen lassen. Ich ziehe mir die Kapuze tief ins Gesicht und hoffe, dass ich bald hier herauskomme.

Das Telefon in der Glaskabine klingelt mindestens tausendmal, aber die Polizistin lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Parallel erstatten mehrere besorgte Bürger Anzeige wegen des Diebstahls ihrer Mülltonnen. So ist das in Südschweden: Alles läuft in geordneten Bahnen, niemand wird vergessen, die Polizei hat alles im Blick.

Fast alles. Sonst wäre ich ja nicht hier.

Ich stemme die Beine in den Boden, um nicht von dem glatten Plastikstuhl zu rutschen, und fixiere meine Schuhe, die aussehen, als wären sie mit einer Sprühdose zusammengestoßen. Sind sie in gewisser Hinsicht auch, weil Anka und ich etwas gegen Konformität haben. Da hilft manchmal eben nur Sprühlack.

Von den pinken Klecksen bekomme ich Kopfschmerzen und starre den mickrigen Gummibaum auf dem staubigen Schemel an. Ihm geht es zwischen so viel Staatsmacht richtig dreckig. Wer immer diese bedauernswerte Topfpflanze in den Warteraum des Polizeipräsidiums gestellt hat, muss ein Pflanzenhasser sein.

Meine Finger tanzen auf meinen Oberschenkeln herum. Nach einer Weile ziehe ich mein Handy aus der Innentasche meiner abgewetzten Lederjacke – und stecke es wieder ein. Momentan kann ich nicht mal jemanden anrufen. Mir wird abwechselnd heiß und kalt, was die Bierdunstglocke verstärkt, die mich einhüllt. Und dann bleibt mir nichts anderes übrig, als ein Papiertaschentuch aus meiner verdreckten Jeans zu zerren und hineinzuheulen. Endlich schaut der erste Russe weg, dann gibt es auch für die anderen plötzlich nichts Interessanteres als die Info-Poster der schwedischen Luftwaffe. Ein weinendes Mädchen halten wahrscheinlich nicht mal die härtesten Russen aus. Sie an meiner Stelle hätten auch geheult, wenn sie vierzehn wären, polizeibekannt und seit ein paar Stunden …

Nein.

Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken.

Kurz darauf werde ich von einem Polizisten aufgefordert, ihm in den hinteren Bereich des Präsidiums zu folgen. Und dann sitze ich mitten in einem Großraumbüro vor dem Schreibtisch einer jungen Kommissarin. Sie klemmt sich die schwarzen Haare hinter die Ohren und grinst mich an, als wäre ich eine Dreijährige, die man mit einem Lächeln für sich gewinnen kann. Aber solche billigen Tricks funktionieren bei mir nicht! Gibt es so was wie Feindschaft auf den ersten Blick?

»Du bist also Nelli.« Scheinbar gedankenverloren schiebt sie zwei Blatt Papier von links nach rechts. Kommissar Hansson hat das anfangs auch gemacht, bis ich ihm gesteckt habe, dass er sich die Psychospielchen sparen kann.

»Ich bin Hanna. Wo brennt’s denn?«

Erst jetzt merke ich, dass nur die untere Hälfte ihres Gesichts lächelt; ihre dunklen Augen mustern mich mit einer Mischung aus Professionalität und Desinteresse. Für sie bin ich lediglich ein weiterer Fall, der die Hälfte seines Lebens nur mit staatlicher Fürsorge bewältigen kann. Ja, die Augen sind echt wichtig, sie verraten dich, wenn du es nicht ehrlich meinst! Deshalb nehme ich ihr die Show mit der netten Tante auch nicht ab.

»Frau Hanna«, sage ich in der Hoffnung, dass meine Zunge mitspielt. »Ich …«

Sie unterbricht mich: »Nur Hanna.« Ihre Mundwinkel schießen nach oben.

Aha – wir nennen uns beim Vornamen und sind sofort dicke Freunde. Ich könnte heulen vor Wut, dass sie mich nicht ernst nimmt, aber den Gefallen tue ich ihr nicht!

»Ich bin wegen meiner Mutter hier.« Fast hätte ich »Mama« gesagt. »Sie ist – sie ist nicht zu Hause. Ich meine …«

Hanna runzelt die Stirn, ohne dass sie ihr falsches Lächeln aufgibt. Eine Portion Botox wäre jetzt nett, damit sie endlich die Kontrolle über ihr Grinsen verliert!

»Ich war über Nacht bei einer Freundin. Als ich heute Morgen nach Hause gekommen bin«, meine Worte schmecken bitterer als Galle, »war sie nicht da. Meine Mutter, meine ich.« Meine Stimme wackelt.

Hanna nickt, scheinbar verständnisvoll.

Wieder rauscht ein Moment vorbei, in dem ich aufspringen und wegrennen will. Wenn Kommissar Hansson nickt, dann kann ich sicher sein, dass er alles bedacht hat, was er über uns weiß, vor allem über mich. Aber diese junge Möchtegernkommissarin hat kein Recht, mein Leben einfach so abzunicken!

Hanna beugt sich vor. »Wollte deine Mutter vielleicht …«

Plötzlich fällt der Ton aus. Der Bildausschnitt verengt sich auf das Gesicht der Kommissarin, die etwas von Einkaufen und Wochenendurlaub plappert. Mein Gott, sie hat wirklich keine Ahnung! Kann sie ja auch nicht, sie war genauso wenig anwesend wie ich, als …

Das Großraumbüro fängt an, sich zu drehen, ich muss mich am Schreibtisch festhalten. Anscheinend verschlechtert sich meine körperliche Performance, denn Hanna springt auf, zwei Schatten kommen von irgendwoher auf mich zu, dann starre ich in Hannas Mund, der sich unaufhörlich über mir bewegt.

»…n Ordnung? Nelli?«

Jemand hat den Ton wieder aufgedreht. Ich sitze immer noch auf dem Besucherstuhl. Einer der beiden Schatten hält mich fest, damit ich nicht vom Stuhl kippe, der andere ist eine auffallend blonde Frau. Sie drückt mir ein Glas Wasser in die Hand. Zitternd trinke ich.

»Wann ist Kommissar Hansson wieder da?«, frage ich schwach.

»Er kommt erst morgen wieder«, sagt Hanna. Sie ist angespannt wie ein Bogen kurz vor dem Schuss. »Du kannst mir auch sagen, was du auf dem Herzen hast, Nelli.« Plötzlich schimmern Sternchen in ihren Augen. Ihr Lächeln hat die magische Grenze des Jochbeins überschritten. Ich habe das irre Gefühl, dass ich ihr vertrauen kann, obwohl sie mich nicht kennt.

Mein Mund öffnet sich, doch im selben Moment wird mir klar, dass ich das Wort nicht über die Lippen bringen werde. Wenn Mama weggeht, lässt sie normalerweise einen Zettel auf dem Küchentisch, aber da war keiner. Bloß ein riesiger, dunkelroter, metallisch riechender See aus …

»Blut«, stoße ich hervor. »In der Küche. Auf dem Fußboden.«

Alarmiert richtet Hanna sich auf. »Was sagst du?«

Heftiges Zittern überkommt mich. »Alles ist kaputt«, würge ich heraus. »Überall Chaos.« Meine Arme schlingen sich um meinen Körper, als wollte ich mich eigenhändig erdrosseln. Die Geräusche um mich herum schwellen an, Hanna nickt der Kollegin mit dem Wasserglas zu, die so plötzlich verschwindet, wie sie gekommen ist.

»Ein Einbruch?«, fragt Hanna.

Ich zucke mit den Schultern. Das will ich gar nicht so genau wissen.

Der Polizist lässt mich los, Sätze fliegen hin und her, jemand nennt meine Adresse. Ich will aufstehen, weil ich glaube, dass sie mich nach Hause bringen werden. Aber meine Knie geben nach und ich komme nicht von diesem verdammten Stuhl hoch.

»Nelli!«

Ich merke erst, als ich hochschaue, dass ich die ganze Zeit auf meine Finger gestarrt habe.

Hannas Augen sehen dunkler aus als vorhin. »Du hast deine Mutter also nicht angetroffen, als du nach Hause gekommen bist?«

Ich nicke verstört. »Ich war nur im Flur und in der Küche. Vielleicht ist sie in einem anderen Zimmer, aber das – Blut …«

Hanna nickt jemandem hinter meinem Rücken zu, noch einmal entsteht Unruhe. »Wir fahren«, sagt eine Stimme.

Wieder droht das Licht auszugehen. Ich konzentriere mich auf einen Kratzer in der Tischplatte, um nicht nach vorn zu kippen. Ich weiß genau, dass ich etwas vergessen habe, etwas, das Hanna unbedingt wissen muss. Aber ich weiß nicht mehr, was es war, obwohl Mama es mir gestern Abend eingetrichtert hat: »Vergiss … nicht!«

Genau. Vergiss nicht. Aber was?

»In der Küche ist Blut, sagst du?« Hannas Stimme klingt so sanft.

Ich nicke. Das Bild des dunkelroten Sees verblasst, ein neuer Gedanke tritt in den Vordergrund. »Wir hatten Streit«, murmele ich. »Gestern.«

»Wann genau?« Das ist die Stimme des Polizisten.

»Abends. Bevor ich zu meiner Freundin gegangen bin.« Jetzt flüstere ich nur noch.

»War deine Mutter nach eurem Streit in Ordnung?« Hannas Stimme trieft plötzlich vor Verständnis, und damit verpufft die Sympathie, die ich gerade für sie entwickele. Trotzdem wage ich nicht, etwas Aufmüpfiges zu sagen oder zu lügen, denn das Blut, das leere Haus, das Durcheinander sind schon schwer genug zu begreifen.

Ich murmele: »Nein.« Und noch bevor ich das Wort ausgesprochen habe, weiß ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Meine mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung bröckelt. Mama war wirklich nicht in Ordnung. Sie war wegen dieses blöden Streits genauso fertig wie ich, so dass sie mit mir geweint hat, und weil ich sie einfach allein lassen wollte. Heute Morgen hätte ich mich entschuldigt, weil es mir leid tut und – weil in der Nacht etwas geschehen ist. Aber sie war nicht zu Hause, war in diesem Augenblick vielleicht noch viel schlimmer nicht »in Ordnung«, wie Hanna es nennt, und wenn ich ihren Blick nur ein bisschen zu deuten versuche …

»Habt ihr heftig gestritten?«, schießt sie die nächste Frage auf mich ab. Ich beiße mir auf die Lippen.

»Sind dabei Dinge passiert, die dir … leidtun?«

Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich presse die Zunge gegen den Gaumen.

Hannas Blick wandert hinunter zu meinen Händen, fährt über meine Kleidung, sucht in meinem Gesicht nach Anzeichen, dass ich vielleicht doch mehr über das Blut in der Küche weiß. Ich habe Mama nicht angefasst, bevor ich gegangen bin, denke ich, kein einziges Mal!

Als nichts weiter passiert, riskiere ich einen Blick zu Hanna hinüber. Zwischen ihren Augenbrauen steht eine tiefe Falte. Sie will ihre Empfindungen mit den Schlussfolgerungen über den Menschen in Einklang bringen, der vor ihr sitzt: Nelli, vierzehn, alkoholisiert, vermisst nach einem heftigen Streit ihre Mutter, von der bis auf eine Blutlache keine Spur zu finden ist. Eigentlich liegt es doch glasklar auf der Hand, dass nur eines geschehen sein kann. Etwas, das so schrecklich ist, dass ich mich einfach nicht mehr daran erinnern will … Doch Hanna rührt sich nicht, bis nach quälend langen Minuten ihr Tischtelefon klingelt. Sie nimmt den Hörer ab, lauscht, brummt etwas, legt wieder auf.

»Nelli, die Kollegen sind in eurem Haus. Deine Mutter ist nicht da, wie du gesagt hast.« Hanna seufzt energisch. »Kann gestern außer dir noch jemand bei deiner Mutter gewesen sein, nachdem du weg warst?«

Plötzlich klopft mein Herz so heftig, dass mir die Luft wegbleibt. »Keine Ahnung.«

»Hat deine Mutter vielleicht Besuch erwartet?« Hannas Stimme bekommt etwas Drängendes.

Ich schüttele verzagt den Kopf.

Hanna fährt sich durch die Haare. Sollte ich sie jemals gemocht haben, habe ich mich wohl für kurze Zeit in ein Paralleluniversum verirrt. Jetzt hebt sie den Kopf und schaut mich prüfend an. »Nelli …«

Ich ahne, dass es gleich richtig schlimm wird, aber ich sitze einfach nur da. Ich kann ja doch nichts ändern.

»Vielleicht ist alles ganz harmlos und du bist bald zu Hause bei deiner Mutter.« Wieder ein langer Blick. »Um auf Nummer sicher zu gehen, werde ich ein Spezialteam in euer Haus schicken, um nach dem Blut zu sehen.« Hanna hält kurz die Luft an, als hätte sie ihren Text vergessen. »Wir müssen deine Fingerabdrücke und eine Speichelprobe von dir nehmen.«

Etwas in mir erstarrt.

»Das ist reine Formsache«, fährt Hanna hastig fort. Ihre raue Hand tätschelt meinen Arm.

Reine Formsache, echoe ich. Meine Nackenmuskeln werden so steif, dass ich ein Stöhnen unterdrücken muss. Red du nur, Kommissarin Hanna. Ich weiß ganz genau, was du damit sagen willst: Du glaubst, dass ich dir etwas verheimliche. Du glaubst …

Das Zittern kommt und geht so schnell, dass die kleinen Härchen auf meinen Armen keine Gelegenheit haben, sich aufzurichten. Verzweifelt sinke ich gegen die Stuhllehne, die Stimmen und Farben um mich herum verblassen. Erschrocken stelle ich fest, dass ich die unausgesprochene Frage nicht eindeutig mit »ja« oder »nein« beantworten kann.

Habe ich Mama auf dem Gewissen?

2

»Hallo, Björn, hier ist Hanna.«

»Du klingst so genervt.« Kommissar Hansson lachte fast ein bisschen.

Kein Wunder, ich war ja auch fast zwei Wochen allein im Dienst! Hanna schluckte die scharfe Erwiderung lieber hinunter. »Nelli Larsson ist mal wieder hier.«

»Hm.« Björns Brummen wurde von fernem Rauschen begleitet. »Ist das ein Problem für dich?«

Hannas Antwort kam hastig: »Nein.«

»Also ja«, gab Björn zurück. »Hanna, nicht alle Jugendlichen sind wie …«

»Ja, schon gut«, unterbrach sie ihn barsch. »Wie schnell kannst du hier sein?«

Sekunden verstrichen. Durch den Telefonhörer hörte Hanna den fernen Autobahnverkehr. Björns älteste Tochter brüllte etwas, ihre Geschwister antworteten mit grölendem Gelächter. Noch ein paar Jahre, dann sind auch sie Teenager, dachte Hanna bitter. Schade.

»Wir stehen gerade an der Raststätte Partille bei Göteborg«, sagte Björn so ruhig wie möglich. »Mein Navi behauptet, dass zwischen hier und euch schlappe 350 Kilometer liegen. Allerdings legen wir heute Nachmittag noch einen Zwischenstopp bei den Schwiegereltern ein. Wenn alles gut geht, bin ich am frühen Abend zu Hause, dann noch eine halbe Stunde ausladen, damit Linda mich nicht in der Luft …«

»Ja, schon gut!« Wütend landete Hannas Faust auf ihrem Oberschenkel. Morgen würde dort ein blauer Fleck zu sehen sein. Der Klumpen in ihrem Magen wuchs.

»Lennard könnte dir auch helfen«, schlug Björn vor.

»Er ist krankgeschrieben.«

»Ach, Hanna.« Björn schniefte. »Du machst mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten. In einer Stunde ist Nelli wieder zu Hause und …«

»Ihre Mutter ist verschwunden«, unterbrach sie ihn barsch. »Es sieht schlecht aus.«

»Moment mal.« Knistern im Hörer. Björn sagte etwas zu seinen Kindern, die neben ihm spielten. Zwei, drei Atemzüge zischten in Hannas Ohr, ehe er weitersprach: »Was heißt das?«

Hanna schloss die Augen und gönnte sich einen Moment der Erleichterung. Endlich nahm ihr Kollege sie ernst! »Das heißt, dass Nelli Larsson heute Morgen mit einer Fahne von hier bis Kiruna auf der Matte stand und behauptete, dass ihre Mutter verschwunden sei. Die untere Etage des Hauses ist verwüstet, in der Küche hat das Team Blutspuren gefunden. Und jetzt rate mal, wer Stina Larsson zuletzt lebend gesehen hat.«

Wie erwartet fiel Björns Erwiderung knapp aus: »Oh.«

»Danke für deine Unterstützung«, fauchte Hanna.

»Hanna, jetzt hör mir mal zu.« Das leise »Danke« galt seiner Frau, bevor er etwas schlürfte, wahrscheinlich Kaffee. »Du bist Polizistin! Ich weiß, es ist schwer, in solchen Fällen die Ruhe zu bewahren, aber du musst deine Gefühle unter Kontrolle bringen.«

Manchmal kam es Hanna so vor, als bekämen Chefs zum Amtsantritt einen Textbausteinkasten mit Motivationssätzen ausgehändigt, die sie ihren Untergebenen um die Ohren hauen mussten, um sie wieder auf Linie zu bringen. »Du hast sicher schon Nellis Fingerabdrücke genommen«, fuhr Björn fort.

»Ja, und eine Speichelprobe habe ich auch schon, und die Spurensicherung krempelt demnächst das Haus um«, schnappte Hanna. »Ich bin keine Anfängerin! Es macht mich nur fertig, dass vielleicht schon wieder ein Jugendlicher einen Elternteil …« Sie verstummte. Wie damals konnte sie förmlich spüren, wie ihr ganzer Körper vor Entsetzen taub wurde … Worte wurden zu Bildern: Ein schmächtiger Junge zappte sich auf einer abgewetzten Wohnzimmercouch gelangweilt durchs Nachmittagsprogramm. Auf dem Teppich: eine eingetrocknete Spur, die ins Schlafzimmer führt. Im Doppelbett: ein Mann, eine Frau, blutrot, tot. Erschlagen von ihrem eigenen Sohn. Als seine Eltern zufällig herausbekamen, dass er seine Drogensucht mit Gefälligkeiten für ältere Herren finanzierte, war er durchgedreht.

»Dann hol Lennard aus dem Krankenurlaub und gib den Fall ab«, schlug Björn vor. »Und am besten besorgst du dir gleich einen Termin beim Polizeipsychologen.«

Björns Stimme tat gut, half ihr jedoch nicht, ruhig zu werden. »Du weißt, dass sie mich dann kaltstellen!«

»Könnte sein.« Beim nächsten Schluck Kaffee ließ Björn sich besonders viel Zeit, bis er ihn endlich hinunterschluckte. Am liebsten hätte Hanna ihn so laut angebrüllt, dass ihm in Partille das Handy aus der Hand fiel. »Gibt es denn konkrete Hinweise, dass Nelli es getan haben könnte?«, fragte er.

»Nein«, musste Hanna zugeben. »Aber sie hat Gedächtnislücken, was die letzten zwölf Stunden angeht. Oder sie verheimlicht uns etwas.« Und wenn ich herauskriege, dass sie ihre Mutter angefasst hat, fügte sie stumm hinzu, stehe ich im Handumdrehen vor dem Haftrichter, weil ich Nelli verprügelt habe …? Ich muss mich zusammenreißen, dachte Hanna verbissen.

Wieder dankte Björn seiner Frau, diesmal für ein belegtes Brot. »Versetz dich mal in ihre Lage.« Knirschend biss er hinein, kaute, schluckte unendlich langsam. »Sie hat wegen der Sauferei Dauerstress mit ihrer Mutter. Dazu kommt die Liebe, die ein Kind für die Mutter empfindet …«

»Bleib mir weg mit dem Sozialgesülze!«, fuhr Hanna ihn an. »Ich habe schon verstanden, dass du dich da nicht einmischst.«

»Na, na, na!«, tadelte Björn mit vollem Mund. »Wenn du keinen Rat von mir willst, stör mich auch nicht im Urlaub, ja? – Also. Wäre ich in Nellis Haut, würde ich wegen einer Kleinigkeit ausrasten, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob ich meine Mutter hassen oder lieben soll. Wahrscheinlich täte ich beides.«

»Würdest du deine Mutter auch erschlagen?«, fragte Hanna lauernd.

Es dauerte einen weiteren Bissen, bis Björn antwortete: »Nein. Vielleicht unglücklich schubsen. Aber nicht vorsätzlich töten.«

»Hab dich!«, brüllte eine Kinderstimme in Partille.

»So komme ich nicht weiter«, murmelte Hanna. »Aber danke für deine Unterstützung. Kann ich dich unterwegs anrufen?«

»Klar, jederzeit.« Björn gab sich unerschütterlich. »Wo ist Nelli jetzt?«

»Im Besprechungsraum. Sie frühstückt.«

»Na, dann hast du die Sache doch im Griff«, brummte er.

»Irrtum. Ich will ihren Energiehaushalt auf Vordermann bringen, damit sie uns ein bisschen mehr erzählt und mir die Arbeit erleichtert.« Unzufriedenheit ist heute mein zweiter Vorname, dachte Hanna.

»Wer von den Kollegen hat Dienst?«, fragte Björn beiläufig.

»Gunnar kommt heute aus dem Urlaub zurück.«

»Wunderbar. Halt mich einfach telefonisch auf dem Laufenden. Und, Hanna …«

Sie konnte Björn direkt vor sich an der gemütlichen Sitzgruppe im Grünen sehen, wie er sich von seiner Familie abwandte und mit der Hand das Mobiltelefon abschirmte, damit nicht jeder hörte, was er sagte.

»Besorg dir am Montag sofort einen Termin bei Dr. Berg. Die Göteborg-Sache scheint dich ja immer noch ziemlich fertigzumachen.«

Wütend riss Hanna das Fenster auf und lehnte sich hinaus, sie brauchte unbedingt frische Luft. Ja, sie fühlte sich mit Nelli überfordert! Aber musste Björn ihr das so direkt unter die Nase reiben? Ihr Blick blieb an der Küstenlinie hängen. Der Frühnebel hatte sich verzogen, das Meer gab sich heute freundlich. Später kam vielleicht die Sonne heraus. War es nicht herrlich, an diesem Ort fest verankert zu sein? Nein, beschloss Hanna, heute nicht, morgen vielleicht wieder.

»Okay«, sagte sie beherrscht. »Gibt es noch etwas, das ich über Nelli wissen muss?«

»Schau in ihrer Akte nach. Bis bald.« Es knackte im Hörer, Björn hatte das Gespräch beendet. Er hatte anscheinend genauso wenig Lust auf diesen Fall wie Hanna. Wer konnte es ihm verübeln?

Natürlich, die Akte, wie konnte ich die vergessen, dachte Hanna bitter. Da sich vor allem Hansson um Nelli kümmerte, kannte sie das Drama hauptsächlich vom Hörensagen. Während sie sich das Handy ans Ohr presste, um Gunnar telefonisch dazu zu bewegen, seinen Dienst früher anzutreten, suchte sie den Hefter aus Hanssons Schreibtischablage. Lustlos blätterte sie in den Aufzeichnungen über Mutter und Tochter Larsson: Das erste Mal war Nelli mit dreizehn in Malmö aufgegriffen worden, weil sie nach zwei Bier einen Verkäufer in einem Laden angepöbelt hatte. Es folgten kleinere Diebstähle. Vor einem halben Jahr war sie mit ihrer Mutter von Malmö nach Ystad gezogen. Die Mutter war Ballettlehrerin an einer Tanzschule. Hanna runzelte die Stirn. Reichte das, um aus einem Teenager einen Verbrecher zu machen?

Es wurde Zeit, nach Nelli zu schauen, beschloss Hanna. Vielleicht hatte Björn recht, Stina Larsson tauchte irgendwann von alleine wieder auf und sie konnte sich den Rest des Tages hinter ihrem Schreibtisch verkriechen.

Energisch riss Hanna die Tür zu dem kleinen Besprechungsraum auf. Es entging ihr nicht, dass Nelli zusammenzuckte. Von dem Croissant, das sie sich gewünscht hatte, waren nur noch Krümel auf ihrem Pullover übrig. Feuchte Kreise, Abdrücke der Teetasse, umgaben ihren Teller wie eine unregelmäßige Korona.

»Wie geht’s?« Hanna nickte der Kollegin zu, die bis jetzt bei Nelli gewesen war, ließ sich auf den Stuhl fallen und beugte sich über den Tisch, um so wenig Distanz wie möglich zwischen sich und Nelli zu lassen. Mit direkter Konfrontation kam man bei solchen Klienten am weitesten.

»Besser«, murmelte Nelli. »Wissen Sie schon was?«

War die Sorge in ihrer Stimme echt? Alles nur Schauspielerei, beschloss Hanna. »Nein«, antwortete sie kühl. »Aber vielleicht kannst du mir ja noch etwas Neues erzählen. Zum Beispiel, was damals in Malmö los war.«

Schuldbewusst senkte Nelli den Kopf. »Sie meinen die Diebstähle.«

»Zum Beispiel«, setzte Hanna nach. »Waren die gestern Abend auch ein Thema?«

Nelli zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Dazu steht doch sicher was in meiner Akte.« Sie blickte zu dem Hefter, den Hanna an den äußersten Rand des Tisches gelegt hatte.

»Erzähl du es mir noch mal. Ich bin kein guter Morgenleser.« Hanna verzog den Mund zu etwas, das nicht mal sie für ein Lächeln hielt.

Nellis Hände zitterten, als sie das Geschirr zur Seite schob, die Krümel vorsichtig zu einem Häufchen zusammenstrich und die Hände vor sich auf den Tisch legte. Hanna konnte ein beifälliges Nicken nicht unterdrücken. Das war schon mal ein guter Anfang, um reinen Tisch zu machen.

»Das war doch nur, weil …« Nelli schloss die Augen. »Ich wollte auch mal wieder wichtig sein.«

»Das hat ja auch funktioniert, nachdem die Kollegen eingegriffen haben«, stellte Hanna fest.

Nelli blitzte sie an. »Manchmal braucht man einfach Hilfe von höherer Stelle.«

Sprach so jemand, dem die Konsequenzen seines Handelns egal waren? Hanna hob auffordernd die Augenbrauen.

»Ich hab das Zeug gar nicht gebraucht. Nagellack, Abdeckpuder – Blödsinn«, fuhr Nelli fort.

»Das ist eher was für Künstler wie deine Mutter«, stimmte Hanna zu. »Hast du auch Ballettunterricht?«

»Weil meine Mutter Tanzlehrerin ist, meinen Sie?« Nelli schüttelte den Kopf. Ihre Worte kamen erstaunlich klar dafür, dass sie vor einer halben Stunde noch völlig außer sich gewesen war. Auch von ihrem Rausch merkte man nichts mehr. Nur noch der süßliche Biergeruch hing in ihren Kleidern. »Nicht, dass ich es nicht toll fände, auf der Bühne zu stehen. Ich bin einfach nicht der grazile Typ. Das habe ich Mama auch gesagt.«

Hannas Blick wurde starr. »Und sonst so? Wie lief es zu Hause nach der Sache mit der Schminke?«

Ganz langsam atmete Nelli aus. »Wie wohl? Schlecht. Ist ja auch nicht gerade schön, wenn das einzige Kind so einen Bockmist macht.«

Es scheint ihr tatsächlich leidzutun, überlegte Hanna. »Warum hast du dann weitergemacht, nachdem ihr umgezogen seid?«

Wieder begannen Nellis Finger mit dem unruhigen Tanz auf der Tischplatte. Mit einem Ruck hob sie den Kopf. Angestrengt starrte sie aus dem Fenster. »Druckausgleich oder so.«

»Und der Umzug, hat der etwas mit deinem Verhalten zu tun?« Hannas Worte schienen die Luft für einen Moment in Schwingung zu versetzen.

Nellis Lider zuckten. Sie war auf der Hut. »Meinen Sie den Alkohol?«, fragte sie bedächtig.

»Auch.« Gespannt wartete Hanna auf ein weiteres verräterisches Zucken, Lachen, Tränen.

»Sicher«, murmelte Nelli. Ihr Blick fixierte das erste schüchterne Funkeln des Meeres.

In Hanna begann etwas zu kribbeln. Nelli kam ein bisschen schmuddelig rüber, aber den verwahrlosten Teenager konnte sie ihr seltsamerweise nicht abnehmen. »Deine Mutter war eine angesehene Lehrerin in Malmö. Dein Verhalten muss für sie ein ziemlicher Schlag gewesen sein. Ist sie deshalb mit dir in die Provinz gezogen?«

Nelli nickte. »Ich habe ihren Ruf ruiniert. Absichtlich.«

Dieses Geständnis kam für Hannas Geschmack zu schnell. Ihre Hand landete auf Nellis Arm. »Ach, komm. Du liebst deine Mutter doch! Du machst nicht ohne Not ihre Karriere kaputt.«

Nelli schwieg.

So kam sie also auch nicht weiter. »Deine Mutter verschwindet«, begann Hanna behutsam. »Zurück bleibt ein See aus Blut.« Sie hoffte, dass dieser Vorstoß Nelli zusammenbrechen lassen würde, falls sie wirklich …

Die Tür wurde aufgeschoben. Eine Polizistin kam schweigend herein, reichte Hanna einen Zettel und verschwand wieder. Verärgert las Hanna den Ausdruck. »Du hast noch 0,3 Promille Alkohol im Blut. Wie viele Bierchen waren das?«

»Zu viele«, gab Nelli zu.

»Wie viele genau?«

»Weiß ich nicht mehr. Vielleicht drei, vier.«

»Wann hast du die getrunken?«

»Gestern Abend, heute Nacht. Mit meiner Freundin Anka.«

»Wann genau bist du zu Anka gegangen?«

»Keine Ahnung. Gegen acht oder neun Uhr am Abend.«

»Nach dem Streit mit deiner Mutter?«

Nelli nickte.

Das Kribbeln wurde unerträglich. Hanna wollte nicht mit Fingerspitzengefühl vorgehen, sondern Nelli schonungslos mit der Wahrheit konfrontieren. Mit Gnade kam man ihrer Meinung nach hier nicht weiter. »Hast du damit das Gefühl ertränkt«, sie tat, als müsse sie die nächsten Worte mit Vorsicht wählen, »Schuld am Zustand deiner Mutter zu tragen?«

Nelli hob beunruhigt den Kopf. »Welchen Zustand meinen Sie?« Anscheinend hatte sie wirklich keine Ahnung. Einen Moment fühlte Hanna sich unsicher. Vergaloppierte sie sich gerade mit ihrer Meinung, dass Nelli ihre Mutter erschlagen haben könnte?

»Nun, ihr Verschwinden, ihr Kummer, die Blutlache«, sagte Hanna.

Endlich schien Nelli zu verstehen. »Sie meinen, ich habe meine Mutter so hart geschlagen, dass sie schwer verletzt ist. Oder tot.« Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Ich habe meine Mutter nicht … Warum denn?«

»Weil du lieber in Malmö bei deinen Freunden geblieben wärst«, schlug Hanna vor. »Weil du sie und das Ballett beschissen findest. Weil du in ihrem Leben keine große Rolle spielst.«

»Sie haben doch ein Rad ab«, murmelte Nelli. »Meine Mutter hat sich immer um mich gekümmert.«

»Und warum sitzt du dann hier?«

»Weil sie weg ist und ich nicht weiß, ob sie …« Nellis Mund klappte zu.

Hanna holte tief Luft. »Also gut, Nelli. Du verheimlichst mir etwas, so viel ist klar. Ich werde die Kollegen in Malmö anrufen. In der Zeit kannst du dir ja mal Gedanken darüber machen, ob du wirklich nicht weißt, wo deine Mutter ist und was mit ihr passiert ist. In Ordnung?«

Kraftlos sank Nelli auf dem Stuhl zurück.

Hanna erhob sich. »Wer kümmert sich eigentlich sonst um dich, wenn deine Mutter beschäftigt ist?«

»Entweder bin ich bei meiner Freundin Anka oder Greta Blom. Sie ist Mamas Chefin.«

»Anka ist die Freundin, zu der du nach dem Streit gegangen bist?«, schlussfolgerte Hanna. »Na, prima, dann kann sie sicher bestätigen, dass du bei ihr warst. Bei wem kannst du bleiben, bis deine Mutter wieder aufgetaucht ist?« Sie hatte die Klinke schon in der Hand.

Ratlos zuckte Nelli mit den Schultern.

»Was ist mit Greta Blom?«, schlug Hanna vor.

»Sie ist eine blöde Ziege«, wehrte Nelli ab.

»Und deine Freundin Anka?«, bohrte Hanna weiter.

Stumm schüttelte Nelli den Kopf.

»Dann werde ich gleich mal die Fürsorge anrufen.« Mit einem Ruck zog Hanna die Tür auf.

Nelli seufzte. »Ich gebe Ihnen Gretas Nummer.«

Braves Mädchen, dachte Hanna zufrieden. Das wurde sicher ein kurzes Vergnügen. Erst als sie die Nummer der Polizei in Malmö wählte, wunderte sie sich, dass Nelli nicht darauf bestanden hatte, zu ihrer Freundin Anka zu gehen.

3

Energisch schaltete Hanna in den nächsten Gang. Die Strecke zur Regementsgatan hätte sie auch laufen können, aber wenn etwas Unvorhergesehenes geschah und es deshalb schneller gehen musste, war sie auf das Auto angewiesen. Sie nahm sich vor, spätestens am Nachmittag in der ungewöhnlich milden Julisonne zu Fuß zum Strand zu spazieren, um dort im Café einen Espresso zu trinken, vielleicht sogar mit Gunnar … Selbstvergessen zog sie die Sonnenbrille aus der Ablage und steckte sie sich in die Haare.

Chronischer Personalmangel machte auch der Polizei in der Kreisstadt zu schaffen. Der Kollege in Malmö, der den Fall Nelli Larsson betreut hatte, würde hoffentlich im Laufe der nächsten Stunde zurückrufen. Ihr Gefühl riet ihr, so schnell wie möglich einen Blick in das Larssonsche Haus zu werfen. Vielleicht war das alles doch nur eine Lappalie.

Ein Streifenwagen parkte an der von Einzelhäusern gesäumten Kreuzung von Regementsgatan und Mariagatan. Obwohl es erst kurz nach zehn war und die Bewohner samstags um diese Zeit ihre Wochenendeinkäufe erledigten, mussten die beiden Streifenpolizisten bereits die ersten Passanten weiterwinken. Teils fasziniert, teils angewidert ließ Hanna das Fenster herunter und blieb noch einen Augenblick im Auto sitzen.

Die blonde Jenny trug ihr Polizistenschiffchen heute wieder besonders keck, was eine ältere Dame mit ausgesucht feiner Kleidung nicht im Mindesten beeindruckte: »Aber erlauben Sie mal! Die Polizei in unserer Straße, da kann doch etwas nicht stimmen!«

»Ich muss Sie trotzdem bitten, weiterzugehen«, wies Jenny sie mit Nachdruck an. Neugierig reckte die Frau den frisch frisierten Kopf, um einen Blick durch die geöffnete Haustür zu werfen. Als hätte Jenny nichts bemerkt, richtete sie sich auf und machte sich so breit es ging, bis die Frau entnervt aufgab. Hanna war beeindruckt.

»Na, alles im Griff?« Sie warf die Autotür ins Schloss und schlenderte zum Haus hinüber.

Grüßend legte Jenny die Hand an die Mütze. »Alles im Griff. Peer wartet drin.« Sie beugte ich vor. »Die Spurensicherung kommt gleich. Sie werden Jan Persson mitbringen.«

In gespielter Verzweiflung verdrehte Hanna die Augen. »Warum ausgerechnet der?«

Unbeeindruckt hielt Jenny ihr einen Beutel hin. »Er war frei und begeistert von der Idee, vom heimischen Mittagstisch wegzukommen.«

»Ich hoffe für uns alle, dass er etwas findet, sonst ärgert er sich trotzdem.« Den Beutel mit der Schutzkleidung ignorierend, sprang Hanna die Stufen hinauf. Sie kam nicht weit.

»Stopp.« Plötzlich stand Peer Wikström auf der obersten Stufe des Reihenhauses und schob Hanna wieder hinunter. Er trug bereits einen weißen Papieroverall. »Da drin sieht es aus wie nach einem Schlachtfest.« Mit unbewegtem Gesicht deutete er hinter sich.

»Hast du die Mutter entdeckt?«, fragte Hanna vorsichtig. Wieder breitete sich das Kribbeln in ihr aus.

»Nein.« Peer holte tief Luft. »Jedenfalls soweit ich sehen und riechen konnte.«

Angeekelt wandte Jenny sich ab.

Entschlossen streifte Hanna den Schutzanzug und die Plastikfüßlinge über. Persson würde sie so oder so angiften, dass sie vor ihm das Haus betreten hatte. Er hasste es, dass sie sich als Kommissarin vor ihm ein Bild vom Tatort machen durfte, bevor er von der Spurensicherung verändert wurde.

Angetan wie die Anführerin eines Seuchenkommandos, betrat sie knisternd den engen Windfang. Die dunkelbraunen Handabdrücke an den Wänden waren nicht zu übersehen. Sie zogen sich durch den Flur bis in die Küche. Vorsichtig holte Hanna durch den Mund Luft, um den metallischen Geruch auszublenden, der mit jedem Schritt stärker wurde. »Wie sieht es in der Küche aus?«

Peer zuckte mit den Schultern. »Nicht schön. Weiter als bis hier war ich auch nicht. Mein Magen …«

»Ja, ja, schon gut.« Hanna winkte ab. Vorsichtig drückte sie gegen die Küchentür, die einen Spalt offen stand. Sie schwang auf.

Es war, wie Nelli gesagt hatte: Ein See oder vielmehr eine größere Pfütze aus Blut trocknete auf den angeschlagenen Fliesen. Über den Boden liefen braune Abdrücke von verschiedenen Schuhprofilen. An Wänden und Möbeln überlagerten sich verschmierte Handabdrücke.

Hanna schluckte und setzte einen Fuß in die Küche. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie einige der Abdrücke, die auf den ersten Blick nicht zu passen schienen: Das eher schmale Handpaar war eindeutig weiblich, daneben waren breite, eckige Umrisse zu sehen. Hanna erinnerte sich an Nellis schlanke Hände, konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass die derberen von ihrer Mutter stammten. Eine Tanzlehrerin mit Händen wie Bratpfannen?

Vorsichtig, um nicht die Spuren auf dem Boden zu beschädigen, ging sie zum Tisch hinüber. Noch mehr Finger und Handteller waren auf der Tischplatte zu sehen. Sehr interessant. Veranstaltete Stina Larsson etwa Painting Happenings mit Eigenblut? Kein Wunder, dass die Tochter durchdrehte.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Hanna die Spuren, die sich lediglich auf einer Tischhälfte verteilten. Sie beugte sich tiefer über den Tisch. Doch der eisenhaltige Geruch stieg ihr unaufhaltsam in die Nase, obwohl sie immer noch durch den Mund atmete.. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte sie es hier erneut mit dem grazilen Handpaar und einem dritten Abdruck zu tun, eher regelmäßig geformt, nicht verwischt, als ob jemand alle Zeit der Welt gehabt hätte, ihn hier zu platzieren.

»Gruselig.« Langsam richtete sie sich auf und schaute sich um. Behutsam sog sie die Luft durch die Nase ein, drehte sich einmal um sich selbst – die Geruchsintensität veränderte sich nicht. Falls dieses Haus einen Keller hatte, konnte dort auch noch eine unangenehme Überraschung auf sie warten.