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Ein Serienmörder, wie es ihn noch nie gab – ein Meisterwerk der Schweden-Spannung Ein brutaler Serienmörder hinterlässt rätselhafte Hieroglyphen. Das Land steht Kopf. Als eine populäre True-Crime-Podcasterin in den Fall verwickelt wird, geraten die Ermittler unter unerbittlichen Druck. In Malmö wird eine Leiche mit einem Krokodilkopf gefunden. Der frisch verwitwete Kommissar Jon Nordh und seine strafversetzte Kollegin Svea Karhuu stehen vor einem Rätsel. Als es weitere Tote gibt, wird klar, dass sie es mit einem Serientäter zu tun haben, der seine Opfer als altägyptische Gottheiten inszeniert und verschlüsselte Nachrichten hinterlässt. Die Öffentlichkeit gerät in Panik. Eine undurchsichtige True-Crime-Podcasterin steigert den Druck und weiß plötzlich mehr als die Ermittler. Dann verschwindet ein junges Mädchen – und die Ereignisse überschlagen sich … »Das Autoren-Ehepaar, ein Norddeutscher und eine Südschwedin, hat seinen Platz im Konzert der großen schwedischen Krimiautoren gefunden.« Hessischer Rundfunk
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Seitenzahl: 571
Veröffentlichungsjahr: 2025
Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson
Ein Fall für Svea Karhuu und Jon Nordh
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Titelseite
Über Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Roman Voosen, 1973 in Rheinhausen geboren, wuchs im emsländischen Papenburg auf. In Bremen studierte er Kunstgeschichte und Germanistik. Er arbeitete als Rettungssanitäter, Ersatzteilsortierer, Altenpfleger, Barkeeper, Musikjournalist und Lehrer. Er lebt und arbeitet als Autor in Berg/Schweden. Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson sind seit 2013 miteinander verheiratet.
Kerstin Signe Danielsson, geboren 1983 in Växjö, verbrachte ihre Kindheit im tiefen småländischen Wald. Mit 19 ging sie nach Hamburg und studierte Geschichte und Germanistik. Nachdem sie unzählige Male zwischen Hamburg, Göteborg und Växjö hin- und hergezogen ist, lebt sie jetzt in Berg/Schweden. Sie arbeitet als Autorin und Lehrerin.
zur Kurzübersicht
In Malmö wird eine Leiche mit einem Krokodilkopf gefunden. Der frisch verwitwete Kommissar Jon Nordh und seine strafversetzte Kollegin Svea Karhuu stehen vor einem Rätsel. Nachdem es weitere Tote gibt, wird klar, dass sie es mit einem Serientäter zu tun haben, der seine Opfer als altägyptische Gottheiten inszeniert und verschlüsselte Nachrichten hinterlässt. Eine undurchsichtige Journalistin zerrt Nordh und Karhuu ins Fadenkreuz der Öffentlichkeit. Als ein Mädchen entführt wird, beginnt ein dramatisches Spiel auf Zeit, das das ungleiche Ermittlerduo in eine archaische Mythenwelt, zu einer jahrzehntealten Schiffskatastrophe und in Pinochets Chile führt.
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: buxdesign I Lisa Höfner
ISBN978-3-462-31304-8
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Motti
Insel Tjörn, schwedische Westküste, Nacht auf den 18. Januar 1980
Schweden, heute
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Colonia Dignidad, Chile, September 1973
Schweden, heute
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Colonia Dignidad, Chile, Januar 1974
Schweden, heute
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Chile, 1979
Schweden, heute
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Auf See, 1983
Schweden, heute
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
Port Said, Ägypten 1985
Schweden, heute
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
Ägypten 1985
Schweden, heute
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
Ägypten 1985
Schweden, heute
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
81. Kapitel
Ägypten 1985
Schweden, heute
82. Kapitel
83. Kapitel
84. Kapitel
85. Kapitel
86. Kapitel
Schwedische Westküste, neun Tage zuvor
»To realize that all your life – you know, all your love, all your hate, all your memory, all your pain – it was all the same thing. It was all the same dream. A dream that you had inside a locked room. A dream about being a real person. And like a lot of dreams, there’s a monster at the end of it.«
Rust Cohle, »True Detective«
»Für das Herz ist das Leben einfach: Es schlägt, solange es kann. Dann stoppt es.«
Karl Ove Knausgård, »Sterben«
»If you want to find all the cops, they’re hanging out in the donut shop.«
The Bangles, »Walk like an Egytian«
Als der Lotse an Bord ging, war er in keiner Weise beunruhigt, denn es gab keinen Grund dafür. Die »Star Clipper« war ein Frachter wie jeder andere, die Passage durch den Sund bis zum Hafen von Uddevalla kannte er in- und auswendig, die technischen Instrumente funktionierten einwandfrei, das Wasser war bis auf vereinzelte kleine Eisschollen spiegelglatt, die Sicht im Licht der Scheinwerfer war gut, auch wenn zwischen den Klippen zu beiden Seiten hoch über der Schiffsbrücke Nebelbänke waberten. Alles an der winterlichen Nachtfahrt war Routine. Jeder Handgriff saß, jede Kursjustierung war eine Selbstverständlichkeit. Die »Star Clipper« glitt gemächlich auf die Almöbrücke zu, die sich in einem hohen Bogen über den Sund spannte. Die Fahrrinne unter der fast dreihundert Meter langen Brücke beschrieb eine S-Kurve, zuerst backbord, dann steuerbord, aber auch dieses Manöver war unkompliziert und nichts deutete auf irgendwelche Probleme hin.
Bis zu dem Moment, an dem die Ruderanlage plötzlich blockierte.
Die Situation kippte von einem Augenblick auf den nächsten. Der Lotse, der Kapitän und der Steuermann warfen sich zuerst erstaunte, dann hektische, schließlich panische Blicke zu. Es folgten verzweifelte Handgriffe, doch jeder Versuch, das Ruder freizubekommen und die Fahrtrichtung zu ändern, schlug fehl, das Zeitfenster für eine Reaktion schloss sich und allen auf der Kommandobrücke wurde binnen weniger Sekunden klar, dass sie unaufhaltsam auf die Brückenpfeiler am westlichen Ufer zufuhren und eine Kollision nicht mehr zu verhindern war. Ihnen blieb weniger als eine Minute.
»Unter Deck!«, brüllte der Kapitän. »Alle unter Deck!«
Der Lotse griff geistesgegenwärtig ein Funkgerät und die Männer hasteten die Treppen hinab.
Was dann geschah, fühlte sich an, als würde ein berghoher Riese auf den Frachter eintreten. Von den Schiffsaufbauten gerammt, brachen zwei Stelen der Brücke weg. Die gesamte gigantische Stahlbeton-Konstruktion geriet ins Schwanken und fiel dann in sich zusammen. Der eine Teil der Fahrbahn brach wie eine Naturgewalt auf die »Star Clipper« ein, der andere krachte mit brachialem Donnern ins Wasser. Das Schiff stieß gegen einen der Pfeiler und kam abrupt zum Stehen, die Elektrik fiel aus, jedes Licht an Bord verlosch, Metall verbog sich knirschend. Es folgte ein Augenblick völliger Stille. Die schockierte Besatzung und der Lotse stiegen vorsichtig zurück aufs Deck. Sie zählten durch. Wie durch ein Wunder war niemandem an Bord etwas geschehen. Der Lotse blickte nach oben. Dort, wo vor zwei Minuten noch die mächtigste Bogenbrücke des Landes gethront hatte, waren nun nur noch Nachthimmel und Nebelschwaden. Doch dann bohrten sich auf dem westlichen Ufer weit über ihren Köpfen Scheinwerferkegel in die diesige Dunkelheit. Der Lotse begriff: Da fuhr ein Auto auf die Brücke zu. Was, wenn der Fahrer im Nebel dort oben nicht rechtzeitig bemerkte, dass …? Noch bevor er den Satz zu Ende gedacht hatte, sah er den Wagen durch die Nacht fallen, mit dem Dach auf die Meeresoberfläche klatschen und untergehen. Einen Augenblick lang waren noch die Scheinwerfer unter Wasser zu sehen, zwei Lichtfinger, die verzweifelt nach Hilfe tasteten, dann verloschen sie für immer. Der Schock des Lotsen wich blankem Entsetzen. Die zerstörte Brücke war zu einer Todesfalle geworden. Man musste die Straße auf beiden Seiten sofort absperren! Er nahm das Funkgerät und versuchte einen Kontakt mit der Zentrale in Marstrand herzustellen, doch das Signal war zu schwach. Er probierte es auf allen möglichen Frequenzen und schließlich, als er kaum noch daran glaubte, bekam er eine Verbindung zu einem Radiosender in Göteborg. Der Mann am anderen Ende hielt seine Meldung zunächst für einen schlechten Scherz, doch der Lotse sprach immer eindringlicher ins Funkgerät, bis der Radiomann ihm schließlich glaubte und die Polizei alarmierte. Im selben Moment näherte sich am Ostufer ein zweites Auto der Abbruchkante, bremste nicht ab, sondern fiel ebenfalls die vierzig Meter hinab, knallte aufs Wasser und versank in der schwarzen See. Die Männer auf dem Schiff verzweifelten. Es musste doch irgendetwas geben, was sie tun konnten! Hastig ließen sie ein Rettungsboot zu Wasser, um an Land zu kommen, die Böschung emporzuklettern und die Autos zu stoppen. Doch die driftenden Eisschollen am Ufer machten eine Landung des kleinen Boots unmöglich. Ein drittes und ein viertes Auto fielen ins Meer hinab, vermutlich starben die Insassen bereits beim Aufprall auf die Wasseroberfläche. Jemand kam auf die Idee, mit Leuchtspurmunition zu schießen, doch auch das brachte die ahnungslosen Autofahrer nicht zum Anhalten. Bis endlich die Polizei kam und die Straße auf beiden Seiten gesperrt wurde, war eine volle Stunde vergangen. Als der Lotse am Ende der Nacht von Bord geholt wurde, standen ihm Tränen in den Augen.
Später wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, doch die Ursache des Unglücks wurde nie zweifelsfrei geklärt. Ein technischer Fehler wurde nicht gefunden. Gerüchte tauchten auf, dass die »Star Clipper« schon einmal Probleme mit der Ruderanlage gehabt hatte, doch entsprechende Unterlagen tauchten nie auf. Als wahrscheinlichste Erklärung galt schließlich, dass das Schiffsruder durch Eisschollen blockiert worden war. Tausendmal ging der Lotse die Abläufe dieser Nacht im Kopf durch, tausendmal kam er zu dem Schluss, dass er nicht anders hätte handeln können. Den Makel der Katastrophe trug er für den Rest seines Lebens mit sich – wie einen Schatten.
Aber es gab noch eine weitere Ungereimtheit, die ihn umtrieb. Die Taucher hatten fünf Pkw und einen Lastwagen auf dem Grund des Sunds gefunden, in denen sich insgesamt acht Personen befunden hatten. Keiner der Insassen hatte das Unglück überlebt. Doch der Lotse hatte ebenfalls mitgezählt: In jener schicksalhaften Nacht waren nicht sechs, sondern sieben Autos die zerstörte Fahrbahn hinabgestürzt. Doch der siebte Wagen wurde nie entdeckt und niemand, der auf der Insel lebte oder dort zu tun hatte, galt als vermisst. Irgendwann sagte er sich, dass ihm die Wahrnehmung einen Streich gespielt haben musste. In dieser furchtbarsten Stunde seines Lebens war er schließlich außer sich gewesen. Acht Tote reichten, die Schuldgefühle wogen schwer genug. Doch der Rest eines Zweifels blieb. Manchmal wachte er nachts verschwitzt und mit klopfendem Herzen auf und dachte daran, dass es sieben Autos und ihre Insassen gewesen waren, die in den eisigen Tod gefallen waren, sieben und nicht sechs.
Als Svea Karhuu den Tatort erreichte, zeigte die Casio an ihrem Handgelenk 5:56 Uhr. Die Julisonne lugte bereits über die Dächer der Malmöer Innenstadt. Der wolkenlose Himmel war azurblau und ließ keinen Zweifel daran, dass es genauso heiß werden würde wie an den Vortagen. Karhuu stieg von ihrem Rennrad und schloss es an einer Straßenlaterne auf der Fersensbrücke an. Dem Kanal war die Hitzewelle nicht gut bekommen, das Wasser unter ihr roch brackig und auf der braunen Oberfläche trieb bäuchlings ein toter Barsch. Sie hob den Kopf und blinzelte in die Sonne. Die Fahrt mit dem Rad hatte die Müdigkeit vertrieben. Trotzdem hätte sie jetzt gern einen Kaffee gehabt. Und die erste der fünf Zigaretten, die sie sich täglich zugestand. Aber beides musste vorerst warten.
Die Traube aus Streifenpolizisten, Kripoleuten und Mitarbeitern der Spurensicherung befand sich vor und auf der Grasböschung zwischen dem historischen Friedhof und dem Kanal. Mehrere Männer in Neoprenanzügen standen hüfttief im Wasser und verdeckten die Sicht auf das, was der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit war. Am Telefon hatte sie nicht mehr erfahren, als dass es sich um einen Leichnam handelte – natürliche Todesursache ausgeschlossen. In dem Menschenknäuel entdeckte sie den aschblonden Haarschopf ihres Kollegen Kommissar Jon Nordh. Möwen standen in der Luft und krächzten aufgebracht. Karhuu strich ihr volles schwarzes Haar zurück, ging zu den Kollegen und bahnte sich einen Weg zwischen Schultern und Rücken, was an der steilen Böschung auf dem feuchten Gras gar nicht so einfach war. Schließlich stand sie vor Nordh, der an der Wasserkante kniete und aufstand, als er sie bemerkte. Statt einer Begrüßung presste er die Lippen aufeinander und deutete ein Kopfschütteln an. Erst in diesem Moment nahm sie wahr, wie still alle waren. Gedämpfte Stimmen, ungläubiges Gemurmel, geflüsterte Flüche. Nordh trat einen Schritt zur Seite und dann sah sie ihn.
Dann sah sie es.
Unwillkürlich legte sie sich die Hand auf den Mund. Auf dem Boden des schmalen Bootes am Uferrand lag der leblose Körper eines Mannes, der bis auf eine Art Lendenschurz unbekleidet war. Mittelgroß, schlank, blasse Haut. Das Schreckliche, das Unfassbare aber war der Kopf.
Da war kein Kopf mehr.
Doch, dort war ein Kopf.
Aber es war nicht der eines Menschen. Sie hatte es auf den ersten Blick für eine Gaukelei gehalten, eine Maske, aber bei genauerem Hinsehen verstand sie, dass er echt sein musste. Die feine Pigmentierung der Haut. Die wuchtigen Kiefer. Das Reptilienhafte. Dort, wo der Kopf des Mannes hätte sein müssen, war mit Nylonschnur und engen Stichen der Kopf eines ausgewachsenen Krokodils an den Hals genäht worden. Obszön ragte die lange, offene, mit spitzen gelben Zähnen bewehrte Schnauze in die Luft.
»Herrgott«, flüsterte jemand. »Herrgott im Himmel.«
Kurze Zeit später zog sich Svea Karhuu zusammen mit Jon Nordh in ein Stehcafé um die Ecke zurück, das für seine frühen Öffnungszeiten bekannt war. Vor den Fenstern kamen immer mehr Menschen vorbei, die Stadt erwachte zum Leben. Lange sprach keiner ein Wort, schweigend nippten sie an ihren Kaffeebechern. Die Croissants, die Nordh bestellt hatte, rührten beide nicht an. Es war Karhuu, die schließlich das Schweigen brach.
»Was um Himmels willen ist das da draußen am Kanalufer, Jon?«
Er blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an, bevor er antwortete.
»Keine Ahnung. Nur ein verdammt mieses Gefühl. Ich habe schon verrückte Dinge gesehen, aber so etwas ist mir auch noch nicht untergekommen. Nicht ansatzweise.« Er schüttelte den Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Wie es aussieht, wollen sie uns den Fall aufdrücken, aber ich werde gleich zur Chefin gehen und alles daransetzen, dass wir nichts damit zu tun haben werden. Gott sei Dank schuldet sie mir noch einen Gefallen.«
»Aber …«
Nordh hob die Hand und schüttelte erneut den Kopf, zum dritten Mal an diesem Morgen, sie hatte mitgezählt.
»Bevor du irgendetwas sagst: Nein, Svea. Nein. Wie lange bist du jetzt bei der Mordkommission dabei? Neun, zehn Monate? Ich mache diesen Job seit fünfzehn Jahren. Glaub mir. Das da draußen ist toxisch. Durchgeknallter Scheiß. Solche Fälle löst man nicht einfach so. Und selbst wenn, wird man sie innerlich schwer wieder los. Sie begleiten dich und zerren an dir. Manchmal fressen sie dich auf. Ich kenne Kollegen, die an weniger kaputtgegangen sind. Glaube mir, du willst dir das nicht antun, bei all deinem Ehrgeiz nicht.«
Sie spürte Unmut in sich aufwallen. Nordhs Argumente mochten ja stimmen. Er hatte deutlich mehr Erfahrung als sie, war fast zwanzig Jahre älter, hatte von seinen vielen Dienstjahren den Großteil bei der Mordkommission gearbeitet. Sie dagegen war mit sechsundzwanzig immer noch eine Anfängerin. Nach ihrem Abschluss als Jahrgangsbeste der Polizeischule hatte sie sich zur verdeckten Ermittlerin ausbilden lassen und mehrere Einsätze absolviert, bevor sie nach einer schiefgelaufenen Operation im vergangenen Jahr von Stockholm nach Malmö versetzt worden war. In der südschwedischen Stadt hatte man sie aus Gründen, über die sie lieber nicht allzu lange nachsann, an Nordhs Seite gestellt, damit sie gemeinsam einen komplizierten Fall aufklärten. Ein Neustart. Nahezu alles, was sie im vergangenen Jahr über die Methodik von Mordermittlungen gelernt hatte, verdankte sie ihm. Trotzdem gab ihm das nicht das Recht, sie zu bevormunden, fand sie. Den Fall, der sie vor zehn Monaten nach Malmö geführt hatte, hatten Nordh und sie gemeinsam und auf Augenhöhe gelöst. Seitdem waren sie Partner. Sie respektierte ihn, das tat sie wirklich, sie hatte Hochachtung vor seinem Können und seiner Erfahrung, zeigte Verständnis für seine zerstreute, bisweilen schroffe Art, die möglicherweise auch darauf zurückzuführen war, dass er vor nicht allzu langer Zeit auf tragische Weise seine Frau verloren und nun als alleinerziehender Vater zweier kleiner Kinder den Spagat zwischen einem extrem fordernden Beruf und seiner Restfamilie zu bewältigen hatte. Dennoch mochte sie es nicht, wenn er ihr, wie jetzt, Gott und die Welt erklärte.
»Ist das so?«
»Ja, das ist so.« Er hob seine Hand und ließ sie auf die Tischplatte fallen. Ein gestisches Basta. »Sorry, Bärin.«
Bärin.
Es nervte sie, wenn er sie so nannte, und das wusste er genau. Ein blöder Wortwitz, der sich auf ihren Nachnamen bezog. Karhuu. Das war Meänkieli, eine nordschwedische Minderheitensprache, auch Tornedalfinnisch genannt, und bedeutete Bär. Der eigentliche Witz bestand darin, dass sie mit dem Vornamen Svea gesegnet war, Schweden. Schwedische Bärin. Diese schräge Kombination hatte sie ihren Adoptiveltern zu verdanken. Bei ihnen in Tornedalen, weit im Norden an der Grenze zu Finnland, war sie aufgewachsen, seit sie als Kleinkind zu ihnen gekommen war. Dabei sah jeder aus zwanzig Metern Entfernung, dass ihr Erbgut irgendwo aus dem Nahen Osten stammen musste. So viel zur schwedischen Bärin.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Und wenn die Polizeichefin nicht nachgibt?«
Er zog einen Mundwinkel hoch.
»Glaub mir, sie wird nachgeben.«
»Ich weiß nicht, ob ich damit einverstanden bin.«
Er warf ihr einen seiner Blicke zu, sah auf die Uhr, griff nach seinem Schlüsselbund und stand auf.
»Ich muss meinen Kindern Frühstück machen und sie zur Ferienfreizeit bringen, sonst reißt mir meine Schwiegermutter den Kopf ab. See you later, alligator.«
Er zwinkerte ihr zu und ging. Verdammt, er hatte das einfach so über ihren Kopf hinweg entschieden. Frustriert kippte sie den letzten Schluck des kalt gewordenen Kaffees hinunter. Sie brauchte jetzt dringend eine Kippe. Mit dem festen Vorsatz, dass in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen war, stand sie auf. Schade um die Croissants, aber sie bekam beim besten Willen nichts herunter. Ein verdammter Krokodilkopf auf einem Menschenkörper. Konnte man sich nicht ausdenken. Und dennoch war es geschehen. Irgendjemand hatte einen Menschen getötet, ihm den Kopf abgetrennt und ihn durch einen Tierkopf ersetzt. Eine Tat, so abseitig, dass man sie nicht wirklich begreifen konnte. Sie fragte sich, warum sie gegen Nordhs Entscheidung aufbegehrte. Weil er überhaupt keinen Wert auf ihre Meinung gelegt hatte. Aber darüber hinaus? Er hatte ihren Ehrgeiz benannt und damit sicher nicht unrecht. Doch es war mehr als das. Natürlich wollte sie eine gute Ermittlerin sein. Oder werden. Aber dieser seltsam verstümmelte und arrangierte Leichnam, der Fall, der sich daraus ergab, reizte sie nicht nur, weil sie zeigen wollte, was in ihr steckte, sondern triggerte in erster Linie etwas viel Simpleres: Sie war schlicht und ergreifend neugierig.
Vielleicht war er Svea Karhuu gegenüber etwas zu brüsk gewesen, dachte er, zu kategorisch, während er zurück nach Hause in die Wohnsiedlung am Stadtrand fuhr, und das hatte sie nicht verdient. Vermutlich lag es an seiner Müdigkeit. Als der Anruf der Einsatzzentrale gekommen war, hatte er kaum geschlafen, weil Tim im Schlaf ins Bett gemacht hatte und aufgewacht war, was das Wechseln der Bettwäsche, eine Dusche und langes Trösten nach sich gezogen hatte. Der arme Junge. Seit Lindas Tod passierte das seinem sechsjährigen Sohn häufiger, auch wenn es im Laufe des vergangenen Jahres schon besser geworden war.
Prinzipiell war es ja gut, dass Karhuu keine Scheu vor schwierigen Herausforderungen zeigte, aber seine Erfahrung sagte ihm, dass man Fällen wie diesem aus dem Weg gehen sollte. Ein Krokodilkopf auf einem menschlichen Körper – schräger ging es doch kaum. Die Tat eines Irren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Geschichte die Schlagzeilen beherrschen würde. Welche Kollegen auch immer für die Ermittlung verantwortlich sein würden – sie würden vom Boulevard und den Netztrollen wie die sprichwörtliche Sau durchs Dorf getrieben werden. Außerdem wollte Nordh Bilder wie das von der Leiche im Kanal nicht im Kopf haben. Er wollte sie nicht mit nach Hause nehmen. Tim und seine zwei Jahre ältere Schwester Lilly hatten es auch so bereits schwer genug, sie konnten keinen Vater gebrauchen, dessen Gedanken sich um enthauptete Leichen und angenähte Tierköpfe drehten. Karhuu kannte ihn noch nicht, den Sog des menschlichen Abgrunds, aber Nordh war ihm schon vor vielen Jahren in einem dramatischen Fall um missbrauchte und ermordete Kinder sehr nahegekommen, auch wenn er gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt hatte. Damals hatte er sich geschworen, die Arbeit nie wieder so nahe an sich heranzulassen. Er hatte innerlich Schutzwälle hochgezogen und um die seltsamen und emotionsgeladenen Ermittlungen einen großen Bogen gemacht. Gesunder Selbsterhaltungstrieb, so sah er das. Auch wenn es vielleicht diplomatischere Wege gegeben hätte, dies seiner Kollegin zu vermitteln. Er trug Verantwortung für sie und dazu gehörte auch, dass er Karhuu im Zweifel vor sich selbst und ihrem durchaus lobenswerten Eifer beschützen musste. Von manchen Fällen ließ man besser die Finger, wenn man die Wahl hatte. Karhuu würde das früher oder später verstehen. Carl-Johan, sein ehemaliger langjähriger Partner und Freund, hatte das verstanden. Aber Calle war tot. Er hatte am Steuer des Wagens gesessen, in dem Linda tödlich verunglückt war. Warum die beiden an einem Dienstagabend, an dem Linda eigentlich bei ihrem Pilateskurs in der Turnhalle von Bunkeflo hätte sein sollen, gemeinsam in einem Auto auf einer Landstraße nördlich der Stadt gesessen hatten, wusste nur der liebe Gott. Nein, im Grunde wusste es natürlich jeder, der eins und eins zusammenzählen konnte. Linda und Calle hatten eine heimliche Affäre gehabt. Auf dem Weg zu einem Schäferstündchen waren sie tödlich verunglückt. Das tat so verdammt weh, dass er keine Worte dafür fand. Selbst fünfzehn Monate danach. Die Zeit heilt alle Wunden? Am Arsch.
Er schluckte den bitteren Geschmack im Rachen hinunter und parkte den Passat in der Einfahrt. Als er ins Haus trat, saß Rosa mit den Kindern bereits beim Frühstück. Ohne seine Schwiegermutter, die vor einigen Monaten bei ihnen eingezogen war, hätte er seinen Job an den Nagel hängen können. Mittlerweile war Rosa zu einem so selbstverständlichen Teil der Familie geworden, dass es sich manchmal so anfühlte, als hätte er Linda gegen ihre Mutter eingetauscht. Wenigstens war er noch nicht zu spät dran, um den Kindern ihre Obstdosen fertig zu machen, die Trinkflaschen zu füllen, an Tims Sportsachen zu denken, Lilly die hübsche, aber bei dem Wetter viel zu warme Jacke mit den Pailletten auszureden und die beiden zur Ferienfreizeit zu bringen. Zum Abschied küsste er seiner achtjährigen Tochter auf den Scheitel und strubbelte Tim durchs Haar. Zurück zu Hause räumte er die Spülmaschine aus, den Tisch ab, hängte Tims Bettwäsche auf, die er in der Nacht in die Waschmaschine gestopft hatte, machte sich einen Kaffee, füllte ihn in einen Thermosbecher, aß im Stehen eine Scheibe Toast und fuhr ins Hauptpräsidium, wo er direkt das Büro der Polizeichefin der Region Süd ansteuerte. Damit überging er sowohl seinen direkten Vorgesetzten als auch den Chef der Kriminalpolizei. Aber es war Nora Mellander, die in seiner Schuld stand. Auch das hatte mit Lindas und Calles Tod zu tun. Bis heute weigerte sich Nordh, daran zu glauben, dass seine Frau und sein Freund durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Bis heute fand er keine Erklärung dafür, warum der Wagen mit all seinen Assistenzsystemen von der schnurgeraden Straße abgekommen war, sich überschlagen hatte und schließlich gegen einen Baum geschleudert war. Calle war ein exzellenter Fahrer, es war nicht glatt gewesen, das Auto neu, die Sicht gut. Nach Lindas Beerdigung – auf Calles war er nicht gewesen – hatte sich Nordh eine lange Auszeit genommen. Er war sich unsicher gewesen, ob er überhaupt in den Polizeidienst zurückkehren sollte, und hatte das Angebot eines ehemaligen Kollegen erwogen, in dessen erfolgreichem Sicherheitsunternehmen anzufangen: feste Arbeitszeiten und eine deutlich bessere Bezahlung. Es war Nora Mellander gewesen, die ihn mit einem Deal in den Dienst zurückgelockt hatte. Wenn er für sie einen schwierigen und undankbaren Fall löste, würde sie ihm im Gegenzug die Akte zum vermeintlichen Verkehrsunfall Lindas und Calles zugänglich machen. Nordh hatte geliefert, gemeinsam mit Svea Karhuu, die ihm in diesem Fall an die Seite gestellt worden war. Doch die Unterlagen, die die Polizeichefin ihm ausgehändigt hatte, waren ein Witz gewesen. Kurz, nichtssagend, lückenhaft. Mellander hatte ihn hereingelegt. Die Wut und Enttäuschung darüber hatte er sie spüren lassen, aber was brachte ihm das? Nur die Erkenntnis, dass die auffällig dünne Akte den vermeintlichen Unfalltod Lindas und Calles in seinen Augen nur noch rätselhafter machte. In manchen Phasen verwendete er viel Kraft und Zeit darauf, auf eigene Faust zu ermitteln, bisher ergebnislos. Außer den dürftigen Unterlagen hatte er nicht viel in der Hand. Calles Frau hatte nach dem Tod ihres Manns beim Aufräumen ein verstecktes Zweithandy gefunden und es an Nordh weitergegeben. Aber darauf befanden sich nur endlose Auflistungen von Städten und Orten mit ihren geografischen Angaben. Von Acapulco über Bahía Blanca und Torslanda bis Zürich. Nordh hatte Stunden über diesen Listen gebrütet, aber sie blieben ihm ein Rätsel. Wenn sie eine Art Code sein sollten, dann war er nicht imstande, ihn zu knacken. In anderen Phasen versuchte er, loszulassen und nach vorne zu schauen, allein schon um der Kinder willen.
Nordh klopfte an Mellanders Bürotür und trat ein. Die Polizeichefin wirkte nicht sonderlich überrascht, ihn zu sehen. Natürlich war sie längst über den grotesken Fund im Kanal neben dem alten Friedhof informiert worden. Sie bat ihn, Platz zu nehmen, und bot ihm Wasser an, was er gern annahm, sein Mund war trocken wie Löschpapier. Obwohl es noch früher Vormittag war, hatte die Temperatur bereits die Fünfundzwanzig-Grad-Grenze überschritten. Sie schenkte ihm aus einer schicken Glaskaraffe ein, er hörte die Eiswürfel klirren und auch die dünnen Zitronenscheiben entgingen ihm nicht. Die kleinen Freuden einer behördlichen Spitzenposition, ebenso wie das angenehm klimatisierte und großzügig geschnittene Eckbüro.
»Wie kann ich dir helfen, Jon?«, fragte sie, nachdem er von dem Wasser getrunken und sein leeres Glas auf dem übergroßen Schreibtisch abgestellt hatte. Als ob du das nicht wüsstest, dachte er. Mellander war nicht nur äußerst ambitioniert, sondern auch schlau, sonst wäre sie nicht so weit gekommen, sonst würde sie nun nicht vor ihm sitzen und ihm gekühltes Zitronenwasser anbieten. Früh hatte sie dem aktiven Dienst den Rücken gekehrt und mit Erfolg alles auf die Karrierekarte gesetzt.
Wozu lange drumherum reden?
»Der Krokodilmann aus dem Kanal: Ich will ihn nicht.«
Sie deutete ein leichtes Lächeln an, bevor ihre Züge wieder angemessen ernst wurden. Gewisse Frauen zum Lächeln bringen, das konnte er offenbar noch immer.
»Eine sehr unschöne Geschichte, da gebe ich dir recht.«
Nordh lachte auf.
»Unschön? Das ist der Euphemismus des Jahres. Der Fall riecht von vorn bis hinten nach Ärger. Psychoscheiß, damit kann ich schon in kleinem Maßstab schwer umgehen. Aber diese Alligatornummer ist nicht klein, sondern wird früher oder später hochgehen wie der Fat Man.« Mellander hob fragend eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen. »So hieß die Atombombe, die auf Nagasaki abgeworfen wurde«, schob er hinterher.
Sie seufzte.
»Geschmackvolle Metapher, Jon. Aber wir wissen doch noch gar nichts. Soweit ich informiert bin, hat die Rechtsmedizin gerade erst mit der Obduktion begonnen.«
»Bei aller Liebe, Nora: Ich weiß schon mehr, als ich wissen muss. Fälle dieser Art entwickeln sich in Nullkommanichts zu einem Albtraum. In jeder Hinsicht. Erinnerst du dich an die Frauenleiche, der am Gesicht die Haut abgeschält worden war? Die Kollegen, die den Fall bearbeitet haben, wurden monatelang von der Presse an die Wand genagelt. Einer ist wegen psychischer Schieflage anschließend in Frühpension geschickt worden, eine andere hat den Job hingeschmissen und verkauft jetzt Einbauküchen. Weder ist damals die Identität des Opfers geklärt worden, noch wurde der Täter dingfest gemacht. Dasselbe bei dem Toten, dem man ein Pentagramm in die Brust geritzt hatte. Oder dem Fall mit den zweiundsiebzig Stichwunden. So etwas will ich mir beim besten Willen nicht antun. Und Svea Karhuu erst recht nicht. Sie ist clever, mutig und lernt schnell, aber so eine Geschichte kommt für sie zu früh.«
Mellander nickte. Doch nicht auf eine Weise, die ihm recht gegeben hätte. Eher als wäre es eine einstudierte Geste, um dem Gegenüber so etwas wie grundsätzlichen Respekt und Empathie zu signalisieren. Wahrscheinlich lernte man das auf Seminaren für Führungskräfte. Ich höre dich, Jon, ich bin ganz bei dir.
Von wegen.
»Wer sollte denn deiner Meinung nach den Fall übernehmen?«
Lag das nicht auf der Hand? Beantwortete sich die Frage nicht von selbst? Es war naheliegend und logisch. Es war das einzig Richtige.
»Natürlich die Landesmordgruppe der Nationalen Operativen Einheiten.«
»Warum?«
Musste er das wirklich ausbuchstabieren?
»Erstens:«, er zählte es an den Fingern ab, als säße ihm ein Kind gegenüber, »Expertise. Die Landesmordgruppe kennt sich mit derartigen Ermittlungen aus, weil sie meistens gerufen wird, wenn solche Horrorgeschichten auftauchen. Zweitens: Manpower. Die LMG ist zehn bis zwölf Ermittler stark, allesamt erfahrene Füchse. Drittens: Spezialisten. Die LMG hat viel mehr Ressourcen als wir. Psychologen, Profiler, Forensikexperten. Verdammt, Nora, sie fliegen in die Vereinigten Staaten und haben Fortbildungen beim verdammten FBI.« Er betonte jeden der drei Buchstaben. »Außerdem ist es ein offenes Geheimnis, dass das kriminaltechnische Labor sie bevorzugt behandelt. Sie haben sogar eine eigene Pressesprecherin.«
Natürlich wusste Mellander all das genau.
»Du hast dir ja wirklich Gedanken gemacht, Jon.«
Spottete sie?
Er zuckte mit den Schultern.
»Im Gegenteil. Eigentlich ist es ein No-Brainer.«
»Noch etwas Wasser?«
»Nein, danke.«
Sie lächelte schmal. Legte die gefalteten Hände auf den Tisch. Schlug ihre schlanken Beine übereinander.
»Ich werde den Fall nicht an die Landesmordgruppe delegieren.«
Er betrachtete die Linie, die ihre Lippen bildeten, wo sie aufeinanderlagen. Ihren Blick. Die selbstbewusste Körperhaltung. Als würde sie für ein Pressefoto posieren. Im selben Augenblick begriff er. Der Posten des Landespolizeichefs wurde in einigen Monaten vakant. Bis jetzt hatten zwei ranghohe Stellvertreter ihren Hut in den Ring geworfen. Aber noch war nichts entschieden. Mellander hatte große Ziele. Ihr Mann, ein Staatsanwalt, war, wie man hörte, ein alter Amigo des Justizministers. Und warum auch nicht? Sie brachte vermutlich alles mit, was man für den Posten brauchte. Einschließlich der Fähigkeit, die Umstände immer zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Ein schlagzeilenträchtiger Fall, über den die Medien landesweit berichten würden, käme ihrer Bewerbung gerade recht, jedenfalls wenn er gelöst wurde, und zwar von ihren Leuten. Malmö – twelve points. Gleichzeitig war es für sie ein Spiel mit geringem Einsatz. Würde ihnen alles um die Ohren fliegen, fanden sich genügend Ränge unter ihr, die sie über die Planke schicken konnte.
»Wir lösen das intern.« Sie lächelte schmal. »Ich möchte, dass du die Ermittlung leitest. Du bist dafür mein bester Mann, Jon. Ich habe bereits mit deinem Vorgesetzten gesprochen, mit dem Chef der Kripo ebenso. Die beiden stimmen mir vorbehaltlos zu. Du hast eine beeindruckende Aufklärungsquote. Du hast Erfahrung. Du …«
Er schüttelte schnell den Kopf.
»Stopp, Nora, halt! Du brauchst gar nicht damit anzufangen, mir Honig ums Maul zu schmieren. Ich werde es nicht machen. Punkt. Und du wirst dafür sorgen. Denk daran, was du mir schuldest. Du hast mir etwas versprochen und konntest dein Versprechen nicht halten. Die Akte war nichts als Dünnpfiff. Was du natürlich wusstest. Aber nun wirst du deine Schuld begleichen. Quid pro quo.« Er hob beide Hände. »Sorry, aber suche dir einen anderen Idioten.«
Sie lächelte ein wenig breiter, verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ehrlich gesagt finde ich gar nicht, dass ich dir so viel schuldig bin, Jon. Wenn ich mich richtig entsinne, warst du im vergangenen Jahr ziemlich am Boden. Was angesichts der Umstände natürlich vollkommen nachvollziehbar ist. Aber ich nehme mir heraus, zu sagen, dass es unter anderem auch meine Initiative war, die dich damals zurück in die Spur gebracht hat.«
Das war so infam, dass ihm die Spucke wegblieb. Wollte sie es sich tatsächlich an die Brust heften, dass er nach einer Phase tiefer Trauer wieder seine Arbeit aufgenommen hatte? Wohlgemerkt in einem komplizierten Fall, in dem es um ein erschossenes Kind ging, auf den niemand scharf gewesen war? Mellander hatte ihm damals ein Stöckchen hingehalten und er war drübergesprungen. Ein zweites Mal würde ihm das nicht passieren.
»Weißt du was, Nora? Das ist einfach nur erbärmlich.«
Natürlich saß sie am längeren Hebel, natürlich konnte sie ihn letztlich dazu zwingen, den Fall zu übernehmen. Aber es gab immer noch die Ombudsstelle, die Gewerkschaft, die Interne Ermittlung. Ganz zu schweigen von der Presse. Den Deal mit ihr, den er im vergangenen Jahr eingegangen war, würde er zwar nicht beweisen können, doch er war dazu in der Lage, mit seiner Story eine Menge Staub aufzuwirbeln. Nichts, was jemand gebrauchen könnte, der sich Chancen auf den höchsten Polizeiposten des Landes ausrechnete. Er machte Anstalten aufzustehen. Wenn Mellander tatsächlich Krieg wollte, konnte sie ihn bekommen.
»Die vollständige Akte ist hier, Jon. Ich habe sie für dich ausgedruckt.«
Sie klopfte auf einen dünnen Pappordner, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
Er war baff.
»Du spielst mit mir«, sagte er schließlich leise. »Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgemacht. Und jetzt machst du damit weiter.«
Vehementes Kopfschütteln.
»Ich habe dir zuliebe und um der alten Zeiten willen nachgeforscht und einer Menge Leute Feuer unterm Hintern gemacht. Trotzdem hat es mich einiges gekostet.«
Um der alten Zeiten willen. Vermutlich spielte sie damit auf ein fünfundzwanzig Jahre zurückliegendes einmaliges Techtelmechtel zwischen ihnen an. Damals waren sie beide noch auf der Polizeihochschule gewesen.
»Was gekostet?«
»Viele Versprechen.«
»Im Versprechen bist du offenbar groß.«
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Wichtig ist, dass du mir glaubst.«
Warum sollte er ihr glauben? Weil sie in der Silvesternacht zum neuen Jahrtausend in der Küche eines Studentenwohnheims miteinander rumgemacht hatten?
»Seit wann hast du die fehlenden Teile?«
»Noch nicht lange.«
»Warum waren sie weg und sind nun wieder da?«
»Darauf kann ich nicht eingehen. Wichtig ist doch nur, dass sie nun wieder da sind.«
»Wenn du denkst, ich sei so dumm, dass ich mich ein zweites Mal damit ködern lasse, irrst du dich.«
»Ich gebe sie dir im Vorhinein. Jetzt. Hier. An Ort und Stelle.«
Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Eigentlich hatte er sie immer gemocht, trotz ihrer Spielchen, trotz ihres Gehabes. Das kecke Lächeln, ihr blondes Haar, den Shampooduft, sogar die spießigen Schleifenblusen. Vielleicht hatte er ihre Attitüde fälschlicherweise mit Selbstironie verwechselt. Aber da war keine Ironie. Da war nur der Wille zur Macht. Das sah er nun klarer als zuvor. Auf eine verdrehte Art und Weise war sie für ihn vielleicht immer noch begehrenswert, aber nur als verschwitzte Fantasie, denn im Grunde empfand er kaum mehr als Verachtung für sie. Sie schob ihm den Ordner über den Schreibtisch hinweg zu. »Lies!«, forderte sie ihn auf.
Er las.
Auch diese Akte war dünn. Das meiste war deckungsgleich mit den Papieren, die sie ihm vor zehn Monaten ausgehändigt hatte. Diese Textblöcke überflog er, denn er kannte sie in- und auswendig. Aber dann kam tatsächlich etwas Neues: ein Augenzeugenbericht. Ein Spaziergänger, der mit seinem Hund auf einem Feldweg unweit der Landstraße spazieren gegangen war, hatte einen Teil des Unfallhergangs beobachtet. Seiner Schilderung zufolge war da ein zweiter Wagen gewesen, ein weißer Kleinlaster, der mit hoher Geschwindigkeit direkt neben dem verunglückten Auto gefahren war, unmittelbar bevor dieses von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geschleudert war. Aus der Perspektive des Mannes – der Feldweg verlief in etwa fünfzig Meter Abstand parallel zur Straße – hatte es so ausgesehen, als hätte der Kleinlaster den Unfallwagen überholen wollen. Gleichzeitig war da ein kreischendes Geräusch gewesen, wie Metall auf Metall, das den Motorenlärm übertönt und den Spaziergänger überhaupt erst auf das Geschehen auf der Landstraße aufmerksam gemacht hatte. Nordhs Magen krampfte.
Ein Augenzeuge.
Ein zweiter Wagen.
Ein kreischendes Geräusch.
Er sah auf. Mellander hatte die Hände auf der Schreibtischplatte gefaltet, den Kopf leicht schräg gelegt und betrachtete ihn interessiert. Wie eine Insektenforscherin einen seltenen Käfer, der ihr ins Netz gegangen war, dachte er.
Er las weiter. Was folgte, war technisches Palaver, das er bereits kannte. Aber der Schluss war neu. Eine Bewertung des Vorfalls, die der untersuchende Beamte vorgenommen hatte. Trotz der Zeugenaussage gebe es nichts, was darauf hinwies, dass es sich nicht um einen selbstverschuldeten Unfall handele. Das metallische Geräusch, dass der Zeuge gehört haben wolle, sei wahrscheinlich durch den schleudernden Wagen selbst entstanden, womöglich bei dem Aufprall auf den Baum, und dann in der Erinnerung des Zeugen zeitlich um einige Sekunden vorverlegt worden, eine Sinnestäuschung oder eine Gedächtnisunschärfe, wie sie bei Augenzeugen im Allgemeinen und bei traumatischen Erlebnissen im Besonderen nicht ungewöhnlich sei. Erschwerend hinzu kam, dass der Zeuge bei der Vernehmung deutlich alkoholisiert gewesen sei und auf Nachfrage zugegeben habe, zu dem Zeitpunkt des Geschehens bereits mehrere Flaschen Bier getrunken zu haben. Grundsätzlich sei die Beobachtung eines zweiten Autos zwar interessant, weil dieser Fahrer womöglich ebenfalls den Unfall bemerkt haben und Wichtiges zu Protokoll geben konnte, aber eine Fahndung nach dem Wagen aufgrund einer so vagen Beschreibung sei aussichtslos, weil es allein in Schonen an die zehntausend weiße Kleinlaster gab. Von sich aus habe sich der Fahrer dieses Transporters innerhalb des Untersuchungszeitraums jedenfalls nicht gemeldet. Weil es also nichts Belastbares gebe, was der These eines Verkehrsunfalls ohne äußere Einwirkungen widerspreche, laute die Empfehlung, die Ermittlung zu beenden. Es folgten noch einige Anhänge, wie zum Beispiel Carl-Johans Blutbild, das keine Auffälligkeiten zeigte, aber dieser Appendix war Nordh bereits bekannt. Neu war dagegen, dass der Untersuchungsbericht unterzeichnet war. Richard Bengtsson von der Verkehrswacht.
Wieder blickte er auf. Er spürte seinen Puls an den Schläfen pochen. Für einige Momente schrillte ein Tinnitus in seinem linken Ohr auf und klang dann wieder ab, ein Phänomen, das ihn seit Lindas Tod in Stresssituationen heimsuchte.
»Bengtsson ist vor zwei Wochen gestorben«, presste er hervor und bemerkte, wie heiser er klang. Er kannte den Kollegen nur vom Sehen, hatte zwar auf der Kondolenzkarte unterschrieben, war aber nicht zur Beerdigung gegangen.
»Ein Tumor«, sagte Mellander. »Zum Schluss ging es schnell.«
Er klopfte auf die Akte.
Schluckte.
Kämpfte mit seinen aufwallenden Gefühlen, befahl sich, ruhig Blut zu wahren.
»Nora, das liest sich, als wären Linda und Calle von der Straße abgedrängt worden.«
»Möglicherweise.«
»Seit wann kennst du die Aussage?«
»Wie ich schon sagte: Noch nicht lange.«
»Wann hattest du vor, mich darüber zu informieren?«
»Du weißt es doch jetzt.«
Er lachte höhnisch auf. Dieses zynische Miststück.
»Wie bist du darangekommen?«
»Noch mal: Ich habe meine Wege, sie brauchen dich nicht zu interessieren.«
Er starrte sie an.
»Das hier riecht nach nicht weniger als Mord!« Er schlug mit der Faust auf den Ordner. »Bengtssons Schlussfolgerung ist ein Witz! Wahrscheinlich wusste er das selbst. Du weißt es auf jeden Fall. Du musst ermitteln lassen, Nora. Du musst die Akte wieder öffnen.«
»Unmöglich.«
Ihm versagten die Worte. Sekundenlang musste er sich sammeln. Sein Mund war so trocken, dass die Zunge am Gaumen klebte.
»Wie bitte?«
»Unmöglich, Jon.«
Er traute seinen Ohren nicht.
»Warum zum Teufel …?«
»Ich verstehe dich. Das tue ich wirklich. Aber du musst mir glauben. Es hat damit zu tun, wie ich an die Akte gekommen bin. Weiter kann ich darauf nicht eingehen. Denk dir deinen Teil. Du bist schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Aber offiziell wird vorerst nichts geschehen. Sieh es so: Du hast jetzt den Namen eines Augenzeugen. Das ist ein Anfang. Vielleicht führt es irgendwo hin, vielleicht entpuppt es sich als so bedeutungslos, wie Bengtsson es beurteilt hat. Ich tendiere im Übrigen zu Letzterem. Was du daraus machst, überlasse ich dir. Die Akte werde ich nur dann wieder öffnen, falls du auf etwas sehr, sehr Handfestes stoßen solltest. Keine vagen Indizien, keine Aussagen von betrunkenen Zeugen, sondern harte Beweise.«
Sie maßen sich mit Blicken. Er begriff nicht, was hier vor sich ging. Sicher, Mellander liebte Machtspielchen. Er brauchte sich keine Illusionen zu machen. Sie enthielt ihm Dinge vor. Benutzte ihn für ihre Zwecke. Log, wenn es sein musste. Aber an den Sachverhalten aus der Akte musste etwas dran sein, denn so weit, etwas Derartiges zu fälschen, würde sie nicht gehen. Außerdem war da der Name des Zeugen. Nordh würde die Aussage überprüfen können. Warum also dieser Aufriss? Weshalb die kryptischen Worte? Wozu die versuchte Vertuschung? Seine Gedanken überschlugen sich, seine Gefühle überwältigten ihn. Etwas Großes musste dahinterstecken. Etwas, das über Mellander hinausging. Etwas, wofür seine Frau und sein Teampartner hatten sterben müssen.
Oder sah er Gespenster? Gab es keine Vertuschung? War es am Ende doch nur eine zutiefst banale Geschichte? Ein Unfall, ein alkoholisierter Zeuge und die schlampig geführte Akte eines todkranken Kollegen, die nach seinem Ableben auf Mellanders Druck hin wieder zusammengepuzzelt worden war?
Unmöglich zu beantworten.
Mit zitternden Beinen stand er auf. Der Boden unter seinen Füßen schwankte.
»Du bekommst deinen verdammten Krokodilmörder«, sagte er, bevor er nach dem Ordner griff, sich umwandte und das Büro verließ.
Svea Karhuu musterte Jon Nordh mit zusammengekniffenen Augen und vor der Brust verschränkten Armen. Sie saßen in ihrem gemeinsamen Büro auf der Wache an der Drottninggatan, einem brutalistischen Betonbunker, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte.
»Woher der plötzliche Sinneswandel?«, fragte sie. Er beugte sich vor und reichte ihr über die gegenüberstehenden Schreibtische hinweg einen Einwegbecher mit Kaffee. »Danke, das ist nett von dir, aber es beantwortet meine Frage nicht.«
»Trink«, forderte er sie auf.
Sie zögerte, tat ihm dann doch den Gefallen, nahm den Plastikdeckel ab, blies und nippte. Der Kaffee war noch zu heiß, um wirklich etwas zu schmecken.
»Ja, ganz toll«, sagte sie.
Entweder bemerkte er ihren Sarkasmus nicht, oder er ging darüber hinweg.
»Nicht wahr? Ein neues Café am Värntorget. Syrer. Aber Kaffee können sie.«
Tja, warum auch nicht? War schließlich keine Raketenwissenschaft. Weder für Syrer, Schweden noch sonst wen. Nordhs notorische Zuschreibungen vermeintlicher Eigenschaften diverser Ethnizitäten in der Multikulti-Metropole Malmö gingen ihr auf den Keks. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Dauerdiskussion aufleben zu lassen.
»Raus mit der Sprache«, sagte sie und stellte den Kaffee auf dem Schreibtisch ab.
»Sagen wir so: Die Chefin hat mich überzeugt.«
Sein Blick gefiel ihr nicht. Das war höchstens die halbe Wahrheit, dessen war sie sich sicher. Sie registrierte, dass er bemerkte, dass sie ihm nicht vollends glaubte. Trotzdem ließ er sich nicht mehr entlocken. Fürs Erste nahm sie es hin. Sie hatte bekommen, was sie wollte, und nun wollte sie endlich über den Toten sprechen, der nun offiziell zu ihrem Fall geworden war.
»Es ist also zu hundert Prozent unsere Ermittlung?«
»Uns steht alle denkbare Unterstützung zur Verfügung. Die Muppets sind mit an Bord. Und weiteres Fußvolk, falls wir es brauchen. Aber ja, wir sitzen am Steuer.«
Fußvolk.
Muppets.
Sie mochte nicht, wie er sich ausdrückte, aber auch das war keine Auseinandersetzung, die sie jetzt führen wollte. Wähle deine Schlachten mit Bedacht. Mit den Muppets, Waldorf und Statler, waren Anna Wallgren und Henning Stöcker gemeint, ein erfahrenes, älteres Ermittlerpaar, das auch privat liiert war. Die Animositäten zwischen ihnen und Nordh gingen in die graue Vorzeit zurück. Aber Karhuu mochte die beiden, vor allem Anna Wallgren, schätzte ihre Kompetenz und war froh, dass sie nun zum Team gehören würden.
Sie blies auf den Kaffee und nippte erneut. Er war wirklich nicht schlecht.
»Du hast Glück, dass ich bei der Lagebesprechung war. Auch wenn bisher nicht viel bekannt ist«, sagte sie. »Der Leichnam ist mittlerweile in der Pathologie. Den Rechtsmedizinern ist offenbar die Kinnlade heruntergefallen. Kein Wunder bei dem Anblick. Heute Nachmittag gibt es einen ersten Bericht. Mehr als dass der Kopf von einem echten Alligator stammt, ausgestopft ist und der Tote um die fünfzig Jahre alt, ließ sich bisher nicht aus ihnen herauskitzeln.«
»Irgendwelche körperlichen Auffälligkeiten?«
»Nichts, was unmittelbar ins Auge gefallen wäre.«
Nordh rieb seinen struppigen Zehntagebart. Wenn er ein wenig mehr auf sein Äußeres achten würde, hatte Karhuu schon öfter gedacht, würde er durchaus als attraktiver Mann durchgehen. Aber vielleicht hatte man als frisch verwitweter, alleinerziehender Vater schlichtweg andere Sorgen als sein Aussehen.
»Vermisstenanzeigen?«
»Es wurde nach Männern zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig gesucht. Allesamt Fälle, die nicht älter als vier Wochen sind. Die Liste ist kurz. Die Datenbank hat fünf Namen ausgespuckt. Zwei der Männer können wir ausschließen.« Sie sah auf ihre Notizen. »Der eine ist deutlich kleiner als die ein Meter achtzig, auf die die Pathologen die Körperlänge des Toten schätzen, und hat massives Übergewicht. Der andere hat beide Oberarme tätowiert.«
»Bleiben also drei.«
»In Mathe bist du ein echtes Ass. Ein einundfünfzigjähriger stark dementer Mann aus Lund, der vor anderthalb Wochen aus einer Pflegeeinrichtung verschwunden ist. Ein achtundvierzigjähriger Stadtplaner aus Burlöv, der sich nach einem Streit mit seinem Lebensgefährten aus dem Staub gemacht und seitdem nicht mehr gemeldet hat. Und ein Angestellter der Stadtverwaltung, Anfang fünfzig, der vorgestern Abend von seiner Frau als vermisst gemeldet worden ist.« Sie sah ihn an. »Die Frage ist, wie wir mit der Identifizierung vorgehen. Sollen wir den Angehörigen wirklich den Leichnam samt Krokodilkopf zumuten?«
»Wir brauchen Fotos aus der Rechtsmedizin. Vom Hals an abwärts.«
»Wie willst du den Leuten den fehlenden Kopf erklären?«
»Mit der Wahrheit. Dass wir momentan nicht wissen, wo sich der Kopf befindet.«
Das war harter Tobak. Karhuu versuchte, sich in die Betroffenen hineinzuversetzen. Aber natürlich hatte Nordh recht. So furchtbar die Situation war: Niemandem war mit Beschönigungen gedient, wo es nichts zu beschönigen gab. Ein Mensch hatte einen anderen Menschen getötet, ihn enthauptet und ihm dann den Kopf eines Krokodils angenäht.
Das waren die Fakten.
Beide schwiegen eine Weile. Nordh hatte wahrscheinlich ganz ähnliche Gedanken wie sie. Eine solche Tat war schlichtweg nicht zu begreifen. Und trotzdem bestand gerade darin die Aufgabe.
»Warum?«, fragte sie schließlich. »Warum tun sich Menschen gegenseitig so etwas an?«
Sie erwartete keine Antwort und es kam auch keine, Nordh blickte sie nur mit müden, schweren Augen an.
Sie versammelten sich im Besprechungsraum: Svea Karhuu, die Muppets, alias Anna Wallgren und Henning Stöcker, die Forensikerin Emma Davidsson, Mette Petersen von der IT und Jon Nordh selbst. Er räusperte sich. Fuhr sich durchs Haar, das zu lang und zu fettig war, wie er bemerkte. Dass er das letzte Mal geduscht hatte, musste trotz der Hitzewelle Tage her sein. An den letzten Friseurbesuch konnte er sich kaum mehr erinnern. Seit dem Tod seiner Frau hatten diese Dinge an Bedeutung verloren. Trotzdem musste er besser darin werden, sich der Außenwelt in einem akzeptablen Zustand zu präsentieren, ermahnte er sich zum x-ten Mal. Das erwartete man von einem Vater und leitendem Kommissar. Es war das Einzige, was ihm geblieben war: seine Kinder und der Job.
»Ich denke, in einer Sache sind wir uns alle einig«, begann er, »das Wichtigste ist zunächst einmal die Identifikation des Toten. Die Kollegen von der Bereitschaft haben heute Morgen bereits Vorarbeit geleistet und wir hoffen, dass wir über die Vermisstenanzeigen zu einem Ergebnis kommen.«
»Ich habe gerade Fotos aus der Pathologie erhalten und werde zusammen mit Jon im Laufe des Vormittags die Angehörigen der Vermissten kontaktieren«, ergänzte Karhuu.
»Punkt zwei ist laut Lehrbuch der Tatort«, fuhr Nordh fort. »Eigentlich spricht alles dagegen, dass er mit dem Fundort des Leichnams, also dem Boot im Kanal, identisch ist. Trotzdem müssen wir notgedrungen zunächst damit vorliebnehmen. Einige kundige Kollegen, die am frühen Morgen am Kanal mit dabei waren, sind sich sicher, dass es sich nicht um ein Ruderboot handelt, wie es in unseren Breitengraden üblich ist, sondern um ein exotischeres Gefährt, eine Art Barke, möglicherweise ein Eigenbau. Uns interessiert aber nicht nur die Herkunft dieses Boots, sondern natürlich vor allem, wer es auf welchem Weg zum Fundort manövriert hat.«
Mette Petersen meldete sich mit ihrem dänischen Zungenschlag zu Wort.
»Ich bin bereits dabei, mich um das Material verschiedener Überwachungskameras zu kümmern. Bisher noch ohne Erfolg, aber ich stehe auch noch ganz am Anfang. Was mich optimistisch stimmt, ist der Umstand, dass das Boot mit dem Leichnam mitten in der Innenstadt gefunden wurde.«
Nordh hob demonstrativ einen Daumen. Er mochte die stämmige Dänin, die heute eine Cowboy-Bluse und Westernstiefel trug.
»Unmittelbar neben einem Friedhof«, sagte Karhuu. Und dann leiser: »Was ist das überhaupt für eine Stadt, die sich in bester Lage einen Friedhof leistet?«
»Eine Stadt der Toten«, murmelte Nordh düster.
»Ich kann mich um das Boot kümmern«, sagte Henning Stöcker. »Anna und ich haben seit Jahren eine Jolle, und ich kenne die Häfen der Umgebung gut. Irgendwo muss das Ding ja schließlich zu Wasser gelassen worden sein. Vielleicht hat jemand etwas gesehen oder gehört.«
Nordh nickte knapp. Stöcker und Wallgren hatten ihm eigentlich nie etwas getan. Es war sein ehemaliger Partner und Freund Carl-Johan gewesen, der eine Fehde gegen die Muppets geführt hatte. Doch Calle hatte ihn hintergangen und war seit über einem Jahr tot. Trotzdem fiel es Nordh unerklärlicherweise schwer, seine Vorbehalte gegenüber dem Ehepaar fallen zu lassen. Vielleicht auch, weil diese Animositäten, zumindest was Stöcker anging, auf Gegenseitigkeit beruhten.
»Punkt Nummer drei ist der Elefant im Raum … das Krokodil.« Niemand lachte über den zugegebenermaßen nicht sonderlich originellen Wortwitz, aber Petersen deutete wenigstens ein Lächeln an und Wallgren kicherte, was allerdings nichts zu bedeuten hatte, denn sie kicherte ständig, ein Tick, der etwas Tourettehaftes hatte. »So ein Tier bekommt man schließlich nicht in der Zoohandlung.«
Die Forensikerin Emma Davidsson meldete sich zu Wort.
»Zur Herkunft kann ich noch nichts sagen. Aber mein Team ist sich sicher, dass es sich um eine professionell ausgeführte Taxidermie handelt, sprich, der Kopf des Krokodils wurde fachgerecht ausgestopft und konserviert. Ob das kürzlich geschah oder bereits vor längerer Zeit, wird eine genauere Analyse zeigen.«
Wieder nickte Nordh.
»Danke, Emma.« Er rieb seine Nasenspitze, eine für ihn typische Geste, wenn er sich konzentrierte. »Kommen wir zu möglichen Zeugen. Auch wenn es Nacht war, gibt es die Möglichkeit, dass jemand das Boot samt Fahrer auf dem Kanal bemerkt hat. Mette hat ja bereits darauf hingewiesen: Der Fundort liegt mitten in der Innenstadt, einen Katzensprung vom Gustav Adolfs Torg entfernt. Richtig dunkel wird es zu dieser Jahreszeit ja nicht, dazu kommt die Straßenbeleuchtung. Ich denke an Nachtschwärmer, die auf dem Heimweg waren, oder Frühaufsteher. Der Fundort kann auf dem Wasser aus drei verschiedenen Richtungen erreicht werden. Aus Westen durch das Gewirr im Schlossgarten bis zur Mündung im Öresund beim Gelände der ehemaligen Kockumswerft, aus dem Norden Richtung Hafen und Leuchtturm oder aus dem Osten, wo das Kanalsystem eine U-Form beschreibt, um dann wieder in den nördlichen Kanal zu münden. Letzteres halte ich für am unwahrscheinlichsten, denn alle Möglichkeiten, das Boot zu Wasser zu lassen, liegen Richtung Meer und eine Annäherung aus Osten würde nichts weiter als einen Umweg durch einen belebten Stadtteil bedeuten. Dennoch sollten wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Das bedeutet Klinkenputzen. Mellander hat uns zwei Dutzend Uniformierte zur Verfügung gestellt. Es handelt sich schließlich um Hunderte Haushalte. Anna, ich möchte, dass du den Trupp anführst.«
Notorisches Kichern.
Er wertete das als ein Ja.
»Die meisten Leute werden doch jetzt bei der Arbeit sein«, warf Stöcker ein. Ganz der besorgte Ehemann.
»Deshalb zwei Runden. Eine jetzt, eine heute Abend.«
»Okey dokey«, sagte Wallgren.
»Und was machst du?«, fragte Stöcker. Hörte Nordh da einen Vorwurf heraus? Statler und er würden in dieser Welt keine Busenfreunde mehr werden.
»Wie Svea schon gesagt hat, unterstütze ich sie bei der Identifizierung des Toten. Außerdem spreche ich mit einem Experten der Nationalen Operativen Einheiten, der sich auf Soziopathen und ihre Gewalttaten spezialisiert hat. Denn eins ist ja wohl klar: Wir haben es hier mit der Tat eines Geisteskranken zu tun.«
Karhuu räusperte sich.
»Ist das wirklich so klar?«
»Was denn sonst?«
Er hörte selbst, wie unwirsch er klang.
»Erinnerst du dich an unsere Ermittlung im Gangmilieu im vergangenen Jahr?«
»Ja, natürlich.«
»Dort tauchte das Rosengård-Netzwerk auf.«
»Worauf willst du hinaus, Svea?«
»Die heutigen organisierten kriminellen Strukturen im Stadtteil Rosengård sind aus drei ehemals rivalisierenden Gruppen hervorgegangen.«
Er verstand noch immer nicht, was der Exkurs jetzt sollte. Wollte Karhuu ihm eine Nachhilfestunde in der Geschichte der Malmöer Gangkriege erteilen? Verflucht, er war hier aufgewachsen und seit mehr als zwanzig Jahren bei der örtlichen Kripo. Sie dagegen war erst seit zehn Monaten an Bord.
»So what?«
»Die sogenannte Beirut-Connection, die 213er und die Crocodiles.«
»Du meinst also, unser Kroko-Mann hat mit einer ehemaligen Rosengård-Gang zu tun, die seit drei oder vier Jahren nicht mehr existiert?«
Karhuu hob ihre muskulösen Schultern und ließ sie wieder sinken. Das erinnerte ihn jedes Mal daran, dass seine Partnerin seit Jahren Mixed Martial Arts trainierte, die härteste Kampfsportart überhaupt.
»Ich meine gar nichts, Jon. Ich finde nur, wir sollten am Anfang in alle möglichen Richtungen denken und erst einmal nichts ausschließen.«
Wohlmeinendes Gemurmel.
Er seufzte.
»Also gut. Die Rosengårder Crocodiles. Weitere Vorschläge? Eine Abrechnung zwischen Schmugglern von Krokodillederhandtaschen?«
Keiner lachte. Nicht einmal Wallgren kicherte.
»Wie gesagt, wir sollten nichts ausschließen«, wiederholte Karhuu.
»Na schön«, sagte er, während er innerlich mit den Augen rollte. »Klopf von mir aus den ehemaligen Crocodiles auf die Finger, Svea.« Auch wenn das zu nichts führen wird. »Kroko-Alarm auf allen Frequenzen.« Er klatschte in die Hände. »An die Arbeit, Kollegen.«
»Was ist mit der Presse?«, wollte Stöcker wissen.
»Um die Medienstrategie kümmert sich Mellander persönlich.« Für einen Moment überlegte er, einen bissigen Kommentar zu den vermeintlichen Karriereplänen der Chefin und ihrer sich daraus ergebenden Taktiererei abzugeben, entschied sich dann aber dagegen. Auch wenn es seinen Kollegen vielleicht nicht bewusst war, sie alle hier waren Spielsteine in Mellanders Hand. Doch er hatte sich wenigstens dafür bezahlen lassen. Davon brauchten die anderen nichts zu wissen. »Alles, was die Enthauptung und den Krokodilkopf angeht, wird gegenüber der Öffentlichkeit bis auf Weiteres zurückgehalten.« Er blickte Wallgren an. »Das gilt auch für die Zeugenbefragungen. Früher oder später wird die Geschichte ans Licht kommen und einschlagen wie eine Bombe. Nutzen wir also die Zeit, die uns bleibt, bevor uns das halbe Land auf die Finger schaut.«
Das rechtsmedizinische Zentrum für die Region Süd lag in Lund, zwanzig Autominuten vom Präsidium entfernt. Svea Karhuu nahm einen Dienstwagen aus dem Fuhrpark. Die Pathologie war in einem gesichtslosen viergeschossigen Bau aus rotem Klinker untergebracht. Im Laufe des vergangenen Jahres war sie häufig hier gewesen, meistens in Begleitung von Nordh, dennoch überraschte sie immer wieder aufs Neue der starke Kontrast zwischen der betont nüchternen Umgebung – Edelstahl, Linoleum, schmucklose Wände – und des allgegenwärtigen menschlichen Dramas in seiner ureigensten Form, dem unaufhaltsamen Verfall alles Organischen und der Auslöschung all dessen, was wir einmal waren, dachte Karhuu, oder zumindest einer unumkehrbaren Verwandlung, wenn man sich denn zu dem Glauben an Transzendenz oder eines irgendwie gearteten Jenseits hinreißen ließ. Dies hier war ein Ort der Endgültigkeit und trotz seiner wissenschaftlichen Anmutung, trotz der Bahren aus gebürstetem Stahl, der schicken Rechner auf den höhenverstellbaren Schreibtischen und der schmucklosen Dienstkleidung des medizinischen Personals war es ein einziges großes Memento mori, eindringlicher als jedes Barockstillleben. Die Toten mahnen uns zu leben, hatte Nordh ihr irgendwann einmal mit in Falten gelegter Stirn zugeraunt, an einem jener wenigen Tage, an denen er mit einer Alkoholfahne zur Arbeit gekommen war, und es hatte so geklungen, als habe er die Worte eher an sich selbst gerichtet als an sie. Vielleicht, hatte sie gedacht, empfand man so, wenn man einen geliebten Menschen verlor, oder man redete es sich zumindest ein, denn irgendwie musste man ja weitermachen.
Von der durchaus heiteren Stimmung, die üblicherweise bei den Mitarbeitern der Rechtsmedizin herrschte – oft lief über die Raumlautsprecher ein beschwingtes Radioprogramm – und der Karhuus Empfinden nach immer ein gewisser Trotz innewohnte, war an diesem Tag nichts zu spüren. Strage, der diensthabende Pathologe, führte sie wortlos zu dem Leichnam. Ein Kollege trat schweigend einen Schritt zur Seite. Auch das Radio war stumm. Strage sog hörbar tief Luft ein, bevor er das Wort ergriff.
»Ich formuliere es mal folgendermaßen: Der Tod hat viele Gesichter. Einige sind nicht besonders schön. Entsprechend sehen wir so einiges. Aber so etwas wie dies hier …« Er ließ den Satz unbeendet. Karhuu zwang sich, bis an die Bahre heranzutreten und hinzuschauen. Genauer als am frühen Morgen am Kanal. Deshalb war sie hier. Um zu sehen und zu verstehen. »Wie du siehst, haben wir den Tierkopf bereits vom Rumpf getrennt. Zum einen, damit ihn die Kollegen von der Forensik genauer untersuchen können, zum anderen um uns über verschiedene Sachverhalte klar zu werden. Aber eins nach dem anderen. Der Anblick dieses, nun ja, Arrangements, ist nicht nur je nach Sichtweise bizarr oder Furcht einflößend, sondern verdeckt auch den Blick aufs Wesentliche – zumindest aus medizinischer Sicht.« Er deutete auf den Brustkorb. Erst jetzt löste Karhuu die Augen von der ausgefransten Haut des Halses, der durchtrennten Aorta und dem freiliegenden Wirbel, an dem deutliche Spuren einer Säge zu sehen waren, und wandte ihn der fahlen, merkwürdig eingefallenen Männerbrust zu. Oberhalb des Brustbeins setzte ein zentraler vertikaler Schnitt an, der sich in gerader Linie etwa zwanzig Zentimeter lang in Richtung Bauch erstreckte und mit groben Stichen vernäht war. Allerdings waren die Nähte bereits wieder getrennt worden, nur die steifen schwarzen Fadenstoppel steckten noch wie borstige Haare in der weißen Haut. Wie hatte sie die fleischige Wunde am Morgen übersehen können? Weil Strage recht hatte. Der Reptilienkopf hatte alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, selbst jetzt noch, als er schon wieder entfernt worden war. Die Erinnerung und die Fantasie taten ihr Übriges. Sie bezweifelte, den Anblick vom frühen Morgen je wieder aus dem Kopf zu bekommen. In dieser Hinsicht hatte Nordh mit seiner Warnung sicherlich recht gehabt. Strage fuhr fort: »Es ist das, wonach es aussieht. Ein Schnitt, wie er bei einer Herztransplantation durchgeführt wird. Nur dass dieser arme Teufel nicht in der Rolle des Empfängers war, sondern sozusagen der Spender.« Er machte eine Kunstpause, bevor er fortsetzte. »Womit ich ausdrücken will, dass ihm das Herz entnommen wurde. Und ich betone deshalb armer Teufel, weil er während der Entnahme zweifelsfrei noch am Leben war. Mit anderen Worten: Diesem bedauernswerten Menschen wurde bei lebendigem Leib die Brust geöffnet und das Herz herausgerissen. Gerissen. Daran lässt der Zustand der entsprechenden Arterien und Venen keinen Zweifel. Kannst du dir vorstellen, wie viel Kraft es dazu braucht?« Er fixierte Karhuu. »Genau so wird es auch in meinem Obduktionsbericht stehen, auch wenn es auf Latein weniger dramatisch klingt, deshalb verwenden wir Mediziner ja überhaupt mit Vorliebe die Fachtermini. Die causa mortis«, er lächelte knapp, »wäre also geklärt. Die ersten Bluttests haben ergeben, dass das Opfer währenddessen unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel stand. Wenigstens das.«
Karhuu fiel auf, dass der Rechtsmediziner deutlich emotionaler klang, als sie ihn bisher erlebt hatte. Er wirkte mitgenommen. Die Worte, die er verwendete. Die Modulation seiner Sprache. Als drückte er auf eine ungelenke Weise dem Toten gegenüber sein Beileid aus.
»Das Abtrennen des Kopfes geschah also post mortem?«, fragte sie.
»Wenigstens das«, wiederholte er murmelnd.
»Und darüber hinaus?«
»Der Mann ist noch nicht lange tot.« Strage räusperte sich. »Maximal fünfzehn Stunden.« Nun klang er, als habe er seine professionelle Distanz wiedergefunden. »Um die fünfzig, mit Kopf etwa ein Meter achtzig groß, knapp achtzig Kilo schwer. Nichtraucher. Gute allgemeine Konstitution. Die Muskulatur weist auf regelmäßiges Training hin. Der Blinddarm fehlt schon seit Jahren. Auch das linke Knie wurde operiert, kein künstliches Gelenk, eher der Meniskus. Interessant sind Magen- und Darminhalt. Offenbar haben die letzten Mahlzeiten allesamt aus Haferbrei bestanden.«
»Eine spezielle Diät?«
Strage zuckte mit den Achseln. Er hatte ja recht. Es war ihr Job, das herauszufinden. Die Identität des Mannes zu klären. Dem Korpus den fehlenden Kopf zurückzubringen. Auf dass ein wenig Würde wieder hergestellt würde. Den Menschen zu fassen, der ihn auf eine absurd grausame Weise getötet und den Leichnam geschändet hatte.
Sie verließ die Pathologie mit den Fotos, die sie benötigte. Die Bilder konnten nichts beschönigen, weil es nichts zu beschönigen gab. Aber sie waren notwendig. Der Körper wies gesprenkelte Muttermale auf, eine beinahe kreisförmige Bauchbehaarung, dazu die kleinen Narben der Blinddarm- und Knieoperationen. Sie war zuversichtlich, dass nahe Angehörige den Toten würden identifizieren können.