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Im Frühling 2027, auf dem erneuten Höhepunkt zahlreicher weltweiter Kriege, betreibt ein geheimnisvolles internationales Verbrechersyndikat seine dunklen Geschäfte. Eines Tages verschwindet ein hochrangiger Politiker, möglicherweise entführt, wahrscheinlich das Opfer einer mysteriösen und zugleich höchst komplizierten Verschwörung. Der ehemalige US-Top-Agent John Sutton wird eingeschaltet. Allerdings: Sutton ist ausgestiegen. Zu tragisch ist für ihn der frühe Verlust seiner Familie. Er lebt unauffällig und zurückgezogen irgendwo in Berlin. Unvermutet erhält er einen Anruf des obersten Ermittlers des BKA, Charles Monroe. Monroe und Sutton kennen sich aus früheren Jahren. Die Kriminalbehörde braucht Sutton unbedingt, ersucht den Agenten, ihnen zu helfen. Erregend und fesselnd bewegt sich die Handlung zwischen politischen Machenschaften und erotischen Liebesabenteuern, zwischen den Gewalttaten eines brutalen Profikillers und seinen skrupellosen Auftraggebern: einer mafiösen Gemeinschaft internationalen Waffenhandels. Wer einmal die Lektüre zu lesen begonnen hat, wird sich dem Sog ihrer enormen Spannung und turbulenten Hintergründe kaum mehr entziehen können.
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Seitenzahl: 1552
Veröffentlichungsjahr: 2021
JORDAN SANDELL
***
SCIAT -
JENSEITS DER GRENZEN
Thriller
© 2021 Jordan Sandell
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-38338-8
Hardcover:
978-3-347-38339-5
e-Book:
978-3-347-38340-1
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Den Kriegsopfern dieser Welt
PROLOG im Himmel
Friede, schönster Götterfunken,
Mutter aus Elysium,
Wir erwarten feuertrunken,
Himmlischste, dein Heiligtum.
Deine Zauber bänden wieder,
Was die Mächte streng geteilt,
Alle Menschen würden Brüder,
Wo des Friedens Flügel weilt´.
Ach, Tragwerk Flügel, so gelangt zur Wahrheit,
- Dem Vogel dienen sie zum Flug zu zweit -,
Wer bildet: Glaube / Wissenschaft zur Einheit,
Im Herzen Liebe eint, Barmherzigkeit.
Doch keinesfalls würd´ ohne Segen,
Ja, ohne Gnade, der Engel Chor,
Hiernach auf Erden, uns, den Wesen,
Die Türen öffnen, Erlösung´ Tor.
Uns, den überaus so menschlich´ Wesen,
Hinausgeleiten, Gewalt befreit,
Und fern dem Todestal – und ganz genesen,
Sind brüderlich wir nicht vereint.
Denn niemals nämlich kann die Welt,
Den Frieden schauen, darin Licht,
Befreit vom Fallbeil, das sie fällt,
– Der Menschen Frieden gibt es nicht.
Solange, in der Habgier, ihre Waffen,
Anstatt Entsagung, zugunst´ Verzicht,
Gebaut, verkauft, nur Kriege schaffen,
– Den ew´gen Frieden gibt es nicht.
1
I
Wie schießt man eigentlich Tiger?, stand in der Kolumne einer der ausliegenden Tageszeitungen. `Welch eine Frage´, dachte John Sutton und überflog den Artikel. Meinungsbeiträge dieser Art nahm er sich meist als erstes vor. Sie waren für ihn oft erheiternd, zumindest aber anregend und rührten wenigstens an das Herz, wenn schon sonst nicht viel passierte, außer jenes zentrale Antriebsorgan mit Sauerstoff angereichertem Blut zu versorgen.
Das alte, französische Café an der Ecke zu der Allee war das einzige in der Gegend, das bereits früh am Morgen geöffnet hatte. Ein paar Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem Asphalt. Es musste in der Nacht ein bisschen geregnet haben, dachte er. Nässe, die in Form vereinzelter Regenpfützen ihre nachhaltigen Spuren hinterließ. Ein Hauch leicht dampfenden Nebels lag über dem Grau von Steinen und Beton. Einzig ein wenig Verkehr durchzog die noch schläfrige Ruhe, die man hier bei Kaffee und Brot genießen konnte, untermalt von dem lustvollen Gezwitscher der Amseln und ein paar anderer Singvögel in den Baumkronen der angrenzenden Gärten. Sutton liebte dieses Ambiente, mitten in der City Berlins. Besonders während der frühen Morgenstunden, wenn die Stadt langsam und allmählich erwachte. Mehr langsam … als wirklich erwachend.
Er verspürte reichlich Appetit auf Schrippen oder frische Croissants und einen starken Americano, einen doppelten Espresso mit viel Zucker. Vielleicht bestellte er sich sogar einen Smoothie, solch ein Gesundheitsgetränk, in das sie scheinbar den gesamten Bestand eines türkischen Gemüsehändlers packten, damit es einem anschließend besser ginge, und das zurzeit unheimlich in war. Gegen ein paar Vitamine war ja im Grunde nichts einzuwenden.
Eine Treibjagd natürlich, meinte er zu sich. Mit viel lautem Getöse, um das wilde Tier zunächst aufzuschrecken und in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wo dann entsicherte Präzisionsgewehre bereits zielbewusst warteten. Auf den finalen Schuss. Nur aus gesicherten Positionen, meist auf dem Rücken von großen Elefanten. Die einfachen Treiber liefen zu Fuß. Relativ ungeschützt. Nicht selten kam es dabei zu Zwischenfällen. Es brauchte schon eine ganze Schar mutiger Männer, die sich durch das zuweilen undurchdringbare Dickicht des Dschungels schlugen, um das gefährliche Tier erst vor sich her und schließlich in die Enge zu treiben. Man bildete einen Halbkreis und zog dann die Schlinge langsam, aber stetig immer weiter zu. So machte man es zumindest in Thailand oder Indien.
Da er schlecht geschlafen hatte und früh erwacht war, saß er bereits gegen Acht in einer Ecke am Trottoir und beobachtete zeitweilig die vorbeieilenden Passanten. Sie suchten ihren schnellen Weg zur Arbeit oder liefen sonst wo hin. Einem gewissen Ort oder ihrem unbestimmten Ziel entgegen. Der Lärm der Straße hielt sich in Grenzen. Ebenso die Zahl der Gäste an diesem frühen Morgen, denn die Terrasse war nur spärlich besetzt. In dem Moment, als die hübsche Kellnerin ihm das leichte Frühstück mit einem hinreißenden Lächeln servierte, vernahm er die Vibration seines Handys in der Hosentasche. Doch er kannte die Nummer nicht und so wies er den Anruf ab. Nicht jetzt, dachte Sutton. Nicht bei diesem Lächeln! Ein markantes Lächeln, das schon fast einer Offerte gleichkam.
Angesichts ihrer betörend wirkenden Ausstrahlung wollte er zumindest jede Störung umgehen. Gerade jetzt, in diesem Moment. Sie sah wirklich berauschend aus. Er beobachtete sie und dachte, wie hübsch sie eigentlich war. Malerisch jedenfalls, das Maß, es lediglich stillschweigend zu registrieren und einfach nur hinzunehmen, ohne sie anzusprechen, weit überschreitend. Ihm fiel der zarte, helle Teint ihrer reinen Haut auf, die wallenden, rötlichen Naturlocken der langen Haare, die sie offen, dabei hinter die süßen Ohren geklemmt trug. Ihre makellose Figur bei einer Körpergröße von bestimmt 1,80m und die Art ihrer Bewegungen, die auf ein sicheres, ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein deuteten, ließen sie wie stürmische Südseeträume vor seinen Augen wandeln. Sie würde ihn bald noch einmal anschauen, mit einem Lächeln, einem ganz besonderen aus diesem wunderschönen Gesicht.
Der Dunst des leichten Nebels wirkte wie ein Schleier. Die Sonne stand noch tief und es lag ein kaum merklicher Wind in der warmen Luft. Durch diesen hindurch, so schien es, fielen ihre Strahlen beinahe behutsam auf das blasse Grau der Straße, fast als suchten sie nach etwas. Doch im Schimmer ihres faden Lichtes hinterließen sie eigentlich nichts als einen silbrigen Streifen Glanz. Er legte die Zeitung beiseite. Der Kaffee schmeckte ihm vorzüglich, während er ihn trank, und er durfte ihn an diesem Morgen besonders genießen. Natürlich sollte er sie ansprechen. Warum denn nicht? Dazu jedenfalls schien er eigentlich nicht abgeneigt. Oder wäre ein solcher Schritt, direkt auf sie zu, wider jede Vernunft?, fragte er sich. Welche Vernunft? Leben und Etikette – der ewige Zwiespalt. Galt es darum etwa doch eher als vernünftig, jegliche Offensive zu unterlassen und der potenziellen Möglichkeit, sie wenigstens kennenzulernen, keinen freien Weg zu bahnen? Glücklich der, wer sich davon in seinem Leben nie besiegen ließ. Oder wer niemals einer höheren Macht erlag, die in ihrem beeinflussenden Wesen die Freiheit um ein Vielfaches weiter einschränkte. Jedenfalls schien das, was er früher einmal, als er selbst noch jung war, mit so etwas wie einer gewinnenden Eroberung verband, … – ja es war einmal ein Teil seines Lebens gewesen, ein bereichernder Abschnitt allerdings, der lange zurück lag. Natürlich hatte sie gespielt eben. Welche Sinnlichkeit dabei in ihren türkisgrünen Augen lag. Augen, so schimmernd wie das seichte Wasser der Malediven, mit dem sie seine geheimen Wünsche umspülte. Aber auch kokettiert hatte sie. Sofern es ernst gemeint war und nichts als kühne Fantasien beflügelte, – durfte er das und alles weitere tatsächlich zulassen? Obgleich … – nein! Schließlich hätte er ihr Vater sein können. Fast schon. Mit seinen 47 Jahren. Purer Wahnsinn! Oder doch nur dem Altersunterschied nach? Diese schmale Taille. Der gerade Rücken. Noch dazu solche Hüften, zu langen, sehr schlanken Beinen, die gar nicht enden wollten. Der kurze Rock schwarz – Farbe der Liebe; das Shirt knallig rot, was bildlich gesehen von jeher für Erotik stand. Welch ein Anblick. Wandelndes Poem. Wie ein schneller, schwungvoller Blues, dachte er. Melodisch, rhythmisch, klangvoll. Bewegungen – aus fast nichts anderem bestehend als Leib und Tanz, Fleisch, Tuch und Blut. Und … Seele. Und … Er hatte seit Jahren keine Beziehung mehr zu Frauen gehabt. Zumindest keine engeren, die ihm das Mark aus den Knochen gesogen hätten. Sie mochte kaum älter als Mitte zwanzig sein. Also in der zarten Blüte ihres frühen, aber bereits emanzipierten Lebens stehend.
Die Nummer auf dem Display kam ihm bekannt vor, und dennoch konnte er sie nicht einordnen. Keine offizielle Dienstnummer. Ein privater Anrufer. Da nur wenige Personen interne Kenntnis dieser Handynummer hatten, ignorierte er zunächst das Gesuch. Sutton überlegte, betrachtete sein kleines portables Funkgerät. Wer kannte diese Zahlenfolge? Über eines war er sich hundertprozentig sicher: Es mochten auf der ganzen Welt insgesamt vielleicht 7 oder 8 Menschen geben, die ihn auf diesem Handy hätten anrufen können. Ihre Nummern kannte er auswendig. Keine einzige von denen stand auf dem Display. Erst bei dem zweiten Versuch, also einige Minuten später, der um einiges hartnäckiger verlief, entschied sich Sutton, das Gespräch endlich anzunehmen.
„John Sutton?“ hörte er eine ziemlich gewetzte Stimme am anderen Ende seines iPhones.
„Ich befürchte, Sie haben da falsche Zahlen eingegeben, Mister.“
Er nannte noch einmal die Zahlenfolge seiner Mobilnetznummer.
„Wen wollten Sie noch gleich?“
„Mein Name ist Engelmann, Bart Engelmann. BKA. Ich arbeite in der Abteilung … von Herrn Monroe. Der Name sagt Ihnen doch etwas, nicht wahr?“
„Engelmann? Nein, tut mir leid, Herr Engelmann. Zu meinem Bedauern muss ich passen. Aber Namen sind bei mir ohnehin Schall und Rauch. Nichts für ungut. Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, Mister Angelman. – Ach! Darf ich Sie kurz etwas fragen? Wissen Sie zufällig, wie man Tiger schießt?“
„Wie bitte?“
„Egal. Vergessen Sie´s.“
„Herr Charles Monroe, Abteilung Sonderfälle im BKA, also mein Chef bittet Sie um ein privates Gespräch, Mr. Sutton. Persönlich.“
„Ach, Charles! Wie geht es dem alten Silberfuchs? Grüßen Sie ihn bitte ganz herzlich von mir.“
„Ich soll Ihnen ausrichten: Der Fall ist extrem wichtig. Absolut dringend. Und `topsecret´, selbstverständlich. Können Sie es irgendwie einrichten …, ähem, also wären Sie so freundlich, zu uns zu kommen?“
„Nach Wiesbaden oder wohin? Schickt er mir seinen Privat-Jet? Einmal Berlin-Wiesbaden, all inklusive! Und natürlich Retour!“
„Wie? Nein, nein, Sir. Wir sind hier. Am Treptower Park. Dienstsitz Berlin. Schon seit drei Jahren“
„Ihr seid tatsächlich überall. - Hören Sie, Mister Angelman! …“
„Engelmann!“
„Sagen Sie Monroe, ich sei nicht mehr im Geschäft. Lange schon. Er wird das wissen. Vorzeitiger Ruhestand. Aber auch altersbedingt. Keine Chance.“
Es entstand eine kleine Pause, die Sutton dazu nutzte, an seinem Americano zu nippen. Der allerdings begann allmählich, mit seiner Hitze auch alle Schärfe zu verlieren. Als er das Rascheln am Telefon vernahm, dachte er noch einmal über seine Worte nach, dass er demnach ja Rentner sei, was ihn gruselte, während ihm die junge Kellnerin im Vorbeigehen zuzwinkerte, wobei sie ihr ohnehin gemäßigtes Schritttempo dabei ein wenig verlangsamte. Zunächst deutete er dies als kleine Neugierde. Sie schien interessiert, zu hören, was er sagte. Oder wie er es sagte. Ohne selbst zu sprechen, zeigte sie kurz auf die Speisekarte. Dazu nickte sie. Eine Geste der flüchtigen Nachfrage. Sicher, ob alles in Ordnung sei. Oder, ob er noch einen weiteren Wunsch habe. Hatte er. Nur noch nicht jetzt. Alles zu seiner Zeit!
„John“, meldete sich eine dunkle Stimme, hart, wie Raufaser, Marine-Blau getüncht, vom stinkenden Dunst kubanischer Zigarillos ummantelt.
„Charles hier. Es ist lange her. Como estas, hombre?“
„Vier oder fünf Jahre, Charles. Tambien. Et tu?“
„Danke, John. Linda und ich sind erwachsen geworden. Und alt. Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind. Wir werden allmählich ein wenig langsamer.“
„Du und langsam. Mir sind nur wenige bekannt, die im Denken ungefähr so schnell sind wie Bolt einst über die Einhundert. In seinen besten Zeiten!“
„Danke für die Lorbeeren. Die Einhundert würde ich auch noch schaffen. Gemächlichen Schrittes. Mit ein, zwei Pausen dazwischen. Aber im Ernst, John. Du wirst dir denken können, dass es Gründe geben muss. Ich meine, Deine Nummer. Wir haben Sie selbstverständlich aufgehoben … und nie vergessen, in welcher Schublade sie liegt. - Ich brauche deine Hilfe, John.“
„Wahnsinn! Bei all euren tausend Schubladen. Du musst gute Gründe haben, Charles. Ich meine, solch alte Notizzettelchen rauszukramen. Oder ich sollte besser sagen: fatale Gründe. Wenn sie dich schon nach Berlin ordern.“
„Ich war schon am Anfang immer mal wieder hier. Mittlerweile, also seit ungefähr drei Jahren, haben wir hier Quartier bezogen. Das Haus in Wiesbaden haben Linda und ich verkauft. Aber ich gebe dir recht, John. Dieses Mal ist es ernst.“
„Irgendetwas scheint lichterloh zu brennen, nicht wahr! Ist etwa ein Attentat geplant? Auf irgendeinen der Bonzen da oben? Verdammt! – Aber ich bin raus, Charles. Das weißt du genau. Nichts für ungut! Sorry!“
„Selbstverständlich. Nichts ist vergessen. Und niemand nimmt das übel. Wir hatten damals lange genug darüber gesprochen.“
„Ok, Charles. Aber es war sehr nett, mal wieder mit dir zu plaudern.“
„John! Deine Entscheidung … – ich hatte sie immer akzeptiert. Deine Positionen respektiert.“
`Nothing has changed´, hörte Monroe leise am anderen Ende der Leitung, als sollte es kaum hörbar sein. Er wartete ein paar Sekunden und sagte dann in einem sehr freundlichen Ton:
„Bist du noch da?“
„Am Apparat. Wir können gern mal ein Bierchen zusammen trinken gehen. Würde mich freuen, Charles.“
„Sowieso. Das sollten wir tun. Unbedingt. Lass es mich dir dennoch kurz erklären, ok! Will ya?
„Ist ja schon gut. Aber mach dir keine Hoffnung! Bin fertig mit dem Job! Gib dir bitte keine Mühe, mich da in irgendetwas neu einzuspannen. Ich würde dir nicht mal beim Kreuzworträtsel helfen. Du hast da einen Haufen junger Leute. Und die sind hungrig. Das ist allemal besser als Frühpensionäre zu reaktivieren.“
Er stoppte, sagte dann:
„Endgültig. Es ist definitiv besser so.“
Sutton benötigte abermals eine kurze Pause. Monroe wusste natürlich, um was es ging, etwas, das ihm im Besonderen große Schwierigkeiten bereitete. Er wartete und schwieg.
„Mexiko war Endstation. Hatte mir geschworen, damals, … nachdem Beth und Lynn …!“
Dann wurde es still. Die Stimme brach. Ihm stockte der Atem, da die Erinnerung an die beiden wieder hochkam. Und er unterließ es, einfach unnötig weiterzusprechen. Stille. Eine lange Stille, bis ein wenig Wind über das minimale Mikrophon des Handys strich und rauschend durch die Leitung jagte. Monroe räusperte sich. Erst nach einer kurzen Weile antwortete er:
„Sie sind tot, John. Es tut mir leid. Sehr leid. Und wenn ich das so sage, meine ich es auch so.“
Sutton schwieg. Eine Pause, die, mit irgendetwas Belanglosem zu füllen, gar nichts brachte. Er hätte nicht anrufen sollen, dachte Monroe. Sutton dachte ungefähr das gleiche. Es rührte nur alles wieder auf. Noch bevor er Charles auf eine höfliche, aber bestimmte Weise das oder ähnliches mitteilen konnte, kam ihm dieser zuvor.
„Ich weiß, was du denkst, John. Wie kann ich diesen alten Sack endlich loswerden? Ihm eine Abfuhr erteilen, nicht wahr? Und da du nicht unhöflich sein möchtest, denkst du bestimmt schon seit geraumer Zeit darüber nach, welche der dreizehn Ausreden, die dir mittlerweile durch das Köpfchen geistern, wohl am stichhaltigsten rüberkommt.“
Sutton schwieg noch immer.
„Ich will dir mal was sagen: entscheide dich für die Erklärung, von der du meinst, sie sei für uns alle die Beste. Also die Wahrheit! Und mit der gehst du dann aber bitte ganz sorgfältig um. Ich rede mal Tacheles: Die ganze Welt, und zwar täglich, ist ein einziger Besch…! Entschuldige bitte meine Wortwahl. Aber ist es nicht so? Jeder versucht auf seine Weise, nur das Meiste und Beste an sich zu raffen und seinen Nächsten zu übervorteilen. Alle belügen und betrügen einander. Zumindest wenn es um das viele Geld geht. Immer weniger Menschen schrecken dabei vor Betrug und Korruption und sonstiger Kriminalität zurück. Im Zuge der Globalisierung, also seit etwa dreißig bis vierzig Jahren haben wir hier einen weltweiten Wirtschaftskrieg. Wer gewinnt? Natürlich die Superreichen! Die weniger als 0,4% der Weltbevölkerung stellen. Ein paar Prozent laufen mit und partizipieren dabei, der Rest wird wohl im Laufe der nächsten 50 bis 100 Jahre ziemlich vor die Hunde gehen. Wir kämpfen zwar ein wenig dagegen an, so zum Beispiel, wenn es bei alledem zu großen Verbrechen kommt und noch dazu Gewalttaten und jede Art von Grausamkeit im Spiel sind, den Lauf der Dinge aber werden wir kaum aufhalten.“ Pause. Dann sprach Monroe weiter.
„Nimm die Realität, wie sie ist, John. Denn sie werden nicht wieder lebendig. Schon gar nicht, wenn du dich hier irgendwo verkriechst.“
„Hör mal, Charles, …“
„Bitte, John. Hör du jetzt bitte mal zu. Das Leben geht weiter. Dein Leben. Du solltest es nutzen. Für andere. Lass uns reden. Tu mir bitte einen Gefallen und höre dir die Sache wenigstens einmal an. Ich brauche dich in dem Fall.“ Sutton schwieg.
„Du könntest uns wertvolle Hinweise geben. Wenigstens auf die richtige Spur lenken. Kein Außeneinsatz. Keine Auseinandersetzungen. Was wir jetzt brauchen, sind kluge Köpfe. Sagen wir, Leute mit … Intuition.“
„Nie gehört!“
„Fröhliche Gruppenspiele. So wie Ringelpiez mit Anfassen, nur im Kopfe. Einer sagt was, und der nächste greift das auf … und versucht was Neues draus zu machen. Oder er widerspricht dem, muss dann aber eine bessere Idee haben. Sonst ist er raus!“
„Hör schon auf!“
„Kannst du hierherkommen?“ Es entstand abermals eine kurze Unterbrechung. Sutton überlegte. Dann sagte er:
„Wichtig, ja?“
„Stufe 1. Wir tappen noch im Dunkeln. Ermittlungsnotstand. Und sogar die 9 hat Alarmbereitschaft. Anweisung von ganz oben! Unser Sondereinsatzkommando steht in den Startlöchern. Nur, dass die auch nicht wissen, was die tun sollen!“
Wieder dachte Sutton einen Moment nach. Charles hatte ihm damals in seiner Sache sehr geholfen. Als er selbst am Boden war. Ganz unten. Das war ihm in guter Erinnerung geblieben. Er glaubte, in gewisser Weise … sei er ihm etwas schuldig.
„Gut, Charles. Weil du es bist. Ich höre es mir an. Aber erwarte nichts von mir. Jedenfalls nicht zu viel. Ich habe mit allem abgeschlossen. Vor Jahren schon. Es geht mir richtig gut dabei. Weiß nicht einmal mehr, wie man den Schatten auf einen V2 legt. Aber dafür, wie die Schatten der Seele zu belegen sind. Mit Bourbon, Charles. Auf Eis! Oder mit einer Flasche altem kanadischen Whiskey. Aus bestem Roggen gebrannt.“
Ein V2 war ein Verbindungsmann zweiten Grades, der den Auftrag hatte, jemanden zu beschatten oder auszuspionieren, und den es dabei eine Zeitlang selbst zu beobachten galt. Agentenschule. 1. Ausbildungsjahr. Einfachste Grundlagen.
Monroe wusste nur zu gut, wie das Beispiel gemeint war.
„Komm schon. Nun stelle mal dein Licht nicht unter den Scheffel. Auch die ganz alten Hunde haben noch Instinkte.“
„Danke für die welken Nelken, Commissario.“
„Sollen wir dir einen Wagen schicken?“
„Nonsense. Charles. Ich brauche im Gegensatz zu dir keinen Chauffeur. Und auch noch keinen Rollator. Bin immer noch gut zu Fuß. Gib mir eine Stunde, oder anderthalb. Muss erst noch meinen Kreislauf in Gang bringen.“
„Danke, John. - Ach, um noch schnell auf deine Frage zurückzukommen. Ich konnte dem Gespräch vorhin über den Lautsprecher folgen. Die Antwort, John, müsstest du eigentlich selbst am besten wissen.“
„Du meinst, wie man Tiger schießt?“
„Selbstredend. Das Klügste: man schießt sie gar nicht. Sie stehen unter Artenschutz. Sind arg bedroht.“
„Und?“
„Es sei denn, sie haben bereits getötet. Und Menschenfleisch gefressen. Der legendäre Rubikon. Den Julius Cäsar übertrat. Sein Verhängnis. Ist dieser Fluss erst einmal überschritten, gibt es kein zurück. Du musst sie töten. Sie würden es wieder tun. Und immer wieder.“ Abermals eine Pause des Schweigens.
„Na, komm schon. Sag es mir, Charles.“
„Na, man bindet eine Ziege an einen Pfahl und legt sich dann auf die Lauer. Und wartet. Alles eine Frage der Geduld.“
„Kein Wasser.“
„Ganz genau. Nur ein wenig Salz. Sie wird nach einer Weile so durstig sein und zu meckern anfangen, dass sie das ganze Drumherum völlig vergisst.
Und ihr dämliches Geblöke wird schrill und penetrant durch den halben Urwald schallen und meilenweit zu hören sein.“
„Ein Hinterhalt. Das alte Lied.“
„Große Fische fängt man … mit kleinen Fischen. So in etwa. Nicht wahr, John? Bis später.“
II
Sutton legte das Phone beiseite und schaute auf seine Uhr: 8:30 Uhr. Ein Montag. Wochenanfang. Der 4. April 2026. Und es war schon ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Wieder nahm er die TAZ in die Hand, las zunächst geduldig weiter, denn er wollte es bedächtig angehen. Es blieb ihm noch eine gute Stunde bis zu dem Treffen mit Charles Monroe, Commissario geniale, dem obersten Chef des Bundeskriminalamtes. Übergroße Hast oder Eile schien ihm nicht geboten. Sie waren es, die etwas von ihm wollten. War es je anders, dachte er, in all den Jahren?
Mit schnellen Blicken blätterte er in der Zeitung, überflog gelangweilt die Wirtschaftsnachrichten und landete fast schon sturzflugartig im Feuilletonteil. Ein Artikel mit dem Titel „ Über die Hölle “ erregte seine ganze Aufmerksamkeit. Etwas über afrikanische Kriegsschauplätze und Soldatenkinder in Liberia. Ein lesenswerter Beitrag, befand er, über ein Buch von Denis Johnson, diesem US-amerikanischen Schriftsteller. Ein Mann, der noch zu Lebzeiten ziemlich rebellisch daherkam, mit glühender Feder schrieb und vielleicht, weil er sein Leben lang maßlos getrunken hatte, leider viel zu früh gestorben war. Johnson war National book award-Preisträger, hatte unter anderem für den New Yorker über Afrika gearbeitet. Er wurde wie John selbst als Sohn eines amerikanischen Offiziers in Deutschland geboren. Das musste im letzten Jahrhundert, so ungefähr gleich nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, während Sutton, der erst 47 Jahre alt war, eine gute Generation später zur Welt kam. Irgendetwas, meinte er zu sich, hätte er mal gelesen von Johnson. Von ihm, Mailer, Capote, Roth und ein paar anderen. Einigen der ganz Großen der Literatur drüben. Already dead?Vielleicht hieß der Roman so. Die Hölle war ihm nicht bekannt. Hier handelte es sich um Kriegsreportagen über Afrika, jenem Kontinent, welcher durch seine Bürgerkriege so viele Waffen kannte, seit Jahrzehnten so viele Tote zu beklagen hatte, wie eigentlich auf diesem blauen Planeten kein anderer Erdteil. Ein zynischer Fokus der Zeit, durch die Linse eines glühenden Brennglases betrachtet, scharfsinnig analysiert und in seinem menschlichen Resultat äußerst vernichtend. Man brauchte ja nur die täglichen NEWS mitzubekommen, um zu erkennen, dass die Welt auseinanderbrach und allmählich in Staub und Stücke ging. `Wo liegt eigentlich dieses Liberia?´ `Aber frage ich mich das wirklich?´ Und: `Wer will das tatsächlich wissen?´ Was kümmert mich dieses Land?´, schrieb jener Journalist. Was kümmerte uns damals Liberias selbsternannter Präsident Charles Taylor? Was die Hölle?
Sutton zuckte ein wenig mit den Schultern. Afrika war weit. So wie Mexiko. Sein letzter Tatort. Vor einigen Jahren. Hatte daraufhin seinen Dienst quittiert. Als was eigentlich? Ach, ja! Top-Agent sollte es wohl mal geheißen haben. Oder Krieger der Special Forces … oder was? Selbst ein Warrior also. Und etwa bei alledem doch sozusagen in guter Mission? Das konnte man sehen, wie man wollte. Denn getötet wurde schließlich überall. Überwiegend für die CIA tätig, war er zuweilen sogar für den deutschen Abschirmdienst unterwegs gewesen und arbeitete gelegentlich auch mit dem BKA zusammen, das damals noch in Wiesbaden stationiert war, woher er Charles Monroe kannte. Bereits in jungen Jahren hatte er eine extraordinäre Ausbildung zum Kampfschwimmer absolviert, des vielleicht härtesten Jobs, den sich spezialisierte Kampftruppen annähernd vorstellen konnten. Zusätzlich dazu gab es diverse Trainings für Einsätze als Elitefallschirmspringer und es hatten sogar einige Sondergänge schwerer Einzel- und Nahkampfausbildung stattgefunden. Von daher kannte er alle Extremsituationen für das Ziel- und Reaktionsschießen von Spezialkräften, und zwar in den unterschiedlichsten internationalen Waffen-gattungen, besaß sämtliche Führerscheine, zu Land, Wasser und in der Luft, was ihn sogar befähigte, notfalls auch Hubschrauber zu fliegen, und er durchlief zudem diverse Überlebenslehrgänge sowie eine Gebirgs- und Winterkampfschule für Kämpfe in besonders schwierigem Gelände.
Nicht zuletzt bekam Sutton in seiner damaligen Zusammenarbeit der USA mit den Engländern die seltene Gelegenheit, zusätzlich verschiedene Trainees beim Britischen MI6 abzuschließen. Diese Institution war insbesondere darauf spezialisiert, alle nur denkbaren Bereiche der Auslandsspionage in und außerhalb Großbritanniens abzudecken. Das Spektrum aller handhabbaren Techniken, Methoden und Spezialdisziplinen reichte hier vom Insiderwissen in unterschiedlichen IT-Arealen über sozio- und psychoanalytische Verfahren der Personen- und Gegnerkontrolle bis hin zu taktischen und logistischen Planungsverfahren bei diversen Sonderoperationen. John Sutton war ein Paradebeispiel für Intelligenz, Kampfkunst und Disziplin. Und er war wandelndes Dynamit. Seinen markantesten Ausdruck fand dieses sicher darin, dass man seinerzeit und eigentlich schon immer seine besten Leute für die gefährlichsten Einsätze beauftragte. Zum Schutze wichtiger Länder und Regierungen der NATO-Gemeinschaft und ihrer Schutzbefohlenen, hieß es. Einige von ihnen waren dabei für brandgefährliche Sondereinsätze auserwählt. Militaristisch gesehen: oft Himmelfahrtskommandos. Doch allesamt taten sie, diese jungen, hoch intelligenten Männer, die sich Top-Agenten nannten, beflissen ihren Dienst. Immer. Ohne Einschränkungen. Sie waren gegangen, die ihnen anbe-fohlenen Aufträge gewissenhaft durchzuführen, - mehr oder minder mit großem Erfolg -, während nicht wenige von ihnen zuweilen davon auch nicht wieder zurückkehrten. Sutton kam zurück, und bei der Durchsetzung seiner Ziele und zudem mit einem ungeheuren Überlebensdrang ausgestattet, nahezu immer erfolgreich.
Er strich sich eine Strähne seines dunklen Scheitelhaars aus dem Gesicht. Auch das Wasser war schon alle. Wo blieb eigentlich die junge Kellnerin? Ungeduldig hatte er dann kurz seine Hand gehoben, doch die zweite Kellnerin drüben nahm ihn nicht wahr und bediente stattdessen in die entgegengesetzte Richtung weiter. Andere Gäste. Er sei schließlich nicht allein auf der Welt! Und nicht nur Tiger hatten Hunger. Sie wird schon kommen, dachte er und trank den letzten Schluck seines Americanos. Kalt. Es schmeckte erbärmlich.
Nehmen wir das Beispiel des Massenmörders Taylor, las er. Es hieß: die Gleichgültigkeit „da draußen“, jene von uns allen, hatte die Verbrechen Charles Taylors erst möglich gemacht. Taylor mordete und ließ morden. Alles aus Gründen der Herrschsucht, der Gier nach Macht und aller Befriedigung völlig überzogener Eitelkeit – wohl die gefährlichsten Triebfedern unserer Psyche, die für homo sapiens nicht zu handhaben, für den Menschen einfach nicht kontrollierbar und beherrschbar schienen. Taylors Truppen, die überwiegend aus ganz jungen Burschen bestanden, sogenannte Kindergarden, – sie waren dafür berüchtigt, ihre Gefangenen kurzerhand bis zum Tode zu lynchen oder ihnen Hände und Füße abzuhacken. Sofern sie ihre Opfer nicht sofort und endgültig massakrierten, ließ man niemanden unversehrt zurück. Warum bloß. Diese Kinder-soldaten, die Small Boys Units, bekamen von ihm Waffen im Tausch gegen Diamanten. Aber woher und von wem hatte Taylor die Waffen? Allein in der Zeit unter Taylors Herrschaft wurden Hunderttausende Menschen in Liberia umgebracht. Die Welt schaute zu. Oder sie schaute weg. Kindersoldaten – es waren teilweise erst acht- bis neunjährige Kinder. Kinder, die töteten. Alles und jeden, was ihnen vor die Flinte kam. Kinder, die unwissentlich die Erfindung der Kalaschnikow aus dem Jahre 1947 priesen, eine Infanteriewaffe wie ein neues Spielzeug, indem sie die dünnen Arme ausstreckten und es jubelnd über ihre kleinen Köpfe hielten. Dabei handelte es sich um eine Kampfwaffe, die sich schließlich sogar in dem Emblem der Nationalflagge Mosambiks und auch auf der Fahne der Hisbollah verewigt fand. Es mochte entsetzen und verstören – verwundern jedoch nicht! Mit mordenden Kindern hatte die Welt es zu tun. Die in ihren Schlachthausgrausamkeiten ihrem persönlichen Chief, irgendeinem durchgeknallten Warlord Gott und Menschlichkeit verlassenen Infernos, so treu ergeben waren, dass sie im tiefsten Grunde der Hölle alles für ihn taten, – wirklich alles. Tausende Hütten, ganze Dörfer wurden von ihnen in Brand gesteckt, deren Bewohner brutal niedergemetzelt oder in die Flucht geschlagen, bis solche Kindergarden endlich weiterzogen, um ihre Schlachtfelder auszudehnen und auf jedem schlicht und immer wieder das gleiche Abbild von überaus un-menschlichen Grausamkeiten zu verbreiten. Ihre eigene Heimat, in die Gott einst gekommen war, wie es hieß, nur um das Warten zu lernen, ja um geduldig zu warten, ein Warten nämlich auf nichts, hatten sie hierzulande zu einer Welt voller Krüppel und Monster werden lassen, mutiert zu einem Verlies des Teufels und der Toten. Afrikas Welt. Unsere Welt.
So oder vielleicht so ähnlich und auch noch ein bisschen anders hatte es dort wohl gestanden. In diesem von banaler Druckerschwärze gefärbten Teil des Feuilletons. Wer es selbst nie miterleben musste, dem ging es wohl kaum nahe, konnte und wollte der Berührung seiner Gefühle kein tieferes Leid, keinen besonderen Anstoß der Anteilnahme gestatten. Sutton jedoch empfand den Artikel, nachdem er ihn zu Ende gelesen hatte, wie eine leichte Epiphanie, wie einen Hauch von spiritueller Berührung, als hätte Gott höchst persönlich ihn kurz und sacht mit einem Finger an der Wange berührt. Sehr sanft. Kaum merklich. Doch in seinem Wink, endlich aufzuwachen, tatsächlich von nachhaltiger Wirkung. Wie dieses einfache Frühstück vor ihm, sein starker Kaffee, Monroes Anruf vor ein paar Minuten und mit ihm die langlebigen Erinnerungen. Wie jene erfrischend begegnende Bedienung, das einprägsame Lächeln daran, und was an diesem Tag nicht noch alles sich ereignen sollte. Unverhofft kam eben oft oder zumindest manchmal oder nicht selten auch gar nicht. Einiges wog mächtig schwer daran heute Morgen, weil die Ingredienzien achtlos zusammengewürfelt schienen, als schüttete das Schicksal des Lebens alles gleich auf einmal in einen Trichter. In ein urnenartiges Behältnis des ganz großen und wichtigen und doch so gleichgültigen Mischmaschs. Einschneidendes, Veränderliches, vielleicht sogar Zerstörerisches, existentiell Vernichtendes. Es vergaß dabei, alles einigermaßen sorgfältig zu dosieren, zumal das Bekömmliche von allem Unangenehmen zu trennen. Ziemlich gehäuft! Die Anhäufung wie das Vergessene. Unverdaulich war es vor allem oder schmeckte jedenfalls wenig appetitlich, von dieser weiblichen Schönheit mit rotem, lockigem Haar einmal abgesehen. Unbestritten natürlich stolzierte sie besonders in den Ausmaßen von Vitalität und Lebenskunst sehr viel lockerer und zugleich auch leckerer daher. Ja, unverhofft kam wirklich oft! Heute, in seiner tieferen Bedeutung fast explosiv, da die unterschiedlichen Momente fast wie in Reihe geschaltete Sprengladungen detonierten, während anderntags doch ganze Wochen sich fad und monoton auslebten, ohne auch nur annähernd irgendetwas daran der bleibenden Erinnerung zum Geschenk zu machen. Sie verstrichen eher null- und nichtssagend, diese Wochen, als wären bestimmte Dinge bereits zur Vergessenheit verdammt, noch bevor sie sich eigentlich ereigneten. Ein fragwürdiges Sein, dieses menschliche Leben. Ein merkwürdiges Zusammenspiel aus allem und nichts. Merde. Et pure folie! (Reiner Wahnsinn!) Seine Gedanken wählten absichtlich die Sprache der Franzosen. Nicht von Menschen aus Paris, denen in Lyon oder an der Côte d´Azur, sondern die Mundart derer dort unten im tiefdunklen Westafrika. Aber konnte er selbst, wenn er das las, seiner eigenen Wahrnehmung noch trauen? Niemand war ohne Schuld. Das wusste er nur zu gut. Gerade wir, die wir alle doch irgendwie beschädigte Figuren waren. Niemand war ohne Fehl und Tadel. Da unser eigenes Leben, ob mit oder ohne unser Zutun, immer auch bedenklich und misslich erschien. Da wir uns selten fragten, wie heikel und egoistisch und gleichgültig wir lebten. Da wir nie wissen konnten, ob das Grauen nur um uns herum war - oder gar in uns selbst.
Fast war ihm der Artikel ein bisschen auf den Magen geschlagen. Sie ließ ihn warten, diese Kellnerin. Das Frühstück ließ auf sich warten. Er würde bald losmüssen. Monroe und seine Crew. Unzuverlässigkeit ging nicht. Nicht bei dieser Branche. Er zumindest hielt seine Zusagen, würde sich demnächst aufmachen und in Richtung BKA-Zentrale am Treptower Park in Bewegung setzen. Ein paar neue Gäste kamen zu dem Café. Lautes Lachen. Besonders die beiden Frauen an der Seite ihrer männlichen Begleiter schienen sehr heiter und ausgelassen. Erst in seiner Nähe stehend und sich umschauend, wählten sie dann doch einen Tisch auf dem anderen Ende, wo ein wenig mehr Sonne schien. Als er von seinem jähen Toilettengang zurückkam, war das Frühstück bereits serviert. Sein Hunger hatte zugenommen. Da er in Kürze zum Präsidium fuhr, brauchte er eine solidere Grundlage. Eine Basis, die aus mehr bestand. So entschied er sich dafür, seinem spärlichen Mahl von nur zwei Butterhörnchen noch etwas Gröberes hinzuzufügen.
Appetitlich durfte es schon sein, aber vorzugsweise etwas Herzhaftes, das seinem Magen Ballaststoffe zuführen, ihm guttun und ihm eine gewisse Schwere geben würde. Jetzt musste er richtig essen. Eine Grundlage schaffen. Und zwar, noch bevor er den ominösen Knall und andere auffällige Geräusche auf der gegenüberliegenden Straßenseite vernehmen würde, nicht zuletzt den Tumult, der dort bald entstehen sollte, weil auch noch ein Unfall auf offener Straße sich ereignen musste, in den sogar ein Kind involviert wurde. Noch bevor das alles bald passierte, winkte er der hübschen Kellnerin. Ohne dabei ein kleines Lächeln seinerseits zu vergessen, das er sich beinahe abgewöhnt hatte seit ein paar Jahren. Das zwar deshalb höchst ungewöhnlich für ihn war, seinem adretten Aussehen und besonders den markant männlichen Gesichtszügen aber enorm viel Charme verlieh. Irgendetwas ordern, dachte er. Am besten zwei, drei deftige Scheiben dunkles Brot. Dazu vielleicht etwas Antipasti, ein gekochtes Ei oder gleich typisch amerikanisch: Bacon and scrambled Eggs. Zumindest würde er bei Barbara noch einmal bestellen wollen. Bei dieser so reizvollen jungen Frau, die so hieß, und deren so anmutiges Gesicht, ihr makelloser Körper und die sicher auch angenehme Gesellschaft ihrer Person ganz wunderbar in Einklang zu setzen war …, ja, mit allem weiteren …, mit jenem Wunsch nach einem kulinarischen Genuss von genau jener beschriebenen Sorte. Nur zu zweit! Sollte er sie fragen? Sollte er Barbara, deren Name zu diesem Zeitpunkt seiner Bestellung nicht einmal des Weges geschweige denn ihm zu Gehör gekommen war, bereits heute schon so direkt kommen? Sie auf eine Einladung zu einem Dinner oder ähnliches ansprechen?
„Ich darf ihnen noch etwas bringen?“, fragte sie abermals mit einem schönen Lächeln, das sich tief in ihre zarten Wangenknochen grub.
„Gern. Aber bitte erst die Karte. Ich bin mir noch nicht sicher. Sofern ihr Antipasti habt, kannst du mir da etwas empfehlen?“
„Oh!“, sagte sie. Und ob. Das könnte sie sehr wohl. Und dennoch schien es zu forsch, so unverrichteter Dinge von diesem fremden Mann einfach so geduzt zu werden. Einfach so! Wer hier wohl mit du gemeint sei und wer da eigentlich drum bittet? Sie schaute ihn fragend an, leicht gekünstelt, aber mit ernster Miene. Er solle doch ruhig mal mitkommen. Neben dem Tresen befände sich alles, was er suchte. In einer Auslage und frisch und gekühlt. Frei zugänglich zur öffentlichen Beschau. Dieses Recht dürfe man sich nehmen als Gast, sagte sie höflich, indem sie weiterhin beim obligatorischen Sie blieb. Dem persönlichen Pronomen für die sogenannte höfliche Anrede. Besonders für die Anrede nicht verwandter und nicht befreundeter Personen im Singular. Vor allem, wenn sie erwachsen waren und man ihnen, so jedenfalls in Deutschland gebräuchlich, damit den nötigen Respekt entgegenbrachte. Alles andere ging gar nicht, dachten wohl zurecht immer noch die meisten Menschen, die hier lebten.
„Duzen Sie mich etwa? `Dass wir uns kennen, wusste ich ja noch gar nicht“, sagte sie unverblümt und stemmte lässig ihre beiden Fäuste in die schmale Taille.
Sie konnte das kaum ernst gemeint haben. Darüber eine Beschwerde loszuwerden, zeigte für ihn nur, wie sie mit Derartigem umzugehen verstand. Durchgefallen, meine Liebe! Natürlich waren heutzutage wieder konservativere Zeiten spürbar geworden. Eine gewisse Tendenz zur Werte-verschiebung machte sich breit. Insbesondere in Richtung Ehre und Nationalstolz und diesem ganzen völkischen Plumperquatsch! Manch einer forderte sehr wohl bestimmte Gepflogenheiten, insbesondere bei An-sprachen, um wohl die eigene Autonomie zu bewahren und gezielt auf Sicherheit und Distanz zu bestehen. Ausdruck von Komplexen? Oder pure Überheblichkeit? Doch vielleicht war es auch ihrerseits eine Taktik, - eventuell ähnlich seiner eigenen Absicht -, auf diese Weise gerade ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Indem sie spontan die Getroffene spielte, konnte sie sofort sehen, wie er auf ihre Empörung reagierte. Und die war in ihren Augen schließlich berechtigt. Ob er sich entschuldigte? Oder blieb er, chauvinistisch wie er eventuell ja war, tatsächlich beim du? Beleidigt zu sein, und dann noch dazu die Aufgeregte zu mimen, wäre seines Erachtens eine viel zu überzogene Reaktion, glaubte er. Das konnte doch wohl nicht sein. Doch tiefere Wahrheiten lagen bekanntlich verborgen. Um ihnen nahe zu kommen, mussten meist erst Hüllen und Schalen fallen. Den wahren Kern enthüllen, bedeutete immer, das Tieferliegende zu entblättern. Wahrscheinlich gefiel er ihr ja. Anzunehmen. Hoffte er zumindest. Welcher Frau gefiel er nicht. Sutton war früher einmal alles andere als ein sogenannter Kostverächter gewesen. Keinesfalls ein Draufgänger oder jemand, der es darauf anlegte, mit ihnen nur zu spielen. Er liebte die Frauen. Besonders die von Ungemach und Beschwernis befreiten Frauen, die mit ausgesprochener Schönheit beschenkt waren. Dem Reiz des Unwiderstehlichen. Sofern man selbst gesund war. Oder gar sehend, und nicht blind.
Früher einmal, da hatte er wohl Augen für sie gehabt. Er liebte sie wegen ihres zarten, ihres geschmeidigen Wesens, das die Natur ihnen in Schoß und Wiege zugleich gelegt hatte. Was ganz Art an ihnen, sofern feminin und somit weiblich und mit aufrichtiger und zugleich unaufgeregter Zurückhaltung gepaart zu sein schien, – es war weich und empfindsam, fürsorglich und geduldig und auf friedvolle Weise bewahrend und erhaltend. Und sie hatte das gewisse Gespür. Jenen Instinkt, der jeden Mann reizvoll anzog, ohne zu wissen, was das war und um was es dabei ging. Jenes etwas, das die Kinder wohl noch kannten, die Männer aber bereits vergessen hatten geschweige denn eine raue, grobschlächtige Männerwelt bei sich selbst je gesehen oder besessen hat. Und natürlich, sofern vorhanden, wegen ihres herzlichen, wärmeren Gemüts. Genau das spürten sie an ihm. Weil nur, wer verstand, auf was es im Wesentlichen ankam, ja, was den würdevollen und emphatischen Umgang mit unserem Gegenüber ausmachte, die Rätsel auch des Lebens in seiner tieferen Bedeutung erkannte. Das, und die seltene Gabe, wie sehr sich Einfühlsames und Zärtliches mit der Stärke und Kraft eines ansehnlichen Mannes verbinden konnte. Auch das spürten sie an ihm. Mann muss sensibel sein, dabei Aufmerksamkeit und rücksichtsvolles Verhalten genauso wenig vermissen lassen, ohne doch gleich in ihnen sich zu verlieren - so in seiner eigenen Familie und bei den Frauen selbst hatte er es gelernt. Und so hatte er sie geliebt. All die, die er bekommen wollte. In jener Zeit, damals, bevor er seine spätere Frau kennenlernte. Elizabeth, seine Beth. Die zu einem Altar zu führen, er vom ersten Tag ihrer Begegnung an begehrte. Schließlich heirateten sie bald. Die erste wahre Liebe. Eine sehr große Liebe dazu, darin verdammt, einzigartig und solitär zu bleiben. Und doch war alles andere, was davor an Liebschaften gelaufen war, schlicht als chaotisch zu bezeichnen. Selbstvergessener Wirrwarr. In weiten Phasen tolerant und vorzüglich. Auf Augenhöhe kultiviert und gut, vertikal uneigennützig gleichberechtigt und immer loyal und freundschaftlich verbunden, in horizontaler Beziehungsebene von höchst ergiebig und langatmig intensiv bis brandgefährlich und hochexplosiv. Und immer auch aus sehr viel Spaß, Spannung, und Hingabe bestehend. Auf den Schienen feinster, aber zugleich leiden-schaftlicher Gefühle laufend und im harten und doch genussvollen Sex wie in einem wunderbaren Traum versinkend. Nur heiraten wollte er nie. Fühlte sich nie sicher genug. Zeiten sowohl der turbulenten Ankünfte als auch des Abschieds, da die Angebote kamen, wie Aufträge vom BND oder der CIA. Bei der Zusammenarbeit mit FBI und BKA – von der jeweiligen Brisanz der Fälle abhängig und auf impulsiven Abruf der entsprechenden Gelegenheit geschaltet – war es kaum anders.
Es lag nicht allein an seiner athletischen Statur, was das weibliche Geschlecht mit ungewohnt lasziven Blicken registrierte und zum Schmelzen seiner zum Teil eingefrorenen Begierden brachte. Und keinesfalls nur an seiner charismatischen Natur, die er mit Klugheit und Würde präsentierte, ohne überhaupt unnatürlich oder sogar überheblich zu wirken. Das gesamte Wesen seiner Persönlichkeit, – ein wahrer Hingucker unter vielen dezent und zugleich verstohlen schauenden Blicken aus Lidschatten und Wimperntusche –, genau das ließ ihn, so es oft hieß, `rein großartig´ erscheinen. Weder seine Ausstrahlung noch sein Esprit allein, standen bei ihnen, bei all diesen Frauen, positiv zu Buche. Er war, in ihren schwärmenden Worten schlicht und einfach gesprochen, ein ausgesprochen gutaussehender Mann. In den Zwanzigern und Dreißigern genauso wie später, selbst noch in den späten Vierzigern. Nur dass diese hübsche Kellnerin um gute zwanzig Jahre jünger gewesen sein musste.
`Dass wir uns kennen, …´, - das wusste er natürlich ebenso wenig. `Selbstverständlich kennen wir uns noch nicht …´, hätte er mit Vorliebe geantwortet. Er ließ es bleiben. Noch immer hatte sie dagestanden, am Tische seines Frühstücks, auf eine Antwort wartend, während sie zur Abwechslung ein paar Dinge neben seinem Teller verschob und schmutziges Geschirr bereits zum Abtransport auf dem Tablett abstellte.
Nur wenigen dieser Frauen war es bislang tatsächlich gelungen, einem Mann wie John Sutton willentlich zu widerstehen. Ob es wohl oder allein einem Mangel an heterosexueller Gesinnung geschuldet gewesen war? Die internen Scherze darüber hatten schon manches Frauenherz erheitern und erweichen lassen. Ihn gar nicht kennen lernen zu wollen, also von vornherein zu verneinen, musste eventuell im Außenbereich ihres kontrollierenden Verstandes sich vollzogen haben. Im lächelnden Angesicht seines erhabenen Selbst. Shaping is from man – beauty from heaven. Vielleicht, wenn es eine gab, die ihn tatsächlich nicht wollte, hatte eine frühere US-Kollegin des nationalen Abschirmdienstes einst so treffsicher konstatiert, belog sie sich dabei versehentlich nur selbst. Eine `normale´ Frau hätte gewiss nicht einmal unter zu viel oder zu wenig Alkohol stehen müssen. Eine bessere, eine schussfestere Begründung war für jene Kollegin eigentlich nur schwer vorstellbar gewesen. Man, besser gesagt: Frau pflichtete ihr bei. Gründe gab es in der Tat viele. Genauso wie Geschichten. Mitunter hatte es auch daran gelegen, weil die eine oder andere bereits einen, und zwar ihren eigenen Lover solide und sicher in ihrem eigenen Bett liegen hatte.
Aber selbst das wäre bei John zuletzt noch kein ausschließlicher Grund der endgültigen Verneinung gewesen.
„Niemals, Werteste! Ich hätte Sie sagen sollen. Entschuldigung. Das war wirklich unbedacht und dumm von mir! Nicht einmal im Traum, sollte mir mit solcherart burschikoser Anspielung einfallen, Nähe ausdrücken zu wollen. Also, ich wollte Ihnen keinesfalls unerlaubt zu nahetreten, meine ich. Wir kennen uns schließlich noch gar nicht.“
Er sagte bewusst noch. Und das Ihnen erlangte dabei eine so starke Betonung, als wollte er der Ironie der Situation so viel Schärfe geben, dass man sie besser ernst nahm, bevor einen der Spott ihrer Missbilligung schlechthin selbst erschlug. Selbstverständlich wäre es für sie besser, sich nun keinesfalls in einen Vorwurf von Überempfindlichkeit zu verstricken. Oder gar im Geflecht falschen Stolzes zu verheddern. Sutton legte nach.
„Sollte ich mich etwa im Ton vergriffen haben, so tut es mir leid. Also, was das richtige Personalpronomen betrifft, meine ich, so bitte ich um Ihre ergebenste Verzeihung.“
Sie schauten sich beide tiefen Blickes an. Bevor die junge Frau, die da aufrecht vor ihm stand, die beiden Speisenkarten schützend vor ihren Brüsten haltend, darauf etwas sagen konnte, begann sie für ein, zwei winzige Sekunden zu schmunzeln, was allerdings ein wenig affektiert wirkte. Sie überlegte. Denn da sie einigermaßen verwirrt war, schaffte sie es nicht, sich über diesen Macho einfach nur lustig zu machen. Was er sicherlich verdient hatte. Die angemessene Riposte aber, worin auch immer die bestehen konnte, war ihr in diesem Moment so fern wie China. Mit manchem hatte sie gerechnet. Nur nicht damit. Darum sagte sie rein gar nichts. Rimessa. Fortsetzung des Angriffs, dachte er, und mit der Schnelligkeit eines geschickten Florettfechters setzte er noch einmal nach:
„Darf ich nach dem Namen fragen? Wie heißt du denn?“
„Barbara“, sagte sie leise, ohne erneut zu überlegen, legte die beiden Speisenkarten wieder ab und verschränkte dabei ihre Arme über Kreuz.
„Und selbst?“
„Sag ich dir ein anderes Mal.“
Kaum ausgesprochen, wäre sicher im Nu nichts als puterrote Wut in ihr aufgestiegen, wenn er nicht sofort, … um den Spaß erkennen zu lassen … und um alle Explosivkräfte, den Sprengsatz der bloßen Entrüstung bei ihr zu entschärfen, unvermittelt hinzugesetzt hätte:
„John! Aber du kannst auch gern … John zu mir sagen. Sogar meine Mutter nannte mich früher so. Zu Lebzeiten.“
Er setzte sich, da es ihm zu lässig vorkam, auf seinem Stuhl ein wenig neu zurecht und streckte unter dem Tisch gemütlich seine Beine aus.
„Schade eigentlich. On chanté. Wenn du nicht arbeiten müsstest, würde ich jetzt gern sagen: komm und setz dich doch zu mir. Ich bin wirklich entzückt.“ `Eine Frau wie sie würde sicher jeder Mann gern kennenlernen´. `Ja´, sagte sie. `Das sei richtig. Sie müsse jetzt weiter arbeiten´. Dann tat sie so, als würde sie gehen wollen, blieb aber doch stehen, weil noch irgendetwas auf dem Tisch zu verrichten war. So begann sie kurzerhand, ein bisschen Nässe wegzuwischen und ein paar unbedeutende Gegenstände auf dem Tisch neu zu ordnen. Das gab ihm Gelegenheit, noch etwas deutlicher zu werden.
„Obgleich ich hier manchmal etwas trinke oder esse, sind wir uns noch nie begegnet. Aber wahrscheinlich wollte es das Schicksal so.“
Er atmete absichtlich tief durch, was bezeichnender Weise ein wenig Ungeduld zum Ausdruck brachte. Beinahe schon das Gefühl, bald zu resignieren und aufzugeben. In solchen Momenten Schicksalsfragen aufzuwerfen, war natürlich ähnlich verhängnisvoll. Als läge es in der Macht des Himmels oder wessen auch immer, ob man sich im Leben begegnete oder nicht.
„Schönen Frauen sieht man ja nun wirklich viele in Berlin“, sagte er völlig unverblümt. ` Sie sollte mal seine männlichen Kollegen hören. Was die alles so erzählten. Scheinbar, weil sie auf der Suche nach der richtigen Frau wären, nach gescheiterten Beziehungen sich gern wieder binden würden´.
„Engel dagegen hätten doch wahrlich etwas sehr Seltenes. Wirklich interessant. Wenn er sie so betrachtete. Barbara, ja? Ein schöner weiblicher Vorname. Griechischen Ursprungs, meinte er. Bedeutete: “die Fremde“, wenn er es recht erinnerte. Wahrscheinlich, “die vom Himmel Herabgestiegene“. Nur zu gern würde er am liebsten einmal herausfinden, zu welcher Sorte Engel sie denn wohl gehörte. Ganz für sich allein. Bar jeder Einmischung von außen.“
„Ach!“, sagte sie und dachte: `was für eine Masche´. Aber sie war durchaus erstaunt und neugierig, was im Folgenden passierte. Er schaute sie fragend an.
„Und wie dachtest du, John, würde man da am besten vorgehen?“
„Dich ehrlich bitten!“
„Was bitten?“
„Ein Dinner. Natürlich bei dem besten und teuersten Italiener dieser Stadt. Oder, wenn du das lieber magst, die französische Küche. Unten in Zehlendorf. Es gibt dort ein kleines, wunderbares Restaurant, wo absolut erstklassiges Essen gekocht und serviert wird. Extrem romantisch dort. Ganz schwer, einen Tisch zu bekommen.“
Aber er kennte ja den Besitzer, fügte er hinzu. Persönlich natürlich. Welcher Schachzug. Auf diese Weise musste er ja noch wichtiger rüber-kommen.
„Insofern … – Morgen oder Übermorgen? Donnerstag! Am Wochenende. Falls es dir da besser passt. Mittwoch geht nicht. Da habe ich Männer-Gesprächskreis. Junggesellentreffen: Ü 50.“
Sie musste spontan lachen. `Das machte die ganze Sache ja höchst attraktiv´, sagte sie daraufhin. `Vielleicht könnte sie ihn retten´.
`Die Sitzung am Mittwoch dürfte er auf keinen Fall versäumen. Er sei nämlich dran. An der Reihe, gewissermaßen. Mit seinem Referat, von seinen ganz persönlichen Problemen im fortgeschrittenen Alter zu berichten´.
Sie lachte abermals.
„Ich hole dich ab. Mit meinem alten Porsche. Ziehe nur für dich mein bestes Armani-Sakko an. Was seit fünf Jahren unbenutzt im Schrank hängt. Oder, wenn´s dir lieber ist, treffen wir uns hier.“
Er wartete auf eine Antwort.
„Mal sehen.“
„Sag bitte: ja! Übrigens fährst du bei mir in einem sehr anständigen Sportwagen. Der weder eine Frachtgebühr erhebt noch sonstige Gegenleistungen erwartet. Also selbstredend. Nur ein Dinner zu zweit.“
Sie musste gehen. Andere Gäste warteten bereits. Kein leises und kein zartes Ja! war von ihr zu hören. Aber auch kein Nein!
„Wie wäre es Babs“, meinte er trocken wie ein Beaujolais, „wenn wir beide dann bei Gelegenheit mal, also vielleicht ein anderes Mal …“ Er wollte telefonieren sagen …
Den Rest des Satzes zu formulieren, gelang ihm nicht mehr. Was vielleicht auch gut war fürs Erste. Besser so und nicht anders. Und auch sie hatte just in diesem Moment keine echte Chance, seine ziemlich forsche `Annäherung´ zu ahnden, die sie zunächst wohl nicht gerade als unaufdringlich empfand. Fast war es schon eine Art `Anmache´, dachte sie. Indem sie ihn gern daran erinnert hätte, wie verknöchert er denn eigentlich wirkte, wäre ihm schnell der Wind aus den Segeln genommen. Stattdessen Schweigen. Verunsichert fühlte sie sich. Wusste nicht, ob sie ihn wirklich ernst nehmen sollte. Worauf sie das Tablett nahm und sich demonstrativ nach den anderen Gästen umschaute. Aber immer noch blieb sie bei ihm stehen. Fixierte ihn. Tja, und wie hergelaufen, nahezu vagabundierend er denn überhaupt daherkam. Um nicht zu sagen, was er, dieser Macho von Typ, sich denn eigentlich einbildete. Das alles dachte sie und noch vieles mehr natürlich. Dann ging sie. Endgültig. Mit den ungefähren Worten, `sie komme gleich wieder. Er solle sich inzwischen in Ruhe überlegen, was er denn nun eigentlich will´. Oder so ähnlich. Sie jedenfalls wusste es beileibe nicht. Andere Gäste riefen nach ihr. Die ganz bestimmt bestellen wollten.
Was sie ihm nicht alles hätte entgegenwerfen können, um ihre Ehre als Frau von Anstand zu retten. Ihr knickten ein wenig die Knie weg. `Sehr schmeichelhaft´, hatte sie sagen wollen. Oder: `Nun rede mal kein Blech!´ Nur um ihr schniekes …, nein! - ihr integres Ansehen nicht in Frage gestellt zu sehen. Oder wie sollte sie das nennen? Engel! Heiliger Quatsch. Sie war eine Frau! Und ihre Reputation als Frau wollte sie genießen und auch respektiert sehen. Das konnte man ihr nicht nehmen. Da schoss man am besten zurück. In Windeseile. Und gezielt. Nichts dergleichen. Besser, sie hielt sich zurück, überlegte sie sich. Vorerst. Denn, um genau zu sein, wer war eigentlich verunglimpft worden? Oder was war irgendwohin abhandengekommen? Und es hatte letztlich wirklich nichts und niemand tatsächlich gelitten. Was, wenn er es wirklich ernst meinte? Ein gut gemeinter Versuch, sich kennen zu lernen. Besser, sie sagte jetzt nichts. Ob witzig oder nicht, - sie jedenfalls empfand es zurecht ein bisschen … frech. Zuerst jedenfalls. Doch es passte ja in diese Gegend. Und zu ihnen beiden. Jeu pur, grande joie, (reines Spiel, reine Freude), zumindest an jenem Morgen. In diesem französischen Café.
Das schrille Quietschen von Autoreifen war plötzlich zu hören. Wie aus dem Nichts. Ein leichtes Scheppern von Blech oder anderem Metall. Dann ein Aufschrei. Von einer Frau. Er sah Menschen aufgeregt umherlaufen oder die plötzlich wie gebannt stillstanden, sah eine Frau, vielleicht die Frau, die geschrien hatte. Er sah sie auf die Straße eilen. Andere Passanten kamen dazu. Gleich drüben, gegenüber der Stelle des Cafés, wo man genau saß. Es musste etwas passiert sein. Ganz offensichtlich ein Unfall. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Kreuzung, wo ein großer, schwerer PKW quer auf der Fahrbahn stand. Sutton war aufgesprungen, ein paar Meter in Richtung des Trottoirs gegangen. So konnte er ein Fahrrad auf dem Asphalt liegen sehen. Ein paar weitere Menschen eilten herbei. Schnellen Schrittes beabsichtigte er, zu dem Geschehen zu gelangen. Ein Kind lag auf der Fahrbahn, gleich hinter dem PKW. Beängstigend ruhig. Bewegungslos. Ein junges Mädchen. Neben ihm das kaputte Rad und die Frau von vorhin. Zwei junge Männer machten sich an dem Wagen zu schaffen. Es schien, als würden sie versuchen, die Fahrertür zu öffnen. Der Fahrer stieg aus. Er wurde attackiert und es entstand ein Gerangel. Weitere Passanten eilten herbei. Sie konnten die aufgebrachten Männer beruhigen. Sutton beugte sich über das Kind, ein junges, hübsches Mädchen von etwa zehn Jahren. Es hielt sich den Arm, blutete leicht am Kopf, war aber bei vollem Bewusstsein. Es weinte und sein Jammern und Schluchzen ging ihm sehr nahe. Schnell griff er zum Handy und telefonierte einen Rettungswagen herbei. Sie war ansprechbar, flüsterte etwas. Möglichst nicht bewegen, gab er ihr zu verstehen. Während er ihren Kopf stützte und vorsichtig ihre Hand hielt, versuchte er sie zu beruhigen. Alles würde wieder gut. So hätte er es selbstverständlich auch bei Lynn getan. Bei ihrem Unfall, damals. In Mexiko. Allein das war nicht mehr nötig gewesen. Sie starben beide, Lynn und Beth, bei ihrem Crash! Mit dem Auto. Und sie mussten gleich tot gewesen sein. Während er leise sprach und ganz sanft und tröstend auf das fremde Mädchen einzuwirken suchte, drehte er seinen Kopf zu dem großen BMW. Ein SUV mit greller, auffälliger Farbe und überdimensionierten Rädern. Das Nummernschild. Es war gut zu erkennen. B – … usw. In der Ferne bereits das Heulen einer Sirene. Polizei rückte an. Sehr schnell heute, dachte er. Sonst dauerte es eher Stunden. Sie kamen oft unpassend. Und wenn man sie brauchte, waren sie nie da. Immer noch lautes Gerede, Diskussionen mit dem Autofahrer, der sehr aggressiv wirkte. Es sei nicht seine Schuld gewesen; die Kleine sei einfach quer über die Straße, ohne zu schauen. Wie aus dem Garnichts war sie angeblich gekommen. Keine Schuld, - er sei cool! Sehr cool! Oder was? Die Beschimpfungen dauerten an. Sein verletzter Stolz ging allmählich in Zorn über. Als Sutton sah, wie ein älteres Ehepaar sehr couragiert die aufgebrachten Männer beruhigen konnte, bemerkte er diese alte Manier an sich: aufmerksam jene Details zu registrieren, was einer chronologischen und authentischen Aufzeichnung mit einer Webcam glich. So das verletzte Kind, das Auto, die Nummer, das Gesicht des Fahrers, die Passanten, was sie redeten, wie sie sich verhielten usw. Und all diese Signale und Zeichen speicherte er im Nu im Gedächtnis ab. Geordnet und differenziert. Einer schematischen Darstellung gleichend.
Marie, antwortete sie, Embach mit Nachnamen. Sie wohnte am Helmholtzplatz, unmittelbar in der Nähe, müsse nun aber schnell zur Schule. Sie schrieben eine Klassenarbeit. Mathematik. 2. Stunde. Weil die erste Stunde heute ausfiel, hatte sie zuerst getrödelt. Dann aber musste sie los, war spät dran. Ok. Sie fuhr schnell. Die Ampel aber hatte grün gezeigt. Für Fußgänger und Radfahrer. Da war sie sich sicher. Als sie bei grün hinüberwollte. Sutton hielt weiterhin ihre Hand und stützte den Kopf. Ein sehr hübsches Kind. Er hielt ihr ein Taschentuch seitlich gegen die Stirn, presste es auf die Wunde. Alles käme wieder in Ordnung, sagte er. Und ob sie noch eine Telefonnummer für ihn habe. Er würde ihre Mutter oder ihren Vater anrufen, um sie zu verständigen. Damit sie zum Krankenhaus kommen könnten, wo man die Verletzungen behandeln, sie selbst natürlich erst einmal untersuchen müsste. Kompletter Check-up. Reine Routine. Das machte man nach Unfällen immer so. Um sicher zu gehen. Keine Sorge. Die Lehrerin hätte absolutes Verständnis, dass sie heute einmal fehlte. Und diese Klassenarbeit könnte sie natürlich jederzeit nachschreiben. Ein Nicken. Sie willigte ein. Was blieb ihr auch anderes übrig. Er versuchte zu scherzen. Die Schule sollte ruhig warten – die meisten Lehrer wüssten eh nicht viel mehr. Als die Schüler natürlich. Im Übrigen würde man dort eh nur das Falsche lernen. Das Leben sei der beste Lehrmeister. Und mit dem müsste man sich gut stellen … und ihm die beste Gesundheit abnötigen. Inklusive aller nötigen Vorbereitungen. Sowieso. Das wüssten aber leider nur die wenigsten. Nicht einmal die Lehrer. Die schon gar nicht. Ein zaghaftes Lächeln, beinahe ein Grinsen. Es ließ sie für einen Moment ihre Schmerzen vergessen. – Ach, ja. Die Telefonnummer. Nur die Mutter, sagte sie dann. Weil sie allein wohnten. Deren Name, als er nachfragte, ihr sehr vertraulich über die Lippen kam. Sie gab ihm die Nummer, nannte die Ziffern, formulierte stockend, eher einprägsam. Aber es fiel ihm leicht, auch diese Abfolge im Gedächtnis zu behalten. Eine bildhafte Codierung. 10 bis 12 Zahlen gingen noch. Das funktionierte spielerisch. Eine Frage der Übung.
Als der Rettungswagen endlich kam und sie darin abtransportiert wurde, ging er zurück, das Frühstück und alles andere zu begleichen. Bis auf das, was er heute Morgen nicht einmal mehr bestellt – und darum auch nicht erhalten hatte.
2
I
Suche das Tier „Aisha Ya“. Es handelt sich um eine entlaufene Schäferhündin mit erdbraunem Fell. Sie ist 7 Jahre alt und wurde am 15. März in Friedrichshain, Nähe Berliner Kriminal Theater, St. Petri-Friedhof, das letzte Mal gesehen. Angaben oder sonstiges Wichtiges, was dienlich sein könnte, Aisha Ya wieder aufzufinden, werden geldlich großzügig entlohnt. Tel. 0179932517.
Trotz der Frühe an diesem Tage hatten die Ereignisse der ersten Morgenstunden es in der Tat in sich. Unverhofft kam bekanntlich eben oft. Und obwohl es nur wenige Schritte bis zu der Hinterhofgarage waren, wo der alte, schwarze Targa 911, Baujahr 72 parkte, entschied sich Sutton, heute einmal die U-Bahn zu nehmen. Auf diese Weise hatte er zwar einige Fußwege, aber viel frische Luft. Jene Luft, von der er sich reinere Gedanken und einen klaren Kopf versprach. Dadurch umging er natürlich auch den morgendlichen Berufsverkehr, der regelmäßig Berlins Ausfallstraßen und Nebenwege verstopfte. Außerdem war ihm die Lust, das eigene Auto zu bewegen, schlichtweg vergangen.
9.00 Uhr. Monroes Anruf hatte ihn vor gut einer Stunde, so in etwa gegen 8:00 Uhr erreicht. Bis Alt-Treptow, wo sich das Hauptgebäude des BKA befand und Charles Monroe mit seinen Jüngern von der Kripo auf ihn warteten, müssten es von hier aus ungefähr 10 km sein, vielleicht weniger, dachte er. Mit der Bahn: gute 30 Minuten, die Wartezeiten einberechnet. Zum Wechseln der Kleidung blieb somit keine Zeit mehr. Das schien aber auch nicht unbedingt erforderlich. Mit seiner verwaschenen Jeans, dem formlosen blauen Hemd und der ledernen Jacke sah er ohnehin wie ein Kripo-Beamter aus. So würde er unter den Mitarbeitern des Sonderdezernats kaum sonderlich auffallen. Es fehlte eventuell nur der lederne Halfter, ging es ihm durch den Kopf. Wenn überhaupt. Einen solchen, den sie alle zu ihrem persönlichen Schutz unter dem Jackett trugen. Gefüllt natürlich. Gleich neben der glänzenden Polizeimarke. Und ihrer chirurgisch eingebauten Vorfahrt, die ihnen angesichts der chaotischen Ver-kehrslage Berlins allerdings auch nicht viel nützte. Seine eigene Automatik, Marke Sigg Sauer, lag jedenfalls gut gesichert zuhause. Technisch gesehen, das Beste eigentlich, was zu bekommen war. Wenn man schon etwas in dieser Kategorie Selbstverteidigung letztlich benötigte. Er hatte sie lange nicht gebraucht, und das war auch gut so.
Während Sutton gemächlichen Schrittes zur nächsten U-Bahnstation in der Schönhauser Allee marschierte, beobachtete er die vorbeiströmenden Passanten. Hier in diesem östlichen Teil der Stadt sahen sie beinahe alle gleich aus. Eine fade Mischung aus einfach leger und unauffällig lässig. Bodenständig. Ganz egal, ob jung oder alt, adrett und hübsch oder eben auch etwas weniger ansehnlich, von dieser erlesenen Eigenschaft guten Aussehens. Und letztlich ganz egal, ob sie nun eher arm oder reich waren. Aber wer oder was war hier schon wirklich reich?, fragte er sich. Oder was stellte es dar? Ohnehin eher eine Art schicksalhafte Bestimmung, die besser nach Berlin-Dahlem oder Zehlendorf, aber im eigentlichen Sinne nicht an den Prenzlauer Berg gehörte. Understatement – pur und vielleicht auch so gewollt. Zumindest bei denen hier im Osten, die sich den Gegebenheiten des unteren Ostens anpassten.
Noch bevor er in die Katakomben zur U2 hinunterstieg, um die nächste Bahn bis zur U8 am Alexanderplatz zu erreichen, nahm er sich vor, die Mutter des verunfallten Mädchens anzurufen. Gleich vor dem Treppengang, der in den Untergrund führte, stellte Sutton sich etwas seitlich vom Bürgersteig, damit ihm niemand oder er selbst niemandem in die Quere kam. Dann gab er die Nummer ein.
„Embach! Hallo?“, war zu hören. Eine überaus herzliche Stimme. Die helle Stimme einer Frau. Scheinbar noch jüngeren Alters. Vielleicht Mitte Dreißig, spekulierte er.
„Frau Embach? Mia Embach?“
„Ja.“
„Mein Name ist Sutton. John Sutton. Ich habe diese Nummer von Ihrer Tochter.“
„Von meiner Tochter? Was ist denn mit … Marie? – Oh, mein Gott! Ist irgendetwas …“
Er unterbrach sie sofort, weil er Zeit sparen und ebenso keine unnötige Aufregung wollte.
„Mia. Hören Sie! Was ich Ihnen jetzt sage, - hören Sie gut zu -, es soll Sie keineswegs beunruhigen. Ihrer Tochter geht es gut. Den Umständen entsprechend.“ Er hörte, wie sie ein paar Seufzer des Jammers ausstieß und gleich darauf etwas sagen wollte, ließ sie aber nicht zu Wort kommen.
„Ihre Tochter hatte einen kleinen Unfall. Mit dem Fahrrad.“
„Oh, Gott. Wann denn, und wo? Wo ist Marie jetzt?“
„In der Pappelallee ist das passiert, nähe Helmholtzplatz. Heute Morgen. Auf dem Weg zur Schule. Ich wurde zufällig Zeuge und war die ganze Zeit bei ihr. Bis der Rettungswagen kam.“
„Der Rettungswagen!“, rief sie aus. „Was ist mit ihr? Ist sie etwa verletzt? Ist Mai jetzt im Krankenhaus?“ Ein kleines Funkloch unterbrach sie.
„Bitte?“
„Wo ist sie denn jetzt? Kann ich meine Tochter sprechen? – Ach, dann hätte sie mich ja wohl selbst … – sie wird wohl nicht bei Ihnen sein. Hat man Marie in ein Krankenhaus gebracht?“
„Das versuche ich Ihnen ja gerade zu erklären. Also: Der Arm tat ihr ein bisschen weh. Und sie hatte eine kleine Wunde am Kopf. Ganz klein.“
Er sagte das sehr langsam und legte dabei die Betonung auf: ganz klein.
„Marie war bei vollem Bewusstsein. Wir haben die ganze Zeit miteinander gesprochen. Ein sehr tapferes Mädchen. Mit Verlaub, ich konnte ziem lich schnell das Vertrauen ihrer Tochter gewinnen. So gab sie mir Ihre Nummer. Irgendjemand musste sie verständigen, Mia. Ich meine, Frau Embach.“ Gleich darauf fügte er hinzu:
„Weil wir sicher gehen wollten, dass sie keine Gehirnerschütterung und noch weitere Verletzungen hat, damit sie ärztlich einfach gut versorgt wird, haben wir sie vorsichtshalber in die ambulante Aufnahme der Charité bringen lassen. Zur Kontrolle. In jedem Falle müsste sie jetzt dort sein. Ambulante Notaufnahme.“
„Ist sie gestürzt? Mit dem Fahrrad auf der Straße? Oder etwa angefahren worden?“
„Soweit ich das beurteilen kann, fuhr sie mit dem Rad auf die Straße und kollidierte mit einem Auto. Ich glaube aber, nur leicht. Sie fiel vom Rad. Machen Sie sich aber bitte keine zu großen Sorgen. Sie wird schon wieder.“
„Ich fahre sofort hin. Danke, Herr …! Wie heißen Sie noch gleich?“
„Sutton. Sie können John zu mir sagen. So nannte mich meine Mutter auch immer.“
„Also, … Herr John. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Vielen lieben Dank, dass Sie sich um meine Tochter gekümmert haben. Und danke natürlich für die Nachricht. Bitte, seien Sie mir nicht böse. Ich bin ein bisschen durcheinander, lege jetzt auf, weil ich sofort loswill. Ich habe ja Ihre Nummer. – Hallo?“
„Ja!“