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Unwiderstehliche Feelgood Historical Romance ab 14 mit spannender Detektivhandlung und kribbeligem Fake Dating! Marigold Bloom steckt in Schwierigkeiten. Ihr Verlobter gibt ihr den Laufpass, und im Rosenkrieg droht sie nun den Blumenladen zu verlieren, der seit Generationen ihrer Familie gehört. Ausgerechnet der miesgelaunte Oliver Lockhart ist Maris Rettung: Dank ihm wird sie die neueste Rekrutin der Agency for Scandal. Für einen Fall sollen die beiden sich als frisch verlobtes Paar ausgeben. Olivers verschollene Schwester ist aufgetaucht und will ihre üppige Erbschaft antreten. Aber ist die junge Frau wirklich die, die sie vorgibt zu sein? Leider Mari muss feststellen, dass es äußerst kompliziert ist, diesen Fall zu lösen, denn ihre vorgetäuschte Romanze mit Oliver fühlt sich zunehmend real an … Spannend und gespickt mit allerlei herrlich romantischen Verwicklungen - Jane Austen wäre entzückt! Alle Bände der Agency for Scandal-Trilogie: Band 1: Agency for Scandal Band 2: Season for Scandal Band 3: Game of Scandal - Perfekte Cosy Historical Romance für alle ab 14, die Romantik und Fake Dating lieben! - Mutige junge Detektivinnen der Agency for Scandal sorgen für Gerechtigkeit in der skandalumwitterten Welt der Oberschicht - Voller romantischer Verwicklungen und für alle, die »Enola Holmes« und »Bridgerton« lieben! - Band 3 »Game of Scandal« erscheint im Herbst 2025!
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2025
Laura Wood
Band 2
Unwiderstehliche Feelgood Historical Romance ab 14 mit spannender Detektivhandlung und kribbeligem Fake Dating!
Marigold Bloom steckt in Schwierigkeiten. Ihr Verlobter gibt ihr den Laufpass, und im Rosenkrieg droht sie nun den Blumenladen zu verlieren, der seit Generationen ihrer Familie gehört. Ausgerechnet der miesgelaunte Oliver Lockhart ist Maris Rettung: Dank ihm wird sie die neueste Rekrutin der Agency for Scandal. Für einen Fall sollen die beiden sich als frisch verlobtes Paar ausgeben. Olivers verschollene Schwester ist aufgetaucht und will ihre üppige Erbschaft antreten. Aber ist die junge Frau wirklich die, die sie vorgibt zu sein? Leider Mari muss feststellen, dass es äußerst kompliziert ist, diesen Fall zu lösen, denn ihre vorgetäuschte Romanze mit Oliver fühlt sich zunehmend real an …
Spannend und gespickt mit allerlei herrlich romantischen Verwicklungen - Jane Austen wäre entzückt!
Perfekte Cosy Historical Romance für alle ab 14, die Romantik und Fake Dating lieben!
Mutige junge Detektivinnen der Agency for Scandal sorgen für Gerechtigkeit in der skandalumwitterten Welt der Oberschicht
Voller romantischer Verwicklungen und für alle, die »Enola Holmes« und »Bridgerton« lieben! Band 3 »Game of Scandal« erscheint im Herbst 2025!
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Laura Wood wurde in den englischen Midlands geboren und ist preisgekrönte Schriftstellerin. Sie promovierte über die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts und schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Laura Wood lebt mit ihrem Mann und ihrem Hund in Warwickshire und hat eine Schwäche für Liebesromane, Tee, schönes Briefpapier, salziges Karamell und Feminismus.
[Widmung]
Teil Eins
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil Zwei
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Teil Drei
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Teil Vier
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Epilog
Danksagung
Marigolds kleines Kompendium der Blumensprache
Hinweis
Die Ladys der Agency for Scandal ermitteln weiter!
An alle, die mich um eine weitere Geschichte über das Finkennest gebeten haben – ihr habt mich so glücklich gemacht.
Ich habe dieses Buch nur für euch geschrieben.
London
März 1898
An dem Tag, an dem mein Leben dramatisch aus der Bahn geriet, lag der Frühling in der Luft, klar und süß wie regennasses Gras.
Während ich Simon Earnshaw auf dem Fußweg gegenüberstand und ihm zuhörte, wie er unsere Verlobung auflöste, konnte ich nicht umhin, das goldene Blumenmeer zu bewundern, das uns umgab. London war in blasses Sonnenlicht getaucht, und der Anblick des blaugrauen Himmels über der Stadt und der Narzissen im Hyde Park hatten mich einfach nur glücklich gemacht. Gerade eben noch hatte ich gedacht, dass die Narzissen ein Zeichen dafür seien, dass hellere Tage kommen würden. Doch jetzt sah ich die Wahrheit. Ich hätte sie von Anfang an sehen sollen, schließlich verstand ich die Sprache der Blumen besser als irgendjemand sonst.
Narzisse. Lateinischer Name: Narcissus. Bedeutung: unerwiderte Liebe.
Die Natur gab sich heute offenbar keine Mühe, sonderlich subtil zu sein. Selbst in einer fatalen Situation wie dieser erkannte ich ihren Humor – die Blumen nickten mit ihren Köpfen wie matronenhafte Klatschtanten, die mir schadenfroh zuriefen: Wir haben es dir ja gesagt.
»Siehst du, das ist genau das, was ich meine, Marigold«, erklärte Simon mit einem theatralischen Seufzer. Er sah mich stirnrunzelnd an. »Ich will dir gerade sagen, dass wir nicht zusammenpassen, und du schaust drein, als würdest du gleich loslachen. Das ist nicht richtig. Es ist nicht … angemessen.«
Angemessen. Ein interessantes Wort, nicht wahr? Ich habe nie so ganz verstanden, was es überhaupt bedeutete. Simon hingegen hatte sehr genaue Vorstellungen davon, welches Verhalten für eine junge Dame angemessen war. Und diese Vorstellungen liefen alles in allem auf das Gleiche hinaus: das genaue Gegenteil von Marigold Bloom.
»Es tut mir leid, Simon«, erwiderte ich und verkniff mir ein Schmunzeln, denn die Situation war kein bisschen lustig. »Ich verspreche, dass ich mich in Zukunft mehr anstrengen werde, um …«
Simon unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Dafür ist es zu spät, Marigold. Ich habe es immer wieder versucht, aber es nützt nichts … Du bist einfach nicht so, wie eine Ehefrau sein sollte.«
Das war neu. Mir lief es kalt über den Rücken. »Wie sollte eine Ehefrau denn sein?«, fragte ich und verfluchte meine Stimme dafür, wie dünn sie auf einmal klang.
Simon ließ seinen Blick über mich gleiten, und ich wusste genau, was er sah: eine wilde rotblonde Lockenpracht, die sich hartnäckig weigerte, sich zu einer Frisur bändigen zu lassen. Zwei graue Augen in einem runden Gesicht mit Grübchen. Und einen Körper, der überall Aufmerksamkeit auf sich zog – ein dicker Körper, ein üppiger Körper, ein Körper mit weichen, ausladenden Kurven. Ich kannte die Reaktionen, die mein Körper für gewöhnlich hervorrief: entweder ein Naserümpfen, woraufhin ich mich jedes Mal am liebsten so klein wie möglich machen wollte, oder anzügliche Blicke, die mir förmlich unter den Rock krochen. Simon schien immer beides zugleich zu empfinden.
Vielleicht war das das Problem.
»Weißt du, Mari, du bist einfach …« Simon hielt inne. Dann machte er eine ausschweifende Geste, als wollte er mich damit von Kopf bis Fuß umfassen. »… zu viel«, stieß er schließlich hervor.
Ich erstarrte, und das Blut schoss mir in die Wangen.
Zu viel. Es war nicht das erste Mal, dass er so etwas sagte, aber es tat trotzdem weh.
Denn ich mochte mich. Ich mochte meinen Körper. Ich mochte mein Haar. Ich mochte es, dass ich aus der Menge hervorstach.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich gedacht, dass auch Simon genau das an mir mochte. Vor allem dann, wenn er mich küsste und mir versicherte, wie schön ich sei, während er gleichzeitig versuchte, mein Kleid aufzuknöpfen – wenn er mir atemlose Versprechungen für eine gemeinsame Zukunft machte, während seine Hände über meinen Körper glitten. Damals schien ich in seinen Augen perfekt zu sein.
Doch jetzt, da wir diese Phase hinter uns hatten und ich seine Frau werden sollte, sah die Lage anders aus. Es war, als hätten sich die Spielregeln von einem Tag auf den anderen geändert – so schnell, dass ich nicht mithalten konnte.
Angefangen hatte es vor ein paar Monaten: mit kleinen, harmlosen Bemerkungen über meine Kleidung (zu bunt, zu knallig, zu extravagant) und darüber, mit wem ich sprach (der Zeitungsjunge an der Straßenecke, die Dame mit dem kläffenden Zwergspitz im Park, im Grunde jeder, der meinen Weg kreuzte), oder über die Art, wie ich lachte (zu schrill, zu schnell, zu oft). All das führte bald zu einem allgemeinen Gefühl der Unzufriedenheit.
Zuerst ging ich mit einem Lachen darüber hinweg. Dann, als seine Kommentare sich zu häufen begannen, erklärte ich Simon, dass er meine Gefühle verletze. Er entschuldigte sich und betonte, dass er mir nur helfen wolle. Ich müsse verstehen, dass man nach unserer Heirat ein anderes Benehmen von mir erwarten würde. Dass eine Ehefrau immer auch ein Spiegelbild ihres Gatten sei. Dass er ein ernstzunehmender Mann sei, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft.
Ich versuchte, auf ihn zu hören. Ich wollte, dass er glücklich war. Ich wollte ihn glücklich machen. Aber nie schien es mir zu gelingen. Damals hatte ich es zum ersten Mal verspürt, jenes heiße, mulmige Gefühl, das ich erst nach Wochen hatte benennen können: Scham. Simons Worte hatten den Samen für dieses Gefühl gesät, und Woche für Woche hatte ich gespürt, wie es wuchs und immer größer wurde.
Jetzt war Simons hübsches Gesicht in grimmige Falten gelegt. Seine blauen Augen waren kalt, seine Mundwinkel nach unten gezogen.
Mein Herz sank, niedergedrückt von einer Mischung aus Wut, Stolz und Schmerz. Und einem Hauch von Angst. Denn hier ging es nicht nur um mich. Eine Ehe mit Simon bot auch die Möglichkeit, für meine Familie zu sorgen, und dies war nun ernsthaft in Gefahr.
»Simon …« Ich räusperte mich und versuchte, den (ganz undamenhaften) Anflug von Zorn aus meiner Stimme zu verbannen. »Bitte, ich …«
»Ich habe Sarah Hardison einen Heiratsantrag gemacht«, platzte Simon heraus. Ein Hauch von Rosa breitete sich auf seinen Wangen aus, während er trotzig sein Kinn reckte, wie um mich herauszufordern.
»Du hast …« Ich blinzelte. »Wie konntest du Sarah Hardison einen Antrag machen …«, fragte ich langsam, »wo du doch mit mir verlobt bist?«
Simon zupfte an seinem Kragen. »Wir beide haben uns nie ein offizielles Versprechen gegeben …«
»Du hast mir vor einem Jahr einen Antrag gemacht, Simon. Wir wollten im Herbst heiraten.«
Immerhin schien er noch einen letzten Rest von Anstand zu besitzen, jedenfalls genug, um schuldbewusst dreinzuschauen. Ich versuchte, ein Bild von Sarah Hardison vor meinem inneren Auge heraufzubeschwören. Sie war nett, erinnerte ich mich. Wir hatten ein- oder zweimal miteinander gesprochen, als sie im Laden vorbeigeschaut hatte. Sie sah aus wie eine Porzellanpuppe, und ihr Vater hatte eine ziemlich hohe Position bei einer Bank.
Simon machte eine abwehrende Geste. »Das war doch nur so dahingesagt, Marigold. Wir hatten eine gute Zeit miteinander, nicht wahr? Wir haben uns amüsiert. Es war eine Fantasie, eine kindliche Spielerei. Aber jetzt sind wir achtzehn – Zeit, das Leben ernst zu nehmen. Zeit, Wurzeln zu schlagen und die Verrücktheiten der Jugend hinter sich zu lassen.«
Mich beschlich der Verdacht, dass Simon nur die Worte seines Vaters nachplapperte. Es klang jedenfalls ganz nach seinem Vater, der nie einen Zweifel daran gelassen hatte, sein Sohn habe seiner Meinung nach eine bessere Partie verdient als die Enkelin eines Blumenverkäufers.
»Ich dachte, das zwischen uns wäre etwas Ernstes.«
Simon warf mir einen mitleidigen Blick zu. Und dann tätschelte er meine Hand. Er tätschelte meine Hand! Blanke Wut stieg in mir auf. Ich hatte noch nie in meinem Leben jemanden geschlagen, aber in diesem Moment ballten sich meine Finger wie von selbst zu einer Faust.
»Es ist nur zum Besten«, erklärte Simon, ohne zu ahnen, dass ich in meiner Vorstellung gerade dabei war, seinen Kopf zu zerquetschen wie eine Weintraube. »Ich bringe dich jetzt nach Hause.«
Die ganze Situation kam mir vor wie ein schlechter Traum. Passierte das gerade wirklich? Wie konnte es sein, dass alles so schnell in die Brüche ging, von einem Augenblick auf den anderen? Ein paar lapidare Sätze während eines Spaziergangs im Park, die ein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Mehr als nur ein Leben.
Ich stieß seine Hand weg. »Nein, danke.« Ich war fest entschlossen, ein letztes Fünkchen Würde zu bewahren. Zum Glück war irgendwo in mir drin noch etwas von meinem Rückgrat übrig. Bestimmt hatte Simon erwartet, dass ich eine Szene machen würde. Und die hätte ich ihm auch am liebsten geliefert. Ein Teil von mir wollte ihn unter Tränen anflehen, es sich noch einmal zu überlegen. Aber das durfte ich nicht zulassen. Also behielt ich eine undurchdringliche Miene und eine ausdruckslose Stimme bei und verbarg diesen Teil von mir hinter einer Maske der Gleichgültigkeit, auf die nur ein Dummkopf hereinfallen konnte.
Simon gab sich nicht einmal Mühe, seine Erleichterung vor mir zu verbergen. Er schien regelrecht froh über meine Gelassenheit, mit der ich seine Ankündigung aufnahm. »Oh, also dann.« Er wandte sich zum Gehen. »Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Nichts für ungut und so weiter. Ich bin sicher, wir sehen uns.«
Und mit dieser unglaublich ernüchternden Bemerkung endete meine Beziehung zu Simon. Fast zwei Jahre meines Lebens, alle meine Pläne für die Zukunft … hatten sich in Luft aufgelöst.
Ich stand da, ließ die Wucht des Moments abklingen wie den Schmerz nach einem Schlag und atmete tief ein und aus. Langsam kehrte das Gefühl wieder in meinen Körper zurück.
Hier im Park vergaß man beinahe, dass man sich mitten in der Stadt befand. Überall sprossen grüne Triebe hervor und die ersten Blumen fingen an zu blühen – leuchtende Farbtupfer, die selbst die ausgetretenen Fußwege überwuchern wollten. Ich wackelte mit den Zehen in meinen Stiefeln und rief mir in Erinnerung, dass unter der Erde das Leben neue Kräfte sammelte, um in die Höhe zu schießen und seine Finger der Sonne entgegenzustrecken. Ein Windstoß ließ die zarten Blätter über meinem Kopf rascheln, klar und frisch und voller Verheißung.
Den Frühling hatte ich schon immer am meisten geliebt. Für eine Floristin ist das wohl naheliegend. In dieser Jahreszeit scheint die ganze Welt aufzuwachen, sich zu strecken, die Tristesse des Winters abzuschütteln und wieder lebendig zu werden. Es ist die Zeit des Aufbruchs, des Neubeginns.
So schlimm konnte es also gar nicht sein, sagte ich mir. Nicht wirklich, nicht wenn die Welt um mich herum so grün und lebendig war.
Ich zupfte an meinem unscheinbaren grauen Mantel. Ich hatte ihn gekauft, weil Simon meinen alten mit dem leuchtend karmesinroten Futter und dem hübschen Ziersaum nicht mochte. Er fand ihn zu auffällig. Mit solcher Kleidung, so hatte er mir erklärt, würde ich nur die falsche Art von Aufmerksamkeit erregen. Und ich wollte doch gewiss keine Blicke auf mich ziehen außer seinen, oder etwa nicht?
Das würde sich jetzt ändern. Alles würde sich jetzt ändern.
Ich beugte mich über die Narzissen, brach eine von ihnen vorsichtig ab und steckte sie in mein Knopfloch – ein trotziges Aufblitzen von Gold an meinem Kragen.
Ich musste meiner Familie erzählen, was passiert war. Nur wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte – nicht, wenn Simons Entscheidung sie beinahe genauso betraf wie mich.
Bevor ich mich dazu durchringen konnte, brauchte ich noch einen Moment. Einen Moment, um mich zu sammeln und meine Fassung wiederzugewinnen.
Es gab nur einen Ort, an dem ich jetzt sein wollte.
Der Anblick von Bloom’s Blumenladen in all seiner Pracht war Balsam für meine Seele. Ich konnte förmlich spüren, wie die Last auf meinen Schultern leichter wurde, als ich mich dem Gebäude näherte, in dem ich die meiste Zeit meines Lebens verbrachte. Nicht jede junge Frau konnte von sich behaupten, ihren Beruf so sehr zu lieben wie ich.
Die Tür des Ladens glänzte tiefschwarz, und die großen Schaufenster zu beiden Seiten waren mit Frühlingsblumen dekoriert, die ich selbst arrangiert hatte. Wie ich zufrieden feststellte, ließen sie viele der vorbeiflanierenden Passanten verharren oder lockten sie sogar ins Innere. Auf dem Schild über der Tür stand in goldenen Lettern auf schwarzem Grund: Bloom’s – Est. 1845. Drum herum rankte sich ein Blumenbouquet als Emblem des Ladens – ein Strauß aus Ringelblumen, Rosen und Gänseblümchen in Anspielung auf die Vornamen der Frauen der Familie Bloom: Marigold, Rose und Daisy. Topfpalmen flankierten die Eingangstür, und auf der Straße davor stand ein Karren, an dem wir Gestecke und Knopflochsträußchen für die Herren verkauften.
»Hallo, Jane.« Ich bemühte mich, meine Stimme klingen zu lassen wie immer, als ich die junge Frau begrüßte, die heute als Verkäuferin hinter dem Wagen stand. »Sieht aus, als hättest du einen guten Morgen gehabt.«
Jane nickte. »Die Knopflochsträuße mit den weißen Tulpen, die Sie gebunden haben, sind sehr gut angekommen, Miss Bloom. Sie hatten recht – sie sind ein echter Hingucker auf den dunklen Anzügen.«
»Wunderbar. Wir werden später noch mehr auf dem Markt besorgen, falls Jack noch genug Vorrat hat. Wie läuft es mit den rosa Anemonen?«
Jane runzelte die Stirn. »Nicht so gut. Ich fürchte, sie lassen ein bisschen die Köpfe hängen.«
»Mit etwas zusätzlichem Draht lässt sich da vielleicht Abhilfe schaffen. Anemonen sind so empfindlich.«
»Da haben Sie recht.« Jane wandte sich einem neuen Kunden zu, und ich betrat das Geschäft. Die Messingglocke über der Tür läutete fröhlich zur Begrüßung.
Ich liebte diesen Laden. Ich liebte die hohen Fenster, die auf die sonnenbeschienene Straße hinausgingen. Ich liebte die feinblättrigen Palmen, die unsere Verkaufstheke umrahmten und die so gut zu den schwarzen und weißen Fliesen passten, auf denen sie standen. Ich liebte die Körbe mit den ständig wechselnden Blumen: Heute waren es schlanke violette Schwertlilien, cremefarbene Magnolien und sternförmige Narzissen, die den Raum mit ihrem berauschenden Duft erfüllten.
Ich liebte die riesige Messingkasse, neben der auf einem Tablett Pralinen angerichtet waren. Es war mit Veilchen- und Rosencreme gefülltes Konfekt, das ich mit meiner Schwester Daisy hergestellt hatte. Wir verkauften es in cremefarbenen Schachteln, die mit dem Bloom’s-Emblem versehen waren.
Ich liebte die farbigen Bänder, die an der Wand hingen, und die vor Blumen überquellenden Vasen, in denen wir die Schausträuße präsentierten, die wir auf Bestellung für unsere Kundschaft zusammenstellten. Stolz erfüllte mich, als ich alles in mich aufnahm – all die Einzelheiten unseres Geschäfts, das ich mit aufgebaut hatte. Ein Geschäft, das so freundlich und einladend war, dass die Leute gerne ein wenig Zeit hier verbrachten.
Simon hingegen mochte den Laden nicht.
Oder zumindest gefiel es ihm nicht, wie ich ihn führte. Nämlich wie ein Mann. Bei dem Gedanken daran straffte ich unwillkürlich die Schultern und richtete mich auf. Ich würde nicht zulassen, dass Simon Earnshaw oder sonst jemand zu einer Bedrohung für unseren Laden wurde.
Suzy, eine unserer Verkäuferinnen, winkte mir hinter dem Tresen zu und widmete sich dann wieder dem Gentleman, den sie gerade bediente.
»Ich brauche etwas, das sagt: Es tut mir leid, dass ich deine Katze nicht leiden kann, aber dich liebe ich wirklich.« In der Stimme des Mannes lag pure Verzweiflung.
Suzys Blick wanderte zu mir, ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Sie wusste, dass ich eine Schwäche für solche Herausforderungen hatte. »Was denken Sie, Mari?«
Ich schaute mich im Laden um und schürzte die Lippen. »Blauglöckchen als Zeichen der Demut, Hyazinthen für die Bitte um Vergebung, Olivenzweige als Friedensangebot, und das Ganze mit einer blauen Schleife zusammengebunden«, sagte ich nach einem Moment. »Oh, und auch ein paar rosa Tulpen.«
Tulpe. Tulipa. Bedeutung: Ich gestehe dir meine Liebe.
In der Tulpensaison ging es im Laden immer sehr geschäftig zu. Denn zu dieser Jahreszeit gab es viele Liebeserklärungen zu machen. Wie ich schon sagte, der Frühling war eine Zeit des Neuanfangs.
Zumindest für die meisten Menschen, hallte die bittere Erkenntnis in meinem Kopf wider.
»Ich bin sicher, der Strauß wird seinen Zweck erfüllen … vielleicht dazu noch ein Päckchen Katzenminze-Samen.« Ich schenkte dem Mann ein mitfühlendes Lächeln. »Ich denke, das hier ist ein Fall von: Wahre Liebe bedeutet, auch ihre Katze zu lieben. Eine Geste wie diese kann viel bewirken.«
»Da haben Sie wohl recht«, stimmte der Mann mit einem Seufzer zu. »Dann bitte auch noch die Samen.«
»Ich bringe Sie Ihnen gleich«, sagte ich und überließ es Suzy, den Strauß zu binden. Ich zog meinen Mantel aus und ging in den hinteren Teil des Ladens. Dort war mein Reich – der Ort, an dem ich den Großteil meiner Arbeit verrichtete: ein schattiger Raum mit Schubladen voller alphabetisch geordneter Saatgutpäckchen, sorgfältig aufbewahrter Gartengeräte, Blumendrähte und Stecknadeln und allem, was ich sonst noch brauchte, um Blumen zu züchten, zu arrangieren und zu binden. Eine grob gezimmerte Werkbank nahm die gesamte Länge einer Wand ein, und gleich dahinter lag der kleine Garten mit den Blumen, die ich selbst gezogen hatte. Der Geruch von feuchter Erde lag in der Luft. Ich öffnete die Flügeltür, die in meinen Garten hinausführte, um die Frühlingsluft hereinzulassen.
Es war ein besonderer Ort. Es war auch der Ort, der mein größtes Geheimnis barg. So sehr ich diesen Laden liebte, in meinen kühnsten Träumen sah ich etwas anderes: weite, offene Felder voller Leben, die ich mit meinen Händen hegte und pflegte. Nicht, dass ich das jemals laut ausgesprochen hätte. Bloom’s Blumenladen lag in meiner Verantwortung, und diese Aufgabe war alles andere als eine Last. Außerdem waren offene Flächen mitten in London schwer zu finden, und ich war noch nie weiter aus der Stadt hinausgekommen als bis nach Hatfield.
Spätestens jetzt fiel die Anspannung von mir ab. Ich nahm die Katzenminze-Samen und brachte sie dem Kunden, kehrte dann mit einem Arm voller Anemonen nach hinten zurück und machte mich daran, neue Knopflochsträußchen zu binden, die länger in Form blieben, ohne dabei ihre zerbrechliche Schönheit einzubüßen. Es war eine gute Arbeit – eine, die meine Finger beschäftigte und meinen Geist beruhigte.
Zufrieden mit dem Ergebnis lockerte ich die Schultern, legte die Sträuße vorsichtig in ein Körbchen und brachte sie nach draußen zu Jane, die sie begeistert entgegennahm.
»Die werden im Handumdrehen weg sein«, versicherte sie mir.
»Ah, Miss Bloom, da sind Sie ja«, ertönte eine Stimme hinter uns, und ich sah, wie Janes Lächeln erlosch. Es war die allerletzte Stimme, die ich in diesem Augenblick hören wollte.
»Hallo, Mr Earnshaw.« Ich setzte ein höfliches Lächeln auf, als ich mich zu Simons Vater umdrehte und dabei einen Schritt von Jane wegging, weg vom Laden. Ich wollte diesen Mann nicht hier haben, auch wenn er dazu mehr Recht hatte als jeder andere. Sein bloßer Anblick reichte aus, um meine hart erkämpfte Gelassenheit auf die Probe zu stellen.
Geoffrey Earnshaw war ein großer, stattlicher Mann. Er hatte hellblondes schütteres Haar, graublaue Augen und eine Haut so blass wie verwässerte Milch. Dazu noch ruhelose Hände, von denen ich mich tunlichst fernhielt, denn er hatte den Ruf, sie gerne dorthin zu legen, wo sie nicht hingehörten.
»Wie ich erfahren habe, hatten Simon und Sie heute Morgen ein schwieriges Gespräch.« Als ich seine gespielt mitleidige Miene sah, drehte sich mir der Magen um.
»Ich weiß nicht, ob ich es so bezeichnen würde«, antwortete ich betont freundlich, denn seine Worte hatten meinen Stolz neu entfacht. »Es tut mir leid, dass die Verlobung beendet ist, aber so etwas kommt vor.«
»Wie recht Sie haben.« Er rückte näher an mich heran. »Ich muss sagen, ich bin erleichtert, dass Sie es so gut aufnehmen, meine Liebe.«
»So gut, wie man es eben erwarten kann«, erwiderte ich steif, als sich seine Finger in einer Geste geheuchelten Mitgefühls um meinen Ellbogen schlossen. Ich spürte den Druck seines Siegelrings auf meiner Haut.
»Nun, da sich Ihre Situation geändert hat, werden Sie gewiss befürchten, dass dies auch Auswirkungen auf unsere Mietvereinbarung hat.« Er schnurrte geradezu. »Es ist natürlich eine etwas heikle Angelegenheit, die Verlobung mit dem Sohn des Vermieters zu lösen.« Er gluckste.
Ich hob das Kinn und verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass nicht ich es gewesen war, die die Verlobung aufgelöst hatte. Wenn von uns beiden jemand Grund hatte, wegen dieser Angelegenheit peinlich berührt zu sein, dann ja wohl er. »Danke, aber ich mache mir keine Sorgen, Mr Earnshaw. Wie auch immer die neuen Mietbedingungen aussehen werden, ich bin zuversichtlich, dass wir sie erfüllen können. Schließlich ist die Familie Bloom schon seit über fünfzig Jahren im Geschäft.«
Mr Earnshaw verzog verständnisvoll das Gesicht, nahm seine Hand aber nicht weg. »Ach, Miss Bloom, das klingt ja alles sehr schön, aber machen wir uns doch nichts vor … wir kennen uns viel zu gut für solche Spielchen. Ich glaube kaum, dass man einen Blumenkarren als Familienunternehmen bezeichnen kann.«
Ich konnte nur mit Mühe eine brüske Antwort unterdrücken. Mein Großvater hatte sich als junger Mann mit dem Straßenverkauf von Blumen bis zu einem der renommiertesten Blumenhändler Londons hochgearbeitet. Niemand hatte das Recht, darüber die Nase zu rümpfen, schon gar nicht ein so mittelmäßiger Mann wie Earnshaw. Er hatte einfach die Anteile seines Vaters an einer Schifffahrtsgesellschaft und das Vermögen aus geschickten Immobilienkäufen seines Großvaters geerbt und sich dann wie ein zufriedener Mops zurückgelehnt und seinen Reichtum genossen. Geoffrey Earnshaw hatte nie selbst etwas zustande gebracht. Abgesehen von Simon vielleicht, doch wie gut ihm das gelungen war, konnte man ja sehen.
»Aber wir kommen vom Thema ab.« Seine Hand wanderte weiter meinen Arm hinauf, und aus der Berührung wurde plötzlich ein höchst unangenehmer Annäherungsversuch. »Nur weil die Verbindung zwischen Ihnen und meinem Sohn aufgelöst ist, muss nicht zwangsläufig Ihr Geschäft darunter leiden. Vielleicht können wir eine andere Vereinbarung treffen, so ganz unter uns …«
Ich hob abrupt den Kopf und sah ihm in die Augen.
Mehr als alles andere wünschte ich mir in diesem Moment, die richtigen Worte zu finden. Knapp und schneidend sollten sie sein. Aber mir fiel absolut nichts ein.
Er lächelte und zeigte dabei Zähne, die zu groß für sein Gesicht waren. Im Gegensatz zu seinen trägen Bewegungen hatte sein Lächeln etwas Raubtierhaftes. Seine Hand glitt wieder meinen Arm hinab und legte sich dann auf meinen Rücken. Es war nur eine leichte Berührung, aber seine Finger klebten an mir wie Schnecken. Kurz strich seine Hand über meinen unteren Rücken und verkrallte sich dort. Ich spürte, wie sich seine Fingerspitzen in mein Kleid gruben.
Ich wich einen Schritt zurück.
»Lassen Sie sich mein Angebot durch den Kopf gehen«, sagte er leichthin, während ich wie versteinert dastand und ihn anstarrte. »Einen schönen Tag noch, Miss Bloom.« Er tippte an seine Hutkrempe und schlenderte davon, als wäre nichts geschehen.
Mir war das Blut in den Adern gefroren. Seine ungebetene Berührung, so flüchtig sie auch gewesen war, spürte ich immer noch und am liebsten hätte ich mich mit Wasser und Seife abgeschrubbt. War das gerade wirklich passiert? Hatte Simons Vater mir tatsächlich Avancen gemacht? Hier, mitten auf einer belebten Straße, vor meinem eigenen Laden? Ich rieb mir über die Oberarme. Es war immer noch sonnig, und die Leute eilten an mir vorbei und gingen ihren Geschäften nach. Auf eine fast schmerzhafte Weise war alles wie immer, aber innerlich fühlte ich mich kalt und leer.
Wie benommen ging ich zurück in den Laden und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Das kalte Gefühl wich langsam aus meinen Gliedern.
Ich wollte nur eines: nach Hause.
»Der Mann ist ein Schwein!«, rief Daisy und fuhr sich mit den Händen durch ihr blondes Haar. Dass sie dabei ihre Frisur zerzauste, die, wie ich wusste, eine gute Stunde vor dem Spiegel erfordert hatte, bewies, wie empört meine Schwester war.
Sie sprach von Simon. Ich war noch gar nicht dazu gekommen, ihr von dem Gespräch mit Mr Earnshaw zu erzählen. Das war ein Thema, an das ich mich selbst erst herantasten musste. (Denn es will schon etwas heißen, wenn der Dummkopf, der eine Verlobung ohne triftigen Grund auflöst, nur der zweitschlimmste Mann ist, mit dem man an einem Tag zu tun hat.)
»Daisy!«, ermahnte meine Mutter sie und schenkte Tee ein. Sie war fest überzeugt, dass eine gute Tasse Tee uns alle aufmuntern würde. »Deine Wortwahl ist unangemessen.« Sie schwieg einen Augenblick, während sie die Teekanne wieder in die Mitte des Tisches stellte und sie im Uhrzeigersinn drehte, sodass das Blumenmuster nach vorne zeigte. »Wobei sie in diesem Fall nicht fehl am Platz ist.«
Wir saßen zu dritt in unserem Wohnzimmer über dem Laden. Der hübsche Raum trug fast so viel zu meiner Beruhigung bei wie die Entrüstung, die in den Augen meiner Mutter und meiner Schwester aufblitzte. Ich war immer noch aufgewühlt wegen der Szene mit Earnshaw, aber allein schon hier bei den beiden zu sein, vertrieb einige der dunkelsten Schatten.
Daisy strich über ihr Haar, um es wieder zu glätten. Sie lachte freudlos auf, ihre blauen Augen funkelten. »Er ist ein Schwein und hat Mari nicht verdient – und die Wahrheit auszusprechen, ist nie unangemessen.«
»Nun ja, die Sache ist erledigt«, sagte ich, um einen leichten Tonfall bemüht. »Vielleicht hatte Simon recht. Vielleicht war es nur eine jugendliche Schwärmerei.«
»Wenn du so darüber denkst, dann ist es wohl tatsächlich das Beste.« Mutter seufzte. »Ihr solltet nur dann heiraten, wenn allein die Vorstellung, der von euch Erwählte könnte euch verlassen, euer Herz in tausend Stücke zerspringen lässt. Das wünsche ich mir für meine beiden Mädchen.«
»Du wünschst dir, dass uns beiden das Herz zerspringt?«, fragte ich über den Rand meiner Teetasse hinweg.
»Ja!«, rief Mutter überschwänglich. Dann runzelte sie die Stirn. »Ich meine, nein, nein, natürlich nicht. Ich meinte …«
»Ich weiß, was du meinst«, versicherte ich ihr lachend. »Ich wollte dich nur necken. Und du hast recht – ich habe nie eine große Leidenschaft für Simon empfunden, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Ich dachte allerdings nur, wir könnten miteinander glücklich sein.«
»Glücklich mit so einem Wurm?« Daisy schnaubte. »Wie soll das gehen?«
»Ist er nun ein Wurm oder ein Schwein?«, überlegte ich laut. »Oder ein Mischwesen? Ein Schweinewurm vielleicht? Ein Schwurm?«
Dem Ernst der Lage zum Trotz konnte Daisy nicht anders als loszukichern. Dann legte sie den Kopf schief und schaute mich nachdenklich an. »Zum Glück steckst du es gut weg, Mari«, sagte sie. »Ich an deiner Stelle wäre ein Häufchen Elend, wenn jemand seine Verlobung mit mir auflösen würde – selbst wenn ich mit einem Schwein verlobt gewesen wäre. Aber so bist du – du … ruhst in dir. Ganz anders als ich.«
Jetzt war ich an der Reihe zu lachen. Daisys Selbsterkenntnis war überaus zutreffend. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie bildhübsch – klein und schlank, mit üppigen rotblonden Locken und großen blauen Augen – und schwelgte in einer Welt aus Modezeitschriften und Groschenromanen. Je gruseliger und alberner die Liebesgeschichte, desto besser. Der kleinste Anlass war für sie Grund genug, ein Drama zu veranstalten. (Zum Beispiel, als Mutter ihr den Kauf eines wenig schmeichelhaften Hutes ausreden wollte, woraufhin Daisy einen Zusammenhang zwischen der Hut-Situation und einer Reihe von immer absurder werdenden Zufällen konstruierte, die unweigerlich zu Daisys vorzeitigem Ableben führen würden. Unter anderem spielten dabei eine Möwe und ein einäugiger Pfeifenraucher eine Rolle. Muss ich noch eigens erwähnen, dass sie den Hut am folgenden Sonntag in der Kirche trug?)
Man könnte meinen, dass sie aus diesem Hang zur Theatralik im Laufe der Jahre herauswachsen würde, aber sie war sowohl vom Aussehen als auch vom Temperament her das Ebenbild unserer Mutter. Wenn die beiden nebeneinander standen, sahen sie aus wie diese kleinen Holzpuppen, die man ineinander stapeln konnte.
»Ja, genau«, stimmte Mutter Daisy zu, wie um mir recht zu geben. »Ich für meinen Teil hätte mich sofort ins Bett verkrochen.« Sie seufzte noch einmal voller Inbrunst. »Wahrscheinlich wäre ich dahingesiecht, schrecklich blass und schrecklich interessant.« Ihr Gesichtsausdruck war beinahe sehnsuchtsvoll, als sie sich vorstellte, wie sie in ihrem schönsten Nachthemd wie hingegossen auf dem Bett lag. »Was für ein Glück, dass du nach deinem Vater kommst, Mari. Er war ein so lieber, zuverlässiger Mann.«
Da mein Vater kurz nach Daisys Geburt gestorben war – ich war damals erst drei Jahre alt –, musste ich mich, was ihn betraf, auf Mutters Wort verlassen. Ich wusste, dass meine Eltern sich sehr geliebt hatten, von ihrer großen Zuneigung füreinander erzählte uns meine Mutter immer wieder. Sie hatte sogar mehrere blumige Liebessonette verfasst, denen Daisy und ich mit unterschiedlicher Begeisterung zugehört hatten. Mein Großvater hatte immer gesagt: Als sein Sohn eine Rose mit nach Hause brachte, hatte er gewusst, dass die beiden füreinander bestimmt seien.
Aber so, wie sie über meinen Vater und meine Ähnlichkeit mit ihm sprach, klang er weniger nach einem Gedicht, sondern eher wie eine deprimierend langweilige Werbung für eine Uhr. Zuverlässig. Beständig. Solide. Manchmal fühlte ich mich dann wie ein kräftiger Ackergaul, der einen Pflug zieht, und nicht wie ein achtzehnjähriges Mädchen.
»Nun ja, ich habe kein Interesse daran, dahinzusiechen.« Ich nahm einen Schluck Tee, griff nach einem Lavendelkeks und biss hinein. Diesmal war es mir gelungen, dem blumig süßen Gebäck genau den ausgewogenen Geschmack zu verleihen, den ich mir erhofft hatte. Meine Kreation war reif dafür, im Laden zum Verkauf angeboten zu werden. »Außerdem habe ich viel zu viel zu tun, um im Bett herumzuliegen.« Ich zögerte, entschied mich dann aber, den Stier gewissermaßen bei den Hörnern zu packen. »Meine Verlobung mit Simon – oder besser gesagt ihr Ende – könnte Auswirkungen auf das Geschäft haben.«
Mutter rührte gerade bedächtig Zucker in ihren Tee, aber bei meinen Worten verharrte der silberne Teelöffel mitten in der Bewegung. Sie sah mich an. »Meinst du … wird sein Vater …« Sie brach ab.
»Ob er die Miete für den Laden erhöhen wird?«, griff ich ihre unausgesprochene Frage auf. »Ja, ich denke schon. Er … nun, ich habe ihn getroffen, bevor ich zu euch kam.«
In knappen Worten gab ich unser Gespräch wieder. Mutters Gesicht war blass, Daisys Blick mörderisch, sie bebte fast vor Wut.
»Wie kann er es wagen …!«, begann meine Schwester. Ich umfasste ihre Hand und nahm ihr behutsam die Teetasse ab.
»Es ist keine gute Idee, Mutters bestes Porzellan gegen den Kamin zu werfen«, sagte ich und stellte die Tasse auf die Untertasse zurück. »Ja, er hat es gewagt, und wir wissen es doch alle: Dieser Mann ist ein grässlicher, lüsterner …«
»… Schweinewurm«, beendete Daisy den Satz für mich.
Ich lachte, wenn auch etwas gezwungen. »Wie der Vater, so der Sohn, nehme ich an.«
»Ich verstehe nicht, wie du so gelassen sein kannst.« Daisy neigte den Kopf zur Seite und betrachtete mich, als wäre ich eine geheimnisvolle fremde Spezies.
»Ich könnte platzen vor Wut«, sagte ich. »Es war furchtbar. Er war furchtbar. Aber da ich nicht vorhabe, seine Geliebte zu werden, ist es besser, wenn ich meine Energie darauf verwende, eine Lösung zu finden. Wir werden wohl eine ordentliche Summe aufbringen müssen, wenn wir hierbleiben wollen.«
Daraufhin verstummten wir alle drei. Denn darin lag das eigentliche Problem: Simons Vater besaß das Gebäude, in dem wir uns gerade befanden: sowohl Bloom’s Blumenladen als auch unsere Wohnung im oberen Geschoss.
Meine Verlobung mit Simon war Teil einer langfristigen geschäftlichen Vereinbarung gewesen, auf die sich sein Vater, wenn auch nur widerwillig, eingelassen hatte. Nach unserer Heirat wollte er Simon das Haus überschreiben. Auf diese Weise würde meine Familie weiterhin dort leben und arbeiten können. Wenn mein Großvater eines Tages starb, würde auch das Geschäft auf Simon übergehen.
Da der Blumenladen unter meiner Führung erfolgreich war – die Geschäfte liefen sehr gut –, war dies wohl kaum als ein Akt der Nächstenliebe anzusehen, wie Mr Earnshaw gerne behauptete. Er und Simon würden dank uns eine erhebliche Menge Geld verdienen. Das änderte jedoch nichts daran, dass sowohl Simon als auch Mr Earnshaw meine Position als Stellvertreterin meines Großvaters und spätere Erbin des Blumenladens skandalös fanden. Allein der Gedanke, ein von einer Frau geführtes Geschäft könne tatsächlich Gewinn abwerfen, schien ihre Vorstellungskraft zu übersteigen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich es Großvater sagen soll.« Ich rutschte unbehaglich auf dem Polstersofa herum. »Nicht das mit Mr Earnshaw«, fügte ich hastig hinzu. »Es würde ihn nur unnötig aufregen.«
Meine Mutter und meine Schwester nickten zustimmend. In Gedanken sahen wir vermutlich alle drei Großvater im Morgengrauen mit einer Duellpistole in der Hand vor uns. Zwar befanden wir uns im Jahr 1898, es hatte sich seit fast fünfzig Jahren niemand mehr duelliert, und zudem hatte Großvater noch nie in seinem Leben eine Waffe abgefeuert. Aber meine Ehre zu verteidigen, würde ganz seiner romantischen Natur entsprechen, und das konnte nur in einer Katastrophe enden.
»Du weißt ja, dass er von der Vereinbarung mit Simon von Anfang an nicht begeistert war«, begann Mutter.
»Das weiß ich«, stimmte ich ihr zu, »aber Großvater hat eingesehen, dass es notwendig war. Und praktisch. Ohne die Vereinbarung hätte Mr Earnshaw keinen Grund gehabt, die Miete niedrig zu halten, geschweige denn sie zu senken, wie wir es geplant hatten. Das hier ist ein begehrtes Stadtviertel. Er weiß, dass er viel mehr Geld herausholen könnte. Ohne die Verlobung hätte er uns schon längst hinausgeworfen.«
Ich schaute mich in dem Wohnzimmer um, in dem ich aufgewachsen war, in dem auch mein Vater aufgewachsen war und in dem ich seit jeher eine besondere Verbindung zu ihm gespürt hatte. Es wäre ein furchtbarer Schlag für uns alle, wenn wir gezwungen wären, wegzuziehen. Großvater wurde immer älter, seine Gesundheit war nicht mehr so robust wie früher. Er würde das Haus, in dem er sein Geschäft aufgebaut und das Leben mit seiner Frau geteilt hatte, nicht kampflos verlassen. Und trotz seiner gegenteiligen Versicherungen befürchtete ich, dass ein solcher Kampf seine Kräfte übersteigen würde.
»Ein Umzug? Wie soll das denn gehen?« Mutter rang im Schoß ihre Hände. »Es ist ja nicht nur die Wohnung, sondern auch das Familienunternehmen, das dein Großvater aufgebaut hat …« Sie brach ab, in ihre Augen glänzten Tränen.
Ich versuchte darüber hinwegzusehen, dass sie meinen Beitrag zum Familienunternehmen mit keinem Wort erwähnt hatte. In den achtzehn Monaten, seit Großvater mir die Leitung des Ladens übertragen hatte, waren unsere Einnahmen erheblich gestiegen. Ich hatte mehrere Großkunden gewonnen und belieferte einige der angesehensten Familien der Stadt, und – was vielleicht am wichtigsten war – ich hatte eine eigene Gärtnerei mit einem modernen Gewächshaus auf dem ehemals überwucherten Streifen Land hinter dem Haus eingerichtet.
Das Gewächshaus. Allein der Gedanke daran ließ mich zusammenzucken. Es war eine große Investition gewesen, eine, die ich nur in der Gewissheit einer gemeinsamen Zukunft mit Simon gewagt hatte. Dieser Schritt hatte für Bloom’s alles verändert – wir waren jetzt in der Lage, einen kleinen, aber feinen Teil unseres Angebots selbst anzubauen, ohne von den umliegenden Gärtnereien und deren schwankenden Preisen abhängig zu sein. Außerdem konnten wir mit verschiedenen Anbaumethoden experimentieren und neue Sorten züchten, in erster Linie Rosen.
In einige meiner Experimente setzte ich enorme Hoffnungen. Großvater und ich hatten sogar schon über Blumenausstellungen gesprochen, über die Möglichkeit, eines Tages preisgekrönte Gewächse anzubieten – für Kunden, die das Seltene, das Exklusive wünschten und gewillt waren, den entsprechenden Preis dafür zu zahlen.
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte ich mit einer Gewissheit, die ich selbst nicht empfand, aber Mutters Gesicht hellte sich sofort auf. Ihr unerschütterlicher Glaube, dass ich alles in Ordnung bringen würde, war ebenso rührend wie ärgerlich. »Mir wird schon etwas einfallen«, fügte ich hinzu und versuchte, mir nicht den Hauch eines Zweifels anmerken zu lassen.
»Ja, wie immer«, bekräftigte Mutter. »Ach, Mari, was würden wir nur ohne dich tun?« Sie beugte sich vor und drückte meine Hand. »Du bist ein Schatz.«
Aus irgendeinem Grund stiegen mir bei diesen Worten die Tränen in die Augen und ich blinzelte sie schnell weg. Ich weinte nie, und ich hatte nicht vor, jetzt damit anzufangen. Nun galt es, praktisch zu denken und einen Plan zu machen. Meine Familie war auf mich angewiesen. Unsere Ausgaben würden steigen, also musste ich Wege finden, unsere Einnahmen zu erhöhen. Es ging nur darum, die Zahlen auszugleichen. Das würde ich schon irgendwie hinkriegen.
»Da sind ja meine kleinen Blumen, bildhübsch wie immer!«, dröhnte eine Stimme an der Tür.
»Grandpa!« Daisy sprang auf, eilte zu ihm und nahm ihm seinen Hut ab, während Mutter umständlich dafür sorgte, dass er sich in seinen Lieblingssessel setzte. Ich schenkte ihm eine Tasse Tee ein, legte einen Keks auf einen Teller und stellte ihm beides hin.
Horatio Bloom war unser aller Liebling. Klein, aber rüstig, obwohl schon weit über siebzig, mit einem buschigen silbrigen Schnurrbart, der bei jedem Wangenkuss auf der Haut kitzelte, und grünen Augen, die vor Schalk nur so sprühten. Er besaß einen Charme, dem niemand widerstehen konnte. Als junger Mann hatte er den Blumenkarren seines Vaters übernommen, insgeheim jedoch von einer Bühnenkarriere geträumt, für die er fraglos die nötige Ausstrahlung besaß. Das ist eine höfliche Umschreibung dafür, dass meine Schwester ihr Talent für Melodramatik zweifelsohne von ihm geerbt hatte.
Großvaters Gesundheitszustand hatte sich in den letzten Jahren verschlechtert. Er ermüdete schnell, hatte Schwindelanfälle und litt unter Herzrasen, was er jedoch nie zugeben würde. Zu seinem Glück hatte er eine Schwiegertochter und zwei Enkelinnen, die mit Argusaugen auf jedes Anzeichen von Überanstrengung achteten. Er tat so, als würde er es hassen, wenn wir uns um ihn kümmerten, aber in Wirklichkeit reagierte er auf jegliche Zuwendung wie eine Blume auf Sonnenschein.
»Marigold, mein Liebling«, sagte er und biss mit einem Ausdruck der Glückseligkeit in den Keks, »die sind wunderbar. Genau die richtige Menge an Lavendel … Willst du sie unten zum Verkauf anbieten?«
»Ja, das habe ich vor. Auch die mit Rosmarin, sobald ich die richtige Mischung von Kräutern und Salz hinbekomme.«
»Du bist eben eine echte Bloom.« Großvater seufzte zufrieden. »Immer am Tüfteln, immer auf der Suche. Ein Mann kann sich glücklich zur Ruhe setzen, wenn er eine Enkelin wie Marigold hat, stimmt’s, Rose?«
»Ja«, stimmte meine Mutter ihm zu und warf einen Blick in meine Richtung. »Wir können uns alle glücklich schätzen, dass wir Mari haben. Davon haben wir gerade gesprochen.«
»Mari kriegt immer alles hin«, sagte Daisy mit unerschütterlichem Vertrauen.
Ihre gutgemeinten Worte gaben mir aus unerfindlichen Gründen das Gefühl, in ein zu enges Korsett eingeschnürt zu sein. Offensichtlich warteten meine Mutter und meine Schwester darauf, dass ich Großvater alles erzählte, aber ich wollte es so lange wie möglich hinauszögern. Ich würde es ihm bald sagen müssen, denn ich war eine schlechte Lügnerin, aber erst einmal brauchte ich eine Verschnaufpause von den betrüblichen Ereignissen des Morgens. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Kraft hatte, das alles sofort noch einmal zu erzählen. Plötzlich schien nicht mehr genug Luft zum Atmen da zu sein, und die aufsteigende Panik, die ich bisher unterdrücken konnte, kehrte mit noch größerer Wucht zurück.
Mit einer Hand, die so gut wie gar nicht zitterte, stellte ich meine Teetasse auf das Tablett, stand auf und strich meinen Rock glatt.
»Ich gehe jetzt in die Bibliothek«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. »Bis zu meinem Treffen mit Mrs Birch heute Nachmittag, bei dem wir die Vorbereitungen für ihre Dinnerparty besprechen wollen, ist noch etwas Zeit. Es gibt ein neues Buch über Landschaftsgestaltung, das ich mir ausleihen möchte. Höchste Zeit, nach frischen Ideen zu suchen.«
Mutter schien erleichtert zu sein, dass ich Großvater vorerst noch nichts sagen wollte, denn sie warf mir einen zustimmenden Blick zu. Großvater rieb sich die Hände und erzählte, dass das letzte Buch, das ich mir über die Rosenzucht ausgeliehen hatte, offensichtlich von einem Schwachkopf geschrieben worden war, und er tat dies mit dem fröhlichen Selbstbewusstsein eines Mannes, der alles über Blumen wusste, was es zu wissen gab.
»Ach, Mari, du bist so klug und kannst dir all diese Gartendinge merken«, meldete Daisy sich zu Wort. Sie strahlte mich an und klimperte mit den Wimpern.
»Also gut, was willst du?«, fragte ich misstrauisch.
Daisy zeichnete mit dem Finger ein Muster auf dem Sofa nach. »Eigentlich nichts – nur, wenn du sowieso in die Bibliothek gehst, könntest du vielleicht ein Buch für mich mitbringen.«
»Und das nach der Strafgebühr, die du mich letztes Mal gekostet hast?« Ich biss mir auf die Lippe und versuchte, ernst zu bleiben.
Großvater lachte glucksend.
»Es ist nicht meine Schuld, dass das Buch ins Badewasser gefallen ist«, schmollte Daisy. »Ehrlich, ich war einfach so schockiert.« Sie erschauerte in freudiger Erinnerung. »Rodrigo hatte gerade Isabellas Versteck im Wald gefunden und …«
»Halt! Halt!« Mutter hielt sich die Hände an die Ohren. »Du weißt, dass ich noch nicht so weit gekommen bin. Ich brauche viel länger zum Lesen, weil die Worte so verschmiert sind. Ich dachte mehrere Seiten lang, dass es um Verrührung geht und nicht um Verführung, und dieser plötzliche Themenwechsel zu Backkünsten hat mich sehr verwirrt …«
Ihr Protest wurde durch Großvater und Daisy übertönt, die beide laut losprusteten. Nach einem Moment stimmte auch Mutter mit ein. Ich versuchte ebenfalls zu lachen und sah mit einer eigenartigen Mischung aus Liebe und Sorge zu, wie sich die drei gegenseitig immer mehr zum Lachen brachten. Meine Familie. Sie war auf mich angewiesen.
»Backkünste!«, krähte Daisy, die jetzt mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa lag, was zu erneuten Lachsalven führte. Die Faust, die sich um mein Herz gelegt hatte, drückte fester zu.
Ich murmelte einen Abschiedsgruß und schlich so unauffällig wie möglich hinaus, während das Lachen der drei mich die Treppe hinunterbegleitete.
Ich würde sie nicht im Stich lassen, schwor ich mir und spürte wieder das Gefühl von Mr Earnshaws Fingern auf meiner Haut. Ich würde einen Weg finden, um alles in Ordnung zu bringen.
In Mudie’s Ausleihbibliothek herrschte wie immer reger Betrieb. Ein scheinbar endloser Strom von Menschen floss durch die Tür hinein und hinaus. Diese Tür befand sich unter einem unauffälligen Schild in einem unauffälligen Gebäude an der Ecke New Oxford Street und Museum Street und ließ nur wenig von dem schwindelerregenden Raum erahnen, der sich dahinter verbarg.
Als ich eintrat, empfing mich nicht nur der Anblick von Hunderttausenden von Büchern, sondern auch dieser wunderbar tröstliche Geruch – der süßlich-staubige Muff von knisterndem, über die Jahre gealtertem Papier und Ledereinbänden.
Die Eingangshalle der Bibliothek war eine riesige Rotunde, über der sich eine hohe Kuppeldecke wölbte. Mit ihren vergoldeten Stuckverzierungen erinnerte sie an ein Theater, doch anstelle von Sitzplätzen reihten sich Holzregale an den Wänden und bis zum Dach hinauf. Auf halber Höhe befand sich eine Galerie, sodass sich die Regale über zwei Etagen erstreckten. Manche von ihnen waren so hoch, dass man Leitern brauchte, um an die Bücher heranzukommen.
In der Mitte des Raumes waren mehrere Schreibtische kreisförmig angeordnet. Dort saßen die Bibliothekare, an die man sich wenden konnte, wenn man Fragen hatte oder Bücher ausleihen wollte. Auch am Rand des Raums befanden sich dunkle Schreibtische. Hier konnte man sitzen und lesen oder lernen. Links von diesem zentralen Raum schlossen sich viele weitere Regale an, die sich wie ein Labyrinth bis tief in das Gebäude erstreckten.
Bei Mudie’s waren Menschen aus allen Gesellschaftsschichten anzutreffen, und so eilte ich an einer Gruppe junger Mädchen vorbei, die von den prickelnden Szenen des neuesten Roman-Dreiteilers schwärmten, und dann an einem Herrn, der mit einem Angestellten über die historischen Aufzeichnungen zu einem der Fischmärkte der Stadt diskutierte. Ein paarmal wurde ich im Vorbeigehen von Stammkunden unseres Blumenladens gegrüßt, die auf der Suche nach Lesestoff waren.
Das war eines der Dinge, die mir an Bloom’s am besten gefielen: das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Wir lebten in einer riesigen, sich ständig verändernden Metropole, einer Stadt, die jeden Tag größer wurde, und doch kannten die Menschen hier meinen Namen. Sie kauften Blumen bei mir, und Blumen waren meiner Ansicht nach etwas sehr Persönliches. Ich kannte nicht nur die Namen meiner Kunden, sondern auch ihre Geburtstage, die Namen ihrer Ehefrauen und Geliebten, ich wusste, wann sie ihr Herz an jemanden verloren hatten oder wann sie ihre Schwiegereltern beeindrucken wollten. Ich wusste, wann sie sich stritten und wieder versöhnten, wann sie um geliebte Menschen trauerten und wann sie Familienzuwachs begrüßten. Es war ein Geschenk: Die ganze Vielfalt des Lebens kam durch unsere Tür herein.
Bei dem Gedanken musste ich lächeln, während ich tiefer in das Bücherlabyrinth vordrang. Ich brauchte nicht erst auf den Grundriss der Bibliothek zu schauen, um zu wissen, in welcher Ecke die Gartenbaubücher standen, sondern strebte zielsicher zu der richtigen Abteilung. Hier war es ruhig und leer – ein eher vernachlässigter Teil der Bibliothek, aber das passte mir ganz gut. Der Gesprächslärm war verstummt. Es herrschte Stille, und für meinen aufgewühlten Geist war sie willkommen wie kühles, erfrischendes Wasser.
Es war nicht nur ein Vorwand gewesen, als ich gesagt hatte, dass ich ein Buch ausleihen wollte – es gab ein neues Werk zur Theorie und Praxis der Landschaftsgärtnerei, das ich unbedingt lesen wollte. Ich hatte zwar schon jede Menge Arbeit in das Anlegen unseres Gartens gesteckt, und wir hatten eigentlich gar keinen Platz mehr, um noch weitere meiner vielen Ideen umsetzen zu können, aber man durfte ja wohl träumen, oder nicht? Ich überflog die Titel im Regal und ließ meine Finger über die Buchrücken gleiten.
Es wird sich für alles eine Lösung finden, sagte ich mir. Es gab immer etwas, das man tun konnte, einen Plan, den man schmieden konnte, ein Vorhaben, das man umsetzen konnte. Ich musste nur herausfinden, wie.
Unwillkürlich dachte ich an die Zeit vor zwei Jahren, als mein Großvater seinen ersten Schwindelanfall gehabt hatte, die Treppe hinuntergefallen war und sich das Bein gebrochen hatte. Daraufhin war das reinste Chaos ausgebrochen. Mutter war in Hysterie verfallen (woraufhin Daisy automatisch ihrem Beispiel gefolgt war), während Großvater grantig und blass und hilflos im Bett lag. Es war eine schwierige, herausfordernde Zeit gewesen … und doch hatte die Welt nicht aufgehört, sich zu drehen. Das Geschäft musste weitergehen, Tag für Tag.
Und das bedeutete, dass ich mich darum kümmern musste. Ich hatte mich an Großvaters Krankenbett gesetzt, mit ihm eine Liste erstellt und sie dann Punkt für Punkt abgehakt. Danach hatte ich eine weitere, eigene Liste geschrieben und ebenfalls alles erledigt. Ich hatte schon früher Dinge in Ordnung gebracht. Ich würde es also auch diesmal schaffen. Und vielleicht lag die Antwort auf alles in unserem Garten. Vielleicht hielt er eine Möglichkeit bereit, mehr Geld einzunehmen … und vielleicht konnte eines dieser Bücher dabei helfen.
In Anbetracht dessen, wie mein Tag bisher verlaufen war, wunderte ich mich nicht, dass das Buch, das ich suchte, auf einem der obersten Regalbretter stand und weit und breit kein Angestellter in Sicht war. Ich sah mich rasch um, ob die Luft rein war, dann schob ich die Leiter an die Stelle, an der ich sie brauchte, und kletterte hinauf. Das durfte man eigentlich nicht, und es war genau das, was Simon als unangemessen bezeichnet hätte, aber es erschien mir dumm, nicht nur meine Zeit, sondern auch die anderer Leute zu verschwenden, wenn ich die Aufgabe genauso gut selbst erledigen konnte. Das würde ich mit links schaffen.
Obwohl …
Jetzt, wo ich ganz oben stand, war es doch viel höher als gedacht. Außerordentlich hoch, um genau zu sein. Und ehrlich gesagt, war ich nicht gerade schwindelfrei. Dann machte ich den Fehler, nach unten zu schauen – und plötzlich schien der Boden (der mit einem Mal ziemlich weit weg war), ins Schwanken zu geraten.
Ich blieb ein oder zwei Augenblicke wie erstarrt, dann sprach ich ein Machtwort zu mir selbst, zog vorsichtig das Buch heraus und wagte mich an den Abstieg. Meine Knie zitterten, und ich klammerte mich mit meiner freien Hand so fest an die Leiter, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war geradezu beschämend, wie langsam ich vorankam.
Ich konzentrierte mich so sehr auf die Stufen, dass ich beim Klang einer Stimme unter mir heftig erschrak.
»Diese verdammte Bibliothek ist ein einziges Labyrinth! Mein Gott! Welche Abteilung ist das? Warum stehen hier jetzt Bücher über den Anbau von Kartoffeln?«
Der unerwartet laute Wutausbruch führte dazu, dass ich ins Stolpern geriet. Mein Fuß rutschte ab, und als ich die Hand ausstreckte, um mich festzuhalten, glitt mir das Buch aus den Fingern. Entsetzt sah ich zu, wie es Kurs auf den Kopf des missmutigen Mannes nahm, der gerade seiner Frustration Luft gemacht hatte.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als mein leiser Schreckensschrei ihn aufschauen ließ. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf ausgeprägte Wangenknochen, eine kräftige Kieferpartie und dunkle, zornig funkelnde Augen, bevor er schützend den Arm hob. Zu spät.
Das Buch (das unglücklicherweise ein schwerer Wälzer war) erwischte ihn an der Stirn. Der Mann stöhnte vor Schmerz auf, und ich sah stumm und starr vor Schreck zu, wie er zu Boden sackte.
Wunderbar, dachte ich mit einem Anflug von Hysterie. Dieser Tag wurde von Minute zu Minute besser. Ich war in die Bibliothek gekommen, um Entspannung zu finden, und stattdessen hatte ich aus Versehen jemanden ermordet.
Ich kletterte die restlichen Sprossen hinunter und näherte mich vorsichtig der Leiche. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Wie hoch war die Gefängnisstrafe für einen Mord mit der Tatwaffe Buch? Gab es einen eigenen Begriff dafür? Vielleicht Librozid? Mein Gehirn dachte sich diese lateinische Bezeichnung aus, obwohl es sich eigentlich darauf konzentrieren sollte, einen Fluchtweg zu finden. Gerade als ich mich neben mein Opfer kniete, um seinen Puls zu fühlen, stöhnte der Mann auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Er blinzelte und sah mich einigermaßen fassungslos an.
»Oh, Gott sei Dank«, seufzte ich.
»Was war das …« Seine Augen verengten sich, und seine Brauen zogen sich zusammen wie Gewitterwolken kurz vor dem Sturm. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, überragte er mich ein gutes Stück. »Sie! Haben Sie gerade ein Buch nach mir geworfen? Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?«, polterte er.
Ich weiß nicht, wer von uns beiden überraschter war, als ich plötzlich in Tränen ausbrach.
Ich weinte so selten, dass ich in diesem Augenblick selbst nicht wusste, was mit mir los war. Wobei mir in dieser Lage wohl niemand einen Vorwurf machen konnte. Männer! Warum waren sie nur immer so schrecklich?
Ich kauerte mich auf den Boden. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen, und der unerwartete Sturm an Gefühlen, der mich erfasst hatte, ließ meinen ganzen Oberkörper beben.
»Oh Gott«, stöhnte der Fremde. »Nun stehen Sie schon auf, sie kleine Närrin.« Er packte mich und zerrte mich auf die Beine.
Komm schon, Mari, tadelte ich mich. Du hast ihn beinahe umgebracht – du solltest dich wenigstens entschuldigen.
Ich holte einige Male zittrig Luft, wischte mir über die Augen und zwang mich dann, den Fremden anzusehen, der vor mir stand.
Gerade hatte ich es geschafft, wieder einigermaßen normal Luft zu holen, doch bei seinem Anblick verschlug es mir erneut den Atem.
Denn genau das war er: atemberaubend.
Ich weiß, es klingt albern, von dem vollkommenen Gesicht eines Mannes überwältigt zu werden. Ein Phänomen, von dem ich bisher dachte, dass es nur in Daisys Lieblingsromanen vorkäme. Aber dieser Mann war die lebendig gewordene Fantasie jeder Liebesromanautorin. Ein paar Jahre älter als ich und etwas größer, schlank, aber mit breiten Schultern, die seinen Mantel sehr gut ausfüllten. Er hatte lockiges mitternachtsschwarzes Haar und einen warmgoldenen Teint. Sein Gesicht war kantig, was in starkem Kontrast zu seinen vollen, sinnlichen Lippen stand. Seine dunklen Augen, über denen sich dichte Brauen wölbten, funkelten mich an.