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Erzählungen, die durch Landschaften und Zeiten gleiten. Berückende Erinnerungsbilder, von Berlin bis zum Elsass, die leicht und schwermütig zugleich sind.
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Seitenzahl: 85
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Erster Brief
Zweiter Brief
Dritter Brief
Vierter Brief
Fünfter Brief
Sechster Brief
Autobahn
Dementia Senilis
Niemandsland
Claude,
heute Morgen um zehn betrat ich die Insel. Vor ihren Klippen sah ich Wachttürme, die hölzern hinüberglotzten. Der Strand war mit spanischen Reitern bespickt. Dahinter hatten sich Minen in den Sand verkrochen. Und da lag die Insel vor mir, ein kleiner, fremder und doch so vertrauter Planetoid. Du kannst Dir nicht ausdenken, Claude, wie schnell man hier von Welt zu Welt hinüberwechselt, von Sonnensystem zu Sonnensystem, obwohl Stacheldrahtgrenzen ein weit größeres Hindernis bilden als die Unendlichkeit des Kosmos. Es war heute Morgen um zehn.
Damals vor fünfundzwanzig Jahren, als wir beide in Berlin ausstiegen, damals schrieben wir auch Montag wie heute. Die Stadt lag taufrisch vor dem Bahnhof Friedrichstraße ausgebreitet. Die Linden begannen zu blühen. Die Spree schimmerte eisgrau im nordischen Licht. Wir tranken ein fahles Bier irgendwo in einer Kneipe, dann trafen wir Helmut und fuhren mit dem Bus nach Moabit. »Wie bekommt Dir der Urlaub, Helmut?« – »Berlinisch, moabitisch«, sagte er und lachte übermütig. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, bemerkte ich, dass seine Wangen sich auch ein frisches Rot leisten konnten – die Wangen, die sonst immer einen leichten, traurigen Schatten trugen. Moabitschatten sagten wir dazu. Helmut lachte übermütig: »Senta wird sich riesig freuen!« Und wir waren gespannt auf Senta, Du und ich.
Es war an einem Montag. Ich habe mir diesen Tag eigens ausgewählt, Claude, und sogar die Stunde, für dieses Wiedersehen mit Berlin. Du wirst jetzt lächeln, und Deine Dozentenstimme wird mit leiser Ironie wie von einem Katheder in einen imaginären Hörsaal hinabfließen: »Vierzigjährige haben die besondere Eigenart, nur zwanzigjährige Erinnerungen zu haben. Vierzigjährige waren nie dreißig, nie fünfunddreißig. Es sind Vierzigjährige, die sich zum ersten Mal aufmachen, ihre ehemaligen Schlachtfelder aufzusuchen. Es sind dieselben Vierzigjährigen, die die fliederfarbenen Pfade der Jugendliebe wieder freilegen, die trauten Gehölze der romantischen Jahre wieder aufforsten und über verstaubte Operettenkulissen mit ergriffenem Federwisch fahren. Hütet euch vor der Sentimentalität der Vierzigjährigen.«
Und dabei vergisst Du, Claude, was Du mir eines Abends mit müder Stimme zugeflüstert hattest, als wir müßig nach getaner Bürger- und Familienvaterpflicht auf die Straße hinunterblickten, wo bemähnte Lederjacken ihre Motoren aufheulen ließen: »Im Grunde genommen, François, lebt der Mensch nur bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr. Was nachher folgt, sind lauter Pawlowsche Reflexe, Automatismen, die wir brav und zahm übernehmen ohne nur einen einzigen Gedanken der Auflehnung. Eines Tages rasieren wir den Romantikerbart ab, den Anarchistenbart, und fangen an, für ein Eigenheim zu sparen. Das Weitere ergibt sich dann von selbst.« Heute Morgen um zehn stieg ich in Berlin aus und drehte meine Uhr um fünfundzwanzig Jahre zurück. Und da warst Du, Claude, da waren Helmut und Senta, und wir schlenderten durch die Stadt »Wo liegt denn eigentlich dieses Elsass?« fragte Senta. »Jenseits der Meere«, antworteten wir beide »Wie findet ihr Berlin?« fragte sie weiter.
Kiefernwälder, Birkenwälder, Mischwald und Seen: So reizend war Berlin heute Morgen, so zärtlich frisch im Sonnenwind. Ich flanierte auf luftigen würzigen Pfaden, an jungen Birken vorbei, die zum Ufer hinabstiegen wie Mädchen zum Bade. Ich kam mir so oberschülerhaft schwelgend vor, auf lönsischen Spuren segelnd, im gefühlsduseligen Winde erfüllter Landsersehnsüchte; und die Unze Schamgefühl, die mein Hirn noch auftreiben konnte, half nur dazu, die Sache zu würzen. Hütet euch vor der Sentimentalität der Vierzigjährigen.
Ich saß lange am Ufer des Wannsees zwischen vertäuten Booten. Weißt Du noch? Damals waren wir auch einmal herausgefahren an den See. Und wir mussten Senta rudern lassen. »Ihr könnt nicht ahnen«, prahlte sie, »was so alles in einer Berliner Göre drinsteckt!« Ihr Lachen kullerte über den See und verlor sich weit drüben im Gehölz. Die Ruder schlugen platschend aufs Wasser. Bald schoss das Boot im verwegenen Zickzackkurs vorwärts, bald zog es beängstigende Kreise. Wir aber schauten gebannt auf Sentas bloße Arme, aus denen jedes Mal beim Einwinkeln der Ellenbogen zwei kleine kugelrunde Bälle hervorsprangen; und frech erklang ein verbotenes Lied der Marlene, rauchig frech mit grellem Abschluss. Während Helmut lächelte, während Helmut irgendwoanders war, jenseits unserer Grenzen.
Ein Schwan strich vorbei, kehrte bei der Anlegebrücke und blieb mitten in der kleinen Bucht liegen: eine graziöse Boje, die sich im leisen Wellengang schaukelte. Drei Segel ließen sich weit draußen vom Wind tätscheln, mal backbords, mal steuerbords. Ein Mädchen stieg zu mir herab. Ich half ihr das kleine Boot ins Wasser stoßen. Bald tuckerte der Motor in den See hinaus. Sie winkte mir herüber, aufrecht im Boot stehend, die straffen Brüste unterm weißen Sweater wie eine Galionsfigur in das weiche Licht stechend.
Du kannst Dir nicht vorstellen, Claude, wie grün diese Stadt ist, die Du nicht kennst. Was wir damals unser nannten, das war das alte Herz Berlins, das verwachsene Herz, von Moabit bis zum Alexanderplatz sich ausweitend. Damals lag Berlin zwischen diesen beiden Polen. Heute aber, nachdem man die Stadt in ihrer Mitte getrennt hat, so wie man einen Apfel zerschneidet, heute ist das, was man bei uns gemeinhin Berlin nennt, nach Westen gerutscht, in Parks hinein, in Wälder und Gewässer verzogen. Nein, Claude, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie jung Berlin geworden ist.
Ich stieg auf einen Berg, den ich weit hinter dem Messegelände entdeckt hatte. Es war ein kahler Hügel, den junger Rasen behutsam erglomm. Und ich genoss den Ausblick über die grüne Weite, die das Häusermeer auflockerte und verschlang. Da sagte plötzlich eine Stimme hinter mir: »Unter Ihren Füßen liegt eine Schule, mein Herr.« Ich sah den Chauffeur fragend an. »Ich war dabei, als die Lastwagen sie hier auskippten. Eine ganze Schule, mein Herr. Dieser Berg ist ein einziger Trümmerhaufen, falls Sie es nicht wissen sollten.«
Hundert Meter hoch, Claude, und ich weiß nicht wie viel Millionen Kubikmeter Schutt: Hier haben sie die Trümmer ausgekippt und aufgehäuft, nach der Sintflut. Ich stand über einer Schule, Claude. Asche von Schulbänken und Landkarten, Asche von Lehrern und Schülern, und da waren Cicero dabei und Goethe, Kant und Voltaire, Asche. Unter meinen Füßen lag die Stadt, die wir gekannt hatten, Claude, Sentas Stadt. Asche.
»Im Winter wird hier Ski gelaufen. Den Skilift finden Sie weiter hinten.« Der Chauffeur warf seine Kippe ins Gras, schaute eine Weile dem feinen Rauchfähnlein zu, das zwischen den steifen Halmen tänzelte, dann zertrat er sie mit zornigem Schuh, zerstampfte die umherstehenden Gräser und ging harten Schrittes dem Wagen zu … Ich dachte an den Skilift. Skilift für rassige Mädchen im weißen Sweater, die in Bombentrichtern gezeugt wurden im Jahre Null und deren Stadt heute gleichaltrig ist wie sie: zwanzigjährig.
Weißt Du noch, Claude, wie scharf wir hinter Senta her waren? Wir haben leider nie erfahren können, wem von uns beiden sie den Apfel gereicht hätte, falls der Zeitpunkt dazu gekommen wäre. Senta: junge, rauchige Hinterhofblume mit jahrhundertealter Proletarierweisheit im dunklen Augenstern. Sprudelnde Senta, sprühäugige Senta. Senta in Stöckelschuhen mit blassen Waden, blassen Lippen. Senta, strohig das Haar, funkelnd der Blick und eiskühl die Stirn. »Warum haben sie euch auch eingezogen«, wollte sie wissen, »da ihr doch französische Staatsangehörige seid?« – »Was ist schon aus uns geworden«, hast Du dann geantwortet, Claude, »hin ter uns ein Gebirge, vor uns ein Strom, unser Land eine Chaussee für vor- und zurückflutende Regimenter … Und wir? Requirierungsmaterial, Kartoffelsäcke, Artilleriegäule. Trommelhäute und Kanonenfutter.« – »Was werdet ihr nun tun?« wollte sie weiter wissen. So viel wollte sie wissen, Senta: des Vaters autodidaktischer Geist spukte ohne Unterlass in der Tochter fort. »Desertieren solltet ihr.« Sie sagte das frei heraus, fischte eine Zigarette aus Helmuts Rocktasche, steckte sie an und blies mir den Rauch ins Gesicht. Dann beendete ihr Bruder das Gespräch mit einem mürrischen: »Die können sich’s leisten.« – »Können wir«, wollte ich hinzusetzen, aber Senta war schon weg, schleuderte weit vor uns Kieselsteine in den See und pfiff ihr freches Lied.
Und später, viel später, als wir drei irgendwo zusammen im Dreck lagen – Katastrophennachricht war eben aus Berlin eingetroffen: Remer hatte Stauffenberg gestellt und erschossen – da sprang Helmut plötzlich aus dem Granattrichter und mitten ins Geheule der Stalinorgeln hinein. »Bist verrückt geworden, Helmut!« brüllten wir. »Bleib in Deckung, Helmut!« – »Wozu?« antwortete sein letzter Blick. Wozu? Es hat ja doch keinen Sinn mehr. Moabit ausgebombt, Deutschland verheizt und die letzten Aufrechten an die Wand gestellt. Wozu dann ein Weiterleben?
Helmut aber lebt, wir haben es seitdem erfahren. Helmut lebt in Berlin. Er lebt, trotzdem. Nach zwanzig Jahren kommen die Pawlowschen Reflexe, sagtest Du, Claude. Und die Wende tritt so plötzlich, so unvorhergesehen ein, dass man nichts dagegen unternehmen kann. Gestern war man noch ein Mensch, über Nacht ist man dann zum angepassten Bürger geworden, zum Philister, zum Pharisäer, zum Automaten. Und wer vergessen hat zu sterben, oder wem der Opfergang missglückt ist, der hat nun weiterzuleben und sich zu sättigen. Ich sollte Helmut aufsuchen. Ich muss ihn wiedersehen. Ein Motorboot saust über das Staniol des Wannsees. Eine gefiederte elegante Boje schaukelt im leichten Wellengang. Ein weißer Sweater winkt zu mir herüber. Du kannst Dir nicht vorstellen, Claude, wie viel Zärtlichkeit in dieser Stadt liegt.
Trotzdem, wenn Du bei mir wärst, würden wir diesen kitschigen Prospektsatz mit einem sonoren Lachen hinunterspülen! So muss ich es allein und in aller Stille tun. Prost.
François
Claude,
es ist Nacht. Eine Ente watschelt über den Wittenbergplatz. Monotoner Regen spinnt dicke Fäden auf den schwarzglitzernden Asphalt herab. Unsichtbare Hände versuchen, im Schein der Neonröhren das Lose zu einem festen Gefüge zu weben. Schleier, hauchdünn aber Schleier trotzdem, Kreppschleier, schwarz mit Silber durchwirkt. Krepp für Gedenktage und Witwen. Musselin um gedrungene Brüste und weiche Schenkel. Aus den Nightbars schwimmt milchiges Blau mit Himbeerrot gemixt. Während unsichtbare Hände unentwegt zupfen und weben: Parzen, Armeseelen und Bacchantinnen … bis ein Hauch von irgendwoher das Ganze verweht.
Ein Tief liegt über der Mark Brandenburg. Regenkeil ins kontinentale Hoch hineingeschoben. Und eine Ente watschelt noch über den Wittenbergplatz ihrem Lager zu, einer stacheligen Hecke auf überschwemmtem Rasen. Es ist heute ein trostloser Tag gewesen.