Sechs Tage im Herbst - Bernd Ohm - E-Book

Sechs Tage im Herbst E-Book

Bernd Ohm

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Beschreibung

Die blutige Spur der RAF Das ruhige Vorstadtleben von Familienvater Henning Kollwey findet ein jähes Ende, als eines Abends durch sein Fenster auf ihn geschossen wird. Er überlebt unverletzt, die Ermittlungen verlaufen ergebnislos. Allerdings hegt Henning einen Verdacht, den er der Polizei verschweigt: Deutschlandweit kamen zuletzt alte Bekannte unter dubiosen Umständen ums Leben, er kennt sie alle aus der Zeit, als er während eines lustlosen Soziologiestudiums in die RAF-Unterstützerszene geriet. Verfolgt von namenlosen Feinden, macht sich Henning unter Lebensgefahr daran, ein Netzwerk aus Geheimdiensten, Terroristen und radikalen Politgruppen aufzudecken, das vor über dreißig Jahren die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland für immer veränderte und bis heute zu existieren scheint.

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Bernd Ohm

Sechs Tage im Herbst

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive Michaela Gröner & Klaus Gröner GbR, München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Miloje (Stern) und Stock/PeterSherran1 (Mann)

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

E-ISBN 978-3-89425-769-9

Bernd Ohm

Hey Hey, My My

Unten am Fluss zieht Nebel, und man ist froh, dass es drinnen warm ist. Henning wischt sich den Schweiß von der Stirn, verknotet umständlich die Küchenschürze hinter dem Rücken und atmet einmal tief durch – höchste Zeit, dem »Drei-Geschmäcker-Fisch« endlich die Aufmerksamkeit zu widmen, die er verdient hat. Schon halb sieben durch, gleich wird Kai mit Frau und Tochter auf der Matte stehen; keine Chance, dass der alte Hund irgendwann mal unpünktlich sein könnte, dreißig Angestellte und Baustellen sogar in Hamburg und Hannover, das muss laufen wie ein Uhrwerk. Henning läuft stattdessen im Chaos-Modus und hat bis vor zehn Minuten am Rechner gehangen, um seine eigenen Leute, die heute Nacht beim Kunden nacharbeiten müssen, per Skype durch die Implementierung der Datenbank-Engine zu führen; aber jetzt ist endgültig Schluss, und er muss sich um den verdammten Pla Sam Rod kümmern.

So gut wie damals Mama Anong wird er das Schuppentier natürlich nicht hinzaubern können, er hat auch keinen Zackenbarsch aus den sanften Wellen des Südchinesischen Meeres zur Verfügung, und im Wohnzimmer der Kollweys weht keine warme Tropenbrise durch die Palmen, aber immerhin hat der Fisch-Bringdienst aus Bremerhaven vorhin ein halbes Dutzend ganze Seezungen an der Tür abgegeben, frisch am Vortag aus der Nordsee gezogen, für neunzehn Euro neunundneunzig das Stück, und der Kamin ist angefeuert.

Und schön ist es auch bei ihnen. Anja hat letzte Woche auf dem Flohmarkt an der Schlachte diesen riesigen Kerzenleuchter entdeckt, sieht ein bisschen arg nach Synagoge aus, aber egal, jedenfalls ziert das bronzene Ungetüm jetzt wuchtig den großen schwarzen Esstisch. Seine Frau und die Mädels haben den ganzen Nachmittag kichernd Karotten und Sellerie nach südostasiatischer Art zu Blumen geschnitzt, jetzt fehlt nur noch die Musik. Tingvall-Trio oder Elvis Costello?

»Emma!«

Während Henning das schwere Santoku-Messer verwendet, um maschinengewehrartig mehrere Zehen Knoblauch gleichzeitig zu hacken, sieht er aus den Augenwinkeln, wie nach einem endlosen Moment seine zwölfjährige Tochter in der Küchentür auftaucht.

»Kannst du mal bei Spotify gucken, ob die das Tingvall-Trio haben?«, fragt er und versucht dabei, möglichst nicht das gefährlich scharfe Messer und die Knoblauchzehen aus den Augen zu verlieren.

»Hä?«

Jetzt dreht er sich doch um. Emma gibt ihr Bestes, ihn unendlich genervt anzusehen. Und sie trägt natürlich das iPhone in der Tasche und die Beats über die Ohren gestülpt.

»T-i-n-g-v-a-l-l Trio!«, ruft ihr Vater laut, während er sich wieder dem Hackbrett zuwendet. »Und pack doch bitte dein iPhone ins Dock, meins ist noch irgendwo im Auto verschollen.«

»Na toll! Und ich muss wieder diesen Jazz für Leute, die keinen Jazz mögen, mit anhören«, schmollt sie und zieht beleidigt ab.

»Altklug!«, ruft Henning ihr halb verärgert, halb spöttisch hinterher, aber insgeheim ist er stolz, dass sie so widerborstig ist. Nina, die Kleine, ist da ganz anders, immer brav und Mamas Liebling, aber so süß, dass man ihr niemals auch nur den kleinsten Wunsch abschlagen kann.

Jetzt die Chilis! Er schneidet sie rasch und wirft sie in die Schüssel der Küchenmaschine, wo schon Knoblauch, Schalotten und Koriander warten. Bevor er den Knopf drücken kann, um das Schneidewerk in Bewegung zu setzen, kommt Anja atemlos in die Küche gerannt. Sie hat das schwarze Samtkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt angezogen und versucht vergeblich, sich im Laufen einen Anhänger ins Ohrloch zu stecken.

»Du, die kommen schon die Auffahrt hoch! Ist der Wein kalt genug? Hilf mir doch bitte.«

Er legt das Messer weg, wischt sich rasch die Hände an der Küchenschürze ab und hilft ihr. Eigentlich ist Kai ein alter Kumpel und Jugendfreund, Hennings Frau könnte auch in zerfetzten Jeans und ungeduscht herumlaufen. Aber irgendwie ist sie da eigen.

»Wie lange brauchst du denn noch?«, will sie wissen. Ihr Unterton changiert irgendwo zwischen Hysterie und Angriffskrieg.

Henning zuckt entschuldigend mit den Schultern.

»Die Soße muss erst mal köcheln, dann kann ich die Fische in der großen Pfanne frittieren. Das geht dann aber ganz schnell. Der Reis ist fertig, und die Frühlingsrollen sind im Ofen warm gestellt.«

Sie rollt mit den Augen.

»Na super – du verschwindest gleich wieder, und ich kann mir eine halbe Stunde lang lustige Schwänke aus dem Baugewerbe anhören.«

Er schüttelt unwirsch den Kopf.

»Ach was! Ich nehm ihn einfach mit in die Küche. Wir hätten damals doch die Wand rausreißen und die Studioküche machen sollen.«

»Aber immer der Ger–«, beginnt sie eine Antwort, doch da klingelt es schon.

Henning will sich rasch die Schürze abstreifen, verheddert sich mit den Fingern im Knoten, und als Anja ihn hektisch mit sich in den Flur zieht, gibt er es auf. Ein wenig thailändische Gelassenheit, das wäre noch gut.

»Donnerwetter! Kann man das essen?«

Nachdem Henning die Tür geöffnet hat, steht er der massigen Leibesfülle Kai Bargmeiers gegenüber, der feixend auf das rosige Schwein auf der Vorderseite der Schürze zeigt.

Henning versucht, Haltung zu bewahren, lacht aber schließlich mit. Sie nehmen sich in den Arm.

»Ein Geschenk der Mitarbeiter zum Fünfzigsten seinerzeit. Die normale ist in der Wäsche.«

»Höhö«, feixt sein Freund nochmals und haut ihm auf die Schulter. »Würd ich an deiner Stelle auch sagen.«

Jetzt lachen auch die Frauen. Kai hat seine Silke und die gemeinsame Tochter Elena mitgebracht, mittlerweile sind auch die beiden Mädchen der Kollweys an der Tür aufgetaucht.

Ein allgemeines Umarmen setzt ein, die Töchter strecken artig die Hand vor, hier ein Küsschen, dort ein Küsschen. Alle sind froh, dass es endlich geklappt hat mit der Einladung, sie haben das Abendessen schon so oft angesetzt, und jedes Mal ist etwas dazwischengekommen: eine nicht vermeidbare Nachtschicht für Henning, die letzten Arbeiten an einer wichtigen Ausschreibung für Kai, einmal wurde Silke krank, ein anderes Mal brachte Emma aus der Schule einen Magen-Darm-Infekt mit.

»Mit siebzehn war das noch einfacher mit der Terminfindung«, bemerkt Henning komisch resigniert.

»Mein Lieber!«, ruft Kai. »Und keine fünfhundert Meter von hier! Weißt du noch, wie wir damals da unten an der Weser bei diesem Open-Air-Dingsbums einen auf Ordner gemacht haben, wie hieß das gleich wieder?«

»›Umsonst und Draußen‹.«

»Genau! Und du warst so bes…«, Kai unterbricht sich und zieht eine schuldbewusste Grimasse in Richtung des Nachwuchses. »Also, ich meine, du warst so betüdelt, dass du bei einem deiner jetzigen Nachbarn im Garten in der Hollywoodschaukel gepennt hast. Ohne dass die das wussten, natürlich.«

»Also, Papa!«, ruft Emma in gespielter Empörung und gibt Henning einen Knuff.

Der hebt abwehrend die Hände.

»Ich kann mich an nichts erinnern. Außer daran, dass in dieser Gegend damals lauter fiese, reiche Kapitalistenschweine wohnten.«

Die Erwachsenen brechen in schallendes Gelächter aus; die Töchter lachen leicht irritiert mit, Emma und Elena rollen verstohlen mit den Augen.

Schließlich zieht Kai seine Lederjacke aus, wehrt ab, als Henning sie ihm abnehmen will, und hängt das schwere Ding selbst an den Haken der alten Wirtshaus-Garderobe, die Anja ebenfalls an der Schlachte gekauft hat. Dabei entdeckt er die Fotocollage, die Nina in der Schule gemacht hat und die jetzt die Wand daneben ziert.

»Was ist das denn?«

Er dreht sich fragend um, und Henning macht mit kaum verhohlenem Stolz eine kleine Showmaster-Geste in Richtung seiner jüngeren Tochter, die rot wird und sich halb hinter ihrer Mutter versteckt, aber dann doch antwortet.

»Wir mussten in der Schule so Fotos aufkleben, die zeigen, wie die Zeit vergeht und so. Also, bei unseren Eltern und Großeltern, mein ich. Da hab ich das alte Foto von Papa genommen, wo der da so lustige Haare hat.«

Wieder lachen alle. Kai dreht sich erneut zu der Fotocollage und zeigt auf die verblichene Polaroid-Aufnahme eines jungen Mannes vor dem Hintergrund der Hamburger Landungsbrücken, der enge schwarze Jeans, Springerstiefel und eine kurze britische Weltkriegs-Militärjacke trägt. Seine pechschwarz gefärbten Haare sind unten ausrasiert, oben stehen sie in wilden Fransen vom Kopf ab. Die Augen scheinen mit Kajal geschminkt zu sein.

»Du meine Güte!«, ruft Kai und blickt seinen alten Freund erstaunt an. »Hast du mal derart einen auf Grufti gemacht? Wusste ich gar nicht.«

Henning verzieht halb verlegen, halb ironisch den Mund.

»Das war die Zeit, wo ich in Hamburg war und du auf der Baufachschule in Nienburg. Ich glaube, da haben wir uns schon nicht mehr so oft gesehen. Das Bild? Da wollte ich wohl gerade auf die England-Fähre.«

Kai blickt für einen Moment in unendliche Weiten, lächelt dann versonnen und nickt.

»Ja, ja … Da gab’s doch damals auch diese Perle, die mich nicht mochte, oder?«

Henning winkt ab und merkt im selben Moment, dass er dabei eine Spur zu heftig ist. »Hatte ich schon ganz vergessen. Kommst du mit in die Küche? Ich bin noch nicht ganz fertig. Wie findest du das Tingvall-Trio?«

Kai bevorzugt Elvis Costello und muss dafür beim Auftragen helfen. Der Fisch schmeckt zumindest beinahe so gut wie bei Mama Anong, der Vinho Verde hat gerade die richtige Temperatur, der Kerzenleuchter ist Tischgespräch und -zierde zugleich. Die Frauen geraten in einen kleinen Streit über die Frage, ob man sich die neue Staffel von »Fear The Living Dead« noch antun muss, während Kai seine üblichen Baustellenanekdoten erzählt, Henning zum hundertsten Mal erklären muss, was »serviceorientierte IT-Architektur« bedeutet, und schließlich beide übereinstimmen, dass die politische Lage nach dem allzu schnellen Auseinanderbrechen der grün-schwarzen Koalition ein ziemliches Desaster ist. Die Mädchen zeigen sich gegenseitig ihre neuen iPhones, und als die sabbelnden YouTuber zu laut werden, geht es ab ins Exil im Dachgeschoss.

»Ich dachte, ihr wärt immer schon die dicksten Freunde gewesen?«, fragt Anja plötzlich unvermittelt aus der Zombie-Debatte heraus.

Henning nimmt einen Schluck Wein. Seine Frau ist beinahe fünfzehn Jahre jünger als er. Und Gott sei Dank hat sie nicht die geringste Ahnung davon, was vor circa 1990 so alles los war.

»Ja, schon. Mit sechzehn, siebzehn. Aber dann erst wieder, seit ich zurück bin. Zwischendurch hatten wir nicht so viel miteinander zu tun.«

»War auch eine ziemliche Überraschung, als du hier wieder aufgetaucht bist!«, setzt Kai hinzu und grinst.

Henning zuckt mit den Achseln und grinst ebenfalls, sagt aber nichts. Hauptsächlich, weil ihm weder eine nette Lüge noch eine ehrliche, aber ausweichende Antwort einfällt. Er ist damals zurückgekommen, weil er sich irgendwann im Verlauf seiner zahllosen Umzüge und Ortswechsel fühlte wie ein Geist, der eine vollkommen sinnlose Spur durch eine lange Reihe von Geisterstädten zog. Außerdem hatte der Softwarekonzern, dessen Produkte er heute verkauft und implementiert, im Nordwesten noch keine funktionierende Vertriebsorganisation.

»Und ihr habt hier wirklich eine Antifa-Gruppe gegründet?«, mischt sich jetzt Silke ein, die genauso jung ist wie Anja.

»Auf die Barrikaden, Autos anzünden!«, ruft Hennings Frau spöttisch und prostet ihnen zu.

Die beiden Männer machen heftig abwehrende Handbewegungen wie ein paar Synchronschwimmer.

»Nee, nee!«

»Das war ganz konkret! In Verden trafen sich damals jedes Jahr zum 20. April die alten Kameraden in einer Kneipe am Dom, und man hörte ›Bomben auf Engelland‹ durch die Tür.«

»Bei Bassum gab es so ein rechtsradikales Schulungszentrum!«

»In Asendorf einen Naziverlag!«

»Die Wiking-Jugend hat Zeltlager in Magelsen veranstaltet!«

»Wir mussten was tun!«

»Die Antifa heute, das sind doch bloß noch arbeitsscheue Chaoten!«

Später steht Henning wieder mit Kai in der Küche und bereitet den Nachtisch vor, Pineapple Pancakes mit Honig, wie er sie vom Backpacker-Frühstück in der Khao San Road noch in bester Erinnerung hat. Sein alter Kumpel hält eine Bierflasche in der Hand und redet ohne Punkt und Komma wie in ihrer Jugend, als sie, eher von welthistorischer Bedeutung berauscht als von Alkohol oder Marihuana, Pläne schmiedeten, um den Faschismus als barbarische letzte Ausgeburt eines mit dem Tode ringenden Kapitalismus in die Schranken zu weisen; jetzt erzählt er nur irgendeine weitschweifige Geschichte, die mit dem Ausflug des stockbetrunkenen Innungsvorstands zum »Deichbrand«-Festival in Cuxhaven zu tun hat. Henning hört gar nicht richtig zu. Er hat sein eigenes iPhone aus seinem Mercedes geholt und nachgesehen, ob er den ollen Koppruch findet, der leider schon tot ist, aber so schön sentimental vom »Hamburger Berg« singen konnte. Manchmal reicht eine einzige Erwähnung der Stadt an der Elbe, und irgendwas um ihn herum gerät ins Wanken. Und dass er derart schamlos lügen kann …

Dann passieren zwei Dinge.

Das Santoku-Messer, mit dem er die Frucht so schälen will, wie es ihm die alten Ananas-Verkäuferinnen am Strand von Koh Phangan mit ihren riesigen Macheten gezeigt haben, rutscht ab und schneidet tief in den Daumen der linken Hand. Nach einer halben Schrecksekunde setzt der Schmerz ein, Henning stöhnt gepresst auf und dreht sich instinktiv zu der Schublade der Einbauküche, in der die Pflaster liegen.

In diesem Augenblick gibt es draußen vor dem Küchenfenster etwas wie einen kurzen, trockenen Knall, das Fensterglas splittert und irgendetwas zischt genau neben seinem Kopf durch die Luft, um dann mit einem platzenden Geräusch einen kleinen Krater in die Wand zu reißen.

Ein … Schuss?

Henning und Kai sehen sich mit offenen Mündern an. Dann springt Kai plötzlich vor, wirft sich mit seiner ganzen Leibesfülle auf den Freund und reißt ihn mit sich hinter die Kücheninsel.

Gleichzeitig klirrt und zischt es erneut, dieses Mal entsteht ein Krater neben dem Plakat mit den Yoga-Kühen, das die Mädchen so lustig finden.

»Henning? Was ist denn los?«

Man hört Anjas angsterfüllte Stimme aus dem Flur näher kommen, bis sie in der Tür steht und sprachlos das Blut anstarrt, das mittlerweile aus der Schnittwunde auf den Boden geflossen ist.

Kai brüllt »Deckung!«, Anjas Mund öffnet sich zu einem Schrei, irgendetwas in Henning schaltet auf Autopilot. Er springt auf, hechtet zum Lichtschalter, legt ihn um, es wird dunkel, dann wirbelt er um die Ecke des Türrahmens und reißt seine Frau mit sich zu Boden.

Sie schlägt mit dem Ellbogen auf die Fliesen im Flur und brüllt vor Schmerz auf.

Die Mädchen erscheinen oben am Treppenaufgang.

»Weg!«, schreit Henning. »Weg! Bleibt oben!«

Er springt erneut auf und löscht auch das Licht im Flur.

Kai ist inzwischen auch wieder auf den Beinen. Geduckt kommt er aus der Küche heraus und schiebt sich an seinem Freund vorbei.

»Silke ist draußen!«, keucht er atemlos und hastet in Richtung des Eingangs. Seine Frau ist gerade vor die Tür gegangen, um eine zu rauchen. Sie hat ihr Smartphone mitgenommen, vielleicht will sie noch kurz gucken, was auf Facebook los ist.

»Legt euch alle hin!«, schreit Henning in Richtung Anjas und der Kinder, dann tastet er sich durch den dunklen Flur seinem Freund hinterher und schaltet das Außenlicht und den Bewegungsmelder aus. Kai hat schon die Tür aufgerissen.

»Silke? Silke?«

Er macht unvorsichtig einen Schritt zur Tür hinaus. Henning packt ihn blitzschnell am Kragen und drückt ihn zu Boden. Von Kais Frau ist nichts zu sehen. Ist sie zum Rauchen auf die Straße gegangen und hat gar nichts mitbekommen? Oder gar in den Garten?

»Silke?«, ruft Kai nochmals kopflos in die Dunkelheit, und Henning zieht ihn instinktiv zurück ins Haus, weil er Angst hat, dass der Schütze gleich von dem Geschrei angelockt um die Hausecke kommt und wieder feuert. Aber nichts geschieht. Endlich sieht man, wie die Silhouette von Kais Frau vor dem fahlen Licht der nächsten Straßenlaterne in gebückter Haltung auf den Eingang zugelaufen kommt.

»Was ist denn?«

»Schnell, schnell!«

Kai nimmt sie in Empfang. Henning ist schon beim nächsten Problem – wo ist noch Licht? Im Wohnzimmer die Kerzen. Die Schreibtischlampe in seinem Büro. Oben in den Kinderzimmern die Deckenstrahler. Als er den Flur entlanghastet, sieht er, dass Anja sich Gott sei Dank schon das Mobilteil des Telefons geschnappt hat und die Tasten drückt. Kai und Silke kriechen die Treppe hinauf zu den Kindern. Aber Kai hat die Haustür nicht abgeschlossen … Henning wickelt sich ein Küchentuch um den blutenden Daumen und rennt zurück zum Eingang, um das nachzuholen, dabei stößt er den großen Bronze-Buddha um, der auf einem Tischchen neben der Garderobe steht. Er kann die Statue gerade noch auffangen, stellt sie irgendwo auf dem Boden ab und springt dann mit einem Satz zur Tür, um abzuschließen.

Geht da draußen jemand?

Kommt noch ein Schuss?

Man hört Anja irgendetwas in das Telefon flüstern. Ein leises Schluchzen, vielleicht eines der Mädchen.

»Papa? Ich hab Angst.«

Nein, nein, kein Grund dafür, will Henning automatisch antworten, aber die Worte wollen ihm nicht über die Lippen.

Geht da draußen jemand?

Die Haustür ist zu. Aber die Terrassentür? Der Übergang zur Garage? Die Kellertür? Das Haus stammt aus den Siebzigern und ist verwinkelter, als man heute bauen würde. Was man für den Panoramablick auf die Weser und das weite Marschland am gegenüberliegenden Ufer schon mal in Kauf nimmt. Aber eigentlich müssten alle Türen verschlossen sein, und er wagt nicht, irgendwo Licht zu machen, um nachzusehen.

»Seid still!«

Sie lauschen atemlos in die Dunkelheit hinein. Der Novembernebel draußen schluckt alle Geräusche, nicht mal die große Straße von Verden nach Bremen hört man, obwohl es keine zweihundert Meter sind bis dorthin.

Geht da draußen jemand? Sie haben den Garten ein bisschen verkommen lassen, die alten Stein- und Kieswege sind von Gras und Moos überwuchert, ideal für jeden, der ums Haus schleichen will, ohne gehört zu werden.

»Gibt es unterhalb eigentlich noch Nachbarn?«, flüstert Kai.

»Nee, nur die alte Wiese mit Obstbäumen. Und die lange Treppe nach unten.«

»Vielleicht sind die schon weg.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Geht da draußen jemand?

Fällt noch ein Schuss?

Ist der Jemand allein …?

Als man schließlich eine Polizeisirene näher kommen hört, fällt Henning ein Stein vom Herzen, der für einen alten Anti-Imperialisten wie ihn ein erstaunlich großes Gewicht hat.

***

Der Kommissar, der ihn befragt, sieht nicht aus wie ein Kommissar, den man aus dem Fernsehen kennt. Er trägt weder eine lässige Lederjacke noch einen Maßanzug, stattdessen Cordhose mit Bügelfalte, einen unsagbar hässlichen Pullover und einen um eine Spur zu sauber gestutzten Schnurrbart. Er spricht langsam und monoton mit diesem typisch hannoverschen Tonfall, den Beamte hier oft haben, und bevor er etwas sagt, legt er sich offenbar seine Worte im Kopf zurecht, denn nach jeder Antwort Hennings entsteht eine kleine Pause, in der man vom Wohnzimmer her die Stimmen Kais und einer Kollegin des Kripobeamten hört.

»Und es ist ganz ausgeschlossen, dass Sie sich über Ihre Arbeit Feinde gemacht haben?«

»Ich kann mir das jedenfalls nicht vorstellen. Meine Firma installiert ERP-Systeme für größere Mittelständler und passt die Konfiguration an die Kundenbedürfnisse an. Wollten Sie schon mal Bill Gates umbringen, weil Ihr Windows-System eine unerkannte Sicherheitslücke hatte?«

Der Kommissar macht sich Notizen. »Da hätte ich viel zu tun. Was ist eigentlich ›ERP‹?«

»Enterprise Resource Planning«, erklärt Henning automatisch, »Planung und Steuerung eines Unternehmens per Software, wenn Sie so wollen.«

»Sind diese Systeme denn sicherheitsrelevant?«

Henning denkt einen Moment nach und schüttelt dann den Kopf. »Jemand könnte versuchen, uns zu erpressen, um in die Unternehmens-IT unserer Kunden einzudringen. Aber dann würde er mich sicher nicht erschießen wollen. Und warum sollte jemand unbedingt in die Unternehmens-IT von Leuten eindringen, die Büromöbel oder Fahrräder herstellen?«

»Keine Kunden in der Wehrtechnik? Oder solche, die geheime Forschung betreiben?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Wieder die typische Pause.

»Haben Sie mal eine Liste? Ich würde da gerne nachfragen.«

Henning zögert. »Muss das sein? Ich kann mir wirklich nicht vorstellen –«

»Mir wäre es lieber«, sagt der Beamte in dem gleichen monotonen Tonfall, hinter den sich aber eine Spur Härte geschlichen hat.

Henning, der auf seinem Bürostuhl sitzt, dreht sich also zum Schreibtisch um, fährt den PC hoch und navigiert durch ein paar Ordner und Dialogfelder seines eigenen IT-Systems, um die verlangte Liste auszudrucken. Der Verband um die linke Hand erleichtert das Tippen nicht gerade.

»Mit Kontaktangaben?«

»Das wäre hilfreich.«

In diesem Moment taucht ein Polizist in einer grünen Jacke, auf der »Kriminaltechnik« steht, in der Tür auf und meldet, dass er und seine Kollegen am Abhang zur Weser hinunter keine größeren Spuren gefunden haben.

»Keine Fußabdrücke?«, fragt der Kommissar.

»Das Gras ist niedergedrückt, war wohl länger nicht gemäht. Aber man kann natürlich keine Abdrücke nehmen, höchstens die Schuhgröße schätzen. Es handelte sich wahrscheinlich um eine einzige Person. Sie muss unten über den Zaun geklettert und dann neben der Treppe hochgelaufen sein. Die Schüsse erfolgten von einer Stelle auf dem Rasen aus. Wir können uns das ja morgen früh bei Tageslicht noch mal ansehen.«

Der Kommissar nickt langsam. »Ja, macht das. Und die Kollegen von der Wache sollen die Nachbarn fragen, ob jemand vorhin noch seinen Hund ausgeführt und etwas gesehen hat oder so was. Da unten am Ufer verläuft doch eine Straße, oder?«

Eine Pause entsteht. Dann merkt Henning, dass er angesprochen ist.

»Jaja, da ist auch ein Spielplatz. Früher gab es auf der Wiese Open-Air-Konzerte.«

»Sie stammen aus der Gegend?«

»In Langwedel groß geworden. War aber zwischendurch weg.«

Der Kommissar macht sich wieder Notizen. »Na, irgendwo müssen Sie ja auch gelernt haben, wie man diese – was sagten Sie? – ERP-Systeme installiert, oder?«

Henning steht auf, um die verlangte Liste aus dem Drucker zu nehmen. »Das war in München.«

»München?«, bemerkt der Beamte trocken, diesmal ohne Pause. »Ziemlich weit weg.«

Ja, das ist es, denkt Henning. So weit weg wie möglich von irgendwelchem anti-imperialistischem und autonomem Trallala, mit dem man vorher beschäftigt war. Weit weg von Hamburg, Frankfurt, Westberlin. Und trotzdem in der Stadt, aus der Sanne stammte. Das sagt er aber nicht, stattdessen sagt er: »Die deutsche IT-Branche konzentriert sich nun mal im Süden. Allerdings war dadurch im Norden auch die Konkurrenz geringer, als ich mich selbstständig machen wollte. Und meine Eltern wurden langsam alt.«

Der Kommissar nickt. »Ich verstehe. Darf ich?« Er zeigt auf die Liste, die Henning immer noch in der Hand hält.

»Natürlich.«

Der Beamte sieht sich das Papier durch, hat aber erkennbar kein Aha-Erlebnis. »Na, da muss ich mal schauen. Allzu viele sind es ja nicht, was?«

Henning zuckt mit den Achseln. »So ein Projekt ist in der Regel ziemlich umfangreich. Außerdem haben wir unser Angebot in Richtung Hosting und Managed Services diversifiziert, das garantiert eigentlich immer einen gewissen Revenue Stream, ohne dass man ständig Neukunden-Marketing machen muss.«

Als er sieht, wie sich Leere in den Augen des Kommissars breitmacht, liefert er noch eine Übersetzung nach. »Also, ich meine, wir machen halt so Wartungsverträge und setzen auf langfristige Kundenbindung.«

Der Beamte winkt ab und steht auf. »Schon gut, schon gut. Ich denke, das reicht fürs Erste. Ich werde das morgen mal alles durchgehen und melde mich dann wieder bei Ihnen. Was haben Sie denn noch vor heute Nacht? Wir lassen auf jeden Fall eine Streife hier, aber morgen wird es schwierig. Die Kollegen von der Wache in Achim können immer mal wieder vorbeischauen, aber für eine permanente Bewachung wird es nicht reichen.«

Henning winkt ebenfalls ab. »Ist schon gut. Kai, ich meine, Herr Bargmeier, hat uns angeboten, dass wir alle für ein paar Tage bei ihm und seiner Familie schlafen können. Und gleich morgen früh kümmere ich mich um geeignete Sicherheitstechnik.«

Der Kommissar nickt wieder. »Gut. Sonst noch irgendetwas? Irgendeine Beobachtung? Irgendein Verdacht, warum jemand auf Sie schießen könnte?«

Henning schüttelt den Kopf. Wieder fällt ihm sofort auf, dass er dabei eine Spur zu heftig ist. »Keine Ahnung, wirklich. Keine Spielschulden, keine Geliebte, keine Aufträge von libanesischen Familienclans.«

Der Beamte hüllt sich in vielsagendes Schweigen und gibt ihm nur kurz die Hand, um dann nach seinen Kollegen zu sehen. Der Händedruck ist so schlaff, dass man ihn beinahe nicht spürt.

Nachdem die Polizisten das Haus verlassen haben, packen Anja und die Mädchen ein paar Sachen zusammen und machen sich bereit für die Fahrt zu den Bargmeiers. Sie haben beschlossen, die Kinder morgen früh bei ihren jeweiligen Schulen zu entschuldigen, was danach passiert, wird man sehen. Kai hat die Befragung durch die Polizistin ebenfalls überstanden und sich noch ein Bier aufgemacht.

»Junge, Junge. Die hat mich vielleicht ausgequetscht.«

»Glaubt sie, dass du das Ziel warst?«

Kai lacht bitter auf. »Mein Lieber! Ich will nicht sagen, dass ich da zu den Schlimmsten gehöre, aber davon, dass man gelegentlich eine flotte Sause nach Budapest mit den Jungs vom Bauträger macht, hast du schon mal gehört, oder?«

Henning antwortet nicht. Das ist eine Welt, von der er nichts versteht und lieber auch nichts verstehen möchte.

»Allerdings«, fährt Kai fort und nimmt noch einen Schluck, »kommt man dafür in der Regel vor Gericht und nicht auf die Abschussliste. Und warum sollten sie mir hier bei euch auflauern? Ich hab ja nicht auf Facebook gepostet, dass wir hier heute Abend eingeladen sind.«

Henning nickt. Es ist auch eher unwahrscheinlich, dass der Anschlag Kai galt. Wahrscheinlich ist es etwas ganz anderes. Die Frage allerdings, warum denn jemand versuchen sollte, ausgerechnet Henning umzubringen, bleibt unausgesprochen zwischen ihnen im Raum stehen.

Die weiblichen Familienmitglieder kommen mit Reisetaschen und Rucksäcken die Treppe herunter. Die Bargmeiers ziehen sich ihre Jacken über.

»Hast du überhaupt irgendwas gepackt?«, fragt Anja ihren Mann.

Henning schüttelt den Kopf. »Ich pass ja eh nicht mit ins Auto. Ich komm dann mit dem GLS nach. Muss noch ein paar Sachen für morgen vorbereiten, geht einfach nicht anders.«

»Das ist alles, an was du jetzt denkst? Ans Geschäft?« Sie funkelt ihn böse an.

Ihm ist die Szene vor den Freunden peinlich, und er hebt beschwichtigend die Hände. »Ist mir lieber, als gleich in der Früh noch mal zurückzumüssen. Die Streife steht doch noch vor der Tür, da wird schon nichts passieren.«

Anja atmet tief durch und nimmt ihre Reisetasche. Er gibt ihr einen Kuss auf die Wange und umarmt Nina und Emma. Zum dritten Mal ertappt er sich dabei, dass alles eine Spur zu heftig ist.

Endlich allein, verliert er keine Zeit. Er rennt in sein Arbeitszimmer und ruckelt an der Maus, um den PC aus dem Stand-by hochzufahren. Er hat das alles schon beinahe vergessen, und dann ist ja auch nicht das passiert, mit dem er früher einmal tatsächlich gerechnet hat. Kein Sondereinsatzkommando. Keine GSG 9. Kein aufgesetzter Schuss wie bei Gaks in Bad Kleinen. Kein Generalbundesanwalt, der vor die Mikrofone tritt und seinen Triumph verkündet. Stattdessen schießt nach all den Jahren irgendjemand auf ihn durch sein Küchenfenster. Und er, ausgerechnet er, ruft die Polizei. Die keinen blassen Schimmer hat, dass da kein Geringerer als Little Crow vor ihnen steht.

Wie sollte sie auch? Er ruft eine Suchmaschine auf und gibt ein paar Stichwörter ein. Er hat seit Jahren, seit Jahrzehnten eigentlich, keinen Kontakt mehr. Er kennt so gut wie keine Namen, keine Berufe, keine Lebensschicksale. Aber er hat einen Verdacht.

Er braucht fast zwei Stunden und muss die Websites diverser Lokalblätter durchforsten und Probe-Abos dafür abschließen, aber dann hat er es. Ein dreiundsechzigjähriger Frührentner in Dortmund namens »Wolfgang L.«, ehemaliger Pfleger in einem Seniorenheim, keine Familie, Eigenbrötler, vor ein paar Tagen unter mysteriösen Umständen in seinem Wagen verbrannt. Die Polizei geht von einem Suizid unter Drogeneinfluss oder einem Racheakt im Dealer-Milieu aus, da im Keller des Toten diverse Substanzen gelagert waren, deren Besitz gegen das Betäubungsmittelgesetz verstößt. Darüber hinaus haben die Beamten auch jede Menge ältere Blankopässe, in Ölzeug eingewickelte Handfeuerwaffen und andere Indizien gefunden, die ihrer Ansicht nach eine Verbindung zum organisierten Verbrechen nahelegen. Auch Falschgeld, allerdings handelte es sich erstaunlicherweise um D-Mark-Blüten.

Kein Wunder. Das war Geronimo, der aus dem Ruhrgebiet kam und für Logistik und Transport zuständig war. Angeblich dauernd auf Speed oder Koks, obwohl die Family das nicht gerne sah; in dieser Hinsicht hatte er sich offenbar nicht geändert. Henning hat ihn damals nur ein paarmal persönlich getroffen und ansonsten kleine Zettelchen mit Aufträgen im Briefkasten gefunden, so war das Organisationsprinzip.

Alle wussten allerdings, wie der bürgerliche Familienname von Cochise lautete, der hinter der Maske des allseits bekannten durchgeknallten Bohemiens als Sohn eines früh verstorbenen Fabrikbesitzers ein Millionenerbe dafür verpulverte, überall im Bundesgebiet Ferienhäuser und -apartments zu kaufen, um den Leuten aus der Family Unterschlupf zu bieten, wenn sie in Deutschland waren. Ein weiteres Familienerbstück war offenbar eine unregistrierte Jagdflinte, mit der ihm letzte Woche in der altehrwürdigen baden-württembergischen Universitätsstadt, in der schon damals sein Zuhause lag, ein unbekannter Eindringling das Lebenslicht ausgeblasen hat.

Kein Zweifel. Irgendjemand ist hinter ihnen her.

Boys Don’t Cry

Immerhin ist um diese Zeit die Autobahn noch leer. Auf Höchstgeschwindigkeit zu beschleunigen geht wegen des Nebels nicht, aber Henning hat trotzdem das Gefühl, noch nie so schnell am Walsroder Dreieck gewesen zu sein. Er wählt zum wiederholten Mal die Augsburger Nummer, die bei der Telefonauskunft im Netz gelistet war, und zum wiederholten Mal tutet es ein paarmal, dann meldet sich eine Mailbox mit einer weiblichen Roboterstimme. Er tippt die Telefon-App weg und konzentriert sich wieder auf den vor Hannover etwas dichter werdenden Verkehr. Das Touchpad des Bordcomputers zeigt an, dass es vier Uhr früh ist, vermutlich nicht die Zeit, zu der Akademiker typischerweise Anrufe entgegennehmen.

Oder Torsten ist gar nicht zu Hause. Ein Blick in das online einsehbare Vorlesungsverzeichnis hat Henning allerdings verraten, dass Professor Dobler gestern ebenso wie heute Seminare anbietet, außerdem wird er laut Nachrichtenseite eines Lokalblatts heute Abend einen vom »Forum offenes Augsburg« veranstalteten Vortrag halten, in dem er über den drohenden rechtspopulistischen Backlash und die dringende Notwendigkeit einer neuen rot-schwarzen Koalition sprechen wird. Ausgerechnet Torsten, der damals am lautesten »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!« skandiert hat. Jedenfalls ist sein alter Kampfgenosse offenbar noch am Leben.

Auf dem Beifahrersitz liegt die zweite Polaroid-Aufnahme aus der Hamburger Zeit, die Henning vorsichtshalber mitgenommen hat, bevor sie nachher irgendein neugieriger Bulle findet: Sanne und Torsten an der Reling der Fähre nach Harwich, die gerade von den Landungsbrücken ablegt. Torsten hat die Hände in einem absurd weiten schwarzen Mantel versenkt und sein halblanges, schwarz gefärbtes Haar nach hinten gegelt, Sanne trägt eine silbern glänzende Bomberjacke und den markanten Kurzhaarschnitt, für den sie damals bekannt war. Selbst auf dem verblassten Foto stechen ihre strahlend blauen Augen noch heraus.

Immerhin muss er sich um sie keine großen Sorgen mehr machen. Die »Perle«, die Kai nicht mochte, liegt seit fast zwanzig Jahren in einem Grab im Hochland von Kolumbien. Er wünschte, es wäre ihm egal.

***

Hinter Kassel wird er müde und schaltet den Deutschlandfunk ein. Wie immer in diesen Tagen dreht sich alles um die verworrene Lage nach dem Ende der Koalition wegen der unpopulären ökologischen Steuerreform und um die lockenden Stimmen aus der AfD, die dem konservativen Flügel der Union angeblich die Tolerierung einer Minderheitsregierung angeboten haben, um eine Regierungsbeteiligung der »Vereinigte Linke-Sozialdemokraten« zu verhindern. Die neue Partei, die sich nach dem Wahldesaster der SPD bei der letzten Bundestagswahl aus deren Überresten und der Linken gebildet hat, wird auf einem bevorstehenden Sonderparteitag in Berlin über die Koalitionsfrage abstimmen; niemand erwartet etwas anderes als ein positives Votum. Für das Wochenende ist in der Hauptstadt eine große Demo dagegen angekündigt, die natürlich von der AfD unterstützt wird. In der morgendlichen Magazinsendung wird das Statement eines aufgebrachten früheren Sozialdemokraten und jetzigen AfD-Anhängers aus dem Erzgebirge eingeblendet, der sich über die Genossen im Westen und ihre Machtgier echauffiert und mit überschnappender Stimme seine Zeit im Stasi-Gefängnis Bautzen ins Feld führt. »Man muss sisch des emal vorstellen! Da soll eene Baggasche Bundesminister wer’n, die ihre Brägung beim Wachbaddaljon Felix Dschersinski erhalten hat. Doa fasst man sisch annen Kopp, bloß um ze gucken, ob er noch doa is!«

Henning weiß nicht recht, was er davon halten soll. Natürlich ist über die DDR nach der Wiedervereinigung so einiges ans Licht gekommen, das einem seinerzeit als aufrechtem Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit die Schuhe ausgezogen hat, von der Sache mit Kurras und Ohnesorg bis hin zu der peinlichen Tatsache, dass der Einzige, der die Rolle der Stasi bei der Finanzierung der Friedensbewegung korrekt erfasst hatte, Franz-Josef Strauß war. Aber der neue starke Mann bei der Linken, Jochen Lohgerber, jetzt stellvertretender Vorsitzender der vereinten Partei, macht eigentlich einen ganz vernünftigen Eindruck. Er hat auch keine Prägung durch irgendwelche DDR-Wachbataillone erhalten, sondern stammt aus dem Westen, ein alter, motorradfahrender Sponti, den das Leben auf wundersame Weise zum Unternehmensberater und dann erst, nach einer erfolgreichen Karriere, zum Politiker gemacht hat.

Henning mag den Mann jedenfalls und hat deswegen die Linke gewählt. Lohgerber weiß, wovon er redet, und hat keine Flausen im Kopf, was die Wirtschaft angeht. Ihm ist sogar klar, dass man nicht sämtliche Weltprobleme lösen kann, indem man alle Mühseligen und Beladenen einlädt, sich in Deutschland niederzulassen. Und dass die Kräfte des Fortschritts nicht jahrzehntelang gegen die Kirchtürme angerannt sind, um sich jetzt an die Minarette anzubiedern. Das hat ihm in der eigenen Partei ziemlichen Ärger eingebrockt, aber am Ende hat der Moralistenflügel klein beigegeben und ist auf die Linie der »Echten Sozialdemokratie« eingeschwenkt, die bei der Wahl zum Erfolg und danach zum Zusammenschluss mit der SPD geführt hat. Was ja nicht schlecht ist, denkt Henning, wenn dadurch die verdammten Faschisten von der AfD und die klerikalen CSU-Pupser kleingehalten werden, sonst herrschen hier bald Zustände wie in Ungarn oder Polen. Wenn alles gut geht, wird Lohgerber der nächste Wirtschaftsminister. Je nach Machtproporz bei den Koalitionsverhandlungen mit der CDU ist vielleicht sogar noch mehr drin.

Das iPhone klingelt, und der Bordcomputer blendet das Radio aus. Henning nimmt den Anruf entgegen und verbringt die nächste halbe Stunde damit, seine Frau anzulügen. Nein, er kann jetzt nicht kommen. Ja, es hat Probleme beim Kunden gegeben. Ja, er muss sich unbedingt persönlich darum kümmern. Ja, die Mädchen sollten bis zum Wochenende aus der Schule bleiben. Nein, er hat nicht vergessen, dass er ihr Vater ist. Ja, er wird sich beeilen. Nein, er kann nicht nach Darkum zu Bargmeiers kommen und Anja nach Hause fahren, damit sie den Kombi holen kann. Vielleicht ist Silke so freundlich …?

»Sag mal, du stehst doch unter Schock, verdammt noch mal! Du bist doch völlig irrational! Komm her, bitte! Du kannst doch jetzt nicht an deine Datenbanken denken!«

»Es geht nicht!«

Als er das Gespräch beendet, hat er für einen Augenblick das Gefühl, sie weinen zu hören, und es zerreißt ihm das Herz. Aber er kann nicht anders.

***

Das Navi lotst ihn schon eine Abfahrt vor Augsburg von der Autobahn herunter und durch die typische Vorstadtmischung aus alten Dorfkernen und Feldern, zwischen die sich Einfamilienhaussiedlungen und Gewerbegebiete geschoben haben. Er passiert mehrere Kreisverkehre, kommt an einem großen Krankenhaus vorbei und landet schließlich in einer verkehrsberuhigten Straße in der Nähe, in der ein gewisser, dem eklektischen Stil der Bauten nach zu urteilen erst in den letzten Jahrzehnten erworbener Wohlstand herrscht.

Er ist nervös. Er hat alles so gemacht, wie sie es vor langen Jahren vereinbart haben, aber es fühlt sich nicht mehr richtig an. Zu viel Zeit ist vergangen, es ist, als ob man auf einem anderen Planeten leben würde. Und dann gab es da noch jenen denkwürdigen Tag im Sommer 2009, als Torsten, der gerade in Hamburg an irgendwelchen Podiumsdiskussionen zur Weltfinanzkrise in Hamburg teilgenommen hatte, auf dem Rückweg bei den Kollweys vorbeischaute, um in revolutionären Erinnerungen zu schwelgen. Bei Anja und Henning war damals allerdings gerade Nachwuchs unterwegs und der Blick auf die Zukunft gerichtet, zudem musste Henning nun endlich beichten, dass seine politischen Überzeugungen nicht mehr völlig mit denen übereinstimmten, die er circa 1986 gehabt hatte, woraufhin sein alter Kampfgefährte ihn wutentbrannt einen Verräter schimpfte, das Ende ihrer Freundschaft erklärte und mit der unausgepackten Reisetasche in der Hand aus dem Haus stürmte, um sich in Bremen ein Hotelzimmer zu suchen.

Sei’s drum. An ihrer gemeinsamen Schuld ändert das nicht das Geringste. Henning parkt den Mercedes und steigt aus. Das Haus ist riesig, eher für zwei Familien geeignet als für eine. Obwohl: Hat Torsten überhaupt eine Familie? Henning erinnert sich vage an eine Lebensgefährtin und eine Tochter – oder war es ein Sohn? –, aber das ist lange her und hatte irgendwie mit Berlin zu tun. Wenn er ehrlich ist, weiß er gar nicht mehr, wer sein alter Freund und Genosse überhaupt ist.

In der Einfahrt steht ein großer Renault-Mehrsitzer, die Hecke ist akkurat geschnitten, auf sorgfältig gepflegten Beeten wachsen ein paar letzte Herbstblumen. Ein Schild an der Tür verrät, dass hier das »Zen-Dojo Haunstetten« beheimatet ist, was zumindest teilweise die Größe des Hauses erklärt und Henning ein unverhofftes Lächeln abringt. Zen ist ihm im Allgemeinen zu soldatisch, aber offenbar hat Torsten mittlerweile nach all dem Polit-Aktivismus einen ähnlichen Weg eingeschlagen wie er selbst schon vor dreißig Jahren.

Er klingelt, muss sich einen Augenblick gedulden, dann sieht er sich einer knapp dreißigjährigen grazilen und auffallend schönen Frau gegenüber, die völlig in ein weites, weißes Kleid gehüllt ist und eine überlange Gebetskette in der Hand hält. Ihre langen, dunklen Haare sind hinten zu einem einfachen Knoten zusammengebunden, ihr Gesicht ist sehr blass. Sie sieht ihn freundlich an, schweigt aber.

»Äh, ja«, stottert er schließlich. »Ist Torsten …?«

Statt einer Antwort tritt die Frau in Weiß zur Seite und bittet ihn mit einer Handbewegung hinein. Er kommt der Aufforderung zögernd nach und lässt sich von ihr den Mantel abnehmen. Von dem Eingangsbereich gehen zwei Türen ab, über einer davon hängen ein chinesisches Rollbild mit den typischen Schriftzeichen und eine weitere Kalligrafie im Breitformat, auf der in lateinischen Buchstaben steht: »Wohin gehst du? Wohin auch immer der Wind weht.« Henning erinnert sich vage, mal die Geschichte gehört zu haben, aus der das stammt, damals bei dem Buddhismus-Sammelsurium, das er auf Koh Phangan kennengelernt hat; er weiß es aber nicht mehr so genau. Ein fordernder Satz, vielleicht ein bisschen überheblich. Kann man eigentlich nur sagen, wenn man schon erleuchtet ist.

Wie fordernd er in Wirklichkeit ist, muss Henning erfahren, als er der Frau durch die zweite Tür in einen etwas verwinkelten Flur folgt und zu einem großzügig angelegten Wohnzimmer kommt, dessen riesige Fensterfront den Blick auf eine Terrasse und den hinteren Garten ermöglicht. Überall hängen weiße Tücher von der Decke, statt des üblichen Fernsehers gibt es einen Altar mit einer Buddha-Statue, die Luft ist geschwängert vom Duft Dutzender Räucherstäbchen. Die Frau lächelt ihn wieder schweigend an, lässt sich dann auf einem Meditationskissen nieder und schließt die Augen, während sie die Holzperlenkette durch die Finger gleiten lässt. Gleich hinter dem Kissen steht auf dem Boden ein Sarg.

Henning weiß nicht, wie lange er dagestanden und die Szenerie mit offenem Mund angestarrt hat, als ihn jemand leicht am Arm berührt. Er zuckt zusammen und schnellt herum: Vor ihm steht eine ernst blickende junge Frau von vielleicht Mitte zwanzig, die angesichts seiner Schreckreaktion beschwichtigend die Hände hebt. Sie trägt schwarze Jeans und einen grauen Kapuzenpulli, ihre dunkelblonden Haare sind zu Dreadlocks geflochten und hinter dem Kopf zusammengebunden. Ihre Ohrläppchen sind mit verschiedenen Ringen und Steckern verziert. Sie macht eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen ist, und winkt ihm, ihr zu folgen.

Sie gehen in den Flur zurück, nehmen eine andere Abzweigung und gelangen in die Küche. Die junge Frau lässt ihn an sich vorbei eintreten und schließt sichtlich erleichtert die Tür.

»Du bist zu früh dran, Hannah ist noch mitten in ihrer Schweigemeditation. Kaffee?«

Henning nickt, versteht aber nur Bahnhof. Seine Verwirrung ist ihm offenbar anzusehen, denn der jungen Frau huscht ihrer ernsten Miene zum Trotz ein Lächeln über das Gesicht, während sie einen riesigen Kaffeeautomaten anwirft und den Küchenschrank öffnet.

»Mit Milch? Du kanntest Torsten von früher, was?«

»Oh, äh … nein. Ohne Milch. Und ja, aber wir haben uns, äh, hatten uns länger nicht gesehen.«

Die Frau lächelt wieder ein bisschen. Jetzt ist es eher sarkastisch.

»Hannah war seine Studentin, jetzt ist sie seine Witwe. Und sie hat ihn auf den Pfad der Erleuchtung gebracht. Meine Geschwister sind extra bei einer Freundin, damit sie hier in Ruhe meditieren kann.«

Etwas in Henning fällt ohne Halt in die Tiefe. Offenbar stimmt die Internet-Ankündigung von Torstens Veranstaltung heute Abend nicht mehr mit der Realität überein. Was hat Anja vorhin gesagt? Schock? Nein, »Schock« ist gar kein Ausdruck.

»Wer ich bin, weißt du aber, oder?«, will die junge Frau jetzt wissen. Der Kaffeeautomat macht seltsame Geräusche.

Henning reißt sich zusammen. Wie war das mit Berlin?

»Du bist seine, äh, Tochter, oder? Aus erster, äh …«

»Ehe?« Sie schüttelt übertrieben melodramatisch den Kopf. »Eher nicht. Meine Mutter und er hatten eine, sagen wir mal, komplizierte Beziehung. Den Weg zum heimischen Herd hat ihm erst Hannah gewiesen.«

Sie stellt eine Tasse unter den Auslass des Kaffeeautomaten und streckt ihm die Hand hin.

»Ich heiße Jenny, falls du es nicht weißt. Und du?«

Er erwidert den Händedruck. »Henning Kollwey. Wir haben ein paar Semester zusammen studiert. In Hamburg.«

Etwas wie ein kurzes Leuchten huscht über ihr Gesicht. »Ah! Ihr wart zusammen in der Hafenstraße, oder? Aber er hat nie von dir erzählt.«

Kein Wunder, denkt sich Henning. Torsten hat schon damals größten Wert auf die Einhaltung der konspirativen Regeln gelegt. Jenny gibt ihm den mittlerweile fertig gebrühten Kaffee, und er nimmt einen Schluck, setzt aber dann die Tasse ab. Noch zu heiß.

»Vielleicht hat er Sanne erwähnt. Wir waren damals eigentlich immer zu dritt unterwegs.«

Sie hält inne und blickt ihn erstaunt an. »Seine große Liebe? Die er nie gekriegt hat, weil so ein blöder anderer Typ … Moment mal, das warst du, oder?«

»Äh, also ganz so war’s ja nun –«

In diesem Moment klopft es leise an die Tür. Jenny öffnet, und Hannah steht vor ihnen. Sie lächelt sie unbestimmt an, faltet ihre Hände, von denen eine die Holzperlenkette hält, vor der Brust und verbeugt sich leicht vor ihnen. Dann dreht sie sich um und geht wortlos zurück in Richtung Wohnbereich.

Jenny rollt mit den Augen und fasst Henning wieder am Arm. »Komm«, flüstert sie ihm zu. »Gehen wir ein bisschen spazieren. Ich fürchte, wir stören …«

Er überlegt für einen Moment, ob er nicht einfach mitmeditieren soll, aber seine Neugier ist stärker, also folgt er Jenny zum Eingang. Dort zieht er seinen Mantel wieder an, sie streift sich eine schwarze Lederjacke über den Hoodie, dann verlassen sie das Haus.

»Puh!«, macht sie, nachdem die Haustür hinter ihnen ins Schloss gefallen ist. »Als ich gestern angekommen bin, wollte ich einfach nur um meinen Papa trauern. Aber diese ganze Buddhisten-Kacke regt mich dermaßen auf, dass ich einfach nur noch kotzen könnte!«

»Na ja«, versucht Henning zu beschwichtigen. »Der Tod ist ja kein Kinderspiel, da ist es doch gut, wenn man irgendwas hat, um damit klarzukommen, oder?«

»Ha! Bist du etwa religiös?«

Er zuckt vorsichtig mit den Achseln. »An Seelenwanderung glaube ich so wenig wie an das ewige Leben und das Jüngste Gericht. Aber der Buddha hat schon ein paar interessante Dinge gesagt.«

»Ah ja? Na dann.«

Sie macht eine mürrische Kopfbewegung in Richtung Garten und geht dann um das Haus herum, ohne sich umzublicken. Nach einigem Zögern folgt ihr Henning. Der große Rasen hinter dem Haus führt leicht abschüssig nach unten zu einer Gruppe riesiger alter Nadelbäume, vielleicht Fichten oder dergleichen, hinter denen eine Hecke den Garten abschließt. In einer Ecke steht eine große Buddha-Statue aus Beton. Jenny geht zu einem Gartentor in der Mitte der Hecke und macht auf. Offenbar hat sie sich wieder ein wenig beruhigt.

»Komm, hier ist so ein Feldweg. Da geht’s zu dem kleinen Park am Klinikum.«

Henning geht nach ihr durch das Tor. Hinter dem Weg erstrecken sich einige Äcker und Wiesen, an deren Ende man tatsächlich das große Krankenhaus sieht, an dem er auf der Hinfahrt vorbeigekommen ist.

»Wie ist es denn eigentlich, äh, genau passiert?«, fragt er schließlich vorsichtig.

Jenny schnaubt wütend auf. »Unfall mit Fahrerflucht. Er muss mit irgendjemandem zusammengeprallt sein, bevor er von der Straße abgekommen ist, jedenfalls waren da Lack- und Stoßspuren eines anderen Autos an dem Wrack. Aber die Arschlöcher sind einfach abgehauen!«

Natürlich sind sie das, denkt sich Henning. Das wäre wohl das erste Mal, dass Mörder am Tatort zurückbleiben.

»Hat die Polizei irgendeine Idee, wer es war?«, fragt er.

»Die Bullen? Natürlich keinen Schimmer! Es wird halt irgend so ein besoffener Allgäuer Bauernfünfer gewesen sein, der am Wochenende mal einen im großen, wilden Augschburg losmachen wollte.«

Sie biegen links ab auf einen kleinen geteerten Weg in Richtung des Klinikums. Plötzlich hakt Jenny sich unter und schenkt ihm ein kleines Lächeln, das beinahe schon freundlich ist. »Jetzt reden wir aber mal bitte über was anderes! Wie war das jetzt genau mit dieser Sanne und Papa und dir?«

Henning kann sich einen kurzen ungeduldigen Seufzer nicht verkneifen. Dass er jetzt auch noch seine alten Liebeswirrnisse ausbreiten muss, war eigentlich nicht vorgesehen. »Wir hatten … na ja, so eine Art Beziehung zu dritt, könnte man sagen. Sanne kam eigentlich aus München, lebte aber damals in einem besetzten Haus in Frankfurt. Wir haben uns über die Politik kennengelernt, dein Vater und ich haben nicht direkt in der Hafenstraße gewohnt, aber da gab es öfter Versammlungen, zu denen Leute aus ganz Deutschland gekommen sind. Wir waren zusammen in Brokdorf auf der großen Demo, die verboten wurde, aber auch in Wackersdorf mit Sannes alten Freunden aus Bayern. Wir haben uns beide in sie verliebt, und wir wollten es irgendwie schaffen, daraus eine Beziehung zu machen. Ohne Eifersucht und so weiter.«

»Hat’s geklappt?«

Henning muss unwillkürlich auflachen. »Ich fürchte, wir waren da etwas zu optimistisch. Am Ende hat sie sich dann für mich entschieden, und Torsten war ziemlich down. Aber ich wusste nicht, dass er mir das immer noch übel genommen hat, wir haben weiter zusammen gekämpft, nachdem –«

Nachdem Sanne im Knast gelandet war und die Dinge ihren Lauf genommen hatten, will er sagen, aber da sieht er den besorgten Ausdruck auf Jennys Gesicht, die sich halb in die Richtung umdreht, aus der sie gekommen sind.

»Was ist denn?«

»Das ist komisch«, sagt sie verwundert. »Hier dürfen eigentlich keine Autos fahren …«

Henning schnellt herum. Ein schwarzer SUV nähert sich ihnen von der Stelle her, wo sie nach links abgebogen sind. Das Fahrzeug beschleunigt.

»Schnell, weg hier!«