Dieses Buch ist für
Sabine, Kostas’ Mama, für seine Oma und seinen Opa.
Es ist für Kai, Miks Papa, und John, seinen Bruder.
Für Ivy , die jeden Tag schöner macht …
… und es ist für dich. Denn du bist richtig, wie du bist
TOYFRIEND
SECONDHAND
VOLUME 2
DARKVIKTORY & KOSTAS KIND
Dieses Buch enthält sensible Themen
und potenziell triggernde Elemente.
Weitere Informationen dazu findest du auf Seite 348.
(Achtung, diese Hinweise enthalten Spoiler!)
Zu diesem Buch ist beim Argon Verlag ein Hörbuch erschienen,
das als Download und bei Hörbuch-Streamingdiensten erhältlich ist.
Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book
© 2025, Fischer Sauerländer GmbH,
Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining
im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Illustrationen: darkviktory
Umschlaggestaltung: darkviktory unter Mitarbeit
von Dahlhaus & Blommel Media Design, Vreden
Umschlagabbildung: darkviktory
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
E-Book-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen
Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0923-8
Prolog
Damian
1 neuer Post
BATBOYXVII · 22:29
Yo r/GaysOfReddit Ich hab ’n Problem! Ich hab vor ’n paar
Monaten ’nen Typen über ein Dildo-Inserat bei Kleinanzeigen
kennengelernt – und mich heftig verknallt
(don’t ask
haha) Jetzt hab ich ihn besucht & wir wollten miteinander
schlafen! Aber so wie’s aussieht, sind wir beide TOP
Was soll ich tun? HILFE!
HIGHSCORER · 22:45
Warte, was? Kleinanzeigen? Und jetzt datest du den?!
LUNER · 22:49
@HIGHSCORER: Grindr ist out, I guess
LUNER · 22:50
@BATBOYXVII: Schwertkampf würde ich mal
sagen hahaha
ANONYMOUS · 22:59
Fam, was ich mich frage: Was will ein Top mit ’nem
Dildo?
Prolog | 5
MR_RU · 23:30
@BATBOYXVII: Hör nicht auf die Clowns
mal mehr Kontext!
BATBOYXVII · 00:12
@MR_RU: Okay, also, passt auf …
Gib
6 | Prolog
Kapitel 01: Sommer
Emil
»Das kann doch nicht wahr sein! Schafft’s echt keiner von euch
Trotteln, das Teil einzulochen?«
Der Trainer tobt mit hochrotem Kopf, während mein Team
sich krampfhaft das Kichern verkneift.
Zugegeben, das Training war wirklich keine Glanzleistung.
Und ein Teil der Schuld liegt definitiv bei mir, denn ich bin
heute eher so der FIFA-NPC im Spiel: Wild rumlaufend, aber
nicht in der Lage mitzudenken, weil mein Kopf ganz woanders
ist.
Heute ist es nämlich so weit: Er kommt mich besuchen. Da-
mian wird hier sein. In Fedebek. Endlich! Das erste Wieder-
sehen nach meinem waghalsigen Alles-oder-Nichts-Rettungs-
Roadtrip zu ihm, bei dem ich ein Toy und ’ne Entschuldigung
gegen den heißesten Kuss der Weltgeschichte eingetauscht hab.
Also sorry, dass meine Gedanken lieber um die sexy Chats der
letzten Wochen kreisen als um ein schwitziges Hochsommer-
training.
Und ich bin nicht der Einzige, der heute nur halb bei der
Sache ist. Der Trainer klebt förmlich an seiner Armbanduhr –
und wonach er sich sehnt, ist für niemanden ein Geheimnis:
das erste kalte Bier vom Fass, das gleich beim Gold Tanz gezapft
wird.
Um sich das zu verdienen, hat er uns besonders hart ackern
lassen: 30 Burpees kurz vor Schluss – für jedes Grad Celsius
einen. Und danach, um Bens miese Keeper-Leistung bloß-
zustellen:
»Wer ihm ’nen Elfer reindreht, darf gehen!«
Tja, Coach, der Schuss ging nach hinten los.
Sommer | 7
Ich war der Erste in der Schlange. Aber statt volley drauf-
zuballern, hab ich Ben nur ’nen lauwarmen Lupfer zugespielt,
den er mit Leichtigkeit gehalten hat. Sandy war nach mir dran
und hat geguckt wie ’n Auto – also hab ich geflüstert: »Wär
doch schade, wenn das hier länger dauert und der Coach den
Fassanstich verpasst.«
Mehr brauchte es nicht, damit erst Sandy und danach auch
alle anderen mitzogen.
Wie Swifties vor der Uber-Arena stehen wir nun in einer
Schlange vor dem Tor und schießen einer nach dem anderen
unsere Bälle, die ausnahmslos in Bens Armen landen. Die per-
fekte Übung für präzise Pässe – und für die Geduld unseres
Trainers.
Mit Üben in Geduld kenne ich mich aus. Immerhin musste
ich drei fucking Monate auf diesen Tag warten. Und jetzt, wo
er endlich da ist, hab ich das Gefühl, alles geht zu schnell. Und
zu langsam. Als hätten wir zu wenig Zeit für all die Arbeit, die
wir in dieses Treffen gesteckt haben. Wochenlang habe ich auf
meine Mutter eingeredet, damit sie meinen Vater davon über-
zeugt, endlich sein Okay für ein Wochenende mit ’nem Typen
aus dem Internet zu geben! Mehr wissen sie nicht.
»Er hat mich auf Kleinanzeigen angeschrieben, weil er Hilfe
brauchte, ’nen Dildo bei sich einzuschleusen – vorbei an der le-
benden Post-Paket-Firewall aka seiner Mum.«
Das ist definitiv ’ne süße Kennenlerngeschichte – und da lass
ich auch nicht mit mir diskutieren – aber halt keine, die man
seinen Eltern erzählt. Denn sie wird all den Mauern nicht
gerecht, die wir einreißen mussten. Aber fuck it! Ich hab ge-
kämpft und gewonnen! Und zwar ein Wochenende mit Da-
mian!
8 | Sommer
Kick – und mit ’ner dramatisch inszenierten Parade fängt Ben
auch diesen Kullerball von mir. Der Trainer tobt.
»Jetzt hab ich aber die Schnauze voll! Das ist doch – «
»Hey!«, lacht Ben. »Ich hab heut einfach ’nen richtigen Run!«
Pfffffiiiuuu …
Ein Ball wie eine Rakete streift beinahe seinen Kopf und fegt
das Grinsen aus Bens Gesicht. Netz spannt. Der ist drin. Ein
Raunen geht durch die Mannschaft, und kurz denke ich, alle
schauen auf mich – aber nein. Als ich mich umdrehe, entdecke
ich ihn. Neben mir, direkt auf der Elfmetermarkierung steht
der Paktbrecher. So dicht, dass ich seine starke, vertraute Es-
senz riechen kann. Kevin.
Die anklagenden Blicke seines Teams bohren sich in den
Rücken des Mannschaftskapitäns, der ihnen nur sein breites
Kreuz mit der Nummer 10 zugewandt hat.
»Ist jetzt auch mal gut mit der Kinderscheiße«, raunt er, als
er sich den Schweiß aus den kurzen Haaren reibt.
»Gut so, Kevin!«, brüllt sein Vater, unser Coach, irgendwo
zwischen Erleichterung und drängender Zapfspannung.
Aber Kevin beachtet ihn gar nicht. Ohne ein weiteres Wort
verlässt er den Platz Richtung Umkleide.
»Und jetzt die anderen! Los!!«
Mehr und mehr harte Schüsse mischen sich unter die sanf-
ten Pässe. Die Zeit für Spielchen scheint vorbei zu sein. Kein
Wunder, schließlich ist Freitagabend. Die meisten sehen sich
nachher sowieso beim Gold Tanz – Druckbetankung beim
Dorffest. Aber nicht für mich. Denn immer wenn ich an heute
Nacht denke, zieht sich ein Kribbeln von meinem Bauch bis in
die Fingerspitzen und lässt mich meine Daumenballen kneten.
So sehr, dass sie schon weh tun.
Klar freu ich mich auf Damian – aber ich hab auch echt Schiss
vor unserem Wiedersehen. Was, wenn es face-to-face anders
Sommer | 9
ist? In ’nem Chat kann man viel erzählen – cooler wirken, nur
die besten und heißesten Seiten zeigen. Aber was, wenn’s ihn
abturnt, wie ich lache. Oder er es nervig findet, wenn ich so
schnell rede, dass mir der Atem ausgeht? Oder wenn ich bei Das
Schicksal ist ein mieser Verräter heule. Okay, wenn er da nicht
heult, ist wohl er der Weirdo. Aber was ist mit Coco? Oder Der
wilde Roboter? Sitz ich dann mit Rotznase da und er verdreht
die Augen?
»JAA!!«, gröhlt der Coach, als nun auch Sandy den Ball im
Tor versenkt. Es sind nicht mehr viele Jungs übrig. Trotzdem
erwidere ich seinen reumütigen Blick mit einem Lächeln und
’nem Schulterzucken – so subtil, dass der Coach meine Un-
schuldsmiene nicht durchschaut.
Und welchen Emil zeige ich Damian nachher? Am besten die
Enno-Version: Emil, so wie Damian ihn aus den Chats kennt.
Das ist gut. Aber … wie wirke ich da? Auf einmal jagt’s mir die
Nackenhärchen hoch. Fuck. Bevor er kommt, muss ich unsere
Chats durchgehen! Analysieren, wie er mich sieht, was er erwar-
tet – und mir bleiben maximal noch zwei, vielleicht drei Stunden,
bis er –
»Es reicht!!« Die schrille Trillerpfeife des Trainers verkündet
seine Kapitulation. »Alle ab unter die Dusche! Hopp, hopp!«
Und plötzlich kann es mir nicht schnell genug gehen. Ich
scanne den Rasen nach meiner Trinkflasche, als ein gedämpftes
Tuscheln durch die letzten verbleibenden Jungs geht.
»Wer ist das?«
»Kein Plan, kenn ich nicht. Vielleicht ’n Neuer«, hör ich Ben
skeptisch murmeln. Als ich den Blicken folge, entlädt sich
mein Hirn wie bei einem Kurzschluss. Neben der Tribüne läuft
ein breit gebauter Typ in schwarzem Tanktop aufs Spielfeld zu.
Der stylische Schnitt seiner ebenso schwarzen Jeans mit den
Ketten am Bund, und die Art wie er den knallroten Rucksack
10 | Sommer
lässig über die Schulter geworfen trägt – jeder merkt sofort: Der
kommt nicht von hier.
Mein Körper reagiert auf Autopilot und als hätt ich den
stärksten Gegenpol zu meinem Magneten gefunden, jogge ich
auf ihn zu. Als er mich sieht, formt sich ein Lächeln und sofort
hebt er den Arm zu einem kaum wahrnehmbaren Winken.
Dieses Lächeln lässt mich sprinten und wir treffen uns an der
Platzbegrenzung.
»Was machst du denn schon hier?« Ich starre ihn an, als wär
er der erste andere Mensch, den ich zu Gesicht bekomme.
»Hab rumgetrickst, damit ich früher loskonnte«, lacht er ver-
legen. »Und na ja, so groß ist Fedebek nicht. Wo ich dich um die
Uhrzeit finde, wusste ich ziemlich genau. Creepy, huh?«
Natürlich weiß er das. Er kennt meine Trainingszeiten aus-
wendig, so wie ich seinen Workout-Plan, und wir beide unsere
Stundenpläne. Weil wir wochenlang alle Chats, Anrufe und
Sexting-Sessions um diese Termine herumplanen mussten.
Aber jetzt nicht mehr. Jetzt steht er hier. Direkt vor mir.
»Du bist so scheiße.« Der Versuch, meine Mundwinkel zu
beherrschen, führt zu fast krampfhaften Zuckungen.
»Und du einfach so gut mit Worten.«
Damians Grinsen löst jeden Zweifel in Luft auf. Denn ob-
wohl er genauso behämmert aussieht wie ich – seine Beißer
präsentierend wie ein Kind beim Zahnarzt – ist dieser Anblick
das Schönste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Damn.
»Es ist so krass, dass du hier bist«, flüstere ich halb zu mir
selbst und meine Hände berühren seine Wangen.
»Tada!« Er kneift die Augen vergnügt zusammen, und ehe ich
mich versehe, sind meine Lippen auf seinen.
Ein lautes Johlen der Jungs lässt mich in den Kuss hinein
raunen.
»Fuck.«
Sommer | 11
»Ja, Mann«, lacht Damian. »Fuck.«
Aber wir denken gar nicht daran, uns zu lösen. Obwohl die
Metallstange der Platzbegrenzung uns trennt, zieht Damian
mich noch fester an sich, und sein Rucksack rutscht ihm von
der Schulter in die Armbeuge. Doch nichts kann uns jetzt von-
einander trennen.
Nichts, außer das strenge Räuspern des Trainers.
»Huh?« Ich dreh mich zu ihm und schrecke auf, weil er di-
rekt neben uns steht. Damians Mund hat mir wohl jedes Gefühl
für Zeit geraubt.
»Emil, bitte!« Er kratzt sich am Hinterkopf. »Das hat hier gar
nichts mit, du weißt schon, zu tun. Junge oder Mädel, das ist mir
völlig egal, ja? Aber – « Er deutet mit einer ausladenden Geste
auf den mittlerweile leeren Fußballplatz. »Ich hab noch andere
Verpflichtungen!«
Okay, Zeit ihn zu erlösen.
»Coach«, setze ich mit gespieltem Edelmut an, »ich kann die
Umkleide nachher auch abschließen, wenn das hilft?«
Seine Schultern sinken vor Erleichterung, als er hastig in
seiner Hosentasche nach dem Schlüssel sucht.
»Du bist ein Engel, Emil!« Er drückt mir den Holzblock mit
dem Schlüssel in die Hand – dann dreht er auf dem Absatz um
und sprintet zu seinem Kleinbus. Ich wusste nicht, dass er das
kann.
»Engel?« Damian mustert mich amüsiert.
»Na, was denn sonst?«
»Mhm, ist klar.«
Ich greif seine Hand und zieh ihn mit auf den Platz – bis zu
meiner Wasserflasche. Wir schmeißen uns auf den Rasen, und
er erzählt mir von seinem Plan. Wie sein Kumpel Luca ihn abge-
holt hat und sie seiner Mum verkaufen konnten, dass Damian
nach dem Sport noch bei ihm chillt.
12 | Sommer
»Dann hab ich das Workout geskippt, bin direkt zum Bahn-
hof und hab mir ’n neues Ticket gebucht.«
»Aber du hattest doch schon eins.«
»Ja, das Super-Spar-Ticket um 19 Uhr von meiner Mum.« Da-
mian rollt mit den Augen. »Dann wäre ich mit Regio und ICE,
plus Umsteigen erst … «
»Um 23 : 16 Uhr hier gewesen. Ich weiß, ich wollte dich ja ab-
holen.« Es braucht ein bisschen, bis ich checke, was er da sagt.
»Das heißt, du hast für ein paar extra Stunden mit mir einen
Arsch voll Geld ausgegeben?«
»Ey, wenn du das so sagst, klingt’s, als wärst du mein Call-
boy.«
»Und? Ich bin jeden Cent wert«, prahle ich. Er dreht sich um
und lässt sich rückwärts in meine Arme sinken. Ich kann nicht
anders, als wie ’n scheiß Vampir seinen Hals anzugaffen. Und
das Blut fließt. Jup, das ist definitiv in Wallungen. Bevor er das
in seinem Rücken merkt, wechsle ich abrupt das Thema.
»Was hast du da in deiner Tasche? Nur Klamotten?«
Er zieht den Rucksack an sich und öffnet ihn. Dann schließt
er ihn wieder unbeholfen: »Klamotten, dies, das. Meine
Switch, paar Filme und so.«
Ich bin so happy, dass er mein Gesicht gerade nicht sehen
kann. Bei dem Gedanken, wie er zu Hause sitzt und nervös
seine Sachen packt, kann ich nicht mehr. Filmabend auf mei-
nem Bett. Gemeinsam Smash Bros. zocken. Wie süß kann man
sein? Das heißt, er war genauso aufgeregt wie ich, und hat sich
seine ganz eigenen Gedanken für das Wochenende gemacht.
Meine Arme schlingen sich fest um ihn, und ich beiße in sei-
nen Hals.
»Hmpff!«
»Ahhhahaha!«, lacht er aus voller Kehle und beginnt wild zu
strampeln, um sich zu befreien. Ihn halten, ihn berühren, das
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Salz seiner Haut auf meiner Zunge spüren. Keines dieser ersten
Male zieht unbemerkt an mir vorbei, denn ich versuche, mir
jeden dieser kleinen Momente in mein Gehirn zu brennen.
Dann, mit einem Ruck, befreit er sich und pinnt mich auf den
Rücken.
»Ein bissiger Dämon bist du, kein scheiß Engel.«
Sein Gesicht leuchtet noch heller – jetzt, wo die schwarzen
Haare nicht mehr Teile davon verdecken, sondern nur noch
zarte Schatten werfen. Er lehnt sich hinab und küsst mich.
Selbst mit geschlossenen Lidern rollen meine Augen zurück.
Holy! Shit!
Mit einer Hand taste ich über den Rasen und versuche bei-
des: Meine Sehnsucht nach seinem Mund und meine Neugier
zu stillen. Bingo! Ich hab seinen Rucksack, und beginne vor-
sichtig, den Reißverschluss zu öffnen. Welcher Film wohl für
Damian Date-worthy ist?
Aber er ist aufmerksamer, als ich gehofft habe. Zack! Hat er
mein Vorhaben durchschaut und mich am Handgelenk ge-
packt. Er grinst in den Kuss.
»Frech. Einfach frech. Man geht doch nicht ungefragt an
fremde Sachen, hm Enno?«
Und plötzlich werden mir zwei Dinge bewusst: Er ist nicht
nur der Einzige, der mich bei diesem Namen nennt. Er ist auch
der Einzige, der Enno kennt. Diese Seite von mir. Ich muss
nicht tausend Chats lesen und ihm eine Rolle präsentieren,
denn jetzt gerade bin ich Enno: die ehrlichste Version von mir.
Jetzt gerade trage ich keine Maske. Und ich kann mich nicht er-
innern, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe. Könnte
es mit ihm immer so sein?
Er zieht meine Hand aus seinem Rucksack, aber nicht, be-
vor ich noch die erste Sache greif, die mir zwischen die Finger
kommt.
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Stille.
Sein versteinertes Gesicht sollte man auf Leinwand drucken
und in Clownsschulen studieren. Denn sein Blick fällt auf eine
Packung Kondome in meiner Hand.
»Ups.« Er grinst verlegen.
Eine Flut an Gefühlen jagt durch mich, doch ich tu ganz läs-
sig und schau mir das kleine Päckchen genauer an. Die kurze
Pause verunsichert ihn noch mehr.
»Ich hab die nur … Luca hat mir die mitgegeben. Für den Fall
der Fälle. Ich wusste nicht, ob wir – «
»Glücksgriff. Genau meine Größe«, geb ich knapp zurück
und drücke ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. Dann
schnapp ich mir meine Trinkflasche, richte mich auf und gehe
Richtung Umkleide. »Los, komm.«
Verdutzt schaut er mir nach. »Wohin denn?«
Ich lasse den Schlüssel von meiner Hand baumeln: »Du-
schen.«
Ein ungläubiges Grinsen zieht sich quer über sein Gesicht.
Dann presst er seinen Rucksack an sich, springt auf und rennt,
um mich noch einzuholen.
* * *
»Das Paket ist ausgepackt und du willst nicht damit spielen?«,
rufe ich in provokantem Ton aus der Dusche.
»Nicht so vorlaut, Kleiner. Das hier ist kein Chat mehr«, tönt
es aus der Umkleide nebenan.
»Fühlt sich aber ’n bisschen an wie einer. Wie ’n Voice Chat.«
»Ja, nur ohne die sexy Bilder, die ich sonst bekomme.« Wir
sind die Letzten hier – und das macht es nicht einfacher, sich
zu zügeln. Vor allem, weil Damian genau weiß, welche Knöpfe
er bei mir drücken muss. Ich schleiche zum Türrahmen, der die
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beiden Räume trennt, und sehe ihn auf einer der Bänke sitzen,
voll in sein Handy vertieft.
»Sexy kannst du haben. Sogar mit 4-D-Effekt.« Ich schüttle
meine nassen Haare wie ein Hund, sodass fette Tropfen auf ihm
und seinem Display landen. Halb entgeistert, halb amüsiert
schaut er auf.
»Junge, das hast du grad nicht wirklich gemacht!«
»Ich dachte, du könntest auch ’ne kleine Dusche vertragen.
War doch sicher ’ne lange, harte Reise.«
Ich schmieg mich an den Türrahmen, und sein Blick klebt
an mir. Er checkt mich aus. Zumindest den Teil, den er sehen
kann.
Komm Enno, alles oder nichts. Ich dreh mich um und stelle si-
cher, dass er einen ziemlich guten Blick auf meine völlig nackte
Hinterseite werfen kann, während ich zurück in die Dusch-
kabine gehe.
Dort lehn ich mich gegen die kalten Fliesen, und mit einem
albernen Schnauben reib ich mir das Wasser aus dem Gesicht.
Wie schafft es Damian allein mit seinen Blicken, all diese Ge-
fühle in mir freizuschalten? Meine Hand wandert an meinem
Körper hinab, über meinen Bauchnabel und tiefer.
Ja. Auch dieses Gefühl. Unlocked, seit er hier ist.
»Fuck, Mann.«
Ich reiß die Augen auf und er steht vor mir – zwar barfuß,
aber noch immer in Jeans und Tanktop. Durch das Wasser hab
ich ihn nicht kommen hören. Reflexartig versuchen meine
Finger die Nacktheit zu verstecken, doch mein Kopf hält da-
gegen. Er sieht nichts, was ich ihm nicht schon längst gezeigt
habe. Also wandern meine Hände mit gespieltem Mut hinter
meinen Körper.
»Na? War die kleine Dusche eben nicht genug?« Meine
Stimme klingt etwas wackelig.
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»Nee. Irgendwie nicht.« Ich kann nicht sagen, ob die Röte
auf seinen Wangen noch von der Sommersonne stammt oder
von mir. Darum trete ich in den Schauer und sehe, wie sein
Blick dem Wasser folgt, das meinen Körper hinabrinnt. Bis er
auf halber Höhe hängen bleibt.
»Was? Noch nie ’nen nackten Typen gesehen?«
Er schluckt. »Nicht so.«
Diese unverblümte Ehrlichkeit reißt eine Kluft zwischen den
Sexgott-Damian in meinem Kopf und den Jungen, der vor mir
steht, und ich muss kurz lachen.
»Was denn?« Er schaut mich unsicher an.
All das Gerede, was wir mit dem anderen anstellen würden,
an jedem nur denkbaren Ort, in jeder Position – all die wilden
Fantasien treffen jetzt auf uns: zwei aufgegeilte Jungs, die zwar
online große Töne spucken, aber eigentlich gar keinen Plan
haben, was sie hier machen.
»Hab nur vergessen, dass du ’n Heimduscher bist.« Ich gehe
noch einen Schritt auf ihn zu, raus aus dem Schauer und stehe
nun direkt vor ihm. »Dann bitte. Dein erster nackter Typ. Live
und in 4-D.« Erneut schüttle ich meine Haare und ohne zu-
rückzuweichen kneift Damian die Augen zusammen. Ich nutze
die Chance, und stehle ihm ’nen Kuss.
»Und? Was willst du jetzt tun, hm?«, frage ich herausfor-
dernd. »Das hier gehört alles dir.« Mit beiden Händen streiche
ich an mir hinab, von meinen Schultern zu meiner Hüfte, um
seine Fantasie zurück ins Hier und Jetzt zu holen.
Sein Blick folgt meiner Handbewegung, und er schluckt. Ein
kurzes Zögern.
»Du sagst stopp.« Er schließt den letzten Abstand zwischen
uns, und ehe ich checke, wie’s passiert, sind seine Lippen auf
meinen, und seine Hände überall. Als er meine Hüfte greift und
mich fest an sich zieht, spüre ich, wie er sich durch seine nun
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viel zu enge Jeans gegen mich drückt. Nackte Haut auf nassem
Stoff.
»Oh, fuck … , Dami«, stöhne ich in seinen Mund. Sein Spitz-
name schmeckt komisch – aber der ist das Einzige, was ge-
schrieben besser ist als real. Ihn hier, bei mir zu haben, zu spü-
ren … Plötzlich ist mir so schwindelig, dass ich ihn rückwärts
durch den Wasserregen ziehe, bis ich die kalte Wand im Rücken
spüre. Gut so. Nur einen Touch Realität, um nicht den Boden
zu verlieren.
»Alles okay?«
»Mhm«, nicke ich nur, und stürze mich so in den nächsten
Kuss, dass unsere Zähne gegeneinanderprallen.
»Shit«, stoße ich unter einem unterdrückten Lachen aus,
und auch Damian schnaubt kurz.
Dann wird sein Griff um meine Hüfte etwas fester, und un-
sere Blicke treffen sich. Wasser läuft ihm übers Gesicht, hinab
bis zum Kinn, und seine Augen sind halb geschlossen. Er be-
netzt seine Lippen mit der Zunge und wiederholt keuchend:
»Du sagst stopp.«
Und noch bevor ich verstehe, was er meint, spüre ich, wie
sein Blick auf meine Augenhöhe gleitet, nur um tiefer und tie-
fer zu sinken. Dann kniet er vor mir – und ich schaue auf ihn
hinab.
»Du musst das nicht tun.«
Er wirft mir einen überzogenen Eyeroll zu: »Enno, sag stopp,
oder sei still.« Dann erwidert er mein Grinsen.
»Junge, darauf kannst du lange warten.«
»Tze, nichts als Prahlerei.«
Okay, okay, okay … Da ist der Damian aus unseren Chats.
* * *
18 | Sommer
Wenn ich zu Hause bin, werd ich nicht mehr sitzen können.
Nach dem Ritt verstehe ich Buffys Gemaule endlich. Ich klam-
mer mich an Damian, der mein klappriges Fahrrad durch Fede-
bek jagt – und mein Gepäckträger malträtiert meinen Hintern.
»Ich will nur noch mal klarstellen«, rufe ich ihm gegen den
Fahrtwind zu, »dass sich durch das Schreiben mit dir einfach
’ne Menge angestaut hat!«
»Mhm!«
»Darum ist es jetzt nicht verwunderlich, dass es auch mal
schneller gehen kann. Gerade bei zwei Typen – du weißt ja
selbst, wie das manchmal ist.«
»Jup.« Dann Stille.
»Außerdem bist du unglaublich talentiert mit dem Mund,
und der geborene Schwanzlut–«
»Yooo! Endlich gibst du’s zu«, unterbricht er mich mit ’nem
stotternden Lachen. »Aber muss ja nicht gleich das ganze Dorf
erfahren!« Er dreht sich zu mir, und ich sehe sein stolzes Grin-
sen. Dann löst er die Füße von den Pedalen und beginnt immer
größere Schlangenlinien auf der breiten Hauptstraße zu fahren,
die einmal quer durch Fedebek führt.
»Chill, du bringst uns noch um!« Ich krall mich an ihm fest,
denn mit meiner Sporttasche und seinem Rucksack habe ich
extra Schwungmasse. »Kein Bock, wie in ’nem Horrorfilm nach
dem ersten Mal zu krepieren.«
»Was für erstes Mal?«, fragt er und die Manöver werden ru-
higer.
»Na, dein … Gay-erstes-Mal.« Er antwortet nicht und ich
überlege, ob ich was Falsches gesagt hab. Gay. Ist das überhaupt
sein Label? »Oder … queeres erstes Mal«, schiebe ich nach, aber
das hört sich irgendwie gestelzt an.
»Zählt das überhaupt?«, fragt er.
»Was? Na klar! Ich bin ’n Typ, du bist einer. Also für mich – «
Sommer | 19
»Aber es war doch nur ’n Blowjob.«
Jetzt bin ich still. Nur ’n Blowjob?
»Oder nicht?«, rudert er zurück. »Gay-erstes-Mal, heißt
doch – «
»Das geheime Portal entdecken?«
»Was?«
»Durchs Hintertürchen kommen?«
»Uff … «
»The Big A?«
»In dir leben zwei Geister. Der eine ist acht, der andere acht-
zig.« Er lacht, während ich mich an ihn schmiege.
»Weil ich so lustig und trotzdem weise bin?«
»Mhmmm, klar … «, zieht er künstlich in die Länge.
»Dafür gibt’s kein Regelwerk – egal ob gay oder hetero«, er-
widere ich und komme damit auf das eigentliche Thema zu-
rück. »Man kann alles Mögliche das erste Mal probieren. Au-
ßerdem kommt’s doch auch drauf an, mit wem man was macht,
oder?« Dann werde ich ein wenig leiser. »Für mich war’s heut
zum Beispiel das erste Mal, dass mir jemand einen – «
Damian tritt so hart in die Bremse, dass sich mir der Sattel in
den Bauch bohrt. Völlig baff dreht er sich zu mir um.
»Laber keinen Scheiß?!«
»Tu ich nicht.«
»Wooow … «
Er starrt mich an, aber ich weiche aus: »Ehm, da vorn ist
unser Haus.« Perfektes Timing. Ich steig ab und lauf an ihm
vorbei.
»Das heißt, selbst wenn ich schlecht gewesen wäre, hättest
du gar keinen Vergleich gehabt!« Mit einem überzogenen Grin-
sen tritt er in die Pedale, bis er wieder auf meiner Höhe ist.
»Junge, es war nur ’n Blowjob, richtig?«
»Nee, Mann.« Er fährt einen Schlenker und blockiert mir den
20 | Sommer
Weg. »Das war unser erstes Mal. Und du Glücklicher hast ein-
fach direkt den weltbesten Blowjob ever bekommen – kannst
du das glauben?«
Jedes Mal, wenn er mir dieses blöde Zahnarztgrinsen
schenkt, ziehen sich meine Mundwinkel unaufhaltsam nach
oben – ich schwöre, das ist Magie oder so.
Damian hebt entschlossen die Brust: »Das gerade war nur das
erste von … vielen ersten Malen für uns!« Das klingt so dämlich,
dass ich an ihm vorbeilaufe.
»Vielen hundert ersten Malen!« Mein Versuch, sarkastisch zu
klingen, scheitert an meinem Grinsen.
»So nämlich! Go hard or go home!«, ruft er, steigt ab und
joggt mit dem Rad zu mir. Dann senkt er die Stimme. »Aber
nächstes Mal – sag mir so was. Ich dachte, du hast schon alles
durchgespielt und ich komm hier als Vollnoob auf Level 1 an.
Hätt’ ich das gewusst, wär ich nicht so fucking nervös gewe-
sen.«
»Sorry. Ich … « Atmen, Emil, atmen. »Ich war ja selbst to-
tal – «
» – früh fertig?«
»Alter!« Ich schubs ihn leicht, nur um ihn gleich darauf in
einen Kuss zu ziehen. »Komm her.«
Als wir uns wieder voneinander lösen, nehm ich ihm das
Fahrrad ab. »Siehst du das Fenster da oben?« Ich deute auf das
Dachgeschoss unseres Hauses, vor dem wir zum Stehen kom-
men. »Das ist meins. Ich hoffe, du hast fleißig trainiert.«
»Huh?«
»Na mit dem Spielzeug, das ich dir – «
»Spielzeug?!« wirft mich eine schrille Kinderstimme aus der
Bahn. Als ich mich umdrehe, springt mich ein Junge wie ein
Koala an und klammert sich an mir fest.
»Lenny? Wo kommst du denn her?«
Sommer | 21
»Ich schlaf heute hier!«
»Waaas?«, frage ich mit wackliger Stimme.
Das Außenlicht geht an, obwohl es gerad erst dämmert, und
meine Tante Sophie kommt aus der Tür. In ihrem wehenden
grünen Batikkleid wirkt sie wie ein Farbklecks auf einem
Schwarz-Weiß-Bild. Die Federohrringe schwingen mit jeder
Bewegung, während sie auf uns zuläuft.
»Endlich! Wir haben schon auf dich gewartet, du Rumtrei-
ber.« Sie schaut zu Damian: »Uh, und du musst der Glückspilz
sein, der meinem Neffen den Schlaf raubt.«
Peinlich.
Er überbrückt den Abstand mit einem unbeholfenen Win-
ken: »Damian. Hi.«
»Das ist meine Tante Sophie und das … «, ich deute auf den
Knirps, der an mir klebt, » … ist Lenny. Der Magier.«
»Häää?« Als wäre ich der dümmste Mensch auf Erden, ver-
zieht er das Gesicht, »Ich bin Spider-Man!«
Naja, wenigstens hat er Geschmack.
Tante Sophie zuckt mit den Schultern. »Schön waren die
Zeiten, als ’n gebrauchter Zauberkasten gereicht hat, und er
war für Wochen beschäftigt.« Sie hockt sich neben Lenny, und
fährt mit gekünstelter Begeisterung fort: »Aber jetzt muss alles
von Spideys allerneuester Serie sein – das Kostüm, der Pulli
und das Spielzeug.«
»Jaa!!«, ruft Lenny unbekümmert. »Emil hat auch Spielzeug!
Ich hol schnell meins, und du zeigst mir deins, okay?«
Fuck.
»Quatsch, nee – passt schon!«
Aber da flitzt er schon los, zurück ins Haus.
»Ihr … schlaft heute hier?«, wende ich mich an meine Tante,
und sie deutet auf die Weizenhalme an ihrem Hut.
»Ja, wegen dem Gold Tanz.«
22 | Sommer
»Gold Tanz? Was ist das denn?« Diesen höflich-interessier-
ten Ton kenne ich noch nicht von Damian.
»Ach, nur so ’n Dorffest«, komm ich Sophie zuvor, »nichts
Weltbewegendes.«
»Und was feiert man da?«
»Kennst du Altbek?«
»Das ist hier das Bier«, erklärt Sophie, »Familienbrauerei –
alles Bio. Nur regionale Zutaten.«
»Und beim Gold Tanz stoßen alle auf den ersten Tropfen aus
der Wintergerste an. Um die Braukunst und die Bauern zu eh-
ren. Erst die wichtigsten Leute der Gemeinde, dann das ganze
Dorf.«
»Da wird sogar noch richtig traditionell aus Holzfässern ge-
zapft«, ergänzt Sophie vorfreudig.
»Krass. Also bei uns gibt’s höchstens mal ’nen Mini-Rummel
beim Stadtfest, aber nichts mit … Dorfcharme.« Damian schaut
mich an, doch mein subtiles Kopfschütteln lenkt seinen Blick
Richtung Dachgeschoss.
»Unterm Strich ist’s einfach ’n weiterer Grund zum Sau-
fen«, aber mein Versuch, uns freizukämpfen, geht nach hinten
los.
»Hey, und das Mini-Trecker-Rennen mit Lenny? Oder das
Getreidekranzbinden? Und vor der Heuballen-Bühne haben
wir letztes Jahr alle abgetanzt, also sei mal nicht so cool.«
Ich höre, wie die Haustür erneut aufgeht und sehe meine
Mum.
»Da bist du ja endlich. Wir wollten gerade vorgehen. Oh – «
Sie hält kurz inne, als sie Damian bemerkt, »darum die Ver-
spätung.«
»Äh, Mama, das ist Damian.«
»Hallo Frau Scheibenhauer.« Diesmal macht er einen großen
Schritt nach vorn, um ihr die Hand zu reichen.
Sommer | 23
»Hallo, schön, dich endlich kennenzulernen. Nenn mich
einfach Christina. Dann fühl ich mich nicht so alt.«
»Bist du aber! Die Dreißiger sind passé«, mischt sich Tante
Sophie ein.
»Ignorier sie«, winkt meine Mutter ab. »Ich bin zwei Minu-
ten jünger als sie – das verkraftet sie nicht.«
»Dafür sehe ich mindestens zwei Jahre jünger aus.«
»Klar, Oma.«
Doch es stimmt: Auch wenn sich ihre Gesichter kaum un-
terscheiden, ist der Stil meiner Mum reservierter, die Farben
blasser. Während unter Tante Sophies Hut wilde Strähnen
ausbrechen, trägt meine Mum die Haare zu einem sauberen
Ballerina-Dutt gebunden. Und trotzdem – sobald die beiden
zusammen sind, verschwinden alle Gegensätze, und ich sehe
eine Seite an ihr, die sich immer seltener zeigt.
»Damian hat gesagt, dass er noch nie etwas wie den Gold
Tanz erlebt hat«, säuselt Sophie, und ich durchschaue ihr Spiel
sofort.
»Dann kommt doch beide mit. Den Fassanstich haben wir
zwar verpasst, aber ich würde mich freuen, dich besser ken-
nenzulernen.«
»Muuuum«, protestiere ich – da kommt Lenny wieder aus
dem Haus gerannt. Sein Spider-Man-Kostüm ist nicht mal zu-
gezippt, wodurch die eingenähten Stoffmuskeln alle an die
falsche Stelle rutschen. Die Plastikmaske seines Idols reicht er
Damian:
»Hier! Die musst du aufsetzen!«
»Ich?«, grinst der Titan, der sich hinhocken muss, um auf
Augenhöhe zu sein.
»Du bist der Superheld und ich der Helfer, okay?«
»Dann bin ich wohl abgeschrieben«, schmoll ich vorwurfs-
voll.
24 | Sommer
»Jaa!«, entgegnet Lenny und rennt los, Richtung Markt-
platz.
Kinder – kein Filter, einfach geraderaus wie ’ne Abrissbirne.
Tja, vielleicht sollte ich mir da ’ne Scheibe abschneiden. Mehr
zeigen, was in mir vorgeht. Aber mein Mauer-Abriss-Programm
ist noch ’n Work-in-Progress – das hat selbst Damian vorhin
bemerkt.
»Kommt ihr endlich?!« Lenny macht eine Kehrtwende, greift
Damians Hand und zieht daran. Der lacht verlegen.
Meine Mum schaut mich abwartend an.
»Sollen wir? Oder wollt ihr euch hier ’nen schönen Abend
mit Papa machen?«
Ich seufze. »Er bleibt hier?«
Sad Update: Privatsphäre gibt’s nur noch, wenn meine Mum
sie verteidigt. Das heißt, er könnte jede Sekunde in mein Zim-
mer platzen. Nicht aus Angst, dass Jungs und Sex und Schwul-
sein mir das Leben schwer machen könnten – sondern davor,
dass er dadurch Trouble hat.
»Los, komm schon, Emil.« Aus Damians Mund klingt mein
Name echt seltsam. »Das wird bestimmt lustig.«
»Dann kannst du ihm deine heißen Tanzmoves zeigen!«
Meine Tante schließt die Augen, zieht einen Schmollmund,
und mit kreisenden Schultern stößt sie ihre Hüften unange-
nehm in die Luft.
»So tanzt mein Sohn nicht.«
»Danke, Mama.«
»Ganz ehrlich? Das sieht aus wie Reha-Sport.« Mum hebt die
Hand, und ich geb’ ihr ein halbherziges High Five.
»Ok. Ich stell nur kurz das Rad ab und bring Damians Sachen
rein.«
Das Wochenende hat doch so gut angefangen … Und jetzt?
Das Gästezimmer ist direkt neben meinem. Mit Wänden so
Sommer | 25
dünn, dass Opas Schnarchen mich immer wach gehalten hat,
wenn er zu Besuch war.
Chancen auf Sex gleich zero.
Als ich zurückkomme, sehe ich Damian, der mit meiner
Mum einen Erntehalm an der viel zu kleinen Spider-Man-
Maske befestigt. Vermutlich von Sophies Hut.
Ich greif mein Handy und mach ein Foto. Unbemerkt. Weil
ich weiß, diesen Moment in mein Hirn zu brennen, reicht mir
nicht aus.
»Damit du dem Motto entsprichst«, schmunzelt meine
Mum. Und ohne sein Gesicht zu sehen, kann ich hören, wie
sehr er sich über die kleine Geste freut.
»Danke Christina.«
»Wenn du ganz mutig bist«, meldet sich meine nervige
Tante, »nennst du sie Kritzel. Das liiiebt sie!«
»Ich denk, ich bleib bei Christina«, antwortet er – dann lehnt
er sich zu Sophie und flüstert: »Fürs Erste.«
»Wag es nicht«, protestiert meine Mum, und ich grinse in
mich hinein. Wie schafft er es, alle Energien aufzufangen und
zurückzuspielen – als würde es ihm nichts abverlangen? Auf
dem Platz, in der Dusche, selbst jetzt bei meiner Familie … Ich
blicke auf das Foto, das ich eben gemacht hab.
Der Junge überrascht mich jedes Mal aufs Neue – so, als wäre er
mir immer einen Schritt voraus.
»Gehen wir?«, frag ich und pack mein Handy weg. Da dreht
Damian sich zu mir. Die runde Kindermaske spannt sich wie
ein schlechter Witz über sein markantes Gesicht, und ich ver-
kneif mir ein Lachen.
»Was denn? Alles wartet nur auf dich, Emil.«
26 | Sommer
TrackYaDay:
Mood: GOOD
Damian kam mich endlich besuchen, und er hat
mir einen in der Mannschaftsdusche gelutscht
Wie cool ist der Typ bitte?! Ich kann nicht
mehr – wenn ich ihn sehe, will ich ihn berühren
und anlecken und zerquetschen und beißen –
he’s so cute & hot.
Es hätte ein perfekter Tag
werden KÖNNEN, aber statt heute Nacht richtig
zu
, wurde es ’n Filmabend am Macbook. Er
hatte ’ne Anime-DVD dabei, aber mein Macbook
kein Laufwerk. Darum haben wir Das Schicksal ist
ein mieser Verräter geschaut.
PS: Er hat nicht geheult. (Vlt. doch ’n Psychopath?)
Damian
»Alter, wo rennen wir denn hin?« Ich kann kaum sprechen,
weil ich den Atem brauche, um nicht völlig von Enno abge-
hängt zu werden. Wie schnell ist der bitte? Ja – in den Chats
fand ich’s immer witzig, wenn er damit geprahlt hat, dass es aus
seinem Team keiner mit ihm aufnehmen kann. Aber jetzt? Jetzt
bin ich der langsame Trottel, dessen Lunge gleich kollabiert.
»Machst du etwa schlapp?« In einer kurzen Drehung wirft
Enno mir einen herausfordernden Blick zu. »Ich dachte, du bist
so fit?« Dann grinst er mich an und legt noch einen Zahn zu.
Frech ist er.
»Bin ich auch, du Arsch!«, lache ich heiser und wische mir
mit einer Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Na dann los: alles
Sommer | 27
oder nichts! Ich hole so tief Luft wie möglich und setze zum
Sprint an. Auch wenn ich die Wette gegen Luca verloren habe,
soll das Lauftraining nicht umsonst gewesen sein. »Ich krieg
dich!«, brülle ich voller Kampfgeist.
»Versuch’s mal!«
Wind schlägt mir entgegen, die Sonne strahlt, und ich fühl
mich so unfassbar gut. Die Erinnerung an die heiße Session in
der Umkleide gestern brennt wie Feuer in meiner Brust und
gibt mir das nötige Power-up, um den Abstand zwischen uns
ordentlich zu verringern. Am liebsten würde ich Enno direkt
wieder küssen. Ihn schmecken. Hier, sofort – aber dafür muss
ich ihn erst mal einholen.
»Hab di–«
»Hier lang!«
Gerade, als ich meinen Arm ausstrecke, um nach seiner
Schulter zu greifen, bremst er und biegt scharf in einen kleinen
Feldweg ab. »Oah, what the … !!« Der abrupte Stopp sorgt bei-
nahe dafür, dass ich mich abmaule. Im letzten Moment schaffe
ich es, mein Gleichgewicht wiederzufinden, und bete, dass ich
dabei nicht zu uncool aussehe. »En-no!!«, rufe ich laut.
»Da sind wi–«
Diesmal schneide ich ihm das Wort ab, indem ich ihm ohne
Vorwarnung einen Arm um den Oberkörper lege. Dann ziehe
ich ihm mit dem anderen die Beine weg, sodass ich ihn wie eine
Braut vor mir trage. Er ist relativ leicht – deshalb gelingt mein
Vorhaben trotz fehlender Puste problemlos.
»Oh, okay?«, kichert er und zieht eine Augenbraue hoch.
»Ich steh auf Romantik, aber ist es nicht etwas früh, mich über
die Schwelle zu tragen?«
»Pff, Schwelle?«, pruste ich. »Ich schmeiß dich ins Ge-
büsch da vorne. Dein Richtungswechsel hätte mich fast ausge-
knockt!«
28 | Sommer
»Kann die Gebüsch-Action noch warten? Ich will dir näm-
lich was Cooles zeigen!« Gekonnt befreit er sich aus meinem
Griff, und sein süßer Duft verlässt meine Nase – also folge ich
ihm. Jetzt bin ich mal gespannt!
Der kurze Weg führt zu einem eingezäunten Gelände – weit-
läufig und mit riesigen, zylinderförmigen Metall-Tanks, die in
zwei Reihen in die Höhe schießen. Ich würde mich jetzt nicht
als Stadtkind bezeichnen, aber ich merke, dass Uferstedt bei
weitem nicht so ländlich ist, wie ich dachte. »Was ist das?«,
frage ich ein wenig verlegen.
»Das siehst du gleich, wenn wir oben sind!«
»Oben?!«, huste ich panisch, doch da klettert Enno schon
über den Zaun. Ich folge ihm, bis wir vor einem der Tanks zum
Stehen kommen. Aus nächster Nähe wirken die Teile noch
massiver. Enno umklammert die erste Sprosse einer schmalen
Metallleiter, die direkt in die Stahlwand eingelassen ist. Als
mein Blick über sie schweift, macht sich ein mulmiges Gefühl
in mir breit.
»Jo, Enno, ich weiß nicht … «
»Da oben sind wir auf jeden Fall ungestört.« Der Unterton in
seiner Stimme ist nicht zu überhören. »Keine Lennys, die die
Party crashen!«
Jetzt muss ich lachen. »Der Kleine ist schon richtig süß. Er
sieht aus wie ein Mini-Du.«
»Oder?« Ein verlegenes Lächeln breitet sich auf seinen Lip-
pen aus. Kein Wunder, dass Lenny ihn so anhimmelt. Bei den
Sachen, die er dauernd abzieht, ist er vermutlich der coolste
große Cousin, den sich ein Siebenjähriger wünschen kann.
»Aber da wir nur zwei Tage haben, musste ich ’nen Ort finden,
an dem er dich nicht nonstop in Beschlag nehmen kann!«
Wieder muss ich grinsen. Es stimmt: Lenny war gestern auch
von mir voll begeistert und hätte am liebsten jede Minute mit
Sommer | 29
uns verbracht. Deswegen, fair – ein bisschen Alone-Time mit
Enno klingt gut, aber muss es auf einem Wolkenkratzer sein?
Hier unten ist auch keine Sau.
»Na los, du Schisser. Ich bin schon zigmal da hochgeklettert.
Ist sicher.«
»Ja-ha, ist ja gut!«, schnaufe ich und setze mich in Bewegung.
Mein Herz schlägt wie wild und mit jeder weiteren Sprosse
strömt mehr Adrenalin durch meine Adern. Es ist hoch. Sehr
hoch. Aber ich zwinge mich, mich davon nicht einschüchtern
zu lassen. Denn neben der Angst ist da ein zweites Gefühl.
Eins, das mich richtig beflügelt und antreibt, ihm hinterher-
zuhechten.
»Verrätst du mir noch, was wir anstellen, bevor wir erwischt
werden? Dann weiß ich wenigstens, wofür ich in den Knast
wandere.«
»Chill«, lacht er. »Nach gestern pennen die Bauern alle ihren
Suff aus. Hier ist keiner.«
Oh Mann, ey. Ich schüttele den Kopf, weil das gar nicht das
ist, was ich von diesem Wochenende erwartet habe. Dennoch
wird das Grinsen in meinem Gesicht größer und größer. Ich
versteh dich, Lenny.
»Gib mir deine Hand!« Ich hebe den Blick zu Enno, der das
Ziel bereits erreicht hat und mir strahlend seine Hilfe anbietet.
Er zieht mich mit hoch. So wie immer. »Trommelwirbel bitte:
Der schönste Ort, den Fedebek zu bieten hat.«
»Woww!« Fassungslos schaue ich in die Ferne, dann zu Enno,
dann wieder in die Ferne. Er hat nicht übertrieben. Die Aus-
sicht ist crazy. Von hier oben kann ich über den gesamten
Ort hinweg bis zu den angrenzenden Dörfern sehen. »Abge-
fahren … «
»Oder? So von weitem, wenn man die kaputten Fassaden
und Menschen nicht mehr richtig sieht, wirkt selbst Fedebek
30 | Sommer
ganz annehmbar. Man darf halt nur nicht allzu genau hin-
schauen.«
»Hä, was laberst du?«, frage ich verdutzt. »Gestern waren
doch alle supercool zu uns. Ich hätte nie im Leben damit ge-
rechnet, dass die Jungs aus deiner Mannschaft jubeln, wenn
sich zwei Kerle vor ihnen küssen.« Der Gedanke daran lässt
mich immer noch ungläubig schmunzeln.
»Ja okay, aber das sind meine Fußballleute … «
»Nee, beim Fest waren auch alle voll entspannt!«, unter-
breche ich ihn, als er das mit ’nem Schulterzucken abtut. Ich
find das schon richtig krass. Bei mir an der Schule wäre das safe
anders abgelaufen.
»Tja, das ist wohl der Vorteil daran, wenn einen jeder kennt!
Ich bin sozusagen der Stolz des Vereins. Wenn sich jemand mit
mir anlegt, stehen direkt zehn Leute hinter mir. Und deren
Brüder und Cousins. Da ist man vorsichtig.«
»Oha, Fedebek hat ’ne eigene Dorfmafia!«, lache ich und hebe
beide Arme, als würde ich mich ergeben. Doch statt auf meinen
Witz einzugehen, wird sein Ton auf einmal ernster.
»Frag mich schon, was passiert, wenn ich irgendwann nicht
mehr so gut spielen sollte.« Huh? Überrascht drehe ich meinen
Kopf in seine Richtung, um den Ausdruck auf seinem Gesicht
zu checken. Denkt er etwa, die anderen akzeptieren ihn nur
deswegen? Dass sie ihn fallen lassen, sobald er keine Leistung
mehr bringt?
»Wie meinst du das?«
»Na ja, jetzt gerade bin ich zwar der MVP, aber was, wenn
sich das ändert? Oder ’n Neuer kommt, der die Gruppendyna-
mik auf den Kopf stellt? Oder der Ton einfach rauer wird?«
»Hm … «, ich überlege kurz. »Kann mir nicht vorstellen, dass
das was zwischen euch ändert. Ich mein, gestern wollte jeder
beim Bierkrugwerfen gegen dich antreten und auch so mit uns
Sommer | 31
abhängen. Das hatte doch nichts mit Fußball zu tun. Ich denke,
die mögen dich einfach, weil du bist, wie du bist.« Den letzten
Part sage ich mit voller Überzeugung. Zum einen, weil ich es
wirklich glaube. Und zum anderen, weil ich mich freue, dass er
mir das so offen erzählt. Ich grinse ihn an.
»Ist auch easier, wenn du dabei bist.« Er schaut verlegen zu
mir. Dann erwidert er mein Lächeln. »Aber ja, kann schon sein.
Komm, es geht noch weiter!«
»Okay!« Diesmal hefte ich mich ohne Widerrede an seine
Fersen, denn was auch immer er mir zeigen will, ich muss es se-
hen. Wir überqueren die Metallbrüstung zur anderen Seite der
Tanks, und vor uns erstrecken sich ein Wald und ewig weite
Felder. Sogar ’nen kleinen See kann ich erkennen. »Heftig … «,
flüstere ich leise.
»Tja, jetzt bist du doch froh, dass du mich nicht im Gebüsch
entsorgt hast!«
Ich lache: »Aber so was von! Glück gehabt! Dein gemeines
Attentat auf mich sei dir verziehen.«
»Okay, ›Attentat‹ «, schnaubt er. »Übertreib halt!« Dann lacht
er mit mir. Ich atme tief ein.
»Ich bin echt gern bei dir.«
»Geht mir auch so«, gibt er sanft zurück.
»Kann alles so bleiben wie jetzt? Ich weiß echt nicht, wann
ich mich das letzte Mal so gefühlt habe.«
»So bad ass?«
»Schnauze«, lache ich.
»Hmm … so frei?«
»Ja, frei!«
Das ist es. Freiheit. Ruckartig reiße ich die Arme in die Luft
und schließe die Augen. »Fucking Freiheit!«
Ein bisschen cringe komme ich mir dabei schon vor. Aber
Scheiß drauf, es fühlt sich so gut an. Gerade nach dem letz-
32 | Sommer
ten halben Jahr – nach der Sache mit meiner Sexualität, dem
ständigen Stress, mich wie ein mieser Freund, Bruder, Sohn zu
fühlen. Gefangen in der Beziehung mit Emma, die seit Ewigkei-
ten meine beste Freundin war und die ich durch die Trennung
verloren hab. Auch wenn wir vor den Sommerferien hin und
wieder kurz in der Schule geredet haben, bin ich froh, erst mal
ein paar Wochen Abstand von der Sache zu gewinnen. Und hier
zu sein. Mit Enno.
Vorsichtig öffne ich ein Auge, um zu checken, ob er sich
schon vor Fremdscham schüttelt, aber was ich da sehe, lässt
mein Herz fast platzen: Der Junge hat die Arme ebenfalls auf-
gerissen und badet im Sonnenlicht.
»Ich würde sagen, es kann so bleiben. Du hast es geschafft.
Du bist frei, Baby!« Bei dem letzten Wort verstellt er die Stimme
und knurrt wie ein gruseliger Creep, als würde er damit meinen
kitschigen Titanic-Moment in den Schatten stellen.
Und wo wir gerade von Schatten sprechen – der wäre jetzt
gut. Denn als ich meine Arme neben ihm aufstelle und das Ge-
länder hinter ihm umfasse, verbrenne ich mir gehörig die Pfo-
ten: »Fuck!!«, zische ich vor Schmerz. Die Sprossen, über die
wir raufgeklettert sind, liegen auf der Schattenseite des Tanks
und heizen deswegen nicht auf. Das Geländer hier oben dafür
umso mehr. Wie ’ne scheiß Herdplatte.
»Oh shit!! Geht’s?« Sofort schnappt sich Enno meine Hand-
gelenke. Als er sieht, dass alles okay ist, zieht er die Augenbrauen
zusammen und sagt: »Nur zur Info: Das Geländer ist echt heiß.«
»Ach, wirklich?«, schmunzle ich und lege den Kopf schief.
»Danke fürs Bescheidsagen!«
»Sorry«, lacht er. »Komm, lass raus aus der Sonne!«
»Gute Idee!« Doch er geht nicht zurück zur Leiter, über die
wir gekommen sind. »Wo willst du hin? Müssen wir nicht da
runter?«
Sommer | 33
»Ich kenn ’nen besseren Weg!«
Natürlich kennt er den.
»Siehst du das Laufband da? Das führt direkt runter in die
große Halle. Es ist überdacht, also safer, und vor allem leich-
ter – glaub mir.« Selbst wenn ich protestieren wollte, hätte
ich dazu keine Gelegenheit mehr, denn Enno hat bereits den
Sprung aufs abgeschaltete Band gewagt und verschwindet tap-
send unter der Überdachung. Zeitweise erinnert er mich echt
an ’nen Affen, so agil, wie er durch die Welt tanzt.
»Ey, warte auf mich!« Ohne zu zögern, springe ich hinterher.
Dass ich dem Jungen gerade mein Leben anvertraue, versuche
ich zu ignorieren. Stattdessen analysiere ich das Konstrukt
neugierig und frage mich, was hier wohl sonst transportiert
wird. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten, denn kurze
Zeit später erreichen wir das Innere der Halle.
»Okay Damian, bereit für die letzte Mutprobe?« Enno tritt
zur Seite und mein Blick fällt auf mehrere Berge aus Körnern,
die direkt unter uns aufgeschüttet wurden.
»Warte – das sind Getreidespeicher, oder?«, stoße ich aus.
»Korrekt! Vor dir liegt das Gold von Fedebek – in all seiner
Pracht. Und wiiir – «
»Es gefällt mir nicht, wie lang du dieses Wort ziehst.« Und
dann macht es Klick in meinem Schädel. Blitzartig rasen meine
Augen hin und her und senden die erschreckende Info an mein
Gehirn, dass das Laufband gut drei Meter über dem Boden en-
det. Es fehlt eine Art Bindeglied – vielleicht läuft das über ’ne
Maschine … Enno hat gesagt, der Gold Tanz gebühre der ers-
ten Ernte – das erklärt auch die vollen Speicher. Und trotzdem
schlucke ich, als ich in die Tiefe vor uns starre. »Wir springen,
oder?«
»Jap. Das heißt, wenn du dich traust.«
»Hab ich ’ne Wahl?«
34 | Sommer
»Also du kannst natürlich auch den ganzen Weg zurück-
laufen und die olle Leiter runterkraxeln, aber das hier bockt
schon mehr!«
Oh Mann!
Unschlüssig drehe ich meinen Kopf zurück. Ich weiß echt
nicht, ob das ’ne gute Idee ist. Enno sieht zwar superentspannt
aus, aber das muss nichts heißen. Soll ich echt da runter … ?
Mein Abwägen wird unterbrochen, als der blonde Spinner
sich direkt vor mir auf die Zehenspitzen stellt und mir ins Ohr
flüstert: »Du weißt, dass am Ende einer Mutprobe immer ’ne
Belohnung wartet, right?«
Ok. Ich mach’s.
Und dann sehe ich nur noch Gold. Und alles kribbelt. Ich
strample wie ein Fünfjähriger, der nicht schwimmen kann, und
versuche, mich ins Freie zu kämpfen. Aber es fällt mir schwer
vorwärtszukommen. Mir ist so warm, und die blöden Körn-
chen kleben an mir. Unter meinem Shirt, in meiner Hose und
meinen Sneakers. Bah, Alter. Das ist die Strafe dafür, wenn man
nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Schwanz entscheidet.
Mühevoll hieve ich mich nach oben.
»Schaffst du’s?« Der Hauch von Schadenfreude in Ennos
Stimme entgeht mir nicht. Anscheinend ist er nicht so tief ein-
gesunken wie ich.
»Würdest du … ?«, flehe ich und strecke ihm meinen Arm
entgegen. Natürlich würde er. Unwissend reicht er mir seine
Hand, die ich fest umklammere, und ihn mit einem Ruck zu
mir ziehe. »Ha!«, stoße ich aus, während Enno ebenfalls in
Hunderte Körner eingehüllt wird. Doch der Triumph weicht
schnell einem ganz anderen Gefühl. Denn jetzt liegt er prak-
tisch auf mir, und sein Gesicht ist nur ein paar Zentimeter von
meinem entfernt.
»Na du«, wispert er.
Sommer | 35
»Hi. Ich will meinen Preis, bitte.«
Er grinst: »Yessir, aber vorher – « Eine kurze Enttäuschung
überkommt mich, als er sich von mir entfernt. Allerdings nur,
um sich aufzurichten und mich endlich aus Fedebeks Heilig-
tümern zu zerren.
»Gott sei Dank, ey«, pruste ich und tue es Enno gleich, der
sich wie ein nasser Hund schüttelt. Das reicht aber nicht, um
die hartnäckigen Gerstenkrümel loszuwerden. Sie sind einfach
überall. Ich fürchte, mein Shirt muss gehen. In einer schnellen
Bewegung reiße ich es mir vom Leib und lasse es neben mir
fallen.
»Eh, hot?!«, knurrt Enno, als ich plötzlich seinen hungrigen
Blick auf mir spüre. Das gefällt mir natürlich. Also strecke ich
mich einmal ausgiebig und will mich dann daranmachen, die
letzten Störenfriede von meinem Oberkörper zu wischen.
Doch er kommt mir zuvor.
»Ich mach das.« Oh, fuck. Schon mit der Berührung eines
Fingers schießt er einen glühenden Blitz durch meinen Körper.
Der süße Geruch ist zurück, und plötzlich ist mir noch heißer
als mit dem Shirt. Ich schwöre – der Typ killt mich mit seiner
bloßen Anwesenheit.
Er schnippt noch zwei Körner von meinem Schlüsselbein,
dann lässt er seine Hand über meine Brust gleiten. Ganz lang-
sam, als würde die Zeit stillstehen. Mit ihm ist es so anders als
jede sexuelle Erfahrung, die ich bisher gemacht hab. Nie im Le-
ben hätte ich gedacht, dass man sich so krass wünschen kann,
von jemandem berührt zu werden. Vor ihm hat sich alles, was
mit Sex zu tun hat, kompliziert und schwer angefühlt. Aber
das ist vorbei. Jetzt gerade arbeiten meine Nervenenden auf
Hochtouren, denn unsere ganzen Chats waren wie ’ne endlose,
qualvolle Edging-Session und ich merke: Das gestern in der
Umkleide war ’n nettes Vorspiel, reicht aber bei weitem nicht
36 | Sommer
aus. Seine warmen Finger haben meinen Nippel erreicht und
streicheln wiederholt auf und ab, was mir ein leises Brummen
abverlangt.
»Wenn du so weitermachst, krieg ich ’ne Latte«, raune ich
gequält.
»Du, ich glaub, dafür ist es schon zu spät!« Ich folge seinem
Blick runter auf meine Gymshorts, die ihm sehr eindeutig
Recht geben. »Aber same … « Mit diesen Worten legt er seine
freie Hand auf meine und drückt sie bestimmt zwischen seine
Beine.
»Fuuuck … «, hauche ich. Er ist mindestens genauso hart
wie ich, und jetzt sind es meine Auf-und-ab-Bewegungen,
die ihn zum Seufzen bringen. Meine Selbstbeherrschung
stirbt, ich muss ihn endlich küssen. Also schlinge ich meinen
anderen Arm um seinen Oberkörper, presse ihn an mich und
meine Lippen auf seine. Als netten Nebeneffekt intensiviert
die Aktion den Druck, den meine Hand auf seinen Schritt
ausübt, und er stöhnt hungrig. Die Chance lass ich mir nicht