Secret Game. Brichst du die Regeln, brech ich dein Herz (Romantic Suspense meets Dark Academia) - Stefanie Hasse - E-Book
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Secret Game. Brichst du die Regeln, brech ich dein Herz (Romantic Suspense meets Dark Academia) E-Book

Stefanie Hasse

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Beschreibung

Das geheime Spiel der New Yorker Elite Ivory ist überglücklich: Sie hat ein Stipendium für die New Yorker Eliteschule St. Mitchell ergattert und ist total verliebt in ihren Mitschüler Heath. Doch dann beginnt an der St. Mitchell DAS SPIEL: In anonymen Nachrichten werden die Schüler aufgefordert, Aufgaben zu erfüllen, sonst kommen ihre dunkelsten Geheimnisse ans Licht. Als Heath sie plötzlich völlig ignoriert, lässt Ivory sich ebenfalls auf DAS SPIEL ein … "Eine Mischung aus Gossip Girl, Eiskalte Engel, Beautiful Liars und One of us is lying – die Kombi ist unschlagbar!" (b00k.aholic) Mehr von Stefanie Hasse: Master Class, Band 1: Blut ist dicker als Tinte Master Class, Band 2: Mut kommt vor dem Fall Bad Influence. Reden ist Silber, Posten ist Gold. Matching Night, Band 1: Küsst du den Feind? Matching Night, Band 2: Liebst du den Verräter? Pretty Dead. Wenn zwei sich lieben, stirbt die Dritte. December Dreams. Ein Adventskalender.

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Seitenzahl: 461

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2019 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag GmbH Originalausgabe Copyright © 2019 by Stefanie Hasse © 2019 Ravensburger Verlag GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Lektorat: Franziska Jaekel Umschlaggestaltung: Anna Rohner Verwendete Bilder von © aleshin/AdobeStock, © theartofphoto/AdobeStock, © Andreashkova Nastya/Shutterstock und © stockyimages/Shutterstock Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. ISBN 978-3-473-47963-4www.ravensburger.de

Widmung

Für alle, die weiterkämpfen und ihre Prinzipien nicht aus den Augen verlieren, ganz gleich, wie gut sie sich manchmal verstecken.

X

Willkommen zum Spiel.

Entscheide dich zwischen Wahl, Wahrheit oder Pflicht.

Jede Aufgabe bringt dich deinem Ziel näher, die Spielleitung des kommenden Jahres zu übernehmen und die Geheimnisse aller bisherigen Teilnehmer zu erfahren.

KAPITEL 1

Ivory

»Ich kann nicht glauben, dass der Sommer vorbei ist.«

Ein Windstoß wirbelte die ersten bunten Blätter auf, als wollte er Ivys Worte unterstreichen. Die Sonne ging langsam in einer der Häuserschluchten Manhattans unter und spiegelte sich auf dem kleinen See jenseits des Zauns, der Heath wie immer nicht davon abgehalten hatte, die weiche Picknickdecke auf dem Rasen dahinter auszubreiten. Er bemerkte ihr Frösteln, zog sie enger an sich und drückte ihr einen Kuss ins Haar.

»Montag beginnt das letzte Jahr auf der St. Mitchell.« Seine Worte waren so erdrückend, dass sie ihren Blick vom letzten glitzernden Sonnenlicht auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche abwandte und versuchte, den Unterton zu interpretieren. Seit sie sich am Anfang der Sommerferien zufällig hier im Central Park begegnet waren, hatte sich vieles verändert. Er war mit ihr zu seinen Lieblingsplätzen in und um New York gefahren und hatte ihr sein Leben an der Upper East Side gezeigt, das so anders war als alles, was sie kannte. Sie hatte Heath noch immer nicht ganz durchschaut, aber was er hinter der stählernen Rüstung aus kühler Arroganz und seinem grauenhaften Ruf als Frauenheld verbarg, hatte ihr mit jedem Tag mehr gefallen. Sie müsste lügen, wenn sie behauptete, sie hätte sich nicht in ihn verliebt. Ihr Herz, das so große Angst vor Verletzungen und weiteren Verlusten hatte, öffnete sich langsam – eine Tatsache, über die ihr Körper nur lachen konnte. Denn der war Heath längst verfallen. Jede Berührung und jeder Kuss sorgten dafür, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Natürlich hatte sie auch in Deutschland schon einen Freund gehabt, aber was Heath mit ihrem Herzen anstellte, ging weit über ihre frühere Beziehung zu Elias hinaus. Ihr gesamter Körper kribbelte bis hinab in die Zehenspitzen, wenn sie nur in seiner Nähe war, und jeder Gedanke an ihn wurde von einem Dauergrinsen begleitet. Ihr Vater verzog immer nur belustigt das Gesicht und neckte sie, wenn sie mal wieder völlig abwesend vor sich hin starrte – was oft vorkam, denn ihre Beziehung zu Heath war ernster und tiefer geworden, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.

»An was denkst du?«, hauchte er ihr ins Ohr und sein Atem ließ sie erschaudern.

Sie sprach ihre Gedanken laut aus und erhielt zum Dank Heath’ zauberhaftes echtes Lächeln, bei dem seine blauen Augen aufleuchteten und für einen regelrechten Glücksrausch sorgten. Sein Showlächeln, wie er es nannte, wirkte im Gegensatz dazu nur aus der Ferne echt. Als Sohn einer einflussreichen New Yorker Familie war er es gewohnt, von Fotografen und Reportern verfolgt zu werden – vor allem im Sommer, wenn in der Stadt kaum etwas Nennenswertes passierte, weil alle die Zeit lieber außerhalb der Stadt verbrachten. Auch heute waren sie wie zwei Undercoveragenten durch den Hinterausgang der Stadtvilla seiner Eltern geschlichen, damit sie hier im Park die Zweisamkeit genießen konnten, ohne gleich auf unzähligen Fotos in den sozialen Netzwerken aufzutauchen.

Heath küsste die Stelle direkt hinter ihrem Ohr und ließ seine Lippen an ihrem Hals entlangwandern. »Du meinst also, dass du dich gleich nicht mehr beherrschen kannst?«, neckte er sie und stupste ihre Wange mit der Nase an. Eine Strähne seiner braunen Haare, hinter denen er gern seine Augen versteckte, kitzelte sie.

»Nicht, wenn du so weitermachst«, sagte sie heiser.

Glücklicherweise hörte er nicht auf, sondern verteilte eine brennende Spur aus Küssen auf jedem Zentimeter Haut, den er erreichen konnte. Ivy schloss die Augen und wünschte, sie hätte sich für einen Besuch bei ihm und nicht für ein romantisches Picknick im Park entschieden, auch wenn sie sich hier das erste Mal nähergekommen waren.

Seine Lippen streiften zart über ihre Wange und sie bebte vor Erwartung, doch er hielt inne, um ihr den nächsten Schritt zu überlassen. Als würde sie ihn nicht küssen wollen! Heath war wie eine Droge, von der Ivy nicht genug bekommen konnte. Zärtlich drückte sie ihren Mund auf seinen, während sie eng umschlungen auf die Decke sanken, wo sie sich seinen Berührungen hingab und die innigen Küsse genoss.

Es dauerte eine himmlische Ewigkeit, bis sie sich atemlos voneinander lösten. Mit einem leichten Schwindelgefühl öffnete Ivy die Lider und stellte mit Erschrecken fest, dass die Sonne fast nicht mehr zu sehen war. Die Zeit mit Heath verging wie im Flug und sie hatte Angst, nicht mithalten zu können. Wie jeder verliebte Mensch wollte sie nicht, dass der Alltag sie einholte. Sie wollte nicht, dass die Zweisamkeit endete, die sich anfühlte, als wären die Millionen Einwohner New Yorks, ja selbst die Frau mit dem Hund, die mit einem abfälligen Kopfschütteln an ihnen vorbeigegangen war, meilenweit entfernt. Als könnte ihnen niemand etwas anhaben.

Heath’ Atem ging ebenso stockend wie ihrer. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab wie immer, wenn Ivy ihre Finger darin vergraben hatte. Er stützte sich auf den rechten Unterarm und musterte ihre Gesichtszüge, bis es ihr beinahe unangenehm wurde. Dann räusperte er sich und sah ihr fest in die Augen.

Sofort spürte Ivy, dass etwas nicht stimmte. Alarmiert richtete sie sich auf. Heath spiegelte ihre Bewegung, bis sie sich gegenübersaßen. Er griff nach ihrer rechten Hand, sein Daumen tastete den Verschluss ihres Armbands ab. Sein Lächeln war einem nachdenklichen Blick gewichen. Er rutschte ein Stück von ihr weg.

»Montag beginnt unser Abschlussjahr«, begann er erneut.

Ivy nickte und ihr wurde plötzlich kalt. Der Wind legte ein paar bunte Blätter auf ihrer Decke ab. Ohne Heath aus den Augen zu lassen, griff sie mit der freien Hand nach einem davon und fuhr mit den Fingern die bereits ausgetrocknete, starre Struktur entlang.

»Für mich ist es auch das erste komplette Schuljahr auf der St. Mitchell«, sagte sie in die unangenehme Stille hinein, um die entstandene Distanz, diese seltsame Kühle zu überbrücken, die plötzlich von Heath ausging und sie erschreckte. Ivy war mit ihren Eltern erst Ende des vergangenen Schuljahres nach New York gezogen. Ihre Mutter hatte nach dem Tod ihrer pflegebedürftigen Mutter kurzfristig das Amt der Pastorin in der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde in New York übernommen, wodurch sich Ivys Leben praktisch innerhalb weniger Wochen komplett verändert hatte – von einem verschlafenen Nest in Süddeutschland in die Stadt, die niemals schlief. Sie fühlte sich immer noch überfordert, was sie nur in Heath’ Gegenwart verdrängen konnte.

»Ich weiß, deshalb …« Er schien nach den richtigen Worten zu suchen.

Ivy hätte alles dafür gegeben, in diesem Moment in seine Gedanken eintauchen zu können. Doch welchen Kampf er im Inneren auch immer austrug, er verlor ihn. Der Glanz verließ seine Augen und sie spürte, wie sich seine Hand verkrampfte. Seine Kälte ging auf sie über und sie schauderte.

Dann richtete er sich weiter auf und drückte den Rücken durch wie ein Soldat. Die Finger seiner freien Hand zupften nervös an den kleinen Knötchen der Picknickdecke, die auch seinen Blick festhielten, während sich seine andere Hand noch immer um ihre klammerte.

»Deshalb wollte ich noch mit dir über etwas sprechen.« Seine Stimme klang ernst. Zu ernst für den wundervollen Nachmittag, die Küsse, die Gänsehaut und das schwebende Gefühl in ihrem Bauch. Sie ahnte, worüber er sprechen wollte. Elias hatte genauso ausgesehen, als er mit der Wahrheit herausgerückt war: dass eine Fernbeziehung für ihn unmöglich war, auch wenn sie nur ein oder zwei Jahre dauern sollte.

Ohne es zu merken, schlossen sich ihre Finger um das trockene Blatt in ihrer Hand, und als sie die Faust wieder öffnete, war es zu Hunderten Bruchstücken zerfallen.

»Über was?« Ihre Stimme war rau wie das Krächzen der Krähen, die von einem Baum jenseits des Wassers aufstoben. Sie entzog ihm ihre Hand und zupfte die roten Blattreste von der Handfläche, während sie sich innerlich für die Antwort wappnete.

Heath schien die Sorge in ihrer Stimme zu hören und blickte bestürzt auf. Es war deutlich zu erkennen, dass ihm erst jetzt klar wurde, wie sie seine Worte aufgefasst haben musste.

»Nein!«, sagte er schnell und rutschte wieder näher. »Nicht … das … o Gott, Ivy. Was denkst du denn?« Sein fassungsloser Blick war entwaffnend und Ivy fielen riesige Steinbrocken vom Herzen. »Ich würde nie mit dir … Wie kannst du nur daran denken?« Zärtlich berührte er ihre Wange, sodass ihre letzten Zweifel verflogen.

»Was ist es dann?«, fragte sie, während Heath die Fingerspitzen spielerisch an ihrem Unterarm hinablaufen ließ und die letzten Blattschnipsel von ihrer Handfläche strich.

Zerstreut sah er sie an. »Nicht so wichtig.« Er rückte noch näher, nahm sie in den Arm und drückte sie an seine Brust. Sie hörte seinen Herzschlag unter seinen durchtrainierten Muskeln.

»Scht …« Sein Beruhigungsversuch kitzelte in ihrem Ohr, bewirkte jedoch das Gegenteil.

»Komm schon, du kannst doch jetzt nicht einfach so tun, als wäre nichts. Gibt es irgendetwas, auf das ich achten muss? Irgendwelche Zusatzkurse, die meine Chancen …«

Seine Brust vibrierte regelrecht, während er versuchte, sich das Lachen zu verkneifen – was Ivy absolut nicht lustig fand. Das zeigte sie ihm auch mit einem entsprechenden Blick, nachdem sie sich aus seiner Umarmung befreit hatte. Während der gesamten Sommerferien war Heath der Einzige gewesen, der sie vor der Panik des alles entscheidenden letzten Schuljahres bewahrt hatte, ihr den Druck genommen hatte, der mit dem Stipendium an einer teuren Privatschule wie der St. Mitchell einherging. In Deutschland war sie auf ein normales Gymnasium gegangen und hatte ihre Leistungskurse absolviert. Lediglich ihre Noten und etwas Glück bei der Vergabe der Studienplätze waren am Ende ausschlaggebend, ob ihr Traum in Erfüllung ging, einmal eine erfolgreiche Anwältin zu werden. Hier in den USA zählte dagegen auch, welche Schule man besucht hatte und was man in seiner Freizeit anstellte. Ohne das Stipendium würde sich Ivys Traumkarriere schon jetzt in Luft auflösen und sämtliche Hoffnung zerplatzen, Familien wie den Färbers helfen zu können. Schnell schob sie die Erinnerungen an die Gerichtsverhandlung beiseite, die ihr Leben verändert hatte – vergessen würde sie diese Tragödie jedoch niemals.

»Darüber machst du dir ernsthaft Gedanken?« Er sah sie zweifelnd an und schüttelte langsam den Kopf. »Schon in den paar Wochen, die du auf der St. Mitchell warst, hast du bewiesen, dass du das Potential zur Jahrgangsbesten hast.«

Leise lachend fügte er hinzu: »Manche nennen dich Streberin.«

Sie schnaubte verächtlich. »Lieber Streberin sein als ein Stipendium verlieren. Du wurdest auf einem goldenen Teppich hoch über den Straßen der Upper East Side geboren. Es kann nicht jeder so viel Glück haben wie du.« Sie pikte ihn mit dem Finger in die Brust.

»Ich wurde in einem Krankenhaus geboren wie jeder andere auch.«

Sie hörte das Schmunzeln in seiner Stimme. Lachend schüttelte sie den Kopf und sah zu ihm auf.

»Lachst du mich etwa aus?«, fragte er mit gespielter Empörung.

»Niemals«, erwiderte sie bemüht ernst. Doch ihre Lippen zuckten verräterisch und binnen Sekunden lag sie wieder auf dem Rücken. Sein Gesicht war jetzt so nah, dass sein Atem die Luft zwischen ihnen erhitzte.

»Dann ist ja gut.« Schnell wich die Belustigung in seinen Augen. »Versprich mir, dass du mich nicht für die Schulbücher und den Unterricht sitzen lässt. Oder irgendetwas anderes.«

Der letzte Satz schob sich zwischen sie wie eine Mauer. Sie war sich nicht sicher, ob er es ernst meinte oder einen weiteren Witz machte. Seine Lippen zuckten nicht. Machte ausgerechnet er sich Gedanken darüber, dass sie ihn verlassen könnte? In seinen Augen stand echte Sorge, was ihr Herz schneller schlagen ließ.

»Nur, wenn du mir dasselbe versprichst«, erwiderte sie bemüht locker, während sie ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen versuchte.

»Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dir niemals ein Buch vorziehen werde.«

Sie verdrehte die Augen. »Oberflächlicher Idiot«, neckte sie ihn. Das war zumindest ihr erster Eindruck gewesen und damit zog sie ihn gern auf.

»Streberin«, konterte er mit einem rauen Lachen, ehe er den Blick senkte.

Ihre Lippen fühlten sich plötzlich wahnsinnig trocken an und sie kam dem Drang nach, sie mit ihrer Zunge zu befeuchten. Binnen Sekunden spürte sie seinen warmen Mund auf ihrem. Der Kuss war so süß wie all die anderen Küsse, die sie während des Sommers getauscht hatten – nachdem sie hinter die Fassade des reichen Upper-East-Side-Boys gesehen hatte. Einer der begehrtesten Jungs der St. Mitchell High hatte sich auf ein Mädchen eingelassen, das sich kein Stück für seine Clique und die wilden Partys interessierte, sondern sich auf das Lernen und die zahlreichen außerschulischen Aktivitäten konzentrierte, die ihre Karriere fördern sollten. Seit jenem Tag im Juni hatte sich das Wort »verlieben« nicht mehr vollkommen abstrakt angefühlt, sondern war ihr als etwas potenziell Mögliches erschienen.

Verliebt war sie inzwischen definitiv. So viele große Dichter, Komponisten und Autoren hatten versucht, dieses Gefühl in Worte zu fassen, doch das war ihnen nicht mal ansatzweise gelungen, wie Ivy nun wusste. Es ging tiefer, war berauschender und zugleich so beängstigend, dass sie anfangs davonlaufen wollte. Doch Heath hatte sie eingeholt. Mit seiner aufgeschlossenen Art, den liebevollen Gesten, seinem Humor und den tiefgründigen Gesprächen hatte er eine Seite in ihr zum Leben erweckt, die sie bislang nicht gekannt hatte und die sie, wenn sie ehrlich war, nie wieder missen wollte. Er gab ihr das Gefühl, alles zu schaffen, alle Hindernisse überwinden zu können. Verdammt, sie hätte ihm einmal beinahe gestanden, dass sie vielleicht sogar mehr als verliebt war, auch wenn sie den Gedanken an Liebe noch verdrängte, so gut es ging. Es gab sicher viele Stufen zwischen verliebt sein und Liebe. Und Heath zog sie unablässig hinauf. Wo würde das enden?

Sie drehte ihm erneut das Gesicht zu und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Lippen.

»Wofür war der denn?«, fragte er.

»Dass du bist, wie du bist.«

Zur Antwort küsste er sie so lange, bis die Sonne vollends untergegangen war und der letzte Tag der Sommerferien endete.

X

Nur mit Mühe und Not schleppte er sich am beleuchteten Pool vorbei zum Haus. Der letzte Drink war ganz sicher schlecht gewesen. Seit er mit vierzehn das erste Mal auf einer Party bei Freunden zu viel getrunken hatte, hatte er sich nicht mehr so mies gefühlt. Seine Begleiterin öffnete mit dem Code die Hintertür. Der Wohnbereich des Landhauses kippte immer öfter zur Seite, während er sich mehr von ihr mitziehen ließ, als selbst zu gehen. Benommen wunderte er sich, dass sie unter seinem Gewicht nicht zusammenbrach. Auch wenn sie schwer atmete, hielt sie sich auf den Beinen, kickte nur die glitzernden Pumps zur Seite – vielleicht, um nicht allzu viel Lärm auf dem Marmorboden zu machen. Ihr teures Parfum hing schwer in der Luft.

Er fühlte sich, als würde ihm mit jeder Treppenstufe schwindeliger. Links stützte er sich auf ihren schlanken Körper, mit der Rechten umklammerte er den Metalllauf an der Wand und zog sich hinauf. Für einen kurzen Moment dachte er daran, was passieren würde, wenn sie beide ins Taumeln gerieten und die nach links offenen Stufen hinabstürzten. Das Schwindelgefühl wurde stärker. Oben angekommen stolperten sie gemeinsam durch die trübe Dunkelheit, bis er endlich eine weiche Matratze unter sich spürte. Er ließ sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen.

Als er wieder zu sich kam, konnten Minuten oder auch Stunden vergangen sein. Da es draußen aber immer noch stockfinster war, musste er nur kurz eingenickt sein. Er bemerkte wieder einmal den Unterschied der Hamptons zu Manhattan, wo es niemals derart dunkel wurde. Während er den Kopf bewegte, stöhnte er vor Schmerz auf und fuhr regelrecht zusammen, als er realisierte, dass er nicht allein war. Überall roch es nach Beeren.

»Was zur Hölle tust du hier?«, brachte er leicht lallend hervor.

Das fahle Mondlicht zeichnete ihre Konturen weicher und er bemerkte ihr aufreizendes Lächeln. Sein Atem stockte, als er erkannte, dass sie sich über ihn beugte, um sein Hemd aufzuknöpfen.

KAPITEL 2

Ivory

»Hast du sie gefunden?«, rief Ivy, während der Bücherturm auf ihrem Arm gefährlich schwankte. Ihre Stimme wurde von den vielen Geschichten um sie herum nahezu verschluckt. Sie suchte in den Gängen und auf der Empore des ehemaligen Stadthauses nach Iljana. Bookish Dreams machte seinem Namen alle Ehre. Ivy war nach wie vor überwältigt davon, was ihrem Vater innerhalb der wenigen gemeinsamen Wochen in New York gelungen war. Er hatte sich seinen größten Traum erfüllt und eine Buchhandlung in Manhattans bester Lage eröffnet. Die Bibliothek im Schloss des Biestes, die Belle so liebte, kam Ivy dagegen wie eine schwache Kopie dieser heiligen Hallen vor. Das Oberlicht, mehrere Stockwerke über ihr, ließ helle Flecken auf den Tischen mit den Neuerscheinungen tanzen, und so manches besondere Buch funkelte und warf seinerseits bunte Punkte auf seine Nachbarn.

»Hab sie!«, rief Iljana von weit oben, ehe sie im dritten Stock, in dem das Büro von Ivys Dad lag, an das hölzerne Geländer der Empore trat. Würde sie anstelle der Bücher einen Bogen tragen, könnte sie in der Kinderabteilung direkt dem Cover von Merida entsprungen sein. Die Sonnenstrahlen machten aus ihren wilden Locken ein regelrechtes Flammenmeer.

»Warte, ich komme hoch!«, rief Ivy. Ihr Vater hatte die Bücherspenden für die Tombola bei der großen Ferienabschlussfeier der St. Paul vergessen und Iljana, deren Familie bereits Dutzende Kuchen für den Gemeindenachmittag gespendet hatte, war gern bereit gewesen, mit ihrer Limousine kurz bei Bookish Dreams vorbeizufahren, um Ivy zu helfen.

Ivy wollte zum gläsernen Fahrstuhl gehen, doch Iljana winkte ab.

»Wenn ich es nicht schaffe, einen Stapel Kinderbücher zu tragen, wird meine Mom vermutlich dafür sorgen, dass unsere Sportlehrerin im Internat gefeuert wird.« Ihr Lachen hallte noch von der Empore, als ihre Locken bereits außer Sicht waren.

Auch wenn Ivy im ersten Moment grinsen musste, traf sie die Bemerkung mit aller Härte. So funktionierte es in Manhattan. Das war die Realität, ob Iljana es mit einem Lachen abtat oder nicht. Vor ihrem Umzug hatte Ivy den Namen Romanov nicht gekannt, aber hier in New York trug jeder, der sich den teuren Schmuck oder die funkelnden Uhren leisten konnte, Iljanas Familiennamen am Körper. Beim ersten Treffen, einem Kennenlernnachmittag der Gemeinde, hatte Marija Romanovs Auftreten Ivy zutiefst erschreckt. Doch die spindeldürre, auffällig luxuriös gekleidete Frau mit dem grimmigen Gesichtsausdruck verwandelte sich in einen anderen Menschen, wenn sie ihre Tochter anlächelte, auch wenn sie unglaublich streng war. Sie trug wie fast alle hier eine Maske, die einen völlig falschen Eindruck von ihr vermittelte. Iljana hatte das noch nicht so gut drauf, aber vielleicht lernte man das erst im Laufe der Schulzeit.

Ivy genoss den Duft der vielen Bücher, die Summe der einzelnen Gerüche nach Papier, Leder und Druckerschwärze, der auch ihren Vater stets umgab und sich nach Zuhause anfühlte, ganz gleich, welche Buchhandlung sie besuchte, als Iljana mit unzähligen Kinderbüchern auf dem Arm aus dem Fahrstuhl trat. Gemeinsam verließen sie den wahr gewordenen Lebenstraum ihres Vaters.

In der Limousine dachte Ivy darüber nach, wie oft er über diesen Traum gesprochen hatte. Seine Liebe zu Büchern war Ivy in die Wiege gelegt worden. Es war unmöglich, sich der Faszination von Büchern zu entziehen, wenn man stets von ihnen umgeben war. Ivy hatte sehr viel Zeit in der kleinen Buchhandlung ihres Vaters in Deutschland verbracht. Und nun schlug ihr Herz jedes Mal höher, wenn sie mit einem neuen Buch in der Hand zum Bryant Park gehen konnte, der Bookish Dreams gegenüberlag. In diesen Momenten war ihr Leben wieder so einfach wie früher. Während Ivys Mutter ihrer Aufgabe als Pastorin nachgekommen war, wuchs Ivy zwischen Büchern auf und lernte dort viele gleichgesinnte Menschen kennen. Die Liebe zu Büchern hatte sie auch mit Elias zusammengebracht – und umgeben von Geschichten war ihre Beziehung dann zu Ende gegangen. Ivy verdrängte die aufkommende Melancholie. Seit sich ihre Gefühle für Heath derart entwickelt hatten, waren ihre Gedanken immer seltener zu Elias gewandert. Heath hatte ihr nicht nur geholfen, über die Trennung hinwegzukommen, er hatte Manhattan auch zu einem Zuhause gemacht, einem Ort zum Wohlfühlen.

»Erde an Ivy. Du denkst schon wieder an Heath, oder?« Iljana spielte mit einer ihrer roten Locken und grinste so frech, dass Ivy lachen musste.

»Was hat mich verraten?« Die Worte kamen nicht so rüber wie beabsichtigt, denn die Belustigung verlor sich schnell. Warum hatte Heath sich noch immer nicht gemeldet? Ivy konnte nicht glauben, dass es im Wochenendhaus seiner Familie keinen Empfang gab, um eine kurze Nachricht zu schicken.

»Lass mal überlegen. Dein Blick reicht mindestens bis Virginia und bei deinem seligen Lächeln würde deine Mom erblassen.«

Iljanas gute Laune war ansteckend. Ivy schob ihre Grübelei beiseite und schlug ihrer Freundin spielerisch gegen den Arm. Iljana kreischte lachend auf, der Fahrer zuckte kurz zusammen und der Wagen schlingerte leicht, was die Mädchen sofort schuldbewusst in den Sitz sinken ließ.

»Du weißt, dass das nicht stimmt.« Es war ein totales Klischee, dass ihre Mutter irgendwie weltfremd und prüde war, nur weil sie als Pastorin arbeitete. Ivy fand ihre Mom viel cooler als so manche Mutter ihrer Freundinnen. Vielleicht hatte sie durch ihren Job aber auch schon ziemlich viel mitbekommen und war abgehärtet?

»Wird Heath auch zur Gemeindefeier kommen?« Ivy war froh, dass Iljanas Blick zum Fenster gerichtet war, wo gerade die zahlreichen Modeläden der 7th Avenue vorbeizogen. So sah sie nicht Ivys Gesicht, in dem sich noch die Sorge widerspiegeln musste, die sie so sorgfältig ausgeblendet hatte. Schon das ganze Wochenende überkam sie immer wieder dieses ungute Gefühl. Sie konnte es nur abstellen, wenn sie an Heath’ ehrlich schockierten Gesichtsausdruck dachte, als er begriffen hatte, dass sie eine Abfuhr von ihm befürchtete. Hinter der Funkstille konnte nur ein technisches Problem stecken, oder? Sie erinnerte sich an den liebevollen Abschied vor zwei Tagen und zupfte gedankenverloren an dem geflochtenen Lederarmband mit dem silbernen Verschluss, das Heath ihr im Sommer an einem kleinen Stand im Park gekauft hatte. Dann betrachtete sie wieder die vorbeiziehende Stadt. An Sonntagen war der Verkehr nahezu entspannt. Ivy würde sich dennoch hüten, sich hier jemals hinter ein Steuer zu setzen. Da in New York aber sowieso kaum jemand ein Auto besaß, würde sie wahrscheinlich gar nicht erst in die Verlegenheit kommen.

»Träumst du schon wieder?«, hakte Iljana nach, die sich Ivy längst wieder zugewandt hatte.

Schnell ließ Ivy von ihrem Armband ab. »Was? Nein. Heath … Er kommt erst heut Abend aus den Hamptons zurück. Familienwochenende«, brachte sie mühsam über die Lippen. Sie klang jedoch scheinbar überzeugend genug, denn Iljana ging nicht weiter auf die Stimmung ein, die deutlich in Ivys Worten mitschwang. Für einen kurzen Moment schien Iljana sogar erleichtert, aber Ivy könnte sich auch getäuscht haben.

»Gut, sonst bist du so abgelenkt. Und ich weiß nicht, was die älteren Gemeindemitglieder davon halten würden, wenn die Tochter der Pastorin ständig an einem Jungen klebt«, feixte sie.

»Du scheinst ja sehr genau Bescheid zu wissen«, konterte Ivy und ließ die unausgesprochene Frage in der Luft hängen. Iljana erzählte viel von ihrer Familie, über das Unternehmen und das Internat, aber nur selten etwas über sich. Die wenigen wirklich persönlichen Dinge, die sie ihr anvertraut hatte, konnte Ivy an einer Hand abzählen. Der Wagen hielt und Ivy sah Iljana weiterhin herausfordernd an, bis der Fahrer die Tür öffnete.

»Schön wär’s, aber die Jungs im Internat kannst du echt vergessen«, erwiderte Iljana beim Aussteigen. »Und hier genauso.« Sie beschrieb einen weiten Bogen mit dem Arm, sodass Ivy von ihren Armbändern und der funkelnden Romanov-Uhr geblendet wurde. »Es gibt keinen Typen, der mich interessiert«, schob sie noch hinterher, während sie auf dem Bürgersteig vor dem Gemeindesaal neben der St. Paul stehen blieb. »Ich halte mich lieber ans Lernen. Und das solltest du auch tun.« Der lockere Plauderton war mit einem Mal verschwunden. Ihr Gesicht war so ernst, dass Ivy kurz schauderte. Ihr war klar, dass es hier nicht um die Schule ging. Der Verkehrslärm schien plötzlich meilenweit entfernt.

»Was willst du damit sagen?« Ivy rieb sich über den Unterarm, der von einer Gänsehaut überzogen war. »Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«

Der Fahrer lud die Bücher aus dem Kofferraum. Iljana wollte sie ihm abnehmen, doch er schüttelte nur den Kopf und erledigte pflichtbewusst seinen Job.

Als Iljana sich wieder umwandte, schrak Ivy zurück. Die finstere Miene ihrer Freundin löste in Ivys Kopf die wildesten Gedanken aus.

Leider kam Iljana nicht mehr dazu, ihr diese teils absurden Gedanken zu nehmen – die meisten davon hatten unweigerlich mit Heath’ Stiefschwester Penelope zu tun –, denn Ivys Mutter kam aus dem Gemeindesaal gerannt und nahm Ivy sofort in Beschlag. Sie dankte Iljana noch kurz für die Hilfe und zog Ivy mit sich.

Die Zeit raste nur so dahin. Ivy kam nicht mal dazu, sich weiter Gedanken über das seltsame Gespräch mit Iljana zu machen, geschweige denn, mit ihr zu reden. Sie unterhielt sich mit vielen älteren Gemeindemitgliedern, die eine Menge Geschichten aus ihrer Jugend erzählten. Geschichten, die Ivy auch immer so gern von ihrer Großmutter gehört hatte. Die Mitglieder der Gemeinde füllten das Loch, das durch den Tod der Mutter ihrer Mom entstanden war, zumindest ein bisschen. Die Eltern ihres Dads hatte sie nie kennengelernt. Sie waren noch vor Ivys Geburt gestorben und ihr Verlust war für ihren Dad damals der Ausschlag gewesen, ein neues Leben zu beginnen.

Deshalb war Ivy froh, Ersatzgroßeltern zu haben. Sie hatte viel zu lachen, während sich die älteren Herren mit ihren Übertreibungen nahezu überschlugen.

Irgendwann am späten Nachmittag verabschiedeten sich Iljana und ihre Familie. Ivy hielt Iljana noch kurz zurück, um sie endlich auf die Unterhaltung anzusprechen, die ihre Mutter unterbrochen hatte, doch ihre Freundin hatte nur kryptische Worte für sie übrig, ehe sie zu ihren Eltern eilte, die gerade in die Limousine stiegen.

»Pass auf dich auf, Ivy«, rief sie ihr noch zu und sah dabei ihre Eltern an, als hätte sie Angst, bei etwas Verbotenem ertappt zu werden. Das war nicht die Iljana, die Ivy kannte. »Du denkst, die St. Mitchell High ist der Anfang deiner Träume, aber wenn du nicht aufpasst, wird diese Schule dein Untergang sein. Da gibt es etwas …« Sie blickte noch einmal zu ihrer Mutter, die mit verkniffenem Mund im Wagen saß und wieder so wirkte wie bei ihrer ersten Begegnung: kühl, distanziert, angsteinflößend. »Denk immer daran: Es ist keinSpiel, Ivy. Es ist bitterer Ernst.«

Bevor Ivy nachhaken konnte, folgte Iljana der mahnenden Aufforderung ihrer Mutter und stieg ebenfalls ein. Der Fahrer schloss die Tür und ging zur Fahrerseite.

Ivy starrte nur noch auf ihr Spiegelbild in der abgedunkelten Scheibe und glaubte, Iljanas sorgenvollen Blick auf sich zu spüren.

X

Willkommen zum Spiel. Entscheide dich zwischen Wahl, Wahrheit oder Pflicht. Jede Aufgabe bringt dich deinem Ziel näher, die Spielleitung des kommenden Jahres zu übernehmen und die Geheimnisse aller bisherigen Teilnehmer zu erfahren. Bist du bereit für deine erste Sonderaufgabe?

Das neue Schuljahr hat doch noch gar nicht angefangen.

Deine Aufgabe beginnt schon jetzt. Sie ist wichtig.

Ich werde nicht teilnehmen.

Dann wird es dich nicht stören, wenn ich das folgende Video an alle anderen Spieler weiterleite.

Was willst du?

KAPITEL 3

Ivory

Iljanas Worte geisterten unablässig durch Ivys Kopf. Sie dachte beim Abendessen mit ihren Eltern daran und auch noch, als sie ins Bett ging, wo sie sich endlos hin und her wälzte, bevor sie einschlief. Doch selbst ihre Träume spuckten ihre wildesten Ängste in grausam realistischen Bildern aus, sodass sie am nächsten Morgen, ihrem ersten Tag als Senior, alles andere als frisch aussah und den Weg zur U-Bahn nur schlurfend zurücklegen konnte.

Sie hatte Iljana noch eine Nachricht geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Auch ihre Anrufe waren unbeantwortet geblieben. Vielleicht lag das Internat ja tatsächlich in einem absoluten Funkloch? Dabei hatte Ivy immer gedacht, Iljana würde übertreiben. Kurz hatte sie überlegt, direkt im Internat anzurufen und um ein Gespräch mit ihrer Freundin zu bitten, was ihr dann aber zu dramatisch vorgekommen war. Am Freitag kam Iljana zurück und dann konnte sie ihre Freundin mit Fragen bombardieren. Wenigstens hatte Iljanas Bemerkung auch etwas Gutes: Ivy hatte vor lauter Grübeln kaum Zeit gehabt, auf ein Lebenszeichen von Heath zu warten. Er müsste gestern Abend zurückgekommen sein, doch auch am Morgen fand sie keine Nachricht auf ihrem Display. Daher sah sie ihrer Begegnung in der Schule mit gemischten Gefühlen entgegen. Die leichte Verärgerung verlor sich jedoch immer, sobald sie an das Lederarmband an ihrem Handgelenk griff und an den Glanz in Heath’ Augen dachte, als er ihr zugeflüstert hatte, wie sehr er sie vermissen würde.

Eingequetscht zwischen zahlreichen Pendlern in der U-Bahn, die soeben die Pennsylvania Station passiert hatte, erstellte sie im Kopf einen Fragekatalog für Iljana. Die Luft war stickig und verstärkte ihr ungutes Gefühl, dass etwas Schlimmes auf sie zurollte, unaufhaltsam wie eine gigantische Welle. Ivy schwebte irgendwo zwischen kribbelnder Erwartung, Heath wiederzusehen, mulmiger Sorge, ob sie allen Erwartungen entsprechen konnte, und unbestimmter Angst, die definitiv Iljana mit ihrer Andeutung zu verantworten hatte.

Es ist kein Spiel, Ivy. Es ist bitterer Ernst.

Diese Gefühle ließen sich auch nicht abschütteln, als sie sich etwa fünf Minuten später zusammen mit einem Menschenstrom über die 7th Avenue zur nächsten Station treiben ließ. Auch heute fühlte sich Ivy wieder überfordert von all den Eindrücken, als sie schließlich an der Lexington Ave ausstieg. Sie passierte mehrere gigantische Wohngebäude, in die ihr ganzer früherer Wohnort gepasst hätte, ein Eiscafé und ein Nagelstudio, ehe sie die Empfangshalle des Apartmentgebäudes in der Park Avenue betrat, in dessen Penthouse die Familie Montalvo wohnte. Nigel, der Portier, nickte Ivy zur Begrüßung zu. Als sie vor den Sommerferien ein paar Wochen in den Unterricht der St. Mitchell hineingeschnuppert hatte, war sie beinahe jeden Morgen hier gewesen.

Während der Fahrstuhlfahrt betrachtete sie ihr bleiches Gesicht im Spiegel. Wie gern wäre sie heute topfit aus dem Bett gesprungen, um ihr Abschlussjahr voller Elan zu beginnen. Jetzt fürchtete sie fast, dass Heath sie in diesem Zustand kaum erkennen würde. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln und schob Iljanas finstere Worte etwas beiseite.

War es naiv von ihr, sich auf ihn zu freuen? Ihr Magen kribbelte beim Gedanken an ihn, fühlte sich schwerelos an, als würde der Fahrstuhl mit ihr nach unten sacken. Sicher gab es eine vernünftige Erklärung dafür, dass er sich nicht gemeldet hatte. Ivy konnte es trotz der seltsamen Funkstille kaum erwarten, ihn nach dem Wochenende wiederzusehen. Heath war ihr Fels in dieser Welt geworden. Mehr noch als Iljana und Kelly. Er würde ihr die Sorgen und dieses eiskalte Gefühl, das in ihrem Nacken saß, nehmen können.

Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich, doch von Kelly war wie immer nichts zu sehen.

»Kel, wo bleibst du denn?«, rief Ivy und betrat den polierten weißen Marmorboden im Foyer des Apartments der Montalvos, in dem sich die unzähligen in die Decke eingelassenen Lichter spiegelten. Ihre Stimme hallte in dem fast leeren Raum wider. Zu ihrer Linken befanden sich neben der geschwungenen Treppe ein fast kitschiger antiker Spiegel, an dem Kelly nie vorbeikam, ohne ihr »Outfit of the Day« – kurz OOTD – für ihre Instagram-Story zu fotografieren, und ein kleines Tischchen mit einer vermutlich extrem teuren Vase, in der immer frische Blumen standen, die einen schon fast aufdringlichen Duft verbreiteten. Auf der anderen Seite hingen sonst immer farbenfrohe Bilder, irgendwelche moderne Kunst, von der Ivy nichts verstand. Jetzt waren sie jedoch verschwunden, was Ivy kurz davon abhielt, nach Kelly zu suchen. Die drei neuen großen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von New York wirkten wie Schatten auf der weißen Wand und verdunkelten den Raum trotz der Beleuchtung. Neugierig betrachtete Ivy die neuen Bilder, die im Vordergrund immer dieselbe Person zeigten: ein junges dunkelhaariges Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, mit breiten Zahnlücken neben den viel zu großen Schneidezähnen, leichten Pausbacken und einem frechen Grinsen. Kelly hatte sich seither ziemlich verändert, dachte Ivy und überlegte, ob solche Bilder jemals an die Öffentlichkeit gelangen würden, ehe sie sich abwandte und die lebensgroßen Fotografien hinter sich ließ. Ein klein wenig erinnerten die Aufnahmen sie an die ausgeschnittenen Bilder und Kalenderseiten von New York an der Wand ihres alten Zimmers, die sie von klein auf gesammelt hatte, weil sie immer neugierig auf die Stadt gewesen war, aus der ihr Vater kam. Aus ihrer Wanddeko war inzwischen Realität geworden. Nun ging es um ihre Zukunft und Ivy musste sich eingestehen, dass sie in den Ferien ihre Zeit lieber mit Heath verbracht hatte, als wie geplant mit den Büchern, die ihr die Schulleiterin empfohlen hatte, damit sie im Abschlussjahr in keinem der Fächer hinterherhinkte – was sich nun mit einem schlechten Gewissen rächte und ihr das unangenehme Gefühl gab, unvorbereitet zu sein. Dass Kelly scheinbar alle Zeit der Welt hatte, wirkte Ivys Angst kein bisschen entgegen. Für Heath hatte sie ihren Traum hintenangestellt, das große Ziel, das sie sich als Fünfzehnjährige – ein Jahr nach dem tragischen Tod ihrer besten Freundin Christiana – gesetzt hatte.

Sie schob die Tür zur Küche auf, in der laute Musik dröhnte. Die wilden Gitarrenriffs irgendeiner Rockband standen im totalen Widerspruch zu der blitzenden modernen Designerküche, deren Dimensionen irgendwo zwischen Restaurant und Großkantine lagen.

Kelly saß wie fast immer allein an dem hübsch eingedeckten Tisch und wirkte wie einem Werbespot entsprungen. Ihre schwarzen Haare fielen in leichten Wellen über ihre Schulter, die beigefarbene faltenfreie Bluse der Schuluniform und ihr Make-up waren wie immer perfekt, während sie konzentriert auf ihr Handy schaute.

»Kelly!« Ivy schrie beinahe, um die Musik zu übertönen.

Kelly zuckte zusammen und ließ ihr Handy auf den Tisch fallen. Selbst durch das Make-up war zu erkennen, wie sehr sie sich erschreckt hatte. Als sie Ivy sah, knipste sie jedoch sofort ihr strahlendes Lächeln an – jenes Lächeln, das sie so perfektioniert hatte, dass sie selbst mitten in einem Wutanfall aussehen konnte, als wäre sie überglücklich. Für ihre siebzehn Jahre war sie ein Musterbeispiel an Selbstkontrolle. In einer einzigen Bewegung stellte sie die Musik auf ihrem Handy aus, woraufhin die unsichtbaren Lautsprecher überall im Raum erstarben und in Ivys Ohr ein leises Piepen zurückblieb, schob ihren Stuhl zurück und lief zu Ivy, um sie in eine feste Umarmung zu ziehen.

»Willst du, dass ich mein letztes Schuljahr nicht mehr erlebe, Ivy?«, fragte sie dann mit vorwurfsvollem Blick und legte in einer theatralischen Geste die Hand auf ihr Herz.

»Wer weiß, was passiert, wenn wir am ersten Tag zu spät kommen«, mahnte Ivy und hörte sich damit wie die klischeehaft überpünktliche Deutsche an, was Kelly ihr schon ein paarmal vorgeworfen hatte.

Jetzt verdrehte Kelly nur die Augen. »Du kannst dich noch kurz setzen. Die Ansprache der DeLaCourt beginnt erst in einer halben Stunde. Wir haben noch ewig Zeit.«

Kellys stoische Gelassenheit sorgte für ein Kribbeln in Ivys Fingerspitzen. Am liebsten hätte sie ihre Freundin mit sich gezerrt. Kelly kehrte jedoch zu ihrem Platz zurück, nahm ihr Handy, schoss ein Foto von sich mit ihrem Latte Macchiato und deutete auf die Croissants, damit Ivy zugriff. Geraldine, die Haushälterin der Montalvos, servierte »dieses ungesunde Zeug« nur, wenn Kellys Vater Eurico nicht in der Stadt war. Als ehemaliger Topathlet und nun Besitzer einer landesweiten Greenfood-Kette bestand er darauf, dass sich seine Tochter gesund ernährte. Daher fotografierte Kelly nie das ihrer Meinung nach viel bessere Essen – ihr Vater folgte ihr auf Instagram und wäre bestimmt enttäuscht –, schaufelte aber in seiner Abwesenheit, die seine Anwesenheitszeiten deutlich übertraf, endlos Kalorien und ungesunde Fette in sich hinein. Bei dem Körper eigentlich eine Unverschämtheit. Als hätte sie Ivys Gedanken erraten, grinste Kelly übertrieben, bevor sie das letzte Stück ihres Croissants vom Teller pflückte, in den Mund schob und mit Kaffee hinunterspülte.

Nebenbei sah sie immer wieder nachdenklich auf ihr Handy, vermutlich, um die Reaktionen auf ihren neuen Post zu verfolgen. Obwohl alles wie immer wirkte, wurde Ivy das Gefühl nicht los, dass etwas anders war. Die beiden waren während der Ferien ständig via Handy miteinander in Kontakt gewesen. Kelly hatte quasi live die neuesten Entwicklungen mit Heath mitbekommen und Ivy hatte Kellys Fotos vor zahlreichen europäischen Wahrzeichen gelikt und kommentiert – aber ein wenig mehr Begeisterung, sich wieder »in echt« zu sehen, hatte Ivy schon erwartet. Stattdessen posierte Kelly wie jeden Morgen noch kurz vor dem antiken Spiegel in der Eingangshalle und schoss ihr OOTD-Foto, was Ivy irgendwie lächerlich fand, weil die Schuluniform ja schließlich immer mehr oder weniger dieselbe war.

Kelly trug heute ausnahmsweise die beigefarbene Hose anstatt des für Mädchen üblichen Rocks und sogar die dunkelgrüne Krawatte mit dem Emblem der St. Mitchell unter dem Pullunder mit der Baumstickerei, legte den Fokus ihrer Aufnahme jedoch auf ihre Haare und das Gesicht, was Hashtags wie #ootd oder #ootdfashion noch unsinniger erscheinen ließ, aber was wusste Ivy schon.

»Ist irgendwas passiert?«, fragte sie Kelly im Fahrstuhl, denn das Schweigen wurde ihr langsam unangenehm und das Handygeklimper zerrte an ihren angespannten Nerven.

Kelly sah kurz auf, während sie Filter auf das Foto von sich legte und es hochlud. Dann schoss sie noch ein kurzes Fahrstuhlspiegelfoto mit Kussmund und tat so, als hätte sie Ivy nicht gehört. Das machte sie immer, wenn sie nicht antworten wollte. Sie tat dann so, als wäre sie völlig in Gedanken – oder besser in ihren Feed oder ihre Story versunken. Irgendwann redete sie dann von selbst los und antwortete auf Fragen, an die sich Ivy manchmal gar nicht mehr erinnern konnte. Ivy wollte jedoch nicht über Kellys Umgangsformen diskutieren – die ihr von ihren Eltern und vor allem von ihrer Großmutter einen riesen Tadel eingebracht hätten –, auch wenn sie besonders heute beruhigende Worte oder ein gemeinsames Lachen gut hätte gebrauchen können.

Kurz darauf stiegen die beiden immer noch schweigend in die Limousine der Montalvos – wie an jedem Morgen der letzten Wochen des vergangenen Schuljahres. Zumindest seit jenem Tag, an dem aus Kellys offizieller Patenschaft eine beginnende Freundschaft geworden war.

Kelly war absolut geschmeichelt gewesen, dass sich Ivy, nachdem sie in Kelly hineingerannt war, nicht nur entschuldigt, sondern beinahe ehrfurchtsvoll ihr Pseudonym @fashionista_k_montalvo gehaucht hatte. Ivy folgte nicht vielen Lifestyle-Bloggern, noch viel weniger den amerikanischen, aber da Fashionista nicht nur Mode, Kosmetik oder Essen vorstellte, sondern sehr oft Bücher in die Kamera hielt, gehörte sie seit Jahren zu Ivys absoluten Lieblingen. Kurzerhand hatte sich Kelly der Neuen an der Schule angenommen. Ivy akzeptierte, dass sich Kellys Leben eher online als im realen Leben abspielte, genoss aber jeden Moment mit ihr. Auch wenn sie immer wieder feststellte, wie unterschiedlich Fashionista und Kelly doch waren – wie vermutlich jeder, der sich im Internet präsentierte.

Plötzlich quietschte Kelly – ihre Version eines Freudenschreis – und erklärte Ivy, dass ihr Dad ihr Foto vom Vortag kommentiert hatte. Während der restlichen Fahrt stand Kelly das Glück auf die Stirn geschrieben und sie verteilte so viele Herzchen im Internet, wie es nur möglich war.

Keine zehn Minuten später – und das im stockenden New Yorker Verkehr – hielt ihr Fahrer im Halteverbot direkt vor dem roten Backsteingebäude in der 89ten Straße zwischen Park und Lexington Avenue. Dass Menschen wie Kelly nicht einmal zwei Blocks weit zur Schule laufen konnten, war für Ivy anfangs erschreckend gewesen, aber sie musste zugeben, dass man sich sehr schnell daran gewöhnte. Genau wie an den Luxus, der die Schüler und damit nun auch Ivy tagtäglich umgab, sobald sie ihre kleine Wohnung hinter der St. Paul in der 22ten West in Midtown Manhattan verließ, in der sie mit ihrer Familie wohnte.

Wie von selbst glitt ihr Blick zu den zwei Treppen vor dem Eingang des altehrwürdigen Schulgebäudes, wo noch immer zahlreiche in dunklem Grün gekleidete Mitschüler herumstanden, obwohl es bereits zum ersten Mal geläutet haben musste. Weit über ihren Köpfen erhob sich das Rundbogenfenster mit dem Schulnamen und dem Logo darunter, dem stilisierten Baum mit den tiefen Wurzeln, dessen Hauptäste verdächtig an ein Kreuz erinnerten – schließlich handelte es sich um eine der angesehensten kirchlichen Privatschulen in New York. Die Rundbögen der Fenster in der unteren Etage waren aufwendig mit Ornamenten verziert, die zu den Figuren über dem Eingang passten. Weiter oben gab es nur noch normale Fenster, die jedoch groß genug waren, um den betuchten Schülern im Inneren genügend Tageslicht zu spenden.

Weitere Limousinen hielten am Straßenrand und spuckten Schüler in der typischen Schuluniform aus, die Ivy beim ersten Blick ins Internet sofort an Harry Potter erinnert hatte. Sie sah auf ihre nagelneue beige Bluse, auf der die grüne Stickerei des Baumes prangte – der einzige Unterschied zur Slytherin-Hauskleidung –, ehe sie ihren Blick wieder auf die Schülerschar richtete. Nur Heath konnte sie nirgendwo entdecken.

Er stand nicht wie sonst auf der rechten der beiden Treppen, die zum Eingang der St. Mitchell hinaufführten und die seine Clique für sich beanspruchte – New Yorks Elite von morgen, wie Kelly immer sarkastisch betonte, obwohl sie theoretisch selbst zu dieser Elite gehörte – wie jeder andere Schüler, dessen Eltern sich die St. Mitchell leisten konnten. Laut Kelly war diese Seite des Aufgangs zur Schule nur jenen gestattet, die eine ausdrückliche Erlaubnis besaßen – und die wurde von der Clique nur sehr selten vergeben.

Die Gruppe stand wie immer in den einzigen Sonnenstrahlen, die bis in die Häuserschlucht hinabtauchten. Die blonden Spitzen von Penelope LaFleurs Ombré-Look stachen deshalb noch mehr hervor und ihre Sonnenbrille reflektierte das Licht bei der kleinsten Bewegung, sodass Ivy blinzeln musste. Neben Penelope lehnte sich Vince Rye an das metallene Treppengeländer. Gerüchten zufolge hatte er in den Sommerferien ebenfalls Europa unsicher gemacht. Dort hatte er offenbar viel Sonne abbekommen. Sein Gesicht hatte fast denselben bronzefarbenen Ton wie das von Daphne Harrell, die eine Stufe höher stand und dennoch mit ihm auf Kopfhöhe war. Offensichtlich waren Daphne und Bryan Cormack mal wieder zusammen. Oder sie spielten wie so oft nur das It-Paar der Schule. So genau blickte Ivy da trotz der etlichen Instagram-Posts der beiden und Kellys zahlreichen Nachhilfestunden nicht durch. Denn genauso häufig wie in Bryans Armen lag Daphne auch in den Armen von Vince. Bis auf Heath war die Clique damit komplett.

Kelly registrierte Ivys suchenden Blick. »Hast du heute schon was von ihm gehört?« Sie sah sich nun ebenfalls suchend um, wobei wieder dieser seltsame Ausdruck von vorhin auf ihr Gesicht trat. Ivy schüttelte den Kopf und schluckte den bitteren Geschmack im Mund hinunter.

»Er hat ganz sicher nur verschlafen«, startete Kelly einen Aufmunterungsversuch, während sich ihr Fahrer wieder in den Verkehr einfädelte. Direkt hinter ihnen hielt die nächste schwarze Limousine und Ivys Herz schlug schneller, als Zach ausstieg, Heath’ kleiner Bruder, der die grüne Krawatte nur locker um den Hals geschlungen und das Hemd halb aufgeknöpft hatte. Er sah genauso gut aus wie sein anderthalb Jahre älterer Bruder, ansonsten konnten die beiden allerdings nicht unterschiedlicher sein. Zach war für Ivy die Verkörperung des Rich-Kid-Klischees – mit allen negativen Eigenschaften, die ihnen nachgesagt wurden.

Ivys Mundwinkel hoben sich nun wie von selbst, in ihrem Magen kribbelte es angenehm, als endlich auch Heath aus der Limousine stieg. Makellos gekleidet, das Hemd unter dem grünen Blazer vorschriftsmäßig geschlossen und die Krawatte perfekt geknotet. Er schulterte seine dunkelgraue Ledertasche, die vermutlich so viel gekostet hatte wie die gesamte Wohnungseinrichtung von Ivys Familie, warf einen kurzen Blick zu Penelope und den anderen und ging auf die Clique zu, ohne Ivy eines Blickes zu würdigen. Ihr Lächeln erstarb, während ihr Verstand verzweifelt etliche Erklärungsversuche abspulte.

»Heath!«, rief Kelly, die natürlich bemerkt hatte, dass Ivy die Worte im Hals stecken geblieben waren.

Heath blieb ruckartig stehen. Ivy fühlte sich wie auf einer Achterbahn, ehe es in rasender Geschwindigkeit nach unten ging. Noch während Heath sich halb zu den beiden Mädchen umdrehte und sein Blick dabei kurz am Schulgebäude hängen blieb, wo Penelope ihm zuwinkte, als könne man sie ansonsten übersehen, lief Ivy los. Ihre Beine fühlten sich ganz leicht an. Sie musste diese Ungewissheit endlich loswerden und sehnte sich nach seinem Lächeln, seinen Berührungen, dem schwindeligen Gefühl, wenn sie sich küssten. Ihr Puls raste, ihr Herz war vermutlich schon bei ihm angekommen. Nur noch knapp einen Meter von ihm entfernt prallte sie an einer unsichtbaren Barriere ab, die plötzlich zwischen ihnen stand, was sie beinahe ins Stolpern brachte. In seinen Augen lag die Distanz ihres ersten Aufeinandertreffens. Er sah sie an wie eine Fremde und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Grinsen darstellen sollte. Doch er fing sich schnell, ließ sein Showlächeln aufblitzen, nickte ihr kurz zu und setzte seinen Weg zum Schulgebäude fort – ohne einen Kuss, ohne auch nur ein einziges freundliches Wort. Ohne eine Erklärung für die Funkstille am Wochenende.

Ivy fröstelte in der für einen Septembermorgen lauen Brise. Sie hatte seinen Gesichtsausdruck genau vor Augen: die Maske des unnahbaren Schönlings. Es war wie ein Déjà-vu, denn genau so hatte er sie während ihrer Schnupperwochen angesehen. Von jetzt auf gleich war kein Funke der echten Gefühle übrig, die sich während des Sommers in seinem Gesicht gespiegelt hatten. Was auch immer am Wochenende vorgefallen war, es hatte ihn und ihre Beziehung verändert. Ivy war wie erstarrt, als hätte sich mit Heath’ abweisendem Verhalten ihr ganzer Körper deaktiviert. Nur beiläufig registrierte sie, wie sie immer wieder angerempelt wurde, während ihr Tunnelblick ganz auf Heath gerichtet war, der gerade die Clique begrüßte. Penelopes Hand lag ein wenig zu lange auf seinem Unterarm und Ivy schoss sofort ein Gerücht aus dem Vorjahr durch den Kopf. Es war so ziemlich das Erste, was sie an der St. Mitchell mitbekommen hatte. Kelly war in der Cafeteria Ivys schwärmerischer Blick in Heath’ Richtung aufgefallen und sie hatte Ivy gewarnt. »Mach dich nicht unglücklich. Es heißt, da läuft was zwischen ihm und Penelope«, hatte sie behauptet. Auf Ivys weit aufgerissene Augen – Penelope und Heath waren Geschwister! – hatte sie nur mit einem Lachen reagiert, ehe sie wieder auf ihr Display eingetippt hatte. Nachdem Ivy erfahren hatte, dass die beiden nur Stiefgeschwister waren, fand sie es nicht mehr ganz so skandalös, hatte die beiden aber dennoch weiterhin skeptisch beobachtet. Irgendwann hatte sie jedoch für sich beschlossen, nicht alles zu glauben, was so geredet wurde, auch wenn sich Gerüchte hier schneller verbreiteten und wichtiger waren als in ihrem kleinen Dorf in Süddeutschland, das sie mit ihrer Familie hinter sich gelassen hatte. Wirklich sicher, dass zwischen den beiden nichts lief – trotz Penelopes wiederkehrenden Avancen –, war Ivy aber erst gewesen, als es mit Heath und ihr ernster geworden war und er die Gerüchte nur belächelt hatte.

Hatte Penelope das Familienwochenende etwa dazu genutzt, sie doch noch wahrzumachen? Ivy riss sich zusammen und versuchte angestrengt, sich nicht anmerken zu lassen, wie tief Heath sie getroffen hatte. Das hatte Kelly ihr gleich am Anfang eingetrichtert: »Zeig niemandem deine Verletzlichkeit. Sonst stürzen sich alle sofort darauf.«

Eine Wolke schob sich vor die Sonne und ließ die Clique nun fast farblos erscheinen. Langsam schälte sich Ivy aus ihrer Benommenheit. Sie wollte Heath hinterherlaufen, mit ihm sprechen, fragen, was am Wochenende geschehen war, doch Kelly hielt sie sanft am Handgelenk fest.

»Ich … wollte es dir schon im Wagen sagen, aber …« Die Nervosität war untypisch für Kelly und Ivy horchte alarmiert auf. »Du solltest nicht versuchen, mit ihm zu reden, wenn die da«, sie nickte mit dem Kopf kurz in Richtung Treppe, »in der Nähe sind.«

»Wie bitte?« Ivy verstand kein Wort. Sie konnte doch nicht so tun, als wäre der Sommer nicht gewesen, als hätte Heath ihr nicht gerade das Herz herausgerissen und wäre darauf herumgetrampelt. Doch anstatt ihr eine Antwort zu geben, sah Kelly auf ihr Handydisplay und tippte etwas.

Zum zweiten Mal an diesem Tag ärgerte sich Ivy über die Social-Media-Sucht ihrer Freundin. Aber ehe sie ihrem Ärger Luft machen konnte, hielt Kelly ihr das Handy so knapp vor die Nase, dass Ivy zurückweichen musste. Doch schon in diesem Moment erkannte sie das Mädchen auf dem Bild, das in knappem Bikini den Arm um einen oberkörperfreien Jungen legte. Ivy schluckte mehrmals, blinzelte immer wieder, doch das Bild war eindeutig. Heath und Penelope hatten offenbar sehr viel Spaß zusammen und mit jedem weiteren Foto in Penelopes Instagram-Story verkrampfte sich Ivys Magen. Sie sah sehr viel Haut, eine ausgelassene Stimmung, Penelope, die auf Heath’ und Zachs Schoß lag … Die Bilder verschwammen vor ihren Augen und Kelly ließ das Handy sinken.

»Es tut mir leid, ich …«, stammelte Kelly, ihr Selbstbewusstsein war verschwunden. Das absolute Gegenteil von Fashionista. »Penelope hat noch einen privaten Account. Ich hätte es dir sagen sollen, aber … ich wusste nicht wie.« Kelly sah betreten zur Seite, ihr Kiefer war angespannt, oft die einzige Gefühlsregung, die auf einem Foto niemandem auffiel.

»Ich muss mit ihm reden!«, entschied Ivy noch einmal laut und wandte sich bereits zum Gehen, doch Kelly hielt sie erneut zurück.

»Penelope wird ihn bis zum Unterricht nicht aus den Augen lassen.«

Wie durch ihren Namen heraufbeschworen, legte Penelope ihre Hand auf Heath’ Rücken, um ihn zum Eingang zu schieben. Ivy ballte ihre Hände so fest zusammen, dass sich ihre Fingernägel in die Handfläche bohrten, während sie mehrmals zwischen ihrer Freundin und Heath hin und her sah, bis sie sich schließlich geschlagen gab.

»Du hast recht«, sagte sie mit einem Nicken. »Ich muss ihn allein erwischen.« Ihre raue Stimme verlor sich im mehrmaligen Hupen eines Taxis. Ihre Schultern sackten nach unten und sie stolperte Kelly in die bereits gut besetzte Aula hinterher, in der Rektorin DeLaCourt schon auf der Bühne stand und mit dem Mikrofon kämpfte. Ringsherum brach Stöhnen aus, als eine ohrenbetäubende Rückkopplung erklang und die Rektorin entschuldigend ins Publikum lächelte.

Während der kommenden Stunde wurde ihre Stimme zu einem Hintergrundgeräusch, denn Ivys Gedanken überschlugen sich. Nur ein einziges Mal wurde sie von der sich verändernden Atmosphäre im Raum aufgeschreckt. Mrs DeLaCourt erinnerte die Schüler daran, dass »gewisse Spielchen an der St. Mitchell untersagt waren«, was Ivy sich nicht erklären konnte. Doch als sie bei Kelly nachhaken wollte, blieb ihr Blick zwei Reihen vor ihr hängen, wo Heath zwischen Penelope und Vince saß. Ivy sah, wie verkrampft seine Schultern waren, als er das Jackett der Schuluniform auszog. Penelope wandte sich ihm immer wieder zu, schenkte ihm ein Lächeln nach dem anderen und betatschte ihn mehr, als es sich unter Stiefgeschwistern gehörte, fand Ivy. Und mit jeder Berührung zog sich ihr Magen enger zusammen.

Kelly spürte ihr Unbehagen und legte eine Hand auf Ivys Oberschenkel, als hätte sie Angst, dass sie jeden Moment aufspringen könnte. »Vielleicht ziehen sie nur wieder ihre Show für die Neuen ab«, flüsterte sie Ivy zu und deutete mit einem Kopfnicken auf die ersten Reihen, wo sich nervöse Neuntklässler tummelten, von ihren Eltern gestriegelt und zurechtgemacht, wie es sich für eine Eliteschule gehörte. Ivy hatte nie dort gesessen, sie war nicht mit den anderen aufgewachsen, sondern nur dazugestoßen, weil ihre Mutter nach ihrer Versetzung nach New York im Namen ihrer Tochter auf ein Stipendium für die St. Mitchell High bestanden hatte. Wäre Kelly nicht gewesen, würde Ivy in den Pausen vermutlich allein an einem Tisch sitzen und in dem überteuerten Essen herumstochern.

Deshalb konnte Ivy auch nicht einschätzen, welches Verhalten wirklich normal und was nur gespielt war. Und auch wenn sie in den wenigen Schnupperwochen vor den Sommerferien schon deutlich zu spüren bekommen hatte, dass sich die Schüler an der St. Mitchell anders verhielten und anders auftraten, als sie es in Wahrheit waren, kämpfte sie nun gegen das Brennen in ihren Augen.

Die Ansprache von Mrs DeLaCourt ging direkt in die erste Pause über und auch auf dem Flur hielt Ivy unentwegt Ausschau nach Heath. Aber er und Penelope schafften es, ihr den ganzen Tag aus dem Weg zu gehen. Nur Zach begegnete sie nach Unterrichtsende im Flur. Doch Heath’ kleiner Bruder sah sie wie immer nur abschätzend und herablassend an, bis Ivy ihre Schritte beschleunigte und erst wieder atmen konnte, nachdem sie an ihm vorbei war.

Wir müssen uns unterhalten.

So lautete die erste Nachricht von vielen, die sie im Laufe des späten Nachmittags von zu Hause an Heath schickte. Kelly hatte einen Termin mit einem Kooperationspartner von @fashionista_k_montalvo. Sie hatte angeboten, den Termin Ivy zuliebe abzusagen, aber Ivy hatte darauf bestanden, dass Kelly ihn wie geplant wahrnahm. Insgeheim hatte sie gehofft, dass Heath bereits auf ihre erste Nachricht reagieren würde und sie sich treffen und aussprechen könnten. Aber sie hatte in ihrem Leben wohl zu viele romantische Bücher gelesen.

Können wir uns bitte unterhalten?

Allein.

Nun saß sie auf ihrem Bett und starrte auf das Handydisplay, während die Sonne langsam hinter den Häusern der 9th Avenue versank. Ivy verspürte immer wieder den Drang, ihn direkt anzurufen. Doch irgendetwas hielt sie davon ab und sie drehte zur Ablenkung zum gefühlt hundertsten Mal ihr Lederarmband ums Handgelenk. Heath musste sich freiwillig melden.

Heath, ich muss wissen, was mit dir los ist. Was

Sie löschte den Text wieder. Das Ganze klang so armselig nach einem dieser anhänglichen verzweifelten Mädchen, und so wollte sie nie werden. Doch nun konnte Ivy diese Mädchen verstehen. Es tat weh, die Enttäuschung fraß sich tief in sie hinein und schien ihr sämtliche Kräfte zu rauben. Wie ein Mantra zog Kellys Empfehlung durch ihren Kopf: Morgen ist auch noch ein Tag.

Beim Abendessen mit ihrer Familie war Ivy so schlecht gelaunt, dass ihre Eltern irgendwann aufgaben und nicht weiter versuchten, sie über ihren ersten Schultag auszuquetschen. Ivy textete noch ein wenig mit Kelly und hoffte bei jeder Benachrichtigung auf ein Zeichen von Heath, fand jedoch meist nur dämliche Spams, darunter die Einladung zu einem Spiel, was sie sonst nur von ihrem längst gelöschten Facebook-Account kannte und echt nervig fand. Woher hatten diese Leute ihre Nummer?

Nebenbei sah sie sich Fashionistas Instagram-Story an. Kellys andere Seite: natürlich, kaum geschminkt, mit lässig hochgesteckten Haaren – was, wie Ivy mittlerweile wusste, eine zu lange Zeit beanspruchte, um wirklich lässig zu sein. Kelly saß in ihrem Zimmer vor dem gigantischen Bücherregal, das mit verschiedenem Merchandise-Kram dekoriert war. An der Wand daneben hing ein Filmposter von InfinityWar – beneidenswerterweise mit etlichen Originalunterschriften, die Fashionista bei der Premiere bekommen hatte, was Ivy damals live auf ihrem Kanal mitverfolgt hatte. Sie trug ihr typisches »Casual Outfit«: ein viel zu weites Eiskönigin-T-Shirt, das ihr locker über die Schulter fiel. Kellys Zimmer war der Traum eines jeden Nerds. Bei ihrem ersten Besuch war Ivy vor purer Ehrfurcht wie erstarrt gewesen – sehr zum Gefallen von Kelly, die ihr jetzt schrieb:

Ich rufe noch kurz meine Kosmetikerin an. Sie muss mich heute Abend unbedingt irgendwo dazwischenschieben. Morgen wollte ich ein Video drehen und DAS geht mal gar nicht.

Es folgte ein Foto von Kellys Wange, auf der ein zarter roter Fleck zu sehen war. Ivy verdrehte die Augen. Den Punkt konnte man unmöglich Pickel nennen.

Als Kelly sich nicht mehr meldete, begann Ivy eine Serie nach der anderen auf Netflix und schlief irgendwann ein.

Sie hasste den ersten Schultag an der St. Mitchell.

KAPITEL 4

Heath

»Was ist los mit dir, Alter?«, fragte Bryan und stieß Heath mit dem Queue an, sodass dieser sofort gedankenverloren auf sein dunkles T-Shirt sah, ob die Kreide Spuren hinterlassen hatte. »Du bist dran!«

Wie fast jeden Nachmittag nach der Schule hockte Heath bei Bryan. Er hatte sein eigenes Apartment in dem Gebäude, das seiner Familie gehörte und in dem sich ganz unten das Up! befand. Allein Bryans Wohnzimmer hatte Dimensionen, die selbst Heath für übertrieben hielt. Man musste beinahe Schreien, um am anderen Ende verstanden zu werden. Die Cormacks schwammen im Geld und zeigten es nur allzu gern. Dementsprechend verhielt sich auch der einzige Sohn der Familie.