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Es geht um die Frage nach dem "richtigen Leben". Als Paul eine lebensbedrohliche Diagnose erhält, ist die Antwort umso dringlicher. Mit seinem Freund beginnt er eine Zeitreise, zurück in die Tage seiner Kindheit. Die für Paul prägende konventionelle Lebensphilosophie seiner Großeltern, die stets unter Wahrung der eigenen Interessen ihren recht individuellen Ausdruck fand, lässt im Rückblick die unbeschwerte Kinderzeit am Starnberger See in anderem Licht erscheinen. Durch die Verschränkung der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit der Gegenwart, nähert sich Paul dem Verständnis. Und auch, wenn er aus heutiger Sicht nicht wenige der damaligen Arrangements für fragwürdig erachtet, so kommt er dem "richtig gelebten Leben" durch seine wohlwollende, wertschätzende Haltung schon sehr nahe.
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-721-2
ISBN e-book: 978-3-99146-722-9
Lektorat: Ute Leber
Umschlagfoto: Winzworks | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Widmung
Für A.
I
„Lerne im Leben die Kunst,
im Kunstwerk lerne das Leben.“
Friedrich Hölderlin
1
Wie beginnen?
Sollten wir unsere Erzählung über, sagen wir Paul Poth, wir könnten ihn aber auch, da Namen in Romanen oft ablenken oder zu falschen Assoziationen verleiten, abkürzen: P. P. – was doch mehr ist als das Niemand Homers – oder wohlklingend, aber etwas altertümlich und gekünstelt, Adrian oder, gut Deutsch, Ulrich oder Waldemar – das bayerische Woldemar – Starnberg, da unsere Geschichte auch an dem gleichnamigen See spielt, oder aristokratisch bayerisch Leopold oder francophon Frederic oder gar jüdisch, Gott hat gegeben, Nathan benennen, unseren Helden, der doch ein ziemlich gelungenes und erfreuliches, wenn auch nicht immer geradliniges, von manchen Brüchen, wie einer Ehescheidung, bestimmtes, aber ansonsten ein Leben führte, verschont von größeren Katastrophen – bis auf die eine, die Anlass dieses Berichtes wurde, die Diagnose einer im Regelfall tödlich verlaufenden Krankheit im Alter von Ende fünfzig kann man heutzutage schon als solche für den Betroffenen bezeichnen, ein Leben, welches dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld, das sich friedvoll und geduldig entwickelte, entsprach, damit beginnen, uns selbst vorzustellen? Wohl wissend, dass das Erzählte durch die Sichtweise des Erzählenden, durch dessen Aus- und Wortwahl eben auch von diesem handelt, dass das Wissen, das Wer und Was des Schreibenden das Geschriebene verständlicher werden lässt, jedenfalls relativiert.
Wenn wir das täten, so wäre zu berichten, dass Paul Poth, für diesen Namen haben wir uns nun offensichtlich entschieden, dem Verfasser schon als Kind bekannt war, und dass der Erzähler die Ehre hat, sich bis zum heutigen Tag zu dessen Freunden zählen zu dürfen. Gemeinsam verbrachte Zeiten in der Kindheit, Jugend und als Studenten, gemeinsames
Auslandsstudium, wechselseitige Trauzeugen- und Patenschaften haben diese Freundschaft bestätigt und erlauben es, die folgenden Zeilen zu verantworten.
2
Sollten wir so beginnen: Von Süden wehte ein warmer, trockener Wind – der Föhn, den die Römer wohlklingendfavoniusnannten. Der Himmel war klar und die geringe Luftfeuchtigkeit des Föhns offenbarte einen herrlichen Blick vom parkähnlichen Garten des Herrn Konsul Dr. Poth auf die Alpenkette, aus der die Zugspitze herausragte. Es war ein schöner Julitag des Jahres 1959.
Der Starnberger See war, auch sonntags, noch nicht bedeckt von einem Meer weißer Segel, das Gefühl von Wind, Wasser und Bewegung auf ständige Ausweichmanöver reduzierend. Der See war ein hellblauer Farbfleck in weitem grünen Rund, mit einzelnen weißen Tupfern. Von dem Dorf Seeberg gab der Blick aus dem Wohnzimmer der Villa Poths in erster Linie die neubarocken Kirchtürme frei. Anders als vielleicht manche Städte war Seeberg nicht an dessen Gang zu erkennen, da zu dieser Mittagszeit so gut wie nichts in Bewegung war.
Der Möbelfabrikant und Kunsthändler Poth hatte, seiner Gewohnheit folgend, den Sonntagmorgen mit einem Bad im Starnberger See begonnen. Er benutzte dazu seine Badehütte, die vom Ufer aus in den See gebaut war und ihm einen exklusiven Seezugang ermöglichte. Er tauchte in die glatte Wasserfläche. Das Wasser war angenehm, um die dreiundzwanzig Grad und dennoch am Morgen erfrischend. Sein Blick war frei auf das andere Seeufer, noch nicht wie heutzutage durch zahlreiche Bojen und daran hängende abgetakelte Segelboote verstellt. Die gegenüberliegenden Türme des Ammerlander Schlosses, das einst dem Grafen Pocci gehörte, waren gegen die tiefstehende, aber schon warme Sonne nur schemenhaft wahrzunehmen. In der südlichen Ferne erkannte er düster Heimgarten, Herzogstand, Jochberg und Benediktenwand, dahinter schon sonnenbestrahlt das helle Grau des Karwendelgebirges mit einzelnen weiß leuchtenden Schneetupfern. Ein einsames Segelboot ruhte im See, sich kaum bewegend, zwischen Entenpaaren. Winzige Fische bewegten sich zitternd und hysterisch im Wasser neben einigen größeren, elegant die Weite des Sees auskostend. An Poths Ohren drang Vogelgezwitscher, unterbrochen von fernem Glockenläuten, am Sonntag die Gläubigen rufend. Vom Uferweg her hörte man das Knarzen der Schritte früh munterer Spaziergänger oder das gleichmäßige Geräusch vereinzelter Radfahrer, die, geschützt von Thujahecken, Herrn Poth nicht zu Gesicht bekamen.
Über der Einnahme des Frühstücks, der Absolvierung des Kirchganges und der Fernsehsendung „Internationaler Frühschoppen“ mit sechs Journalisten aus fünf Ländern unter der Moderation von Werner Höfer, war es Mittag geworden.
Konsul Poth hatte, bevor er sich an den unter einer Markise stehenden Glastisch, der für das Mittagessen mit Zinntellern gedeckt war, niederließ, die Rosen in seinem Garten inspiziert. Die Rosen waren von Poth eigenhändig ausgesucht worden. Nur alte Sorten mit einer gewissen Geschichte waren erwählt, wie die „Rose des Resht“, die aus Persien stammt, deren üppige Rosetten in tiefem Karminrot leuchten. Aber auch Sorten, deren Namen verführerisch klangen, etwa die schneeweiße „Boule de Neige“, bekamen ihre Chance. Konsul Poth bestellte bei einem bekannten Rosenzüchter jedes Jahr eine neue Sorte und wartete, ob sie sich in seinem Garten entwickelte. Erfolgreich war etwa die zartrosafarbene feine Schönheit mit Namen „La France“ vom Züchter Jean Baptiste Guillot mit der gefüllten kugeligen Blüte, ebenso wie die tiefbrombeerrote Strauchrose „Tuscany“, die schon 1596 erwähnt wurde, wie Konsul Poth Besuchern gerne erläuterte. Poth genoss vornehmlich das wahrhaft klerikale Violett der Rose „Cardinal de Richelieu“ und den verschwenderischen Duft der Kletterrosa „Gloier de Dijon“, deren goldgelbe dichte Blüten gefaltet sind wie ein Modell des Modeschöpfers Fortuny, den schon Proust zitierte. Poth ließ Besuchern gerne ihren, für alte Rosen so typisch intensiven Duft, mit dem der Damaszner Rose vergleichen, einer Rosenart seit der Antike als Sonnenanbeterin bekannt, mit noblem Wuchs und langen Blättern.
Der Garten war von einem renommierten Gartenarchitekten nach englischer Art angelegt. Der in einem eigenen kleinen Haus auf dem Grundstück wohnende Gärtner Pelz musste dafür sorgen, dass die Anlage, wie geplant, erhalten blieb.
Nach solchem sinnlichen Genuss des Auges und der Nase sollte der Gaumen verwöhnt werden. Am Mittagstisch der Familie des Konsul Dr. Poth, bestehend aus dem Konsul, dessen Gemahlin, deren älterer Schwester, im Familienkreis Tatte oder ansonsten auch Frau Majorin genannt, des Jesuitenpaters Herrn Dr. Müller und heute – es war eine Ausnahme, da sonst sonntags zumindest eine der drei Familien der Kinder der Poths eingeladen waren – lediglich des Enkels Paul, der mich, seinen Kameraden – auch dies für sonntags ungewöhnlich – zu Gast hatte, wurde von der seit Jahren im Hause wohnenden und „dienenden“ Köchin Anni gerade selbst das von ihr angefertigte Zitroneneis dargereicht. Normalerweise ließ sie die Hausmädchen Rosa oder Rosi servieren, aber das Eis brachte sie doch eigenhändig, wohl wissend, dass sie sich das Lob für das vorangegangene Essen – es gab nach der aus selbst gerupftem Sauerampfer hergestellten Suppe einen Ochsenschwanz – von Herrn Konsul abholen konnte und der Pater ihr, wie schon so oft, versichern würde, dass er allein des Eises wegen seinen Aufenthalt in Seeberg – dabei verdrehte Frau Poth unmerklich die Augen – ins, allerdings nicht theologisch gemeinte, Ewige ausdehnen könnte.
Herr Poth, als Unternehmer immer darauf bedacht, das Lob, das er bei seinen Mitarbeitern als Motivation regelmäßig verteilte, ohne dass ihm solches in Managementschulungen als günstige Art der Produktivitätssteigerung beigebracht worden wäre, nicht so ausgiebig einzusetzen, dass diese noch auf den Gedanken kämen, sie seien unersetzlich oder sollten daraus den Vorteil einer Gehaltserhöhung ziehen, lenkte doch bald die Aufmerksamkeit auf den dem Föhn geschuldeten Blick von der Terrasse auf den See und die Berge, mit allerdings mitfühlendem Seitenblick auf seine Gattin: „Ich weiß, der Föhn bereitet dir Kopfschmerzen, während er meine ästhetischen Genüsse befriedigt. Unser Pater würde sagen, das ist die Dialektik des Lebens, was den einen erfreut, ist der Schaden des anderen. Sollten wir uns wünschen, es gäbe keinen Föhn und wir müssten auf diese Blicke – wahre Naturschönheit – verzichten, aber andere kämen um körperliche Beschwerden herum? Was meinen Sie, mein lieber Jakob?“ Jakob Müller, der Jesuitenpater, griff das Thema auf, das wir nicht weiter verfolgen wollen, während Frau Poth sich der Köchin Anni annahm und sie aufforderte, sich an den Tisch zu setzen. Sie wollten die Speisefolge der nächsten Woche besprechen.
Paul und ich lauschten, wie so oft, dem Gespräch der Herren und, obwohl erst achtjährig, prägte sich uns doch vieles ein und wir diskutierten Jahre später manchmal über das Gesagte als doch typisch für Auffassungen, die kritisch zu hinterfragen wir uns angelegen sein ließen.
Auch jetzt. als ich Paul fast fünfzig Jahre später gegenübersaß und wir begannen, wenn auch aus traurigem Anlass, sein Leben zu resümieren, war sein erster Gedanke: „Wenn ich zurückdenke in die Fünfziger Jahre …“
3
Wäre dies der richtige Beginn?
Im Frühjahr 2007 gestand mir mein Freund Paul Poth, mit dem ich als Kind Räuber und Gendarm gespielt, mit dem ich als Schüler und Student gemeinsam „Ho Ho Ho Tschi Minh“ auf Demonstrationen, die für uns doch eher „Happenings“ waren, skandiert, mit dem ich zusammen in Harvard einen amerikanischen akademischen Abschluss erlangt hatte, für dessen erstes Kind ich Pate gestanden, dessen gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzungen ich juristisch begleitet habe, und dessen Firmenverkauf und damit die Möglichkeit, für sich, seine Frau und künftige Generationen, sofern diese die Vermögensverwaltung maßvoll und klug vornehmen ließen, ein wirtschaftlich sorgenfreies Leben zu führen, ich durchgeführt hatte, dass dank eines Gehirntumors sein Leben sich mit nun 57 Jahren demnächst beschließen werde. Da es ungewiss sei, wie lange seine geistigen Fähigkeiten noch vorhanden wären oder wie bald körperliche Unzulänglichkeiten alle auch geistige Aufmerksamkeiten benötigten, bat er mich, ihm so bald als möglich, wenn nicht täglich, so doch des Öfteren in der Woche für bis zu drei Stunden, zur Verfügung zu stehen. Er wolle sein Leben resümieren. Ich sei sein ältester und einer seiner wenigen wahren Freunde. Unser Vertrauensverhältnis gewährleiste, dass Mitteilungen, Gedanken, geäußerte Gefühle nicht dem Markt der Eitelkeiten und Geschwätzigkeit dargebracht werden. Es ginge nicht um eine Biographie und eine Darstellung für Nachgeborene. Er wolle nur mit sich selbst ins Reine kommen. Dazu sei das Gespräch – wie ja die Therapie wisse – ein geeignetes Mittel und besser als das Selbstgespräch, zumal wir selbst gemeinsam zahlreiche Diskussionen und Gespräche in allen Lebenszeiten und Lebenslagen hinter uns hätten.
Ich sagte selbstverständlich zu. Wir verabredeten uns für die zu vereinbarenden Tage von 17.00 bis 20.00 Uhr abends in meinen Kanzleiräumen in der Brienner Straße. Ich könnte für den völlig störungsfreien Ablauf garantieren. Ich ließ meine Termine umlegen oder sorgte für
Vertretung und wir begannen unsere Treffen drei Tage nach der Mitteilung der tödlichen Krankheit.
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Denkbar wäre auch folgender Beginn:
Am 6. April 2008 gegen 14.00 Uhr war es in München so warm, wie in früheren Jahren gelegentlich im Juni oder September. Die Menschen, die an den im Freien aufgestellten Tischen des Cafés „Münchener Freiheit“ an dem gleichnamigen Platz in Schwabing saßen oder daran vorbeigingen, hatten sich der dem angeblich schon eingetretenen, obwohl bislang ständig verleugneten, Klimawandel geschuldeten Witterung in ihrer Kleidung angepasst. Diese war im Durchschnitt schicker und stilvoller – ein Urteil, das gewiss anmaßend ist, denn wer gibt vor, was schick und stilvoll ist? – als diejenige der Menschen in anderen deutschen Städten. Lag das daran, dass München näher an Italien liegt? Dort, wo die Menschen mehr von Geschmack und Stil verstehen. Lag es daran, dass die wiedererstellte Architektur vergangener Jahrhunderte Münchens, die, und das ist wohl fast Konsens, den schnell errichteten und lieblos zusammengestellten Gebäuden in den meisten Städten Deutschlands der Nachkriegszeit vorzuziehen ist, auf Stil und Geschmack der Bewohner abfärbte oder war es einfach eine Frage des Preises, des doch größeren und breiteren Wohlstandes in München als, sagen wir, Essen, Dortmund oder Mönchengladbach.
Ich war etwas zu früh, hatte Platz genommen und einen Milchkaffe mit viel Milch – in Wien „Verlängerter“ genannt – bei einer schwarzhaarigen Kellnerin mit eher ostischem Akzent – in Wien wäre es ein Kellner gewesen – als Latte macciato bestellt. Immerhin gab es, anders als in Wien mit seinem umfangreichen internationalen Zeitungsangebot, einige Lokalzeitungen zu lesen. Ich entschied mich, da ich die „Süddeutsche“ ohnehin abonniert hatte, für die „Abendzeitung“ und wurde im meinem schon bestehenden Urteil, das also ein Vorurteil war, erneut bestätigt, dass diese Zeitung in fünf Minuten zu lesen sei, dass, sei es dem Fernsehen, der aufgetretenen Konkurrenz oder der allgemeinen Nivellierung geschuldet, die Zeiten längst vorbei waren, als, dank Sigi Sommers originellen Geistesblitzen, dank „Hunters“ oder später Michael Gräters lokalen Ratschereien, dank witziger Karikaturen und Comics, die „Abendzeitung“ einem das Gefühl vermittelte, man könnte stolz darauf sein, als Münchener dazuzugehören. Heute dokumentiert die „Abendzeitung“ Münchener „Möchte gern“- Provinzialität, die, wie die schon lang nicht mehr authentischen Statements eines Herrn Hirnbeiss, allenfalls die Erinnerung an bessere Zeiten wahrt, während die „Bild“ immerhin vorgeben kann, dem Volk national aufs Maul geschaut zu haben.
Die notwendigen fünf Minuten waren noch nicht abgelaufen, als ich schon meinen Freund Paul, offenbar mich suchend, sah. Er ist circa ein Meter fünfundachtzig groß, hat beginnendes weißes, aber volles, noch blondes, links gescheiteltes kurzgeschnittenes Haar, ein ebenmäßiges, schönes Gesicht mit großen, blauen Augen, einer geraden Nase und breiten, sinnlichen Lippen. Er ist schlank und trägt eine randlose Brille, die sich dank des Sonnenscheines dunkel eingefärbt hatte.
Ich winkte, er bemerkte mich und setzte sich. „Ich freue mich. Wie geht’s?“
„Beschissen. Ich bin Opfer eines Gehirntumors und habe vielleicht noch drei Monate zu leben. Eine Operation ist nicht möglich. Noch kann ich denken, reden, mich bewegen. Das wird sich jedoch bald ändern. Ich weiß es seit gestern. Doch wollte ich unser Treffen dennoch wahrnehmen.“
5
Eine mögliche Variante zu beginnen, könnte so formuliert werden:
Als Realist war sich Paul Poth klar, dass er gelebt hatte, dass vor ihm eine dem reinen Überlebenswillen geschuldete, an sich sinnlose medizinisch indizierte Prozedur des Hinauszögerns des Todes durch Maßnahmen wie Bestrahlung, Chemotherapie und Medikation lag. Der verzögerte Exitus sollte sich auch möglichst schmerzfrei einstellen.
Dies war unvermeidlich und letztlich in den jeweiligen Schritten zwar nicht im Detail, aber doch im großen Ganzen vordefiniert. Was Paul Poth aber noch wollte und dies war der Akt der Freiheit, dies konnte er noch entscheiden und sich bewusst machen: Er wollte für sich klären, wie er gelebt hatte. Was hatte er richtig gemacht, was hatte er recht gemacht, was war unvermeidlich, was wäre, bei anderer Entscheidung seinerseits, vielleicht anders gegangen.
Er wollte sterben in dem Bewusstsein, nicht nur äußerlich testamentarisch seine Angelegenheiten geregelt zu haben, sondern sich selbst über sein Leben Rechenschaft abgelegt, sozusagen das Jüngste Gericht für sich vorgezogen zu haben.
Um dies zu realisieren, wandte er sich an mich, seinen ältesten Freund, um ihm als Sparringspartner oder als Therapeut gegenüberzustehen. Lange Zeit hatten wir als
Abiturienten und beginnende Studenten, anstatt früh schlafen zu gehen, darüber diskutiert, ob es das richtige Leben im falschen gäbe und wenn, wie ein solches zu formulieren wäre.
Wir verabredeten uns in meiner Kanzlei. Wir setzten unsere Gespräche auf mindestens dreimal wöchentlich, außer samstags und sonntags, um jeweils 17.00 Uhr fest und gaben uns maximal drei Stunden pro Tag.
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Allen Potentialitäten zum Trotz muss doch eine Entscheidung, und die ist frei, zur Realität führen, in diesem Fall zum konkreten Beginn:
Südlich von München liegt, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft und vor sich in einigem Abstand, daher keineswegs erdrückend und einengend, die Nordalpenkette, der Starnberger See, im Gegensatz zum Ammersee, dem Bauernsee, auch Fürstensee genannt.
Offiziell ist der Name erst seit 1962 gültig, so dass zu der Zeit, in welcher ein Teil unserer Geschichte spielt, Würmsee die amtliche Bezeichnung wäre.
Am Starnberger See liegt auch das gleichnamige Städtchen, jedoch kein Wald oder gar ein Schloss mit diesem Namen. Dagegen gibt es viele Villen und Landhäuser, die wohlhabende Bürger sich in unterschiedlichsten Stilformen seit Mitte des 19. Jahrhunderts überwiegend – damit der Bahnlinie folgend – auf dem Westufer des Sees errichtet haben.
Auf dieser Seite des Sees, am nördlichen Ende einer Einbuchtung findet sich der Ort Seeberg und eine dieser Villen, in denen die Großeltern Paul Poths in zweiter Generation, man kann zu Recht sagen, residierten.
Denn die Villa „Seeblick“ lag inmitten eines Parks, der doch, wie der Name schon sagt, den Blick sowohl auf den See wie auf die Alpen und zuvörderst die Zugspitze freigab. Sie war von einem Münchener Architekten neuklassizistisch gebaut, was heißt, dass Stilelemente vergangener Epochen eklektisch zusammengesetzt wurden. In diesem Falle aber durchaus nicht protzig, neureich, sondern zurückgenommen mit Gefühl für Stil und Geschmack.
Der Vater von Konsul Dr. Poth war Kunsthändler und hatte einen angesehenen Architekten der Münchener Szene beauftragt, ihm ein angemessenes Landhaus zu planen und zu realisieren – zwölf Jahre nach der Fertigstellung seines Stadthauses in der Brienner Straße, in dessen zweitem Stock nun mein Anwaltsbüro eingerichtet war, das als Treffpunkt des Sich Bewusstmachens des gelebten Lebens meines Freundes Paul Poth diente.
7
Ich sage Freund. Ja, Paul Poth war und ist mein Freund.
Freundschaft speist sich aus gemeinsamen Erfahrungen, wie der Schulzeit oder Studentenzeit.
Wir hatten schon als Kleinkinder zusammen gespielt, als Schüler in der Oberstufe, obwohl an verschiedenen Gymnasien und verschiedenen Orten uns von einem Studenten der Germanistik, Mitglied der Rotzeg, der sogenannten Roten Zelle Germanistik, gemeinsam in Dialektik – derjenigen von Hegel als notwendiger Vorläufer von Karl Marx – schulen lassen. Wir hatten verschiedene Fächer an verschiedenen Unis studiert, ich in München Jura und nebenbei bei den Jesuiten Philosophie, Paul in Frankfurt Philosophie und Volkswirtschaft, aber gemeinsam dieselben enttäuschenden Erfahrungen mit den Ausläufern der Studentenbewegung gemacht, um uns im amerikanischen Cambridge an der Harvard Universität wiederzusehen: Paul machte den Master of Business Administration, ich den Master of Laws, den Legum Magister, den LL.M.
Wir arbeiteten auch später beruflich zusammen, als Paul als operativer Manager bei einem LBO, also einem „Leveraged Buyout“ oder heute populärer, einer Heuschreckenübernahme, agierte und ich die notwendigen Verträge ausfertigte. Wir sind gegenseitig Paten unserer Kinder, ich habe Pauls Ehe geschieden und war ihm in dieser für ihn sehr schweren Zeit mit vielen ausführlichen Gesprächen gewiss eine Stütze.
Wir haben eine gemeinsame Lebensauffassung, oder genauer, Haltung. Wir verabscheuen jegliche aufgesetzte Attitüde, sei sie intellektueller, geschäftlicher oder privater Art. Insofern haben wir ein durchaus so zu bezeichnendes elitäres Selbstverständnis, dessen Charakteristikum es aber gerade ist, es nicht nach außen zu tragen. Gemeinsam können wir uns dann bestens amüsieren über die Eitelkeiten und aufgeblasenen Sprüche sogenannter Leistungsträger, deren Erfolg immer wieder verwunderlich erscheint.
All das genügt aber nicht für eine Freundschaft. Hinzu müssen intellektuelle Gemeinsamkeiten kommen, die wiederum aus den Studieninhalten stammen können, aber auch aus gemeinsamen Vorlieben für bestimmte Literatur, Kunst oder sonstiges.
In unserem Fall war es die Vorliebe für gewisse Romane. Paul und ich liebten Proust, Thomas Mann, Fontane, Flaubert, aber auch Musil, Joyce und nicht zuletzt die Lebensweisheiten eines Shakespeares.
Wir waren uns einig, dass von den aktuellen Autoren allenfalls Philipp Roth, trotz seiner uns beide störende „Sexsucht“, an diese heranreichte. Dass er noch keinen Nobelpreis erhalten hatte und ihm etwa die Österreicherin Jelinek vorgezogen wurde, hielten wir für einen Skandal.
Da wir beide ständig Bücher der genannten Autoren lasen, teilten wir uns bei regelmäßigen gemeinsamen Treffen immer wieder kleine Details mit, wie „Ich habe neulich in der ‚Gefangenen‘, dem 5. Band der ‚Recherche‘, einen Hinweis auf den möglichen Namen des Erzählers gefunden, indem Albertine unter der Prämisse dem Erzähler denselben Namen wie dem Verfasser zu geben, welch ironische Distanzierung, diesen ,Mein Marcel‘ oder ,Marcel Liebling‘ nannte“, oder „Was Fontane den alten Stechlin über das Telegraphieren sagen lässt, könnte man heutzutage auf die E-Mail Sucht anwenden:,Die feinere Sitte leidet ganz gewiss‘.“ Solche Hinweise gingen über in Diskussionen zu Fragen, wie generell geltende Wahrheiten von Romanen oder inwieweit der Roman oder die Kunst allgemein und nur diese gelebtes Leben verewige.
Wahre Freundschaft wird erst in fortgeschrittenem Alter bewusst. Mit dem Freunde konnte man Dinge besprechen intimster Art und war doch gesichert, dass die Kenntnisse weder im unmittelbaren Gespräch als Waffe, wie allzu oft in Liebesbeziehungen, noch im Bekanntenkreis als Geschwätz verwendet wurden. Durch gemeinsame Erfahrung und intellektuelle Übereinstimmung war man sich des Verständnisses gewiss. Schwach sich zu zeigen, ohne Stärke zu provozieren, ist Zeichen der Freundschaft, nicht der Liebe. Die Liebe ist, und das wusste Proust so viel besser als Adorno, besitzergreifend und als solche immer in Machtkämpfe verstrickt. Dem entgeht die wahre Freundschaft.
In unserem Fall waren wir uns auch einig in Grundansichten zur Philosophie. Ich teilte die Auffassung von Paul, der Philosophie akademisch mit dem Doktortitel abgeschlossen hatte, dass das alte Diktum von Seneca, die Philosophie verheiße dem Menschengeschlecht „Guten Rat“ nicht mehr gelte. Die Philosophie wolle Erkenntnis. Aber diese war für den Normalbürger heute nicht mehr philosophisch vermittelbar, was die Philosophen schon immer wussten, angefangen von Sokrates Wissen darum, dass er nichts wisse, bis zu Max Horkheimers Eingeständnis, dass derjenige, der zu Philosophieren beginne vor der Erfahrung nicht sicher sei, dass seine Unternehmung widersinnig sei.
Was ist das aber für ein Rat an die Menschheit: Wir wissen nichts und unsere Aussagen sind widersinnig. Daher käme es nach unserer Überzeugung heute den großen Romanschriftstellern zu, in ihren Romanen Handlungsmodelle und damit auch Rat darzutun, ohne mit gehobenem Zeigefinger abstrakte Vorstellungen zu vermitteln und ohne auf die Schwierigkeiten und Widersprüche, die nun einmal menschliches Dasein impliziere, zu verzichten. In der Auseinandersetzung mit gelebtem und in Romanform dargestelltem Leben könne das moderne Individuum für seine individuelle Lebensform Anschauung und damit Rat erfahren.
II
8
„Wenn ich an meine Kindheit denke, dann denke ich an Seeberg“, begann Paul, „obwohl meine Eltern ja in Schwabing wohnten und ich dort viel mehr Zeit als in Seeberg bei meinen Großeltern verbrachte. Woran mag dies liegen?“
Wir saßen uns in bequemen Ledersesseln gegenüber, jeder ein Glas Mineralwasser vor sich.
Ich blickte auf Paul und vergegenwärtigte mir, wie ich ihn, beide waren wir vielleicht vier- oder fünfjährig, das erste Mal sah. Meine Eltern und seine Großeltern waren Nachbarn.
Es war im Frühling, ich glaube, es war April. Wir hatten Föhn. Auf den Bergen, deren Spitzen sich gelegentlich in flache, sich weit in den Horizont hinziehende Wolken auflösten, war der Schnee im Rückzug, was trotz der Klarsicht im Einzelnen nur deutbar, nicht ausdrücklich ersichtlich war. Das Singen der Frühlingsvögel, das, Wunder der Natur, völlig unabgestimmt ein melodisches Konzert ergibt, wurde immer wieder kontrastiert durch fernes Flugzeugmotorengeräusch, gelegentliches Läuten der tiefen Glocke der Kirche von Seeberg und manchem, eher fernen Motorenlärm, der daran erinnerte, dass Arbeitstag war. Die Magnolien des Baumes vor dem Haus waren im Aufspringen für die Jahreszeit Mitte April eher spät und damit dokumentierend, dass der Winter sich nur zäh verabschiedet hatte. Die Tulpen in rot, gelb, lila blühten wild aus der schon grünen, dank der Gänseblümchen weiß eingesprenkelten, gelegentlich durch Anemonen blau dekorierten Wiese und gezähmt und geordnet im Beet. Auch die goldgelben Narzissen präsentierten ihre trompetenförmigen Blüten inmitten ihrer straffen, linealen Blätter. Den Apfelbäumen sah man an, dass sie es alsbald den roséfarbenen wilden Kirschblüten nachtun wollten. Manch fliegendes Getier wurde von dem nach den vergangenen kalten jetzt überraschend warmen Tag erweckt.
Wir begegneten uns am Gartenzaun.
Das Flirtverhalten von Erwachsenen lässt sich schon bei Kindern beobachten: Ein flüchtiger Blick, die Feststellung, dass auch das Gegenüber einen Blick riskiert hat, ein aufmunterndes Kopfnicken, dann ein Hallo, ein paar unverbindliche Worte, der Abschied. Das nächste Mal: Ein schon verbindlicheres Hallo, man kennt sich ja schon, dann die ersten Markierungen, man signalisiert Interesse, aber das Gegenüber solle ja nicht meinen, dass dies bedeute, man folge ihm nun bedingungslos, im Gegenteil man zeigt bald, dass man auch ohne ihn gut weiterleben könne, aber man kann es ja mal versuchen.
Wir trafen uns wiederholt am Zaun, nannten uns unsere Namen. Es wurde bald klar, dass Paul den riesigen Besitz seiner Großeltern eher herunterspielte, es war ihm peinlich, während ich – im Gegenteil – das durchaus nicht bescheidene, aber gewiss nicht so in sich schlüssige und stilsichere Haus meiner Eltern, deren Garten zudem deutlich kleiner war, herausstreichen wollte. Beide Besitztümer signalisierten doch einen Klassenunterschied etwa zwischen Adel, im Falle von Paul Geld- und Stil-Adel, und Bürgertum, in meinem Falle inkarniert in ein Anfang des Jahrhunderts erbautes Landhaus, das meine Eltern, bevor sie Anfang der fünfziger Jahre einzogen, von einem durchaus fundierten Architekten im damaligen zeitgemäßen Stil, gewiss schlüssig, aber eben eigentlich nicht zum äußeren Gesicht des Landhauses passend, innen neugestalten hatten lassen.
Stil und Geschmack, ein historisch gewordener Begriff, der, wie ein bedeutender Publizist meinte, erst sinnvoll mit der frühen Mitte des 19. Jahrhunderts zu verwenden ist, lassen sich nicht erlernen, aber auch nicht vererben. Sie müssen sich bilden, aktiv und passiv. Aktiv durch die intellektuelle Beschäftigung mit den stilbildenden Elementen, also dem Design, der Architektur, der Kunst. Passiv dadurch, dass man in einem entsprechenden Umfeld aufgewachsen ist, also in einer Atmosphäre, in denen die Einrichtung, die Essgewohnheiten, der Umgang, die Kleidung, kurz die sogenannten Äußerlichkeiten, das Umfeld, das Ambiente stilvoll ist, in der die Frage des Stils und des Geschmacks Wichtigkeit haben und auch diskutiert werden. Wer nicht so aufgewachsen ist und später, aus welchen Gründen auch immer, danach strebt, Stil und Geschmack zu demonstrieren, dessen Stil und Geschmack erscheint nur allzu oft aufgesetzt, von Dritten, manchmal auch durchaus guten Beratern, geprägt. Er hat es eben nicht im Blut. Umgekehrt ist derjenige, der stilvoll aufgewachsen ist und dies später vernachlässigt, sei es, dass er schlechte Erinnerungen an den Geschmack der Eltern hat, der häufig mit offenbaren menschlichen Stillosigkeiten korrespondiert, oder sei es einfach aus Bequemlichkeit oder wegen anderer Lebensprioritäten, wenn er dann gefordert wird, oftmals nicht in der Lage ist, sich mit Stil und Geschmack einzurichten oder zu kleiden.
Der Klassenunterschied unserer Eltern wurde uns Kindern jedoch eher bewusst durch Bemerkungen unserer Eltern über die jeweiligen Nachbarn und durch eigene Beobachtungen über deren Verhalten auf Einladungen.
9
Pauls Großvater war Kunsthändler in dritter Generation, er hatte nebenbei eine Möbelfabrik aufgebaut, entsprechend dem Wunsche seines Vaters Kunstgeschichte studiert und mit einer Arbeit über Bronzino promoviert. Er war in dem Stadthaus in der Brienner Straße und nach der Scheidung seiner Eltern in der Landvilla in Seeberg, bald im Internat in Ettal aufgewachsen. Seine Mutter war schon Ende dreißig, als er geboren wurde. Beide Eltern starben, als er kaum zwanzig war und seine siebzehn Jahre ältere Schwester, die unverheiratet geblieben war, bemühte sich, ihn auf den, ihrer erzkatholischen Ansichten nach, rechten Weg zu bringen. Dank seiner Herkunft, seiner Ausbildung, seines Berufes, aber auch persönlicher Interessen und seines Intellektes war Pauls Großvater prädestiniert über Stil und Geschmack Werturteile abzugeben und tat es auch. Er hatte ererbtes Vermögen, beruflichen Erfolg und sah gut aus. Er nutzte diese Eigenschaften auch aus, um sich die erotischen Genüsse zu verschaffen, die er meinte, sich zubilligen zu sollen, gleichwohl eine stets wiederholte Erkenntnis seinerseits war, dass das Leben mehr sei als uns Artur Schnitzler in seinem „Reigen“ suggerieren wolle, mehr als das immerwährende Streben nach sexueller Befriedigung, die dann doch nur kurzfristig eine wäre und sich in der immerwährenden Wiederholung des Ewiggleichen am scheinbar nur unterschiedlichen Objekt erfülle. Konsul Poth bekundete damit die Kenntnis von Schnitzlers Theaterstück, obwohl er ansonsten der Theaterkunst nichts abgewinnen konnte. Von den Künsten liebte Poth einzig die darstellende Kunst wirklich, Musik lediglich eingeschränkt, mehr die intelligenten Libretti wie „Cosi fan tutte“, vielleicht auch weil das Libretto von da Ponte dem Rationalismus, der Aufklärung zumindest äußerlich, verpflichtet ist: Eine Hypothese soll durch ein Experiment verifiziert werden, obwohl diese dann radikal in Frage gestellt, da das Ende allgemeine Ratlosigkeit ist und Mozart keinen Kommentar gibt, vielmehr höhnisch dem Publikum abschließend empfiehlt, sich vernünftig zu verhalten – ganz dialektisch das achtzehnte Jahrhundert zusammengefasst und aufgehoben.
Literarisch bevorzugte er Fontane und in der Philosophie Seneca und Montaigne, also Philosophen, die die Schulphilosophie als solche nicht anerkennt. Er begründete seine Vorliebe für Seneca und Montaigne damit, dass deren Philosophie Anweisungen zum richtigen Leben gäben. Die Philosophie müsse einen praktischen Bezug haben, sonst wäre sie L’art pour l’art, was allenfalls in der Kunst akzeptabel sei. Seneca wie Montaigne genügten diesem Anspruch, so dass normal gebildete Akademiker sie auch verstünden.
Er hatte eine ausführliche humanistisch klassische Bildung in der Klosterschule Ettal gemeinsam mit seinem Schulkamerad Dr. Müller genossen, die ihm zeit seines Lebens präsent geblieben ist. Ihm waren somit nicht nur die Götter und Dramen der Griechen bekannt, sondern auch die wesentlichen Aussagen der klassischen deutschen Philosophen wie der Dichter und Romanciers, deren Kenntnis ein bürgerlicher Bildungskanon im besten Sinne des Wortes verlangte. Durch den regelmäßigen Umgang mit seinem Freunde Dr. Müller erweiterte er auch sein Wissen um Autoren, die zu seiner Schulzeit noch keine Klassiker waren, wie Thomas Mann.
Für mich als Kind, noch vor meiner Bekanntschaft und späteren Freundschaft mit Paul, galten die Poths als eine sowohl mit Ehrfurcht als auch mit Vorsicht, zu behandelnde Familie. Gefürchtet war Konsul Poth wegen seiner offen zur Schau getragenen Arroganz.
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Für Paul war die Arroganz seines Großvaters, die sich sowohl auf die intellektuellen Defizite anderer, aber auch deren lächerliche Bemühungen durch gekaufte Architekturleistungen oder angelesene Bemerkungen Eindruck zu machen, bezog, eher unangenehm.
Konsul Poth hatte wenig Hemmung sein Wissen, das eigentlich nur ein Halbwissen war, was den gänzlich Nichtwissenden seiner Umgebung jedoch verborgen blieb, im Gespräch herauszukehren. So benutzte er gewisse Lebensweisheiten durchaus der jeweiligen Situation angepasst, meist in Latein wielonga est vita, si plena est, wenn sich seine Frau wieder einmal ein möglichst langes Leben wünschte oder wies einen allzu forschen Neureichen sanft zurecht mit dem Spruch:Maiore tormento pecunia possidetur quam quaeritur. War Dr. Müller bei einem derartigen Gespräch anwesend, konnte es durchaus vorkommen, dass er den lateinisch Zurechtgewiesenen noch weiter demütigte, was diesem aber ebenso wenig bewusst wurde wie seine Zurechtweisung, die er nicht verstanden hatte, indem er an Dr. Müller gerichtet sagte: „Lieber Jakob, ich werde immer wieder an unseren guten alten Fontane erinnert, der über seinen Pastor Lorenzen im Gespräch mit Melusine die Weisheit von dem Schlossherrn und dem Leineweber uns nahegebracht hat.“ Dr. Müller lächelte ebenso wie der parvenühafte Gesprächspartner, der sich nicht nachzufragen getraute, um nicht vermeintliche Bildungslücken zu offenbaren und natürlich nicht im entferntesten ahnen konnte, dass im ‚Stechlin‘ davon die Rede war, dass man früher dreihundert Jahre Schlossherr oder Leineweber gewesen, während heutzutage jeder Leineweber eines Tages Schlossherr sei. Poth liebte es den Snobs zu erklären, woher der Begriff Snobismus kam: „Es ist schon interessant, wie sich Begriffe im Sprachgebrauch durchsetzen. Welcher Snob weiß heute noch, dass der ihn bezeichnende Begriff vonsine nobilitas, also ohne Adel, stammt, in englischen Privatschulen für Schüler verwendet, die nicht wegen ihrer Vorfahren aufgenommen wurden, sondern weil sie begabt, meist aus bescheideneren Verhältnissen kamen und ihre Ausbildung an teuren Eliteschulen Stipendien verdankten. Diese Snobs ahmten in Stil, Sprache und Umgangsweisen ihren privilegierten Kameraden besonders nach. „Aber trösten Sie sich“ – der Angesprochene fühlte sich eigentlich gar nicht als Snob und insofern auch nicht angesprochen –, „der Snobismus ist insofern heute“, und er wendete sich mit einem verschmitzten Lächeln an Dr. Müller, bevor er den Snobverdächtigen weiter belehrte, „gesellschaftlich gefordert, wenn auch zuzugeben ist, dass man kaum mehr die Privilegierten findet, denen nachzuahmen wäre, darum wird das imitiert, was man sich vorstellt, dass die vermeintlich Privilegierten vormachen könnten.“
Konsul Poth zitierte ungeniert einem formellen, langweiligen Gesprächspartner, einer angesehenen, aber häßlichen älteren Dame oder einem gesellschaftlichen Schwätzer gegenüber die Lebensmaxime Montaignes, der bevorzugte, zur Tischgemeinschaft lieber den Witzigen als den Bedächtigen, zu Bett lieber die Schönheit als die Tugend und zur Gesprächsrunde lieber den Sachverstand, selbst wenn es ihm an Redlichkeit fehlen sollte, zu laden.
Demjenigen jedoch, der des Öfteren an gesellschaftlichen Konversationen von Konsul Poth teilgenommen hätte, was allerdings, auch weil Poth solche Veranstaltungen, gleichgültig ob privater oder öffentlicher Natur möglichst mied, eher selten vorkam, hätten solche Aussprüche, da allzu oft präsentiert, was wiederum daran gelegen haben könnte, dass die gesellschaftlichen Gesprächspartner von Poth oft neureich waren, dann doch ein wenig abgeschmackt und allzu dünkelhaft erscheinen müssen. Offenbar hatte Poth die Gesellschaft, die er verachtete, doch notwendig, um sich selbst seiner Überlegenheit gewiss zu sein. Konsul Poth wirkte jedenfalls sehr gebildet und galt als solcher, was er relativ gesehen auch war.
Er erschien arrogant, unnahbar, aber für die gehörnten Männer gefährlich charmant, wenn es darauf ankam. Zumal er seinen Wahlspruch „Nicht, weil es schwer ist, wagen wir’s nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer“ an mancher Frau der weiteren Bekanntschaft, jedenfalls in der ersten Hälfte seines Manneslebens, verifizierte.
Die Arroganz Konsul Poths fühlte Paul daran, dass Herr Dr. Poth ernsthaft eigentlich nur mit dem Jesuitenpater Dr. Müller sprach, mit seiner Frau, Pauls Großmutter, nur ein wenig Banalitäten austauschte, und an den meist abschätzigen Bemerkungen, die er über die Gästeliste seiner Frau bei von dieser so geschätzten Einladungen machte. Bei derartigen Veranstaltungen, die er so gering wie möglich zu halten gedachte und die sich im Laufe der Zeit verflüchtigten, und bei den folgenden Gegeneinladungen, zu denen er seine Frau nur allzu oft mit der Ausrede unaufschiebbarer beruflicher Verpflichtungen alleingehen ließ, unterhielt er sich in der Regel nur mit dem Jesuitenpater über Themen, die den sonstigen Gästen wenig vertraut waren.
Paul, der öfter bei solchen Empfängen, die häufig Mittagseinladungen waren und sich in den Nachmittag hinzogen, dabei war, meistens von der Großmutter, stolz den weiblichen Gästen präsentiert, an der Hand gehalten und auf deren Sitz gezogen, nahm zwar nicht bewusst die Worte wahr, wenn sich sein Großvater darüber erregte, dass der von Dr. Müller, nicht nur wegen des Naphta im Zauberberg Thomas Manns, und trotz des konträren materialistischen Ansatzes, durchaus geschätzte und als solcher zitierte Georg Lukacs die Dichotomie von Natur und Geschmack in Fontanes Werk zu erkennen glaubte. Für Paul waren es unverständliche Worte, wenn sein Großvater äußerte, dass derartige Germanistik lächerlich sei, zu nichts gut. als sich um selbstgestellte Probleme, die gar keine sind, zu drehen, wie die offenbare Attitüde von Lukacs, alles nach ideologisch vorgegebenem Raster zu beurteilen gleich dem Dr. Müller, dem Jesuiten, nur aus anderer Sicht. Paul hörte seinen Großvater von Mozarts ‚Zauberflöte‘ als Beweis dafür schwärmen, dass Kunst und Aufklärung keine Antipoden seien, was doch auch gerade Kant dargetan habe, wie Dr. Müller ergänzte und Konsul Poth in seiner Attitüde bestärkte, indem er den Königsberger für seinen Satz rühmte, Geschmack sei das Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen. Poth konnte konstatieren, dass Geschmack eben nicht nur L’art pour l’art sei. Stil sei die Haltung, die Geschmack in Taten manifestiere, in der Malerei mit am eindrucksvollsten von dem Florentiner Bronzino verwirklicht.
Paul verstand die einzelnen Worte nicht, aber er verstand die Gesten, den Duktus und hörte immer wieder Geschmack, Stil und er sah die Blicke von Dr. Müller und seinem Großvater, wenn einzelne Gäste es wagten, in deren Konversation einzugreifen, Allgemeinbildung demonstrieren wollten und etwa meinten, „Fontane, ah ja, ein weites Feld“ oder von Mozarts ‚Zauberflöte‘, „ja, ja, die habe ich bei den Salzburger Festspielen irgendwann in den dreißiger Jahren gehört, ich mag ja Opern eigentlich nicht, aber die war wirklich niedlich. Hieß nicht ein Paar Papa irgendetwas?“, oder bei Kant in Erinnerung an ihren Schulunterricht etwas von „meinem gestirnten Himmel über mir und das Sittengesetz in mir“ murmelten.
Paul nahm auch wahr, wie sich die Gäste dann doch etwas pikiert abwandten, immerhin aber die Lektion gelernt hatten, künftig die Gespräche mit Pauls Großvater auf belanglose Begrüßungs- und Verabschiedungsfloskeln zu reduzieren und bei Gegeneinladungen ihren Gattinnen äußerst beflissentlich versichern zu lassen, dass es ganz und gar nichts ausmache, wenn Frau Poth allein käme, da diese wieder einmal darauf hingewiesen hatte, für ihren Mann wegen dessen doch so sprunghaften Geschäftsterminen nicht verbindlich zusagen zu können.
Der Lehrmeister war, durchaus in der Tradition seines Ordens, Dr. Müller, der völlig mit Pauls Großvater für alle deutlich hörbar darüber übereinstimmte, dass die Schlimmsten die Halbgebildeten seien – „Schrecklich wie ein Katarrh“, unterbrach der Konsul augenzwinkernd Fontane zitierend –, die überall mitredeten, ohne zu wissen, wovon sie sprachen, die mit ihrer Kartenspielerintelligenz, die durchaus dafür ausreichte, sich genügend Mittel für eine gutbürgerliche Existenz zu verschaffen, meinten, alles sei käuflich und es reiche, Schlagworte zu repetieren, was in der Regel in ihren Kreisen auch genügte, da ohnehin sich das Wissen auf Zeitungsüberschriften beschränkte und schon derjenige als gebildet galt, der wusste, dass Fontane mit Vornamen Theodor hieß, Mozart, obwohl manche Opern in Italienisch gesungen wurden, Österreicher war oder Kant Ende des 18. Jahrhunderts in Königsberg lebte.
„Wenn sie sich wenigstens die Weisheit des Wiener Philosophen, von dem sie sicher noch nichts gehört haben und dessen tieferen Sinn sie sicher nicht verstehen würden, wörtlich nehmen würden: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Nebenbei bemerkt möchte ich dir aber sagen, dass ich wohl weiß, dass dieses Dictum auf den genannten Sachverhalt nicht passt, sondern was ganz anderes meint. Du lehnst“, fuhr er an Dr. Müller gewandt fort, „diesen Leitsatz des Positivismus als gänzlich unphilosophisch gewiss ab, da, wie ein bekannter gegenwärtiger Philosoph meint, Philosophie mit dem zu tun hat, was nicht in einer vorgegebenen Ordnung von Gedanken und Gegenständen seinen Ort hat. Du nennst es Theologie. Ich ziehe praktische Philosophie, die für das konkrete Leben verwendbar ist, vor und so halte ich es mit Wittgenstein, dessen Aufforderung man durchaus auch als Motto für Einladungen ausgeben sollte. Die Folge wäre, dass sich das Gespräch reduzierte auf vorsichtig formulierten Klatsch, der Wiederholung offenbarer Gewissheiten, wie ‚Heute regnet es schon wieder‘ oder der Formulierung von Tautologien, wie ‚In den Stoßzeiten am späten Nachmittag sind die Straßen fürchterlich verstopft und es ist kein Fortkommen‘. Aber lieber Banalitäten als aufgeblasene Pseudoerkenntnisse.“
Bei diesen gelegentlichen Einladungen waren auch meine Eltern anwesend. Da sie Nachbarn waren, hatte sich Paul auch schon ein Bild über meine Eltern gemacht. Denn der einzige Genuss von Pauls Großvater an diesen Einladungen war es, nach dem Ende, während die Dienstboten abräumten, sich mit Dr. Müller in die Bibliothek zurückzuziehen und dort die einzelnen Personen zu charakterisieren. Paul durfte die silberne Zigarrenkiste holen und während er, was er liebte, die Zigarrenspitzen abschnitt, hörte er bald im wohligen Rauch der Zigarren, die – im Gegensatz zu den hektischen Zigaretten – ihm vielleicht deshalb immer Kultur, Lebensstil bedeuteten, seinen Großvater von meinen Eltern, den Nachbarn reden. „Die deutschen Juristen könnten, im Gegensatz zu ihren anglikanischen Kollegen, die doch nur Präzedenzfälle nachbeten, dank des BGB auch etwas von Logik verstehen, würde der Verdacht, sie haben sich im wahrsten Sinne des Wortes die Regeln nur eingepaukt, was allemal reicht, die Examina zu bestehen, sich nicht allzu oft bestätigen. Dies vermute ich auch bei unserem Herrn Nachbar, der geschäftstüchtig, wie er ist, das Haus der Witwe Stiegler abgehandelt hat, um es sofort modern um- und auszubauen. Er ist einer dieser Anwälte, die es nicht verwinden, dass unsereins zu deutlich zu verstehen gibt, dass man nicht Jurist ist, sondern sich Juristen hält und sich dadurch rächen, dass sie überhöhte Rechnungen stellen, die ohnehin keiner nachprüfen kann. Schlimmer finde ich aber dieses neureiche Gehabe, wenn man schon ein Landhaus der Jahrhundertwende einer alten Frau günstigst abschwatzt, es dann protzig mit Marmortreppen, -toiletten und -bädern verziert, mit albernen barbusigen Skulpturen, extra angefertigten Leuchten, die im Einzelnen durchaus ihren Reiz haben, von einem Architekten aushöhlen zu lassen, der durchaus Stil im Detail hat, dessen Werk in der Summe jedoch grotesk ist. Möglicherweise, was aber keinesfalls eine Entschuldigung ist, denn bloße Duldung exkulpiert nicht – das hören wir doch ständig angedenk unseres großen ehemaligen Führers – hat er aber einfach seine Frau machen lassen und der Architekt hat sich verwirklicht. Unser Nachbar hat seine Kanzlei von seinem Vater übernommen, der vor kurzem gestorben ist. Er war einer der überzeugten nationalsozialistischen Juristen, die sich nach 1945 an nichts mehr erinnern konnten, den juristischen Sachverstand und damit ihre Pfründe nahtlos ins demokratische Nachkriegsdeutschland tradierten. Der Sohn hat sich ins gemachte Nest, sprich Kanzlei gesetzt. Ich hatte Dreiunddreißig ja auch Hitler gewählt und dies meiner Mischpoke auch vorgegeben: Jetzt wählen wir mal den Kerl, vielleicht wird es besser. Und es wurde ja auch besser. Aber mir war immer unverständlich, wie intelligente Leute an den Unsinn glauben und dem Gebrüll irgendeinen Sinn abgewinnen konnten. Und dann die Geschichte mit den Juden.“
„Du musst aber zugeben, dass du geschäftlich durchaus davon profitiert hattest“, fiel Dr. Müller ein.
„Klar, aber ich habe meinen jüdischen Kollegen frühzeitig geraten, ins Ausland zu gehen und ihnen immer Marktpreise gezahlt. Schließlich war ein allerdings konvertierter Jude Taufpate meines Sohnes. Heute mache ich mit ihnen im Ausland wieder beste Geschäfte. Nun kommt mir meine damalige korrekte Haltung zugute. Die Schlauen sind ja auch rechtzeitig abgehauen. Die dümmsten waren eigentlich die Deutschnationalen, die dachten, so was tun doch die Deutschen nicht. Auch Nachbars Vater, ein frühes Mitglied der SS, war geschockt, als er des Massakers an seinen SA-Kollegen gewahr wurde. Im Übrigen hat sich die katholische Kirche auch nicht mit Ruhm bekleckert.“
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Mein Eindruck von den Poths kam ganz anders zustande. Meine Eltern waren nach dem Erwerb und den Umbau des Hauses neu nach Seeberg gezogen. Es war die Aufgabe meiner Mutter, in dem gemeinsamen Bestreben, möglichst bald in den besseren Kreisen Seebergs aufgenommen zu werden, diese Kreise einerseits zu identifizieren und andererseits die entsprechenden Kontakte zielgerichtet herzustellen. Der jeweilige Fortschritt wurde sonntags am Frühstückstisch besprochen. Dabei wurde die Nachbarschaft mit den Poths als in doppelter Hinsicht bedeutungsvoll erkannt. Die Poths hatten das größte Anwesen in Seeberg. Sie gehörten daher per se zu den sogenannten Besseren und die Kontaktaufnahme war durch die Tatsache der Nachbarschaft erleichtert. Anlässlich des Hauskaufes stellten sich meine Eltern bei den Poths vor, da sie es angemessen fanden, diese über den umfangreichen Um- und Ausbau zu informieren, zumal es dazu auch der Nachbarschaftsunterschrift, die ohne irgendein Zögern problemlos geleistet wurde, bedurfte.
Ich machte mir daher so früh eine Vorstellung von Herrn Konsul Poth, ein Bild, wie man sich Bilder von Dichtern macht, deren Bücher man gelesen hat. Manchmal treffen sie zu, manchmal ist man enttäuscht, hat sich den Dichter ganz anders vorgestellt. Es passt Verlaines grobschlächtiges Gesicht, das auf dem Gemälde von Vallotton abgebildet ist, so gar nicht zu dem Dichter, der den vertrauten Traum („Mon rêve familier“) von der unbekannten Frau, nie die gleiche, die ihn liebt und versteht, besingt:
«Je fais souvent ce rêve étrange et pénétrant
D’une femme inconnue, et que j’aime, et qui m’aime,
Et qui n’est, chaque fois, nià fait la même
Ni tout à fait une autre, et m’aime et me comprend.»
Andererseits sieht man Marcel Proust seine verklemmte Geschraubtheit und Sensibilität ebenso an wie Thomas Mann dessen Komplexität und Selbstbewusstsein („Wo ich bin, ist die deutsche Literatur.“), Fontanes Altersweisheit und Milde, wie Musil dessen Bosheit, Flaubert seine Süffisanz, Joyce seine Intellektualität und Philipp Roth seine Altersgeilheit. Oder identifiziert man, weil man die Gesichter kennt, beim Lesen die Gesichter mit gewissen Charakteristika der Bücher und legt so diese in die Gesichter?
Ich jedenfalls hatte von Dr. Poth eine Vorstellung schon lange, bevor ich ihn sah. Die Vorstellung wurde von der äußeren Erscheinung durchaus bestätigt. Herr Poth war groß, er hatte kaum mehr Haare, einen kleinen Schnurrbart, eine schöne attische Nase, volle Lippen, starke Augenbrauen, große, länglich ausgerichtete Augen und ein markantes Kinn. Auffällig waren seine großen, aber weichen Hände. Herr Poth neigte zur Fülle, was seine Körperwucht noch betonte. Er hatte eine tiefe Stimme. Herr Poth war so für mich stets eine Achtung erheischende Persönlichkeit. Paul war das bewusst, und er war insofern stolz auf seinen Großvater.
Meine Eltern wurden jedesmal nur von Frau Poth begrüßt, und selbst für einen abendlichen Empfang anlässlich der Einweihung unseres neu gestalteten Hauses ließ sich Herr Poth entschuldigen. Allerdings hatte er Interesse an unserem Architekten, Herrn Steichlein, den Herr Poth zu sich bat, um ihm sein Anwesen zu zeigen und der, sozusagen im Gegenzug, unser Haus in Spezialführung Herrn Poth vorstellte. Dabei konnte Herr Poth es nicht unterlassen, trotz der Anwesenheit meiner Mutter, die aber das leichte entschuldigende Schulterheben von Herrn Steichlein nicht bemerkte, bei einigen Unschlüssigkeiten oder Geschmacklosigkeiten, wie einer aus dem Mauerwerk hervorspringenden Halbplastik über dem Kamin, einen flötenspielenden Schäfer mit einigen Schafen darstellend, darauf hinzuweisen, dass wohl das romantische Gemüt der Hausherrin Ursache solcher Darstellung sei. Er fügte hinzu: „Übrigens hörte ich neulich eine wirklich gute Definition von Kitsch: Die Verbindung von Süßlichkeit und Prätention, des Geschraubten mit dem Gewöhnlichen.“