Seelenfetzen - Traumtürchen Band 1 - Sandra Bollenbacher - E-Book

Seelenfetzen - Traumtürchen Band 1 E-Book

Sandra Bollenbacher

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Beschreibung

Zwischen Vertrauen und Verrat, Liebe und Freundschaft, Magie und Tod. Alex ist tot und es ist Bens Schuld. In einer Welt, in der Magie verboten ist und magische Wesen in den Untergrund geflüchtet sind, macht sich Ben auf die Suche nach den geheimnisvollen Magi, um mit ihrer Hilfe seine große Liebe zurückzuholen. Dafür muss er nicht nur ungewöhnliche Zauberzutaten stehlen und gegen Dämonen kämpfen, sondern sich auch noch vor den Magiejägern der Regierung verstecken, denn er befindet sich ausgerechnet in Iantos: In der von einer riesigen, unüberwindbaren Mauer umgebenen Hauptstadt wimmelt es nur so von Kontrolleuren der Regierung, deren Aufgabe es ist, mit ihren eisblauen Augen und ihrem eisernen Griff jede Maga und jeden Magus ausfindig zu machen, um sie ein für alle Mal zu vernichten. Vor die schwierigste Aufgabe stellt er sich allerdings selbst: seine eigenen Ängste zu überwinden und sich einem anderen Menschen anzuvertrauen. Doch wem kann er wirklich vertrauen? Dem grünhaarigen Rick mit dem stetigen Schmunzeln auf den Lippen oder dem verschüchterten Nyrcolas, der alleine mit seinem kleinen Drachen in der Kanalisation lebt? Und wie kann er verhindern, dass seine neugewonnenen Freunde sein eigenes, dunkles Geheimnis entdecken?

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Ähnliche


Sandra Bollenbacher

SEELENFETZEN

Für Luise und Johanna.

Ich wünschte, ihr hättet dieses Buch noch lesen dürfen.

1

Kapitel

Es war einer dieser nasskalten Januartage, an dem der Himmel das gleiche Grau angenommen hatte wie der Schneematsch auf den Straßen. Dieser wurde an den Winterschuhen der Passanten bis in die überheizten Züge der U-Bahn getragen und verführte nicht wenige Fahrgäste zum beliebten Ausrutschen- und-bloß-nicht-hinfallen-Tanz. Die geübtesten unter ihnen, die Profis, hatten ihre Choreografie in jahrelangem Training perfektioniert und nicht einmal ihr teilnahmsloser Gesichtsausdruck ließ den inneren Ehrgeiz durchblicken: Am besten tanzte man diesen alljährlichen Tanz nämlich dann, wenn niemand bemerkte, dass man es tat. Wer konnte, hatte sich einen der am frühen Abend raren Sitzplätze ergattert und entging so der Versuchung.

Mit einem leisen Zischen schlossen sich die Türen des Zugs und er setzte sich in Bewegung.

Auf einem Platz direkt neben der hintersten Tür saß ein junger Mann Anfang zwanzig. Niemand bemerkte ihn und auch er hatte, tief in sein Buch versunken, die Welt um sich herum ausgeblendet. Immer wieder fiel ihm sein dunkles Haar beim Lesen vor die Augen und alle paar Minuten, wenn er umblätterte, pustete er es geduldig aus seinem Sichtfeld.

Dann, nur für ein oder zwei Sekunden, wurde sein Blick leer, jede seiner Bewegungen stoppte abrupt und er schien vollkommen erstarrt.

Eins. Zwei. Drei.

Er riss Augen und Mund weit auf und holte laut keuchend Luft, ganz wie jemand, der fast ertrunken war und in allerletzter Sekunde die Wasseroberfläche erreicht hatte, um diesen tiefen, lebensrettenden Atemzug zu nehmen.

Hell, dunkel, hell, dunkel. Die ihn umgebende Welt bestand allein aus Licht und Schatten.

Dann Augen. Hunderte von Augen, die ihn anstarrten.

Gesichter.

Menschen um ihn herum, die ihn beobachteten; in ihren Blicken Überraschung, Ekel, Ärger, Angst.

Keine Geräusche bis auf ein lautes Ba-bumm-ba-bumm-ba-bumm.

Blut, das in seinen Ohren rauschte und jedes andere Geräusch außerhalb seines Körpers übertönte.

Der Zug hielt. Der junge Mann sprang auf, wobei das Buch von seinen Knien rutschte und auf den nassen Boden des Wagons fiel, und er kämpfte sich seinen Weg durch die Masse an Leuten, die ebenfalls aussteigen wollten.

Licht und Schatten, bösartige Blicke.

Ba-bumm-ba-bumm-ba-bumm schlug das Herz in seiner Brust.

Er erreichte eine glatte, kalte Wand, stützte sich mit einer Hand dagegen und übergab sich.

Sekunden vergingen, vielleicht Minuten. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag und seine Sinne nahmen ihren regulären Dienst wieder auf.

Lautsprecherdurchsagen.

Eilige Schritte, die an ihm vorbeigingen.

Der Geruch von nasser Kleidung, Parfum und Erbrochenem.

Plötzlich spürte er eine Hand an seiner Schulter und er fuhr herum, seine Pupillen weit, sein Blick gehetzt. Vor ihm stand eine ältere Frau, die ihn halb besorgt, halb ängstlich ansah.

»Alles okay?« Er starrte sie regungslos an. »Hier, du hast dein Buch fallen lassen.« Sie hielt es ihm entgegen, doch er schenkte dem Buch genauso wenig Beachtung wie ihren Worten.

Der Bahnsteig hatte sich zwischenzeitlich geleert und die U-Bahn fuhr ab. Bis auf zwei Männer, die an einem Snackautomaten standen, waren sie alleine.

»Ähm, also, dein Buch …«

»Wo bin ich?«

»N3b.«

»Was?«

»Nordviertel, Zone 3, Abschnitt b.«

»In Iantos?«

»… ja?«

»Fuck.«

Seine Knie fühlten sich an wie Gummi, als er sich an der Frau vorbeidrückte, welche ihm kurz nachstarrte, dann die Schultern zuckte, das Buch an ihrer Jeans abwischte und in ihre Handtasche stecke.

Seine Augen sprangen zwischen den verschiedenen Schildern und Anzeigetafeln hin und her, bis er fand, wonach er suchte, und er eilte den schmalen Gang entlang zu den öffentlichen Toiletten.

Jemand hatte den kleinen Spiegel über dem Waschbecken mit blutroter Farbe zugesprayt und der Korb für die benutzten Papiere quoll über vor lauter Müll. Der Behälter, welcher das Papier zum Trocknen der Hände beinhalten sollte, war allerdings leer, wie er feststellte, nachdem er sich das erfrischend kalte Wasser ins Gesicht gespritzt und den Mund ausgewaschen hatte. Sich Gesicht und Hände mit den unter der Lederjacke hervorgezogenen Ärmeln seines Pullis trocknend ging er in eine der Kabinen und schloss sich dort ein. Er klappte den Klodeckel zu, setzte sich darauf und breitete den Inhalt seiner Taschen auf seinem Schoß aus: Geldbeutel, ein benutztes Taschentuch, Schlüsselbund, Handy, Kunstlederhandschuhe und ein paar Minzkaugummis. Er steckte sich eins davon in den Mund und alles bis auf den Geldbeutel zurück in seine Taschen. Im Portemonnaie befand sich ein bisschen Münzgeld, eine Bankkarte, ein Ausweis (Ben Zutto, 22 Jahre, N4a) und ein Jahresticket für die städtische U-Bahn.

Als Ben wieder aus der Kabine trat, wäre er beinahe mit einem sehr großen, breit gebauten und komplett in schwarz gekleideten Mann zusammengestoßen.

»Sorry«, murmelte er und wollte sich an dem riesigen Kerl vorbeidrücken, doch dieser legte die flache Hand gegen Bens Brust und Ben erstarrte.

Diese Augen! Das Blau der Iris so hell … so kalt … doch Ben konnte nicht wegsehen. Es war, als würden diese eisigen Augen ihn einfrieren – und nicht nur ihn, sondern alles um ihn herum, selbst die Zeit. Wie lange mochten sie so gestanden haben? Zwei Minuten? Zehn? Ein paar Sekunden?

Schließlich ließ der Mann seine Hand sinken.

»Hab’ dich verwechselt«, grunzte er und ging Richtung Ausgang, wo ein zweiter, ebenso hünenhafter Kerl auf ihn wartete. Beide warfen dem Jungen über die Schulter hinweg einen langen, skeptischen Blick zu, dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und Ben war wieder alleine.

»Scheiße …«, keuchte er und taumelte zurück in die Kabine, wo er die Tür verriegelte und wieder auf den geschlossenen Klodeckel sank. Das Gesicht in den Händen vergraben saß er vornübergebeugt da und versuchte, sein nach der Schockstarre nun wie panisch schlagendes Herz zu beruhigen. Doch das war leichter gesagt als getan, denn auch seine Gedanken rasten wie wild in seinem Kopf herum.

Kontrolleure der Regierung.

Wo zur Hölle kamen die so schnell her?

Wissen sie es?

Haben sie mich erkannt?

Nein, wie denn auch.

Aber wieso dann die Szene eben?

Vielleicht war es auch nur ein dummer Zufall gewesen und der Kerl hatte, erschrocken, weil die Tür direkt vor ihm aufgegangen war, vorschnell und reflexartig reagiert.

Habe ich mich verraten?

Er hätte cool bleiben und einen frechen Spruch bringen sollen.

Nein, das hätte auch danebengehen können.

Aber jetzt waren sie ja weg und er in Sicherheit.

Vorerst …

Ben schnäuzte sich mit dem Toilettenpapier die Nase und verließ vorsichtig die Kabine. Ein junger Mann mit Kleinkind betrat den Raum, als Ben sich die Hände wusch, doch beachtete ihn nicht.

Wenig später stieg er die Treppen hinauf zur Straße. Es war bereits dunkel und die kalte Winterluft roch nach – Curry? Ben zog die Handschuhe an und die Mütze seines Hoodies über den Kopf, während er sich suchend umblickte. Er hatte keine Ahnung, wo genau er war, aber er wusste ganz genau, wo er hinwollte: Er brauchte unbedingt etwas zu essen, um die letzte halbe Stunde zu verdauen. Doch zuerst sollte er sich mit genügend Bargeld versorgen. Glücklicherweise war der nächste Geldautomat nicht weit entfernt. Ben schob die Karte in den Schlitz und presste seinen rechten Daumen auf den Scanner.

Ein kurzer Blick auf seinen Kontostand beruhigte ihn: Er würde das nächste halbe Jahr gut über die Runden kommen. Nachdem er sicherheitshalber die numerische PIN geändert hatte, die man noch an älteren Automaten oder online verwendete, hob Ben eine größere Summe ab und steckte die Scheine in seinen Geldbeutel.

Kurz sah er sich um, dann fädelte er sich in den Strom der vorbeigehenden Menschen ein und ließ sich bis zum nächsten Fast-Food-Restaurant treiben. Hinter der Kasse stand eine Frau – klein, kinnlanges, violettes Haar, dunkle Ringe unter den müden Augen – und ratterte zum tausendsten Mal an diesem Tag den Begrüßungsspruch herunter, bevor sie Bens Bestellung aufnahm. Zwei Burger, Pommes, Wasser. Mit Mayo, bitte. Ben beschwerte sich nicht, als er stattdessen ein Tütchen Ketchup aufs Tablett geklatscht bekam. Er bezahlte, bedankte sich lächelnd und nahm an einem gerade frei werdenden Tisch an der Fensterfront Platz.

Obwohl die Sonne bereits vor einer Stunde untergegangen war, erhellten die vielen Schaufenster und Laternen die breite Einkaufsstraße ausreichend. Ben ließ sich mit dem Essen Zeit, beobachtete die vorbeigehenden Leute und dichtete ihnen Geschichten an:

Eine Frau um die 40, langes, braunes Haar, dicke Mütze, grüner Wintermantel, warme Stiefel: Filialleiterin eines Kaufhauses; Mutter von drei Kindern; seit 22 Jahren mit demselben Mann zusammen; hat seit fünf Jahren eine Affäre mit einem Taxifahrer; befürchtet, dass ihre älteste Tochter sich von ihr entfremdet; liebt kleine Hunde, orientalisches Essen und das Gefühl frischbezogener Bettwäsche auf ihrer Haut.

Ein Mann über 60, kurzes, graublaues Haar, Ohren und Nase rot von der Kälte, Einkaufstüte am linken Handgelenk: hat nach der Arbeit noch ein paar Besorgungen gemacht und ist jetzt auf dem Heimweg; liebt seine Frau über alles; ihm wurde vor vier Jahren eine tödliche Krankheit diagnostiziert, doch er hat niemandem davon erzählt; kann seine Schwiegertochter nicht leiden, aber ist in seine zwei Enkel vernarrt; wollte früher Flugzeugpilot werden und hat den Traum, einmal ein Flugzeug zu fliegen, bis heute nicht aufgegeben.

Ein Kind, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, bunte Mütze mit Bommel, bunte Fäustlinge, dicke Daunenjacke, man kann nur die großen Augen und rosa Wangen erkennen: hätte gerne ein echtes Kaninchen zu Weihnachten bekommen, bekam aber nur eins aus Plüsch; will später entweder in einer Bücherei oder bei der Polizei arbeiten; hasst Erbsen; wird in 20 Jahren eine erfolgversprechende Karriere im Fernsehen wegen illegalen Drogenbesitzes aufgeben müssen.

Bens Blick schweifte weiter zum nächsten Passanten, wurde dann jedoch von einem goldenen Funken abgelenkt. Sofort saß er aufrecht und rückte näher an die Glasscheibe.

Konnte es wahr sein?

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, umringt von einem Dutzend Schaulustiger, stand ein großer, dürrer Mann. Sein Haar hing ihm in dünnen, silbrigen Locken ins Gesicht, doch vermochte nicht, seine Augen zu verdecken, die dunkel, doch voller Feuer zwischen den Haarsträhnen hervorblitzten. In ihnen spiegelten sich die orange-goldenen Flammen, die aus seinen Fingerspitzen schossen und zu Funken sprühenden Figuren heranwuchsen, nur um dann in Rauch zu verpuffen, bevor sie sich abermals entzündeten, um neue Bilder zu formen. Mal waren es Tiere (Kaninchen, Pinguine, Flamingos) oder Blumen, mal einfache Symbole oder Buchstaben. Ein kleines Mädchen schien ihm seinen Namen verraten zu haben, denn nun beugte er sich ein wenig zu ihm hinab und ließ nacheinander die Buchstaben M-A-E-L-A aufflammen.

Ben ließ die Pommes, die er sich gerade in den Mund stecken wollte, fallen, sprang auf und verließ im Eiltempo das Lokal. Als er die Straße betrat, entflammte ein paar Meter weiter die unverkennbare Silhouette Hamo Ponds über den Köpfen der Zuschauer, welche begeistert Beifall klatschten. Angelockt davon gesellten sich noch ein paar weitere hinzu und die eine oder andere Münze sowie ein paar Scheine fanden ihren Weg in den verfilzten, schwarzen Hut des Mannes. Ben schlängelte sich durch den unregelmäßigen Strom von Passanten, Einkaufstüten und Kinderwägen, um sich dem Publikum anzuschließen. Noch ehe er die andere Straßenseite erreicht hatte, erlosch jedoch schlagartig das Feuer, die Zuschauer stoben auseinander und verschwanden in der vorbeiströmenden Menge. Um herauszufinden, wer oder was diesen jähen Aufbruch verursacht hatte, musste Ben nicht lange suchen: Ein breiter Kerl hatte sich den Straßenkünstler geschnappt und drückte ihn, eine Hand auf die Brust des langhaarigen Mannes gepresst, mit dem Rücken gegen die Hauswand. Ben erkannte ihn sofort als den Kontrolleur wieder, dem er zuvor in der Toilette begegnet war.

Ben zögerte einen Augenblick, dann lief er in eine angrenzende Querstraße, von wo aus er eine bessere Sicht auf die beiden hatte, selbst jedoch vor den Blicken des Anzugträgers geschützt stand. Von hier aus konnte er das Gesicht des Straßenkünstlers deutlicher sehen: Ohne das funkelnde Licht der Flammen wirkte sein Haar nicht mehr silbern, sondern wie gewöhnliches, stumpfes Grau. Trotzdem sah er noch nicht besonders alt aus – vielleicht 40 oder 45, schätzte Ben. Noch immer wurde er von dem anderen gegen die Wand gedrückt; seine Fußspitzen vermochten kaum mehr den Boden zu berühren, doch zu wehren schien er sich nicht. Seine Arme hingen wie seine Beine schlaff an seinem Körper herab. Das Einzige, das nicht leblos war, waren seine Augen – ganz im Gegenteil: Sie sprühten nur so vor Energie und der dürre Mann erwiderte den starren Blick seines Angreifers ohne zu blinzeln. Ein, zwei Minuten veränderte sich nichts an der Szene, dann ließ der Mann im Anzug seine Hand von der Brust des anderen sinken und riss dafür dessen rechtes Handgelenk hoch. Kurz fischte er im Ärmel, dann zog er etwas heraus, das Ben nicht recht erkennen konnte, was sich jedoch eine Sekunde später als eine Art Hologramm-Feuerzeug entpuppte. Vor einigen Jahren hatte es einen kurzen Hype gegeben und man hatte sie an jedem Straßenkiosk kaufen können. Der Mann mit den langen grauen Haaren schmunzelte schief, als der andere ihn wütend ansah. Ob es dieses provozierende Schmunzeln war oder einfach dem Gemüt des Kontrolleurs entsprach – er warf das kleine Gerät auf den Boden und zermalmte es mit einem festen Tritt unter seinem Absatz. Nach einer drohenden Geste mit seinem dicken Zeigefinger nur Millimeter vor dem Gesicht des Straßenkünstlers ließ er diesen schließlich, wenn auch sichtlich ungern, gehen. Überrascht und verwundert zugleich über diesen glimpflichen Ausgang fragte sich Ben, ob der Grauhaarige doch nicht das war, wofür er ihn zuerst gehalten hatte, als der Mann plötzlich auf ihn zukam und in eben die Straße einbog, in der sich Ben versteckt hatte. Er schien nicht halb so verstört zu wirken, wie Ben sich nach seinem Zusammentreffen mit demselben Kontrolleur nur eine knappe Stunde zuvor gefühlt hatte – nein, er hatte sogar immer noch dieses herausfordernde Grinsen auf den Lippen. Kurz trafen sich ihre Blicke, dann ging der Mann an Ben vorbei und verschwand nach wenigen Metern in einem der zweigeschossigen Wohngebäude. Der Kontrolleur stand noch immer an derselben Stelle, die breiten Arme vor der Brust verschränkt, und starrte dem Straßenkünstler hinterher, als erwartete er, dass doch noch etwas passierte. Bevor er Ben entdecken und wiedererkennen konnte, bog Ben schnell um die Ecke und eilte im Schutz der anderen Passanten davon.

Es war kurz vor 23 Uhr, als Ben die Tür zu seiner Wohnung im 54. Stock eines der vielen Hochhäuser, die für Iantos’ mittlere Ringzonen 4, 5 und 6 charakteristisch waren, aufschloss. Seine Hand tastete im Dunkeln, fand den Lichtschalter und mit einem leisen Brummen leuchtete die Deckenleuchte auf – erst dunkel, dann immer heller. Die Wohnung bestand auf den ersten Blick nur aus einem einzigen Raum, der Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche vereinte. In der Mitte befand sich ein großer, rechteckiger Couchtisch aus dunklem Holz, davor, mit dem Rücken zur Tür, eine Zweiercouch und an der rechten Wand ein nicht gemachtes Bett. Links gab es eine kleine Kochnische und einen schmalen Gang mit zwei weiß lackierten Türen, die halb offen standen – das Badezimmer und eine kleine Rumpelkammer. Die Wände des Zimmers waren zugestellt mit Schränken, Regalen und Kommoden; die Wand gegenüber der Tür jedoch bestand aus einer einzigen, riesigen Fensterfront.

Ben warf seine dick gefütterte Lederjacke und zwei volle Einkaufstüten auf die Couch, schaltete das Licht wieder aus und trat an die bodentiefe Glasscheibe. Der Blick ging nach Süden, Richtung Stadtzentrum, und vor Ben breitete sich die Großstadt aus wie ein Meer aus funkelnden und blinkenden Sternen. Da der Nachthimmel bewölkt war, hatte es fast den Anschein, als würde man auf dem Kopf stehen und den Sternenhimmel unter sich, die Erde über sich haben.

Nachts und von einem so hohen Aussichtspunkt aus konnte man ganz deutlich die konzentrischen Kreise der Stadt erkennen: Zone 3, die direkt zu den Füßen des Wolkenkratzers begann, bestand im Norden größtenteils aus kleineren Wohnblocks sowie Schulen und Läden. Auf den flachen Dächern lag unberührter Schnee, dessen Weiß in der Dunkelheit eher einem dreckigen Grau glich. Im Ostviertel konnte Ben den großen Hafen erkennen und um ihn herum das Industriegebiet mit den säulenartigen Schornsteinen der Fabriken, die sich in den Himmel bohrten. Der Fluss Hroi zog sich wie ein schwarzes Band von Nordosten nach Süden durch Iantos, wobei er von Zone 8 bis 4 alle zweimal durchquerte und Zone 3 tangierte. In Zone 2 wurden die Wohnblocks zu Einfamilienhäusern, in Zone 1 zu Villen. Hier standen auch, ganz im Westen, das riesige Einkaufszentrum und das Stadion, welche aus dem dunklen Ring der luxuriöseren Wohngebiete wie zwei Supernovas hervorstachen.

Doch das war nichts im Vergleich zum Stadtzentrum: Obwohl es verhältnismäßig klein war und von einem dunklen Ring aus Parkanlagen umschlossen wurde, leuchtete es heller als alle anderen Lichter. Die majestätischen, weißen Gebäude der Regierung, der Justiz und der Nationalbank wurden nachts von großen Strahlern beleuchtet, die an besonderen Feiertagen in den Himmel gerichtet wurden, sodass Iantos’ Zentrum von der Ferne betrachtet an einen Pulsar erinnerte.

Nachdem er eine Weile am Fenster gestanden und auf das leuchtende Stadtzentrum gestarrt hatte, rieb Ben sich die Augen, schaltete das Licht wieder ein und sah sich um. Der Tisch war zum Großteil mit Chemiebüchern und losen, handschriftlich beschriebenen Seiten eines Notizblocks bedeckt. Über der Rückenlehne des Sofas und auf dem Bett lagen ein paar Klamotten, in der Spüle sammelte sich ein kleiner Berg benutztes Geschirr und auf dem Nachttisch stand eine noch halb volle Tasse Kaffee. Ben öffnete den Kühlschrank, holte eine angebrochene Leberwurst sowie zwei rote Paprikas heraus und warf sie in den Müll, dann räumte er die Lebensmittel, die er gekauft hatte, hinein. Die dreckigen Teller wanderten ebenfalls in den Abfall. Den Rest, so beschloss er, konnte er auch noch am nächsten Tag erledigen. Er war wahnsinnig erschöpft und langsam setzten die altgewohnten Kopfschmerzen ein. Nach einer ausgiebigen heißen Dusche ließ er sich kurz nach Mitternacht ins Bett fallen, doch trotz der starken Müdigkeit konnte er nicht sofort einschlafen. Vor seinen geschlossenen Augen tanzten die Feuerbilder des langhaarigen Mannes und wechselten sich mit den eiskalten Augen der Kontrolleure ab. Sie alle hatten sie, diese gruseligen Augen von einem so hellen Blau, dass es fast schon Weiß war. Wie spitze Eiszapfen bohrten sie sich in deine Seele.

Eisaugen.

Weshalb sie wohl alle solche Augen hatten, fragte sich Ben nicht zum ersten Mal, und drehte sich auf die andere Seite. Irgendetwas musste dahinterstecken, das war offensichtlich, doch was, das wusste niemand. Oder zumindest niemand, mit dem er darüber gesprochen hatte. Nicht, dass dies viele Menschen gewesen wären, oder dass er ihnen vertraut hätte. Vertrauen war etwas viel zu Kostbares, um großzügig verschenkt zu werden. Die letzte Person, der er wirklich bedingungslos vertraut hatte, war schon lange tot …

Andere Augen, Augen von einem dunklen Grün, verdrängten die Erinnerungen des Tages. Er konnte sie so klar und deutlich vor sich sehen, als säße die Person leibhaftig vor ihm.

Mit einem leisen, schwermütigen Seufzen verbannte er die aufkommenden Erinnerungen wieder weit, weit in die hinterste Ecke seines Bewusstseins, bevor sie ihn ganz einholen konnten. Wieder und wieder wälzte er sich von einer Seite zur anderen, bis seine Gedanken immer unzusammenhängender wurden und er endlich in den erlösenden Schlaf sank.

Er sitzt auf einer Wiese. Das Gras ist gelb und trocken, der Himmel rot. Ein Mädchen mit langen, geflochtenen Zöpfen und schwarzen Lackschuhen kommt lachend auf ihn zu gerannt und packt ihn bei der Hand.

»Komm mit«, ruft sie aufgeregt.

Er kennt sie nicht, hat sie noch nie gesehen, doch er weiß, dass sie seine Schwester ist.

»Wenn das wieder nur ein Trick von dir ist, sag ich’s dem Zebra!«, erwidert er mit einem Grinsen und rennt ihr nach.

Sie kommen an einen Fluss, der rückwärts fließt, und er tritt an die Tafel. Er will den Satz, den er sich auf dem Weg dorthin im Kopf immer und immer wieder vorgesagt hat, anschreiben, aber die Kreide ist nass und malt nicht richtig.Er bekommt Angst, dass die Lehrerin ihn darum von der Schule schmeißt. Irgendwo klopft es. Seine Schwester reißt ihm das große Weihnachtsgeschenk aus den Händen und rennt damit in ihr Zimmer, doch das ist ihm egal, denn Kuchen schmeckt ihm sowieso viel besser. Wieder klopft es, dieses Mal etwas lauter. Der Fluss ist stehengeblieben. Vorsichtig öffnet er die Tür des Klassenzimmers und tritt hinaus in den Flur. Er ist lang und dunkel und es riecht nach Bratkartoffeln. Erfolgt dem Klopfen. Der Fluss fließt den Gang entlang und treibt ihn sachte vorwärts. Das Wasser ist nicht tief, doch die Strömung stark. Er muss aufpassen, dass er nicht fällt. So wie das Klopfen bei jedem Schritt lauter wird, so duftet es auch immer stärker nach Bratkartoffeln. Am Ende des langen Gangs steht ein hoher Kleiderschrank. Er hat zwei Türen und auf der rechten ist ein Spiegel befestigt, doch man kann darin nichts erkennen. Das Klopfen kommt eindeutig aus dem Schrank, aber es ist wichtig, dass die Türen fest verschlossen bleiben. Dennoch will er wissen, wer dort drin sitzt und klopft. Er drückt sein Ohr gegen die linke Schranktür, klopft selbst dreimal und horcht. Das Klopfen aus dem Inneren des Schrankes verstummt. Das Zebra packt ihn bei der Schulter und reißt ihn herum.

»Was zum Teufel machst du hier?«

Ein lautes Piepsen weckte Ben noch bevor die Sonne aufgegangen war. Panisch setzte er sich im Bett auf.

Wo war er?

Das Piepsen wurde immer schneller.

Jetzt erinnerte er sich wieder: Er war in seiner neuen Wohnung. Alles war in Ordnung. Er war sicher.

Das Piepsen nervte unheimlich.

Er brauchte einen Moment, bis er sich orientieren und die Lärmquelle lokalisieren konnte: ein Wecker, der auf dem Nachttisch stand – natürlich. 5.01 Uhr. Schlaftrunken drückte er ein paar Knöpfe, was nicht das Geringste bewirkte, dann zog er den Stecker.

Ruhe. Himmlische Ruhe.

Erleichtert ließ er den Kopf zurück ins Kissen sinken, gähnte und drehte sich auf die Seite, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Eine Weile blieb er trotzdem liegen, aber als sein Magen anfing, nach einem Frühstück zu verlangen, kämpfte er sich schließlich aus der Bettdecke und stand auf. Er hatte viel vor heute – da konnte der Tag ruhig ein wenig früher beginnen.

Über Nacht hatte es erneut geschneit. Der Platz vor dem Hochhaus war von einer dünnen, ebenen Schneeschicht bedeckt, die im kalten Licht der Straßenlaternen glitzerte. Ein paar Fußabdrücke, die von der Tür zur Straße führten, verrieten die wenigen Frühaufsteher des Hauses. Ben folgte den Spuren zur Straße hinunter, achtete jedoch darauf, nur auf unberührten Schnee zu treten. Er mochte es, der Erste zu sein, der diese Stellen betrat, und seine eigenen Fußspuren zu hinterlassen. Außerdem knirschte der frische Schnee so schön unter den Sohlen.

Wenn Iantos etwas Gutes hatte, dann war es das weitläufige U-Bahnnetz. Von jedem beliebigen Punkt der Stadt aus brauchte man nie mehr als zehn Gehminuten, um eine Haltestelle zu erreichen. Auf seinem Weg dorthin begegnete Ben keiner Menschenseele und auch der Bahnsteig war leer. Es wirkte ganz gespenstisch, wie in einem Traum: Alles war still bis auf das leise Pfeifen des Windes durch den Tunnel und Bens eigene Schritte, als er langsam auf und ab ging. Er fühlte sich wie in einem dieser Endzeitfilme und stellte sich vor, er wäre der letzte Überlebende in der Stadt – vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Irgendwie hatte die Vorstellung etwas Beruhigendes.

Ben zuckte zusammen, als die Einfahrt der nächsten U-Bahn durchgesagt wurde. Die Lautsprecherstimme klang fremdartig verzerrt; man konnte nicht einmal sagen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte.

Mit dem üblichen Krach fuhr wenig später die Bahn ein und Ben setzte sich auf einen der vielen leeren Plätze. Bis auf ihn war so früh nur eine Handvoll anderer Fahrgäste unterwegs, die müde einem langen Arbeitstag entgegenblickten. Ben lehnte den Kopf gegen die verkratzte Fensterscheibe und schloss die Augen, doch das grelle Klingeln eines Handys schreckte ihn sofort wieder auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis eine rothaarige Frau, die mehrere Reihen vor Ben saß, das Gerät aus ihrer Tasche gefischt hatte und ungeachtet der anderen Fahrgäste laut zu telefonieren begann. Ben verzog genervt das Gesicht. Drei Stationen weiter stieg er mit dem neuerlernten Wissen aus, dass die Tochter der Frau Enna hieß, schlecht in Musik war und zu Mittag lieber Nudeln mit Käsesoße wollte statt Lasagne.

Mittlerweile war es drei viertel acht und so langsam konnte man den Sonnenaufgang erahnen. War die breite Einkaufsstraße gestern noch voller Passanten gewesen, lag sie jetzt fast leer vor ihm, als Ben vorsichtig die noch fast vollständig mit Schnee bedeckten Stufen aus dem U-Bahntunnel hinaufstieg. Die meisten Läden hatten noch geschlossen; nur hier und da strahlte das warme Licht einer Bäckerei in den fahlen Wintermorgen, um den ein oder anderen Frühaufsteher mit frischen Brötchen oder dampfenden Heißgetränken zu versorgen. Ben zog sich die schwarzen Handschuhe über die Finger, vergrub die Hände in den Jackentaschen und machte sich auf den Weg.

Schneller als erwartet erreichte er die Ecke, hinter der er sich am Tag zuvor versteckt hatte. Sein Blick glitt die schmale Gasse hinunter, die dunkel und verlassen vor ihm lag. Acht Uhr. Zu früh für einen Besuch? Nicht, wenn es um Leben oder Tod ging – und um das ging es schließlich. Er sah sich noch einmal um, dann eilte er zur Tür. Es gab nur einen beschrifteten Klingelknopf, doch gerade, als er ihn drücken wollte, flog die Tür auf und der Mann mit den langen grauen Haaren stand vor ihm. Er war über einen Kopf größer als Ben, das Haar hatte er sich zum Pferdeschwanz gebunden und er trug eine runde Brille mit dicken, schwarzen Rändern. In einer Hand hielt er einen prall gefüllten Müllbeutel, mit dem er Ben beinahe von den Füßen gefegt hätte, wäre dieser nicht ein paar schnelle Schritte zurückgewichen.

»Pardon«, sagte der Mann automatisch, dann sah er Ben genauer an. »Willst du zu mir?« Seine Stimme war tief und hatte etwas Melodisches. Obwohl sie fröhlich und sorglos klang, sah Ben Misstrauen und Vorsicht in dem Blick, mit welchem sein Gegenüber ihn musterte.

»Ja. Ich … Können wir vielleicht reingehen?«

»Rein?« Der Mann lachte trocken und schüttelte den Kopf. »Was willst du?«

Ben sah nervös die Gasse hinunter zur Einkaufsstraße, dann flüsterte er so leise er konnte: »Auf den Flügeln der Nacht / Mohnblume im Haar / Gejagt von den Engeln / Und alles ist wahr.«

»Soso.« Der Mann lehnte sich an Ben vorbei und ließ den Müllsack auf eine ohnehin schon überfüllte Tonne fallen. »Und jetzt willst du mich zu deinem Glauben bekehren oder willst du nur eine Spende?«

Er kramte in seiner Hosentasche, holte ein paar Münzen hervor und hielt sie Ben hin. »Mehr hab’ ich nicht.«

»Was? Nein. Hör doch: Auf den Flügeln der Nacht–«

»Ich hab’ dich gehört. Jetzt nimm das Geld und verschwinde. Ich kann dir nicht helfen.«

Es lag etwas so Eindringliches in dem Blick des größeren Mannes, dass Ben das Kleingeld entgegennahm und wortlos zusah, wie der Straßenkünstler wieder ins Haus ging und die Tür schloss.

Völlig perplex stand Ben einige Sekunden lang da und starrte die geschlossene Haustür an, dann vergrub er die Hände in den Jackentaschen und stapfte davon.

Das hatte sich ja total gelohnt. Hatte er sich etwa doch geirrt? Das Feuer … Aber vielleicht war es wirklich nur ein Trick gewesen: Das Feuerzeug, das der Kontrolleur zertreten hatte. So ein Mist!

Ben hatte solch große Hoffnung in diesen Typen gesetzt und wirklich geglaubt, dass dieses Mal alles ganz schnell gehen würde. Jetzt ärgerte er sich darüber. Er hätte es besser wissen müssen. Das hier war schließlich Iantos!

Was nun? Weitermachen, wie immer.

Wann war er das letzte Mal in Iantos gewesen? An wen konnte er sich hier wenden? Ihm fielen nicht viele Namen ein. Die meisten mieden, aus gutem Grund, die Hauptstadt. Dass es ihn auch ausgerechnet hierhin verschlagen musste! Und nun saß er erst einmal fest.

Ben kaufte sich einen heißen Pfefferminztee und spazierte ohne bestimmtes Ziel vor Augen durch das nach und nach aufwachende Viertel. Beim Gehen konnte er am besten nachdenken – und wer wusste, wohin oder zu wem der Zufall ihn lenken würde? Doch der Zufall schien ein Langschläfer zu sein und nachdem der Tee ausgetrunken war und die Kälte seine Nase knallrot und taub gefroren hatte, fuhr Ben wieder zurück nach Hause.

Die Liste der in Iantos lebenden Personen, deren Telefonnummer oder Adresse er kannte, war übersichtlich kurz. Nach einem kurzen Mittagessen schnappte Ben sich sein Handy und telefonierte los, doch das Ganze dauerte nicht länger als eine halbe Stunde. Ein Großteil der Nummern war tot, bei zweien meldete sich jemand Fremdes und bei der letzten ging niemand ran. Ben versuchte es bei dieser Nummer noch den Rest des Tages, doch letzten Endes musste er einsehen, dass das, was er schon am Morgen vermutet hatte, zutraf: Es war niemand mehr hier und falls doch, dann versteckten sie sich. Aus demselben Grund hatte er auch wenig Hoffnung auf Erfolg, als er sich am frühen Nachmittag erneut in Jacke, Mütze und Schal einpackte, um die Adressen, die er sich notiert hatte, aufzusuchen.

Es war erstaunlich, wie viele Leute dachten, man wollte ihnen etwas Böses, nur, weil man an ihrer Haustür klingelte. Die meisten gingen davon aus, er wollte ihnen etwas verkaufen. Manche öffneten nicht einmal, auch wenn er hinter der Tür Geräusche hörte. Hilfsbereit waren die wenigsten. »Adolia? Nie gehört.« – »Keine Ahnung, wer hier vorher wohnte.« – »Woher soll ich wissen, wo der Typ jetzt lebt?« Immerhin konnte er diese Orte von seiner Liste streichen. Viel schwieriger war es bei jenen, die keine Wohnadressen waren: ein kleiner Park zum Beispiel, den Ben zehnmal durchquerte, bevor er einsah, dass bei diesen Temperaturen die Wahrscheinlichkeit, hier jemand Bekanntes zu treffen, gleich null war. Oder ein Spielplatz, dessen einsame Schaukeln leise im Wind quietschten und wo zurückgelassene bunte Förmchen im Sandkasten darauf warteten, dass ihre Besitzer im nächsten Frühling mit ihnen weiterspielten. Dann war da noch die Bar, in der Ben unzählige Stunden bis tief in die Nacht damit verbrachte, an einem Glas Bier zu nippen und jeden neuen Gast genau unter die Lupe zu nehmen, bis er schließlich todmüde zusammen mit einem alten, unglaublich traurig aussehenden Mann zum Zapfenstreich vor die Tür gesetzt wurde und heimging, um nach einer Katzenwäsche erschöpft ins Bett zu fallen.

Am deprimierendsten war das Wissen, auf dieselbe Art die nächsten Tage, wenn nicht sogar Wochen oder Monate verbringen zu müssen, wahrscheinich genauso erfolglos. Müde und erschöpft spielte er kurz mit dem Gedanken, einfach aufzugeben und auf einen besseren Neustart zu hoffen, doch schalt sich sogleich dafür.

Wenige Minuten nachdem Ben eingeschlafen war, fing die rechte Tasche seiner Lederjacke, die er achtlos auf den Boden neben sein Bett geworfen hatte, an zu leuchten.

Er sitzt in der U-Bahn auf dem Weg zur Uni. Er ist nervös, denn er hat eben erst erfahren, dass heute Seminare sind, und er hat weder die Bücher gelesen noch die Hausaufgaben gemacht. Irgendwie ist der Gedanke, wieder in die Uni zu gehen und zu studieren, komisch. Andererseits freut er sich auch darauf. Ihm gegenüber sitzt eine alte Frau. Sie trägt trotz der Kälte nur ein Sommerkleid und ihre Füße sind rot und geschwollen. Wahrscheinlich geht sie viel zu Fuß. Zu seiner Linken sieht er hinter dem Fenster die Landschaft vorbeiziehen. Gelbe Rapsfelder in voller Blüte, in der Ferne Hügel und in ihren Tälern Dörfer. Jetzt sieht er aus dem Fenster auf der rechten Seite des Waggons: Sie fahren durch einen dunklen Wald. Die Äste der Bäume peitschen gegen die Scheiben des vorbeirasenden Zuges und hinterlassen tiefe Kratzer auf dem Glas. Bis auf ihn und die barfüßige Alte ist das Abteil leer. Soll er jetzt auf die Toilette gehen oder lieber erst nach der nächsten Station? Nicht, dass sich jemand auf seinen Platz setzt. Es ertönt ein helles Klingeln und die Türen des Fahrstuhls öffnen sich. Ein großer, schlanker Mann steigt aus und kommt langsam den Gang hinunter. Er tritt zu ihnen und bittet die Barfüßige, ihm Platz zu machen. Sie rutscht zur Seite und der Mann setzt sich.

»Hallo.«

Es ist der grauhaarige Straßenzauberer. Seine Haare sind offen und glattgekämmt. Er trägt einen schwarzen Bademantel, in dessen Brusttasche seine Brille steckt. Ben fragt sich, weshalb alle heute mit nackten Füßen unterwegs sind und ob er vielleicht auch seine Schuhe und Strümpfe ausziehen sollte. Möglicherweise ist das Vorschrift in diesem Zug und wer Schuhe trägt, wird rausgeworfen.

»Hallo«, antwortet er und sieht wieder aus dem Fenster.

»Falls du der Junge bist, der heute Morgen bei mir klingelte: Es tut mir leid, dass ich so unfreundlich zu dir war.«

»Schon gut.«

»Du weißt ja, man kann nicht vorsichtig genug sein.«

Ben nickt abermals höflich, aber ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. Welches Fach studiert er eigentlich? Er hätte sich zumindest den Stundenplan angucken sollen. Nun wird er zuerst einmal ins Studentensekretariat gehen müssen und das kann dann ewig dauern. Die erste Vorlesung verpasst er bestimmt!

»Es tut mir auch sehr leid, dass ich dich jetzt hier aufsuche. Ich möchte mich in aller Form für diese grobe Verletzung deiner Privatsphäre entschuldigen, aber dies ist der sicherste Weg, den ich kenne, um über gewisse Dinge zu sprechen. Ich werde beobachtet. Ich darf mir keinen Fehltritt mehr leisten, sonst …«

Ben sieht zu dem Mann mit den langen grauen Haaren.

»Ich dachte, du könntest mir helfen.«

»Vielleicht kann ich das. Was brauchst du?«

»Bist du denn echt? Oder nur ein Betrüger? Ein Möchtegern? Du kannst gar nicht echt sein. Es ist niemand mehr da.Zu gefährlich. Ich fahre auch weg.« Er deutet auf die Koffer über sieh auf der Ablage. »Ich fahre heim.«

Der grauhaarige Mann beugt sich vor und sieht ihn eindringlich an. Ben kann sich in seinen Augen spiegeln.

»Es sind noch ein paar wenige von uns in Iantos. Die meisten klüger als ich und nicht so leicht auffindbar. Doch ich bin echt. Sonst könnte ich nicht hier sein, in deinem Traum.«

»In meinem Traum?«

»Du träumst.« Der Mann nickt.

Ben lacht abschätzig. »Ich weiß, dass man im Traum nicht merkt, dass man träumt, aber wenn man wach ist, weiß man ganz genau, dass man wach ist – und ich weiß gerade mit absoluter Sicherheit, dass ich wach bin.«

Der Mann lächelt ihn an, dann lehnt er sich zurück.

»Wie dem auch sei. Wie kann ich dir nun helfen?«

»Ich brauche den Stundenplan! Woher soll ich wissen, wo ich hinmuss? Die Uni ist riesig!«

Der Zug wird langsamer. Der Mann mit den langen grauen Haaren seufzt und steht auf.

»Die Zeit reicht nicht. Tut mir leid. Die Münze wirkt nur einmal. Komm morgen noch mal bei mir vorbei.«

Ergeht rückwärts aus dem Abteil. Der Zug hält.

»Komischer Typ«, murmelt die alte Frau mit den nackten Füßen. »Los, beeil dich, sonst schließt das Sekretariat!«

Ben rennt los.

Als Ben aufwachte, schien bereits die Sonne. Der Stecker des Weckers war noch immer gezogen, darum tastete Ben gähnend auf dem Nachttisch nach seinem Handy, um auf die Uhr zu schauen, fand es jedoch nicht. Wahrscheinlich war es noch in einer seiner Taschen. Die Beine ließ er unter der warmen Decke, als er sich nur mit dem Oberkörper aus dem Bett herausbeugte, um seine auf dem Boden davor verstreuten Klamotten heran zu angeln. In den Hosentaschen war nichts, doch in der rechten Tasche seiner Jacke wurde er fündig.

»Autsch!«

Erschrocken zog er seine Hand mit dem Handy aus der Tasche und rieb sich die Stelle, die schmerzte, als hätte er sich verbrannt. Vorsichtig drehte er die Jacke um und schüttelte sie. Ein paar Münzen rollten heraus, unter den Nachttisch, unter das Bett und in den Raum hinein. Ben kroch gähnend aus dem Bett und sammelte sie wieder ein. Die letzte lehnte gegen einen Stiefel. Als er sie aufhob, ließ er sie sofort wieder fallen.

»Aaah, verdammt!«

Die kleine Münze war glühend heiß.

»Was zum–«

Dann fiel ihm der Traum wieder ein. Und dass der Straßenkünstler ihm eine Handvoll Kleingeld gegeben hatte, als er ihn loswerden wollte. Für einen Augenblick starrte Ben regungslos auf die Münze, dann zog er sich in Windeseile an, stopfte eine Banane und zwei eingeschweißte Schokobrötchen in die Taschen seiner Jacke und rannte los.

Der rostige Klingelknopf gab nur ungern nach und knarzte leise, dann drang das penetrante TRRRRRRRR von drinnen durch die schiefe, renovierungsbedürftige Tür. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann wurde sie einen Spalt breit aufgezogen und das runde Gesicht einer kleinen Frau um die 60 starrte ängstlich hinaus.

»Ich hab’ doch gesagt, ich melde mich, sobald ich irgendw–«

Sie verstummte, als sie Ben erblickte, und ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig von angstvoll zu grimmig. Sie öffnete die Tür etwas weiter und Ben konnte sehen, dass sie in eine Vielzahl von Röcken, Pullovern und Westen gekleidet war, die einstmals in den verschiedensten Farben bunt geleuchtet haben mussten, doch mittlerweile allesamt verblasst und verwaschen waren.

»Was willst du?«

»Ich möchte zu Herrn«, er warf einen schnellen Blick auf das Namensschild neben der Klingel, »Pike, bitte.«

»Der ist tot«, keifte sie und schlug die Tür zu.

»Argh …«

Nicht schon wieder!

Ben klingelte erneut. Diesmal wurde die Tür weit aufgezogen, sodass die Frau hinaustreten konnte. Die Hände in die Hüften gestemmt streckte sie sich hoch, bis sie beinahe auf Augenhöhe mit Ben war. »Wenn du nicht verschwindest, schrei’ ich so laut, dass die gesamte Nachbarschaft es hört, und dann bist du flugsdi-wugs in Schwierigkeiten!«

»Ich will Ihnen nichts tun, ich suche nur nach jemandem. Nach einem Mann mit langen grauen Haaren, der …«

Mit einem giftigen Blick wich die kleine Frau wieder nach innen und wollte erneut die Tür vor seiner Nase zuknallen, doch Ben reagierte dieses Mal schneller und drückte mit der Hand dagegen. »Bitte, ich brauche seine Hilfe.«

»Verschwinde, sonst kann dir bald niemand mehr helfen!«

»Nein, bitte …« Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, doch die Frau schien trotz ihrer Größe stärker zu sein.

»Ich … ich bin so wie er!«

Flatsch. Die Tür wurde aufgezogen und Ben fiel der Länge nach hin.

»Lieg hier nicht so faul rum und komm rein, bevor uns noch einer sieht«, zischte die Frau.

Ben – verwirrt, erleichtert und mit schmerzenden Kniescheiben – rutschte vollständig hinein und stieß die Tür mit den Füßen hinter sich zu.

»Kaffee?« Es klang mehr wie ein Vorwurf als nach einem Angebot.

»Äh, ja, gerne …«

Ben rappelte sich auf und folgte ihr durch eine Tür zu seiner Linken aus dem winzigen Eingangsbereich in einen Wohnraum. Die Wohnung schien auf den ersten Blick sehr klein und düster, doch vor allem war sie eisig kalt. In dem diffusen Licht, das fünf oder sechs auf den Möbeln verteilte Kerzen in den Raum warfen (Fenster gab es hier offenbar keine oder sie waren zugestellt), konnte Ben seinen Atem sehen. Es gab einen runden, dunklen Holztisch, zwei Stühle und mehrere Schränke und Regale in demselben dunklen Holz. Die meisten der offenen Fächer waren mit Büchern und allerlei Firlefanz gefüllt: Porzellanfiguren, Glasbilderrahmen mit Fotografien, die hauptsächlich einen braunen Labrador zeigten, Vasen mit Kunstblumen, Vasen ohne Blumen, Holzschatullen, Plastikfigürchen.

»Setz dich, mein Bruder wird gleich da sein«, befahl sie ihm barsch und verschwand durch einen Perlenvorhang in einem angrenzenden Raum.

Ben hörte sie leise mit jemandem reden, dann das Geräusch einer Kaffeemaschine. Er ging auf den Tisch zu, doch dann zog der Titel eines ihm altvertrauten Buchs seine Aufmerksamkeit auf sich und mit einem leichten Schmunzeln schritt er die Reihe von Büchern ab. Die meisten waren jedoch ihm unbekannte Liebesromane. Hinter dem nächsten Schrank verbarg sich ein weiterer Perlenvorhang und Ben konnte weiße Bettwäsche hindurchblitzen sehen. Im Schlafzimmer musste es ein Fenster geben, denn ein kalter Luftzug erfasste die Ketten des Vorhangs und ließ die Holzperlen leise gegeneinander klackern.

»Er braucht noch ein bisschen.«

Ben fuhr zusammen. Er hatte die Frau nicht wieder hereinkommen gehört.

»Okay.«

Mit einem Grunzen knallte sie ihm eine dampfende Tasse auf den Tisch und verschwand wieder in der Küche. Ben setzte sich auf einen sehr wackeligen Holzstuhl, stopfte seine Handschuhe in die Jackentaschen und legte seine Hände um die angenehm heiße Tasse, um seine kalten Finger zu wärmen.

Die Minuten vergingen, doch weder kam die Frau mit dem runden Gesicht noch einmal zu ihm herein, noch ließ sich der grauhaarige Mann blicken, und Ben wurde zunehmend nervöser. Über dem Eingang zur Küche hing eine runde Wanduhr, deren Zifferblatt vergilbt, das Glas matt, doch deren Ticken noch immer kräftig war.

Tick-tack-tick-tack.

Plötzlich ließ ein lautes TRRRRRRRRRRRRRR Ben zusammenzucken und sofort eilte die Frau durch den Perlenvorhang, durch das Zimmer, durch dessen Tür zur Haustür, gegen die jemand nun kräftig hämmerte.

»Wo ist der Junge?«, fragte eine tiefe Männerstimme, als die Tür geöffnet wurde, und Ben lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Er erkannte die Stimme des Mannes sofort.

»Erst will ich wissen, wo mein Bruder ist.«

Die tiefe Männerstimme lachte kalt auf. »Geh zur Seite, Weib, oder wir nehmen dich wegen Beihilfe mit!«

»Was habt ihr mit ihm gemacht? Geht es ihm gut?« Ihre Stimme klang trotz des ängstlichen Zitterns tapfer.

Ben hörte noch einen schrillen Schrei und das dumpfe Aufprallen eines mit einigen Schichten Kleidung gut gepolsterten Körpers, doch da war er schon selbst auf den Beinen und rannte los. Ja, er hatte die Stimme wiedererkannt, doch es war nicht die Stimme des Straßenkünstlers, sondern die des hünenhaften Kontrolleurs, der ihm am Abend zuvor in der Toilette der U-Bahnstation begegnet war. Der Perlenvorhang wickelte sich um seine Arme wie Tentakel, die ihn festhalten wollten. Er riss sich los, stolperte ins Schlafzimmer, stieß auf dem Weg zum Fenster einen kleinen Beistelltisch um, griff nach einem ihm vor die Füße rollenden Gegenstand, schlug damit das gekippte Fenster ein, hechtete hindurch und landete in einem Berg Schneematsch. Sein linker Knöchel schmerzte, als er sofort wieder aufsprang und losrannte, durch den Innenhof, hinaus auf die Straße. Hinter sich konnte er schnelle, schwere Schritte und das Rufen des Kerls hören, doch Ben blieb nicht stehen und er drehte sich nicht um. Er darf mein Gesicht nicht sehen. Weiter und weiter rannte er, blindlings in die nächste Gasse, über einen leeren Parkplatz, rutschte im Schnee aus, fing sich wieder, weiter, weiter. Wenn er auch nur einen Moment zögerte, sich umblickte, dann hätten sie ihn. Und dann würden sie ihn erkennen. Dann wüssten sie, was er getan hatte. Und dann würden sie ihm wehtun. Sehr, sehr wehtun.

Die Schmerzen waren immer das Schlimmste.

Er sprang, mehrere Stufen auf einmal, die Treppe zu den U-Bahngleisen 1 und 2 hinunter. Bitte lass einen Zug da sein. Bitte lass einen Zug da sein. Kein Zug, nur eine dichte Traube wartender Menschen, die fluchend aus dem Weg sprangen, als er angerannt kam.

»Jetzt hab’ ich dich!«, hörte er den Kontrolleur hinter sich rufen, viel zu laut, viel zu nah.

»Auf Gleis 2 fährt ein: Nord-Süd-Bahn B Richtung Norden. Hält in allen Zonen. Auf Gleis 4 fährt ein: Zentrumsexpress. Vorsicht bei der Einfahrt.«

Ben sah die Scheinwerfer des einfahrenden Zuges. Den Aufschrei der Leute sowie das Hupen des Lokführers nahm er kaum wahr, als er vor dem Zug über die Gleise 2 und 3 rannte, hinauf auf den nächsten Bahnsteig und durch die sich eben öffnenden Türen der Expressbahn. Hier, für eine halbe Sekunde, erlaubte Ben sich, einen Blick zurückzuwerfen: Von seinem Verfolger keine Spur. Auf Gleis 2 stand der andere Zug. Hatte er es wirklich geschafft? Hatte er den Kontrolleur abgehängt? Doch sein ihm bis zum Hals schlagendes Herz ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er kämpfte sich seinen Weg durch die vielen einsteigenden Passagiere im Inneren des Waggons bis zu dessen Ende. Dass er hier in der Falle saß, war ihm klar, sobald sich die Bahn in Bewegung setzte.

»Willkommen im Zentrumsexpress. Bitte beachten Sie, dass dieser Zug nur im Endbahnhof hält. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Fahrt.«

Stöhnend ließ sich Ben auf einen freien Sitzplatz fallen und schloss die Augen. Ich bin geliefert.

»Mami, warum blutet der Mann?«

»Sei ruhig und starr ihn nicht so an. Komm mit.«

Ben öffnete seine Augen und sah hinab auf seine Hände. In der rechten hielt er noch immer den schweren Gegenstand, mit dem er das Fenster eingeschlagen hatte. Seine Finger waren blutig und zwischen Ring- und Mittelfinger steckte sogar ein kleines Stückchen Glas. Doch es tat nicht weh. Noch nicht. Ben biss die Zähne zusammen und zog den Splitter heraus. Mit einem Taschentuch umwickelte er die blutende Hand und zog vorsichtig einen Handschuh darüber. Immer wieder schaute er den Wagen entlang nach vorne, doch da sein Verfolger ihn bis jetzt nicht gefunden hatte, war er ihm wohl tatsächlich entkommen.

Nacheinander schossen die verschiedenen Haltestellen vorbei, Lichtblitze im ansonsten pechschwarzen Tunnel. Ben betrachtete den Gegenstand, eine Art Briefbeschwerer, der nun auf seinem Schoß lag. Ob es wirklich ein Briefbeschwerer war, konnte er nicht sagen, doch eine andere Verwendung fiel ihm für einen achtseitigen Glasklotz, so groß wie eine Grapefruit, nicht ein. Mithilfe seines Pulliärmels wischte er mit der linken Hand das Blut von dem Klotz und verstaute ihn in seinem Rucksack. Je länger die Fahrt dauerte, desto ruhiger wurde er – bis schließlich eine zweite Durchsage ertönte.

»Liebe Fahrgäste, in Kürze erreichen wir das Zentrum. Bitte halten Sie Ihre Ausweise zur Kontrolle bereit. Vielen Dank.«

Angst erfüllte Ben von Neuem. Hatte der Kerl sein Gesicht gesehen? Würden sie am Bahnhof schon auf ihn warten? Panisch sah er sich um, als der Zug auf dem hell erleuchteten Gleis einfuhr. Am Ausgang standen nur zwei Kontrolleure. Vielleicht hatte er ja Glück.

Der Zug kam quietschend zum Stillstand und die Türen glitten auf. Von draußen drang leise Klaviermusik hinein.

»Diese Bahn endet hier. Bitte alle aussteigen.«

Als Ben aufstand, durchschoss der Schmerz ihn wie ein Blitz. Die ersten Schritte waren kaum auszuhalten, doch sobald er herausgefunden hatte, wie er seinen linken Fuß aufsetzen musste, ging es einigermaßen. Am besten wäre es natürlich gewesen, ihn gar nicht zu belasten, aber durch Humpeln noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war ihm zu riskant.

Der U-Bahnhof des Zentrums glich dem vorherigen nur darin, dass er Gleise und Züge hatte. Statt des nassen Betonbodens gab es glänzenden Marmor, statt der beschmierten Snackautomaten Bildschirme, die Nachrichten zeigten, und statt auf unbequemen Plastiksitzen konnte man auf kunstvoll geschnitzten, gepolsterten Holzbänken auf die Bahn warten.

Die Fahrgäste bildeten ruhig eine geordnete Schlange vor der stufenlosen Rolltreppe, wo einer nach dem anderen kontrolliert wurde. Links neben der Rolltreppe stand ein großer, drahtiger Mann mit Glatze, rechts eine junge Frau mit langen, kerzengeraden, schneeweißen Haaren, beide in schwarze Anzüge gekleidet. Ben reihte sich fast als Letzter hinter einer älteren Dame mit drei kleinen Hunden ein. Obwohl die Schlange rasch vorankam, dauert es ein wenig, bis es an ihm war, kontrolliert zu werden. Nachdem die Hundebesitzerin vor ihm ausführlich darüber belehrt worden war, wie hoch die verschiedenen Strafgebühren waren, sollten ihre Tiere im Zentrum durch Lärm oder Unsauberkeit auffallen, kam Ben an die Reihe. Er gab der jungen Kontrolleurin seinen Ausweis; sie musterte diesen kurz, dann legte sie ihm ihre schmale Hand auf die Brust und ihre eisblauen Augen bohrten sich in seine, durch seine hindurch, in ihn hinein. Ganz bestimmt konnte sie seinen schnellen Herzschlag spüren. Er hoffte inständig, dass dies alleine nicht ausreichen würde, um Verdacht zu erregen, denn schließlich waren diese Kontrollen den meisten Menschen mehr als unangenehm.

»Grund des Besuchs?«

Ben schluckte.

»Ich, äh, für die Uni. Also, eine Seminararbeit. Ich will in die Hauptbibliothek.«

»Hast du einen Termin?«

»Ja, klar.«

Ich bin so was von tot.

Die Kontrolleurin senkte ihre Hand, ihr Blick wanderte kurz über seine Kleidung, dann verzog sie das Gesicht. »Siehst nicht aus wie’n Student. Eher wie einer vom Rand.«

»Ich hatte einen kleinen Unfall auf dem Weg hierher. Bin im Schnee ausgerutscht. Hab mir die Hand etwas aufgekratzt. Bitte, kann ich jetzt …?«

Die junge Frau musterte ihn noch einen Augenblick lang, dann nickte sie widerwillig. »Aber wisch dir den Dreck von den Hosen, bevor du das Gebäude betrittst. So was Ekliges will dort niemand sehen.«

Ben nickte eilig, steckte seinen Ausweis wieder ein und trat zwischen den Kontrolleuren hindurch auf das Band, das ihn nach oben beförderte.

Als er ins Freie trat, musste er schnell die Augen zusammenkneifen, geblendet von den weißen Gebäuden, dem Schnee und der noch tiefstehenden Sonne. Von hinten schob ihn jemand zur Seite und er humpelte ein paar Schritte, bis er eine elegant verschnörkelte, weiße Bank erreichte. Hier war er also. Im Zentrum. In der Höhle des Löwen. Die meisten Menschen, die an ihm vorbeiliefen, trugen Anzüge. Wie viele von ihnen Eisaugen hatten, konnte Ben nicht sagen, und er vermied es, dies herauszufinden. Folgsam, falls die Kontrolleurin heraufkommen sollte, wischte er sich mit einem Taschentuch so gut es ging den Dreck von der Kleidung und warf es in den neben der Bank angebrachten Mülleimer. Auch dieser war weiß. Klar.

Und jetzt? Er konnte schlecht sofort wieder zurückfahren. Die Tussi erkennt mich doch sofort und wäre erst recht misstrauisch. Vielleicht sollte er wirklich in die Bibliothek gehen. Ja, haha, sehr lustig. Wie denn ohne Termin? Dies war immerhin die Hauptbibliothek. Für jedes einzelne der Gebäude im Zentrum brauchte man eine Eintrittserlaubnis, falls man nicht dort arbeitete. Ein wenig spazieren gehen? Die Pracht der Regierungsgebäude bestaunen? Oder die Nachfahren des großen Hamo Ponds in ihrem pompösen, schlossartigen Hochsicherheitstrakt-Anwesen besuchen? Vielleicht ein andermal, wenn nicht jeder Schritt schmerzte wie Hölle. Oh, und wenn er nicht mehr auf der Flucht war. Also niemals. Am liebsten wollte er sich irgendwo verkriechen für eine Stunde, aber sich beispielsweise in ein Klo einzuschließen, stand außer Frage. Die Toiletten wurden bestimmt regelmäßig kontrolliert. Vielleicht sollte er sich in irgendein Café setzen. Etwas essen. Auf den ganzen Stress hatte er sich etwas Leckeres verdient! Und dann in Ruhe überlegen, wie es weitergehen sollte.

Ben hievte sich hoch und ging, so wenig humpelnd wie möglich, die Straße entlang. Das erste Café ließ nicht lange auf sich warten, schließlich wollten die im Zentrum arbeitenden hohen Tiere aufs Beste versorgt werden. Dementsprechend exquisit waren natürlich auch die Speisen und Getränke – und die Preise, aber das kümmerte Ben gerade am wenigsten.

Die meisten der kleinen, runden Tische waren besetzt, größtenteils von Menschen in schicker Arbeitskleidung. Eigentlich hätte Ben wie ein bunter Hund auffallen müssen, als er sich seinen Weg durch das Labyrinth von Tischchen hindurch bis zu einem freien in einer Ecke bahnte, doch die meisten Anwesenden waren zu sehr in ihre höchstwichtigen Gespräche vertieft. Einzig die Bedienung warf ihm einen skeptischen Blick zu, besann sich jedoch ihrer Aufgabe und kam zu ihm hinüber, kaum, dass er Platz genommen und aus seiner Jacke geschlüpft war.

»Willkommen, ich bin Janine. Was darf ich Ihnen bringen?«, murmelte sie lustlos.

Ben bestellte einen Matcha Latte sowie ein Stück Schoko-Bananentorte.

Die Aktion hatte sich also als Desaster entpuppt. Er fragte sich, was mit dem grauhaarigen Mann, Herrn Pike, geschehen war, während er sich eine große Gabel mit Torte in den Mund schob. Es sah ganz so aus, als ob man ihn nun doch geschnappt hatte. Und wie passte die alte Frau da rein? Hatte sie nicht gesagt, er sei ihr Bruder? Oder ihr Cousin? Immerhin schien sie wohl über das magische Geheimnis des Mannes, der ihn im Traum besucht hatte, Bescheid zu wissen.

»Und jetzt auch über mich«, murmelte er genervt und rammte die Gabel in den wehrlosen Kuchen.

Ob sie wohl den Kontrolleur gerufen hatte? Auf ihn gehetzt hatte? Sah jedenfalls so aus. Eins war sicher, Ben würde von nun an jenen Teil der Stadt lieber meiden, falls der Kontrolleur doch sein Gesicht gesehen hatte und ihn wiedererkennen würde. Super, und das schon nach nur zwei Tagen. Doch es war noch nie einfach gewesen und er hatte schon schlimmere Rückschläge erlitten, damit tröstete er sich. Damit und mit der Torte. Der Gedanke, nun doch täglich durch die Gegend zu laufen und immer und immer wieder wahrscheinlich erfolglos bestimmte Orte aufzusuchen, frustrierte ihn. Warum ließ sich dieser Typ auch einfach schnappen, kurz nachdem er Ben seine Hilfe angeboten hatte?

»Wollen Sie noch was?«

»Hm? Nein, danke.« Ungeduldig wedelte er die Bedienung mit der Hand weg, doch diese hatte ihre Aufmerksamkeit bereits einem anderen Gast gewidmet.

Es war jedoch vergeudete Zeit, tatenlos in diesem Café herumzusitzen. Hier würde er niemanden finden, der ihm helfen konnte. Also los, zurück und die Orte auf der Liste abklappern.

Doch als er nach dem Bezahlen aufstand, war der Schmerz in seinem Fußgelenk so groß, dass er einfach nur noch nach Hause, sich hinlegen und in Selbstmitleid versinken wollte.

Die nächste Woche verbrachte Ben, gezwungen von seinem schmerzenden Knöchel, auch genau damit. Die meiste Zeit verbrachte er im Bett oder auf der Couch, las ein Buch oder schaute komplette Serienstaffeln am Stück, und bestellte sich Essen beim Lieferservice. Außerdem machte er sich mit seiner neuen Wohnung und dem Inhalt aller Schränke und Schubladen vertraut und kämpfte sich durch die Lehrbücher, Vorlesungsskripte und handschriftlichen Notizen fürs Studium. Nur für den Fall. Ab dem dritten Tag klingelte zunehmend häufiger das Handy und immer wieder poppten Kurzmitteilungen auf dem Display auf.

Tym the Shrimp:

Hey Benny, wie geht’s dir?

Was treibst du so?

Bock auf Zocken am WE?

Honey:

Huhu Schatz, ich bin wieder da! War

super lahm bei meinem Opa, aber das

ist es ja immer. Hast du mich vermisst?

Marion Lenz:

Hey hey! Warum warst du heute nicht

in der Vorlesung? Na ja, bei dem

Scheißwetter würd ich ja auch lieber

zuhause bleiben ;)

Honey:

Huhuuuu! Du gehst nicht dran …

Mach mir bissl Sorgen.

Meld dich mal! <3

Tym the Shrimp:

Eh, wo steckst du? Der Ratter meinte

doch, wer öfter als 2x unentschuldigt

fehlt, kann den Schein vergessen!

Meld dich mal, ja?

Honey:

Hallo?????

Honey:

Also, wenn du dich bis heut Abend

nicht meldest, geh ich davon aus,

dass du einfach keinen Bock mehr

auf mich hast. Ich weiß zwar nicht,

was ich falsch gemacht hab, aber

DU KANNST MICH MAL.

Danach schaltete er das Handy einfach aus.

Eigentlich tat es ihm ganz gut, eine Weile einfach mal nichts zu tun. Kein Wegrennen, kein Suchen, kein Verstecken, kein Hoffen, kein Bangen, keine Enttäuschung, keine Schmerzen. Na ja, seine Verletzungen taten schon noch ein paar Tage lang weh, doch er hatte sich den linken Fuß zum Glück nur umgeknickt und die Schnitte an der Hand verheilten schnell.

Am fünften Tag des selbstauferlegten Hausarrests begann es zu tauen. Der Himmel war den ganzen Tag über stark bewölkt gewesen und am Abend fing es an zu regnen. Die vielen Lichter der Stadt glitzerten und funkelten bunt in den Regentropfen, welche die große Fensterscheibe hinunterliefen, und ein leises, beruhigendes Prasseln war zu hören.

Ben fühlte sich wohl. Es gab nichts Schöneres, als an einem verregneten Abend gemütlich auf der Couch zu liegen, zu lesen, Musik zu hören, vielleicht ein paar Filme zu gucken und sich eine große Pizza Funghi mit extra Käse zu gönnen. Als es kurz vor sieben an der Tür klingelte, legte Ben sein Buch beiseite, schälte sich aus der kuscheligen Decke und ging, noch immer ein wenig humpelnd, zur Tür, um dem Pizzaboten zu öffnen.

Im Hausflur stand ein blondes Mädchen, doch von einer leckeren Pizza war weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen fing das Mädchen an zu toben.

»Was zur Hölle soll der Scheiß? Wieso rufst du nicht zurück? Ich mach’ mir riesige Sorgen! Ich dachte jetzt, du liegst hier tot auf dem Boden! Oder mit einer anderen im Bett.«

Sie schob ihn ein wenig zur Seite, um in die Wohnung zu lugen.

»Äh … Honey?«, fragte Ben, noch ganz benommen von dem plötzlichen verbalen Angriff.

»Jetzt komm mir nicht mit Honey.« Doch ihre Stimme klang direkt ein wenig ruhiger, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Ben alleine war. »Was ist denn los? Sag’s mir doch bitte.«

Die Gelegenheit beim Schopfe packend deutete Ben auf seinen nackten Fuß in der Stützbandage.

»Ich bin vor ein paar Tagen gestürzt und habe mir den Knöchel verstaucht. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, darum habe ich nichts gesagt.« Er lächelte sie entschuldigend an. »Ich weiß doch, wie sehr du dich immer sorgst …«

War das zu viel des Guten? Honey sah ihn einen Augenblick lang stumm an, dann zog sie ihn in eine feste Umarmung.

»Ach Schatz, das ist zwar süß von dir, aber eigentlich super dumm!« Leise lachend gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und schüttelte dann bedächtig den Kopf. »Ich mache mir doch viel mehr Sorgen, wenn du dich plötzlich gar nicht mehr meldest! Ich habe sogar gestern den Übungstest in Linearer Algebra deswegen verhauen. Bitte versprich mir, dass du das nie wieder tust, ja?«

»Ähm, ja, natürlich.«

Sie seufzte erleichtert und lächelte.

»Dann ist ja gut. Und ich blöde Kuh habe echt kurz gedacht, du würdest mich vielleicht betrügen!«

Lachend schob sie sich an Ben vorbei und ihm blieb nichts anderes übrig, als die Tür zu schließen. Während sie sich kurz umsah – suchte sie womöglich doch nach Hinweisen auf eine eventuelle Affäre? – beobachtete er sie nachdenklich. Wahrscheinlich war es am klügsten, einfach das Beste daraus zu machen, um so viele Probleme wie möglich zu vermeiden.

»Sorry, ich bin gerade keine gute Gesellschaft. Liege halt nur rum. Ich melde mich einfach bei dir, sobald ich wieder zu etwas zu gebrauchen bin, ja?«

»Ach Quatsch, ist doch okay. Mir macht es nichts aus, mit dir rumzugammeln«, entgegnete sie.

»Das ist echt lieb von dir, aber …«

»Liest du das gerade?« Mit diesen Worten ließ sie sich aufs Sofa fallen und nahm das Buch vom Tisch, um darin herumzublättern.

»Also eigentlich wollt’ ich grad einen Film schauen.«

»Oh Klasse! Welchen denn?«

Ben seufzte leise und humpelte zu ihr hinüber.

»The World Ate My Soul.«

»Welchen Teil?«

»Zw-Drei.«

»Cool, den hab’ ich noch nicht gesehen!« Sie warf ihre Jacke hinüber auf sein Bett, zog sich die Stiefel von den Füßen und die Beine hoch auf die Couch.

Manchmal muss man sich eine Niederlage einfach eingestehen und mit den Folgen leben.

Obwohl Ben ihr gesagt hatte, dass sie ihn nicht jeden Tag besuchen brauchte, sie fast schon angefleht hatte, es nicht zu tun, ließ sich Honey nicht davon abhalten, und nach ein paar Tagen hatte Ben aufgegeben und es akzeptiert. Eigentlich war es doch sehr angenehm, jemanden zu haben, der für ihn einkaufen ging, ihn bekochte und ihm den Rücken kraulte. Und so eine wahnsinnig schlechte Gesellschaft war seine Freundin ja auch nicht. Sie war sogar ganz lustig, ziemlich schlau und auf jeden Fall sehr nett zu ihm. Bis er wieder völlig auf den Beinen war – im wahrsten Sinne des Wortes – konnte er sowieso nicht viel tun. Abwarten war zwar nichts, was ihm besonders leichtfiel, doch zumindest hatte er dank Honey keine Langeweile.

2

Kapitel

Er schwimmt in einem Swimmingpool. Das Wasser ist warm und die Bewegungen tun ihm gut. Das Becken ist groß, doch außer ihm scheint niemand hier zu sein. Er dreht sich auf den Rücken. Die Decke ist mit einer Vielzahlkleinerer und größerer Mosaikbilder verziert. Auf ihr tanzen die Lichtspiegelungen des Wassers und man könnte meinen, die Mosaikfiguren bewegten sich: Das türkisblaue Haar einer Meerjungfrau wallt in der sanften Strömung träge um ihren Kopf herum. Dann werden die Haarsträhnen länger, werden zu sich windenden Wasserschlangen, welche sich kurz darauf aus dem Stein lösen – und nun sind es grüne Lianen, die von der Decke hängen. Von irgendwoher klopft es leise. Er fragt sich, ob er wohl eine dieser Lianen zu fassenbekommt, um damit wie Tarzan hin und her zu sausen und dann mit einer kunstvollen Pirouette ins Wasser zu springen. Er streckt eine Hand aus, doch er kann die Lianen nicht erreichen. Ein Schrei. Ein lauter, durchdringender Schrei. Jemand schreit um Hilfe! Er sieht sich um, doch er kann niemanden entdecken. Er ist ganz alleine in diesem gigantischen Schwimmbecken. Wieder hört er den Hilferuf, dann platschende Geräusche, als würde jemand im Wasser wild um sich schlagen, doch noch immer kann er niemanden sehen. Plötzlich ergreift ihn eine fürchterliche Panik.

»Alex? Wo bist du? ALEX?«

»Hilfe! Hilf mir!«

»ALEEEEEX!«

Dann sieht er es: Die Lianen sind wieder zu Schlangen geworden und kämpfen auf der anderen Seite des Swimmingpools mit jemandem, drücken die Gestalt immer wieder unter Wasser. Er schwimmt los. Das Becken ist unendlich lang. Er versucht sich schneller vorwärts zu bewegen, doch je schneller er schwimmt, desto weiter scheint der Weg zu sein. Er kann die Hilferufe kaum noch hören und die von der Decke ins Wasser reichenden Haare der Mosaiknixe sind nur noch dünne Striche am Horizont. Dennoch schwimmt er weiter. Er muss es schaffen. Er muss.

»ALEX!«