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Patrick wird seit Tagen von beklemmenden und kräftezehrenden Träumen heimgesucht, die so beunruhigend und dunkel sind, dass er im Schlaf keine Ruhe findet. Gemeinsam mit seiner Frau Amalia begibt er sich auf eine lange geplante Abenteuerreise ins Herz von Afrika. Aber kaum sitzt er im Flieger, werden seine Träume nicht nur schlimmer, sondern holen ihn ein. Für die Schönheit der Tier- und Pflanzenwelt hat er schon bald kein Auge mehr. Immerzu drehen sich seine Gedanken um das, was in seinen Träumen geschieht. Patrick erlebt darin die Abenteuer ihm unbekannter Personen mit, die auf der Suche nach mystischen Gegenständen sind, bis er erkennt, dass er ein Teil dieser Suche ist.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Fabian Junk wurde 1986 in Fulda, Hessen, geboren. Er wuchs im „König-reich“ Flieden auf, wo er bis heute mit seiner Familie lebt. Bereits als Kind liebte er es, Geschichten zu schreiben und seiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Lange hegte er den Traum von seinem eigenen Buch, bis ihm ein Skiunfall den entscheidenden Anstoß dazu gab.
Eine weitere große Leidenschaft von ihm ist der Triathlon und das Aquabike (Schwimmen & Radfahren). Bei den Europameisterschaften 2021 wurde er Dritter in seiner Altersklasse. Im selben Jahr wurde er zum Sportler des Jahres der Stadt Fulda gewählt. Ein Jahr darauf sicherte er sich den Titel des Vize-Europameisters.
Fabian Junk
SEELENWANDLER
Tage der Dunkelheit
1. Auflage
© 2024, Fabian Junk
Leimenhöfer Straße 11
D-36103 Flieden
Covergestaltung: Magical Cover Design
Lektorat und Korrektorat: Feder und Flamme Lektorat
Satz: Giuseppa Lo Coco-Ame
ISBN: 978-3-00-080679-7
Wenn sich die gefallenen Engel erheben ...
... und die Welt ins Chaos stürzt ...
... wird sich die Prophezeiung erfüllen.
Die Reise zur Wiege der Menschheit kann dein Leben verändern!
Jabal Kanzi, Hohepriester der Gemeinschaft des Lichts
Kapitel 1
Beklemmende Träume
Keine Fußgänger oder Autos waren um diese Uhrzeit noch auf den Straßen unterwegs. Das dämmrige Licht der Straßenlaternen schimmerte golden an den Fassaden der angrenzenden Fachwerkhäuser und geleitete Patrick über das raue Kopfsteinpflaster der Altstadt. Von weitem sah er bereits den Dom St. Salvator zu Fulda, der von Scheinwerfern angestrahlt wurde.
Mit strammen Schritten bog Patrick auf den sandigen Weg des Schlossgartens ein. Vom klaren Nachthimmel strahlte der Vollmond hell herab und spiegelte sich auf den zarten Wellen des Teiches. Die Temperaturen in dieser Nacht waren ausgesprochen mild, aber die gespenstische Atmosphäre der wenig beleuchteten Parkanlage, das feine Knirschen der Schuhe oder das Rascheln eines Tieres im Gebüsch vermochten es trotzdem, bei ihm Gänsehaut hervorzurufen. Reiß dich zusammen, Patrick, da ist nichts, versuchte er sich selbst zu beruhigen und zuckte zusammen, als über ihm eine Eule aus dem Geäst davonflog. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er über seine Schulter zurückblickte. Bereits seit einigen Tagen verstärkte sich in ihm das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden.
In der nächtlichen Ruhe konnte er bereits den großen Springbrunnen am oberen Ende des Parks plätschern hören, dessen Umrisse sich ein paar Meter weiter immer deutlicher abzeichneten.
Als Patrick auf die hell erleuchtete Kurfürstenstraße einbog, verflüchtigte sich die in den letzten Minuten aufgebaute Anspannung. Er kam gerade zurück vom Männerabend mit seinen Kumpels in der »Roten Hexe«, einer urigen Kneipe in der Altstadt von Fulda. Dieses Mal war es aber besonders spät geworden und in wenigen Stunden war für ihn bereits die Nacht vorüber. Bevor er mit seiner Frau Amalia in den gemeinsamen Urlaub starten konnte, stand morgen – oder vielleicht schon heute? – noch ein letzter Arbeitstag an.
Er und Amalia hatten sich vor ein paar Monaten in der neu geschaffenen Wohnanlage neben dem Schlosspark eine einhundertfünfzig Quadratmeter große Eigentumswohnung gekauft. Die mit rot-braunem Klinker verkleideten Stadtvillen waren leicht versetzt angeordnet und die bodentiefen Fenster boten einen wundervollen Blick über die Grünanlagen und die Altstadt. Ihre Wohnung im dritten Stockwerk war aufgrund der Fülle an Balkonpflanzen schon von weitem auszumachen. Vom Geländer rankte Efeu herab und aus den Blumenkästen strahlten verschiedenfarbige Chrysanthemen, Geranien und Hortensien um die Wette.
Die moderne Haustür verfügte über einen Fingerprint und erleichterte das Öffnen ungemein, gerade in einem leicht betrunkenen Zustand.
Vorsichtig legte er den Geldbeutel auf die Kommode neben der Eingangstür, entsorgte seine nach Rauch stinkenden Klamotten im Wäschesack und schlich ins Schlafzimmer. Das sanfte Licht des Vollmondes tauchte den Raum in einen weißen Schein.
»Träumst schon süß, mein Schatz?«, flüsterte er Amalia zu.
Von seiner Frau war aber nur ein sanftes, gleichmäßiges Atmen zu vernehmen.
Er streichelte ihr zärtlich über ihre blonden, lockigen Haare, kontrollierte noch einmal den Wecker und krempelte die Bettdecke hoch. Patrick schloss seine Augen und wenige Augenblicke später war er eingeschlafen.
Von einem lauten Knall erwachte er aus dem Schlaf und saß kerzengerade im Bett. Im nächsten Moment erhellte ein greller Blitz den Nachthimmel. Lange konnte er noch nicht geschlafen haben, denn draußen war es noch immer dunkel. Ein Gewitter? So plötzlich? Eigenartig, schoss es Patrick durch den Kopf, ehe er sich wieder in sein weiches Kopfkissen zurückfallen ließ.
Dann glaubte er, Schritte zu hören und riss erschrocken die Augen auf. Er lauschte aufmerksam in die Stille hinein. Da war es wieder, auf dem Flur. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe und huschte zur Schlafzimmertür.
Vorsichtig legte er sein Ohr darauf. Jetzt konnte er es noch deutlicher hören, ein leises Wispern, als flüstere jemand seinen Namen. Zögernd öffnete er die Tür einen Spalt und die Flüstergeräusche verstummten.
Sofort drang muffiger Geruch in seine Nase. Der antik wirkende Teppich auf dem schmalen Korridor wies deutliche Abnutzungsspuren auf, und die alten Holzdielen darunter knarrten bei jedem Schritt. Die braunen Deckenleuchten ähnelten einem dreckigen Wischmopp und waren umringt von Insekten und Faltern. Nach einem erneuten Blitzeinschlag flackerten die Lampen für einige Sekunden und der sich anschließende Donnerhall ließ die Bilder an den runden Blockhauswänden vibrieren. Patrick konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
Gerade wollte er zurück ins Schlafzimmer gehen, da erfasste ihn ein Luftzug. Und wenn doch …? Neugierig ging er weiter den Gang hinunter, um die nächste Ecke, und fand sich auf der Galerie eines großräumigen Foyers wieder. Die Eingangstür im Erdgeschoss stand offen und schwang im Wind quietschend hin und her. Er ging hinunter, schloss die Tür und das Heulen des Windes wurde leiser. Dabei fielen ihm die tiefen Falten auf seinem Handrücken sowie die blassen, rissigen Fingernägel auf. Die ausgeführten Bewegungen fühlten sich fremd an. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er sich unmöglich in seinem eigenen Körper befinden konnte. Ein Schauer überkam ihn, denn erst jetzt realisierte Patrick, dass er sich auch gar nicht in seiner Wohnung befand. Wo bin ich? Was passiert mit mir?
Aus einem der Nebenzimmer drang erneut ein flüsterndes Geräusch zu ihm, das vom Donner und dem einsetzenden Regen unterbrochen wurde. Im fahlen Licht des alten Kronleuchters konnte er nicht viel erkennen, aber nach wenigen Schritten bemerkte er eine offenstehende Flügeltür.
An den Wänden hingen einige Felle und Geweihe afrikanischer Wildtiere und über dem Kamin prangte der Kopf eines Wasserbüffels. Mühsam nahm er in einem der beiden alten Ledersessel Platz und lauschte dem Knistern des Kaminfeuers, das in seinen letzten Zügen dahinglomm. Auf dem schweren, runden Holztisch neben ihm stand eine Flasche Whiskey. In der verschwommenen Spiegelung der Flasche konnte Patrick einen grauhaarigen Mann mit Vollbart ausmachen. Das sollte er sein, jetzt, in diesem Moment? Patrick konnte es nicht recht glauben, aber ihm fiel keine andere Erklärung ein.
Er war gefangen, im Körper dieses alten Greises.
Er blickte hinüber zur Terrassentür, durch deren Fenster er das vorbeiziehende Unwetter beobachten konnte. Die zuckenden Blitze in der Ferne tauchten den Nachthimmel für einen Moment in ein lilafarbenes Licht. Er konnte karge Hügel erkennen und einen großen See, über den das Gewitter hinwegzog.
Bei Tageslicht hat man von hier bestimmt einen unbeschreiblich schönen Ausblick. Das alte Herrenhaus musste auf einer Anhöhe liegen. Aber wo genau befand es sich? Wer war der alte Mann? Wohnte er hier allein und wieso saß Patrick in diesem Körper fest?
Der immer leiser werdende Donner und die angenehme Wärme des Feuers vermittelten ein Gefühl der Sicherheit, das Patrick nach und nach entspannte. Aus dem Augenwinkel glaubte er, flüchtig etwas davonhuschen zu sehen, dort drüben neben dem Kamin, bei der Vase.
Ist da jemand?
Die Blätter der Pflanze bewegen sich noch leicht.
Ach was, vermutlich war es nur eine Luftzirkulation durch das offene Feuer.
Die gerade noch so angenehme Ruhe kam ihm plötzlich erschreckend unheimlich vor. Patrick nahm erst jetzt eine seltsame Kälte und ein feines Knirschen wahr. Er konnte es zunächst nicht deuten, bis er sah, wie die Wände von unten herauf begannen, langsam zu gefrieren. Auf den Fenstern bildeten sich kleine Eiskristalle, die bald die gesamte Scheibe überzogen. Der Frost fraß sich schleichend in den Raum hinein, kletterte den Tisch hinauf und erreichte nun auch den Alten, aus dessen Nasenflügeln bereits weißer Atemdampf hervorkroch.
Patrick hatte keinen Zweifel mehr daran, dass er hier nicht allein war. Er spürte deutlich die Anwesenheit einer übernatürlichen Kraft. Die Schatten an den Wänden tanzten, der Fußboden knarrte und es schien, als würde sich jemand aus der Dunkelheit des Raumes nähern. Da war es wieder, dieses Wispern. Inzwischen klang es jedoch mehr wie ein schelmisches Lachen.
Im nächsten Moment riss ein starker Windstoß krachend die Terrassentür auf, die Flammen im Kamin erloschen schlagartig. Ein eisiger Windhauch füllte den Raum und umkreiste den alten Mann. Dann strömte ein unheimlicher Dunst durch seinen Mund in ihn hinein, er zuckte zusammen, seine Gedanken vernebelten.
Patrick schreckte aus dem Schlaf hoch. Es dauerte einen Moment bis er begriff, dass er sich in seinem Schlafzimmer befand. Wie in den vergangenen Nächten war es bloß ein weiterer, intensiver Traum gewesen. Im selben Augenblick flammte das Nachttischlicht auf.
»Patrick, was ist los?«, fragte Amalia verschlafen und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm herüber.
Patrick fuhr mit der Hand durch seine schweißnassen Haare und spürte gleichzeitig, dass sein Schlafanzug an seinem Körper klebte.
»Ich hatte einen Alptraum.«
»Schon wieder? Es wird Zeit, dass du mal wieder richtig ausspannst. Wie praktisch, morgen fliegen wir in den Uuurlaub!«
Es war verrückt. Die Träume kamen ihm unbeschreiblich echt vor. Mal waren sie aus der Beobachterperspektive, mal hatte er das Gefühl, einer der Beteiligten zu sein. Zuletzt hatte er von einer äußerst attraktiven und zugleich mysteriösen Frau geträumt.
Amalia wollte er von seinen Träumen lieber nichts erzählen, das hätte sie vermutlich nur unnötig verunsichert. Dabei hatten die Träume nicht im Geringsten etwas mit seiner Liebe zu ihr zu tun. Amalia und Patrick waren seit zwei Jahren verheiratet. Er liebte sie über alles und wollte sich keine andere Frau an seiner Seite vorstellen. Den Heiratsantrag hatte er ihr auf einer Kreuzfahrt in Norwegen gemacht, einer der vielen Reisen, die sie schon gemeinsam unternommen hatten. Aber dennoch fühlte er sich mit der schönen Frau aus seinen Träumen in irgendeiner Weise verbunden.
Amalia hatte bereits den Frühstückstisch gedeckt und wartete auf ihren verschlafenen Mann. Sie war hungrig und ungeduldig.
Ich kann nicht glauben, dass er jetzt erst noch duscht, so ein Morgenmuffel!
Ihr Blick wanderte von dem kleinen weißen Teller vor ihr, über den dampfenden Tee, vorbei an dem Frühstücksei und der Himbeermarmelade, bis zu den Verpackungen des Wurst- und Käseaufschnitts, die ordentlich gestapelt neben der Brötchentüte lagen.
Nach einer hungrigen Ewigkeit kam Patrick in die Küche.
»Na wenigstens machst du nach der Dusche einen aufgeweckten Eindruck! Können wir jetzt mit dem Frühstück anfangen? Ich habe Hunger!«, fragte Amalia und lächelte.
»Mein Magen knurrt auch schon. Danke, dass du dich schon um das Frühstück gekümmert hast.«
»Klar, und zur Feier des Tages habe ich uns ein paar Eier gekocht.«
Patrick war die Freude über den anstehenden Urlaub deutlich anzumerken. »Heute nochmal arbeiten und morgen geht schon der Flieger in Richtung Tansania.«
Amalia und Patrick hatten eine All-Inclusive-Safari im Norden Tansanias gebucht, bei der unter anderem der Serengeti Nationalpark und der Ngorongoro-Krater auf dem Programm standen. Anschließend würde eine Trekkingtour auf den Uhuru Peak im Kilimandscharo-Massiv sowie ein abschließender Wellness- und Strandaufenthalt auf Sansibar folgen.
Patricks Leidenschaft zur Natur war auch der Grund, weshalb er nach seinem Abitur Garten- und Landschaftsarchitektur studiert hatte. Nach seinem Studium hatte er schnell eine Stelle bei einer renommierten Firma in der Stadt gefunden und war von seiner Berufswahl seither begeistert.
Im Schlosspark roch es nach frisch gemähtem Gras, eine Entenfamilie schwamm gemütlich auf dem idyllischen Schlossteich und der Springbrunnen plätscherte beruhigend vor sich hin. Eine morgendliche Ruhe, die dem hektischen Berufsverkehr in allem entgegenstand. An einem solch schönen Sommertag wie heute genoss er es ganz besonders, mit dem Rad zu fahren.
Am Dom vorbei ging es auf den Radweg entlang des Flussufers. Auf den Auewiesen suchte ein Storchenpaar nach Nahrung und die Vögel in den Baumkronen begrüßten die ersten Sonnenstrahlen des Tages mit einem fröhlichen Zwitschern. Die Aue war um diese Uhrzeit menschenleer. Erst nach ein paar hundert Metern begegnete ihm ein Jogger, der ihm in einem leicht unökonomisch aussehenden Laufstil entgegenkam. Nach einem freundlichen Gruß bog Patrick bereits auf das Firmengelände ab.
Das Hauptgebäude, ein mehrstöckiger Neubau mit einer großen Glasfront, war umgeben von verschiedensten Musterbeispielen für Garten- und Parkgestaltung. Den Eingangsbereich zierte ein Fischteich, umringt von bunten Blumenbeeten und einer Mauer in Ruinenoptik. Patricks Büro befand sich im 3. Stock und bot einen wunderbaren Ausblick auf die städtischen Grünanlagen. Hinter den Baumwipfeln sah man die Glockentürme des Doms sowie den Frauenberg mit seinem Kloster. In der Ferne erhob sich das Mittelgebirge der Rhön und dessen höchster Berg, die Wasserkuppe.
Um kurz nach sechs betrat Patrick das Büro. Von seinem Kollegen Jürgen Becker, mit dem er sich das Doppelbüro teilte, fehlte allerdings noch jede Spur. Jürgen war ein Langschläfer und kam meist erst gegen neun.
Vertieft in die Preiskalkulation für die Familie Ullrich schreckte Patrick hoch, als der Chef die Tür aufriss.
»Ist der Jürgen schon da?«, fragte er schroff.
»Nein, noch nicht«, antwortete Patrick und warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. »Er müsste aber jeden Augenblick kommen.«
»Sagen Sie ihm, ich warte in meinem Büro!«
»Alles klar, richte ich ihm aus.«
Mit einem lauten Knall schlug die Tür wieder zu.
Fast pünktlich, um viertel nach neun, kam Jürgen mit einem Coffee-to-go-Becher in seiner Hand ins Büro. »Moin Patrick, alles klar?«
»Moin Jürgen! Der Chef war schon hier und hat dich gesucht. Du sollst dich sofort bei ihm melden. Er sah ziemlich aufgebracht aus.«
»Na toll! Kann man nicht mal in Ruhe seinen Kaffee trinken? Hat er gesagt, um was es geht?«
Patrick zuckte mit den Schultern. »Nein, kennst ihn ja.«
»Mist, vermutlich geht es um die Neugestaltung des Rosengartens. Dazu bin ich bisher noch nicht gekommen.«
»Vielleicht solltest du vor dem Donnerwetter lieber einen Schnaps statt einem Kaffee trinken.«
Jürgen winkte ab. Er stellte den Becher auf den Tisch, klemmte sich einen Ordner unter den Arm und eilte zurück in Richtung Tür. »Ich kann nicht mehr als arbeiten, eins nach dem anderen.«
Die Zeit verging wie im Flug. Erst mittags kam Patrick dazu, sein Frühstücksbrot zu essen und arbeitete währenddessen weiter. Gegen halb fünf begann sein Kollege Feierabendstimmung zu verbreiten, indem er seinen Rollcontainer hinter sich verschloss. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich gleich verabschieden würde.
»Willst du nicht auch bald Feierabend machen? Deine Angebetete wartet doch sicherlich zu Hause schon auf dich«.
»Wenn es nach mir ginge, wäre ich schon längst weg, aber ich muss das Angebot zu dem Dorferneuerungsplan noch fertigmachen, die Frist läuft übermorgen ab.«
Jürgen nickte. »Jaja, so ist das. Der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub ist irgendwie immer stressig und wenn man zurück ist, das gleiche wieder«, sagte er und lachte. Dann nahm er seinen Hut von der Garderobe und wandte sich dem Ausgang zu.
»Also dann, einen schönen Urlaub wünsche ich euch. Wir sehen uns in drei Wochen!« Zum Abschiedsgruß griff er mit Zeigefinger und Daumen die Hutkrempe, nickte Patrick zu und ließ anschließend die Tür hinter sich zufallen.
Nach zwei weiteren Stunden war das Angebot fertig. Jetzt musste er nur noch schnell das Telefon umstellen, den Abwesenheitsassistenten einrichten und den PC herunterfahren, dann konnte der Urlaub endlich kommen. Patrick hievte sein Mountainbike aus dem Archivraum und eilte in Richtung Ausgang.
Patrick ächzte, als er das Gebäude verließ. Puh, noch ganz schön heiß!
Die Schreie der spielenden Kinder im Park waren schon von weitem zu hören. Der Wasserspielplatz war hoffnungslos überfüllt und vor dem Eiswagen hatte sich eine mindestens zwanzig Meter lange Schlange gebildet. Mit den Gedanken abgeschweift, brachte Patrick sein Rad gerade noch so zum Stehen, als ein Kind hinter einer Hecke hervorsprang. Noch bevor er überhaupt daran denken konnte, den Jungen zu maßregeln, ließ ihn ein ohrenbetäubender Knall erschrocken zusammenzucken. Kampfjets waren im Tiefflug über ihnen hinweggesaust, so schnell, dass die meisten Leute gar nicht mitbekommen hatten, was geschehen war. Als Patrick seinen Blick vom Himmel wieder nach unten richtete, war der Junge verschwunden.
Kleiner Lausebengel! Leicht zittrig stieg er auf sein Rad. Der Schreck saß im noch in den Knochen, aber als er nach zehn Minuten zu Hause ankam, war die Sache beinahe schon wieder vergessen.
Er trug sein Fahrrad in den Keller und eilte die Treppe zur Wohnung hinauf.
»Schatz, ich bin wieder da!«
»Huhu«, ertönte es vom Balkon. Amalia lag im Bikini auf dem Liegestuhl und genoss die Abendsonne mit einem selbst gemachten Caipirinha.
»Wie ich sehe, hast du es dir schon gemütlich gemacht.«
»Klar, das gute Wetter muss man nutzen!«
»Du bist mir eine Sonnenanbeterin. In den nächsten Wochen werden wir doch noch genug Sonne abbekommen.«
»Das hoffe ich doch sehr! Auf unserer Trekkingtour dürfte es aber sicherlich etwas kühler werden. Ich freue mich dann doch mehr auf den Strandaufenthalt.«
Patrick sah seine Frau verständnisvoll an und lächelte ihr zu.
»Ich gehe mich erstmal umziehen und mache mir dann auch einen Caipi. Soll ich dir noch etwas mitbringen?«
»Im Gefrierfach wartet noch ein Eis auf dich. Ich war heute Morgen schnell noch ein paar Kleinigkeiten für den Urlaub einkaufen und dachte mir, du freust dich bestimmt über deine Lieblingssorte.«
»Mhh, du bist die Beste!«
Patrick gab Amalia einen Kuss und ging in die Wohnung. Nach wenigen Minuten war er mit seinem Cocktail und der Eistüte zurück und machte es sich ebenfalls auf der Liege bequem. Er streckte die Beine weit von sich und fing an, genüsslich die Schokoladenhülle von seinem Eis anzuknabbern.
»Ach, ist das schön«, sagte er zufrieden.
»Hast du vorhin eigentlich auch den lauten Knall gehört?«
»Den Überschallknall? Ja, das waren Kampfjets. Jetzt schon das dritte Mal die Woche.«
Amalia nickte. »Hoffentlich beruhigt sich die Lage bald wieder. Ich habe echt Angst, dass wir in den Krieg mit reingezogen werden.«
»Das wird schon! Wir fliegen jetzt erstmal in den Urlaub und wenn wir zurückkommen, dann hat sich bestimmt alles wieder entspannt.«
»Ich hoffe, du hast Recht«, sagte Amalia. »Wie war dein Tag auf der Arbeit?«
Patrick zog genervt die Augenbrauen nach oben.
»Ach Schatz, was soll ich sagen? Unser Chef war mal wieder richtig mies drauf und das Angebot für den Dorferneuerungsplan hat natürlich länger gedauert als erwartet. Ich weiß auch gar nicht, warum der Chef im Moment eigentlich so schlecht gelaunt ist. Die Auftragsbücher quillen über und seine Sekretärin sitzt ihm ständig auf dem Schoss ...«
»Patrick!«, rügte ihn Amalia mit einem strengen Blick.
»Ist doch wahr. Die Mitarbeiter reißen sich den Arsch auf, schrubben Überstunden, aber Anerkennung ist Fehlanzeige. Lieber Bussi hier und Bussi da, Luxusurlaub mit seiner jungen Schnecke in der Karibik… Was bin ich froh, dass ich jetzt endlich Urlaub habe.«
Amalia schaute ihn verführerisch über ihre pinkfarbene Sonnenbrille an und streichelte dabei zärtlich über seinen Oberschenkel.
»Da machen wir dann auch ausgiebig Bussi hier und Bussi da!«
»Ich denke, dazu brauchen wir nicht unbedingt Urlaub«, korrigierte Patrick, schlürfte die letzten Eisreste vom Stiel, drehte sich zu seiner Frau und gab ihr einen sinnlichen Kuss auf ihre Lippen.
Nach dem Abendessen kuschelten sich die beiden im Wohnzimmer auf das Sofa und schauten Fernsehen. Amalia hatte ihren Kopf auf Patricks Brust gelegt und ließ sich zärtlich am Kopf kraulen. Die schleichend einsetzende Müdigkeit äußerte sich bei ihr in einem mehrfachen, ausgiebigen Gähnen.
»Ich gehe ins Bett. Ich bin todmüde.«
»Es ist doch erst kurz vor zehn. Dein erster Urlaubstag auf dem Balkon war scheinbar ganz schön anstrengend.« Für seinen Scherz bekam Patrick von seiner Frau einen leichten Stoß in die Seite.
»Du sollst mich nicht ärgern. Außerdem müssen wir morgen recht früh aufstehen. Ich will ausgeschlafen in den Urlaub starten.«
»Okay, dann bis gleich. Ich schaue den Film noch fertig und komme nach.«
So richtig folgen konnte Patrick dem Filmverlauf nicht mehr. Seine Gedanken drehten sich um seine vergangenen Träume und er fürchtete sich beinahe davor, schlafen zu gehen. Als er noch ein Teenager gewesen war, da hatte er oft diese fantasievollen, gleichzeitig aber auch erschreckend real wirkenden Träume gehabt, die in den Folgetagen in irgendeiner Art und Weise mit seiner Zukunft zu tun gehabt hatten.
Er hatte bisher noch niemandem davon erzählt, auch seiner Frau nicht. In den letzten Jahren hatte er diese Art von Träumen auch nur noch sehr selten gehabt, aber seit zwei Wochen waren sie so häufig und detailreich, dass es ihm mittlerweile Angst machte.
Kapitel 2
Er spürte einen kühlen Luftzug in seinem Gesicht, der ihm immer stärker entgegenblies. Patrick fiel, er stürzte, immer schneller, immer rasanter. Panisch vor Angst wollte er sich an etwas festhalten, aber er konnte seine Bewegungen nicht kontrollieren. Mit einem starken Ruck bremste er abrupt ab. Über ihm flatterte ein Fallschirm im Wind, der ihn sanft durch die Luft gleiten ließ.
Unter sich sah er verschwommene Konturen, die schon bald den Lichtern einer Großstadt wichen. Deutlich zeichneten sich die hell beleuchteten Straßennetze und Häuser ab, die von einem Fluss durchzogen wurden, auf dessen Oberfläche sich die nächtliche Beleuchtung spiegelte.
Allmählich näherte er sich einem großen, rechteckigen Gebäude, auf dessen Dach sich eine Kuppel befand und dessen prunkvolle Fassade von Scheinwerfern angestrahlt wurde. Beim Landeanflug bemerkte Patrick noch andere Fallschirmspringer über sich. Vier weitere waren bereits auf dem hinteren Teil des Daches gelandet und verstauten ihre Fallschirme in Taschen.
Während sich die Gruppe sammelte, landete Patrick abseits von ihnen, direkt unterhalb der Kuppel. Nachdem er den Gurt des Schirms gelöst hatte, kletterte er zu einem der Fenster hinauf und kniete sich dort auf den schmalen Absatz. Aus der Seitentasche seiner Hose zog er ein Schneidewerkzeug und bearbeitete einen kleinen Teil der Fensterscheibe. Mit Hilfe eines herausklappbaren Saugnapfes trennte er vorsichtig ein Glasstück heraus und schnallte anschließend das Gewehr von seinem Rücken.
Patrick hatte bereits erkannt, dass er sich in einem fremden Körper befand. Auf die Bewegungen des Mannes konnte er keinen Einfluss nehmen und so wartete er ab, was als nächstes geschehen würde. Ziemlich sicher war das hier aber eine illegale Aktion.
Durch das Zielfernrohr konnte er in die große Eingangshalle hinabblicken. An der hinteren Wand führte eine Prunktreppe aus weißem Marmor mit verzierten Säulen und einem breiten Handlauf in den ersten Stock hinauf. Durch die Bogenfenster leuchteten die Straßenlaternen hinein. Vor dem Haupteingang stand eine imposante Reiterstaue, auf dessen Podest eine reich verzierte Gedenktafel angebracht war. Wenige Stufen weiter in den Raum hinein saß ein Wachmann in einer hellblauen Uniform vor einigen Monitoren, denen er jedoch keine Aufmerksamkeit schenkte.
Der Mann hatte die Beine entspannt auf dem Tresen liegen und blätterte konzentriert in einer Zeitschrift. Der Schütze hielt kurz inne und setzte den Wachmann mit einem gezielten Schuss außer Gefecht.
Verdammt, hat der Typ – ich?! – die Wache gerade wirklich erschossen?
Kurz darauf betraten die Eindringlinge die Halle. Einer von ihnen ging in Richtung des Wachmannes, der leblos auf seinem Stuhl saß. Die Arme hingen schlapp herunter, der Kopf war nach vorne auf die Brust gesackt. Die Zeitschrift mit dem anzüglichen Titelbild lag nach oben gekehrt auf dem Boden vor ihm.
Nach kurzem Untersuchen zog der Maskierte einen winzigen Pfeil aus dem Hals des Wachmannes. Die Spitze des Pfeils musste äußerst fein gewesen sein, denn es war kein sichtbares Einstichloch zurückgeblieben.
Patrick erkannte, dass der Mann noch atmete. Vermutlich haben ihn die Angreifer bloß betäubt. Für einen Moment verspürte er eine gewisse Erleichterung.
Die Eindringlinge trugen Sturmhauben mit einem verdeckten Sichtfenster und waren allesamt in schwarz gekleidet. Ob die Gruppe nur aus Männern bestand, war selbst anhand der Staturen nicht eindeutig auszumachen. Das Einzige, was ihm auffiel: Die kleine Person vor ihm hatte eine Fußfehlstellung, denn sie setzte den rechten Fuß extrem nach innen gerichtet auf.
Den Hinweisschildern nach zu urteilen, befanden sie sich in einem Museum. Der Gang in Richtung des Westflügels war gesäumt von Vitrinen mit asiatischem Kunsthandwerk. Sie gingen vorbei an mannshohen Skulpturen, altertümlichen Münzen und Vasen, bis sie vor einem großen bronzefarbenen Tor standen.
Zu zweit öffneten sie die schwere Flügeltür, deren metallisches Knarzen in den dahinterliegenden Raum hallte. Die sich anschließende, kreisförmige Halle war von einem Kuppeldach überspannt, das von hohen Säulen getragen wurde.
In der Mitte des Raumes stand auf einem Sockel die Büste einer Frau, um deren Hals ein mit unterschiedlichen Edelsteinen besetztes Amulett präsentiert wurde. Die goldene Krone war besetzt mit Diamanten und weißen Perlen. Auf der Frontseite prangte ein sechseckiger Rubin, an dem sich das Licht der Taschenlampen brach und den Raum in ein hellrotes Licht tauchte.
»Pssst!«, flüsterte die vorangegangene Person den anderen zu und deutete in die zu gehende Richtung. Von Weitem konnte man schon die steinernen Wächter am anderen Ende des Korridors erblicken:
zwei gewaltige Löwenstatuen mit menschlichen Köpfen und Flügeln. Dazwischen eröffnete sich ihnen ein schmaler Gang, in den eine Steintreppe hinabführte.
Hier unten herrschte eine schaurige Atmosphäre. Sie waren umgeben von ausgestellten Mumien, Sarkophagen und Grabbeigaben. Weder die wundervollen Wandmalereien noch die kleine goldene Sphinx im Schaukasten vermochten es, das mulmige Gefühl in der Magengrube zu lindern. Vor einer der großen Vitrinen blieben sie stehen. Darin lag ein vollständig mit Blattgold überzogener Sarkophag, der an den Seiten mit Hieroglyphen und Bildnissen prunkvoll verziert war. Auf dem Deckel war vermutlich der Verstorbene abgebildet, liegend und mit überkreuzten Armen über der Brust. In beiden Händen hielt er die Königszepter, die Patrick an die Form von Zuckerstangen erinnerten. Auf dem Bauch war ein zweiköpfiger Drache dargestellt, dessen ausgebreitete Flügel sich bis auf die Sargwanne erstrecken. Die vergoldete Totenmaske zeigte ein Gesicht mit kunstvoll geschminkten Augen, einen schmalen, gold-türkisen Kinnbart sowie eine gestreifte Kopfbedeckung, die bis zu den Schultern herabfiel. Auf der Stirn prangte der Kopf einer Kobra. Das Königssymbol.
Der Anführer der Gruppe kramte einen Dietrich heraus und knackte innerhalb weniger Sekunden das Schloss der Glasabdeckung. Dann beugte er sich über den Sarkophag und untersuchte mit seinen Fingern vorsichtig die Totenmaske. Zunächst strich er über den etwa zehn Zentimeter langen Bart, versuchte, daran zu wackeln und zu ziehen, ohne dass sich etwas rührte. Anschließend untersuchte er mit konzentriertem Blick die Ohren, die Augen und das Schlangensymbol, wurde aber anscheinend nicht fündig.
Nun tastete er langsam über das breite, farbenfrohe Collier unterhalb der Maske. Er presste seine Fingernägel in jede einzelne Rille zwischen den Steinen hinein und drückte in unterschiedlichen Abfolgen auf die sieben kleinen grünen Skarabäen. Das tat er eine ganze Weile, ohne das etwas passierte. Plötzlich hallte ein dumpfes Knacken durch die unterirdischen Hallen.
Der Kerl hatte einen versteckten Mechanismus betätigt, der den Kinnbart von der Maske abtrennte. Ehrfürchtig hielt er ihn in seinen Händen und betrachtete das massive Metallstück von allen Seiten. Mehr als eine größere Einkerbung im Verbindungsschaft war jedoch nicht zu erkennen. Enttäuscht schlug er mit seiner Faust auf die Totenmaske und schrie seinen Frust heraus. Das Schimpfwort war noch nicht verhallt, da löste sich aus der Öffnung ein Ring, der zuvor nicht sichtbar gewesen war.
Er rollte über den Sarkophag hinweg, fiel hinunter und prallte klirrend auf den harten Steinboden. Fasziniert starrten alle auf das gläsern wirkende Schmuckstück. Einer der Männer bückte sich, hob ihn auf und zeigte ihn in die Runde.
Es schien eine Art Siegelring zu sein, in den ein violetter Amethyst mit einem Pentagramm eingesetzt war. Der Anführer nahm den Ring an sich und betrachte die feine Gravur auf dem Rand.
»Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir«, las er vor und fügte euphorisch an: »Das ist er!«
Er steckte den Ring eilig in seine Tasche, befestigte den Kinnbart wieder an der Totenmaske und verschloss die Vitrine. Während Patrick verwundert in dem Keller zurückblieb, verschwand die Gruppe aus der Richtung, aus der sie gekommen waren.
Was war das für ein Ring, den sie gestohlen hatten? So, wie die Eindringlinge vorgegangen waren, wussten sie genau, was sie wollten und wo sie es finden konnten. Ein solch gefährliches Unterfangen für einen einzigen Ring?
Vermutlich war dem Museum die Existenz des Ringes noch nicht einmal bekannt. Der Wachmann würde glauben, eingeschlafen zu sein und die Überwachungskameras würden aus unerklärlichen Gründen ausgefallen sein. Niemand würde den Ring vermissen oder auf die Idee kommen, dass ein Diebstahl stattgefunden hatte.
Instinktiv versuchte er, etwas von seiner Schulter wegzuwischen, spürte etwas Weiches, Klebriges mit einer sonderbaren Konsistenz und erschrak, als er feststellte, wer seine Hand auf seine Schulter gelegt hatte. Er blickte in die leeren Augenhöhlen einer mit modrigen Leinen umwickelten Gestalt, deren Maul weit aufgerissen war, um ihn zu verschlingen.
»Patrick, Patrick, wach auf!«, schrie Amalia.
Er konnte seinen Schrei vor dem Aufwachen nachhallen hören.
»Was ... wo bin ich? Amalia, bist du´s?«
Zittrig griff er nach ihrer Hand und schaute sie mit ängstlichen, glasigen Augen an.
»Ganz ruhig, mein Schatz, du bist zu Hause, im Wohnzimmer. Du hast nur schlecht geträumt.«
Amalia legte sich hinter ihn und schlang ihren Arm um seinen Bauch.
»Du bist auf dem Sofa eingeschlafen und ich bin durch deine Schreie aufgewacht.«
Patrick schwieg, drückte Amalias Hand aber fest an sich.
»War es wieder einer dieser Träume?«
Als Antwort bekam sie bloß ein bejahendes Nicken.
»Es war nur ein Traum! Alles ist gut! Ich bin bei dir!«
Patrick brauchte noch eine ganze Weile, bis er etwas sagen konnte.
»Ich war gerade in einem Museum und dann sind dort die Mumien zum Leben erwacht.«
»Untote Mumien?«, fragte Amalia ungläubig.
Patrick wollte gerade weitererzählen, als das grelle Piepen des Weckers aus dem Schlafzimmer ertönte.
»Wir fliegen jetzt erstmal in den Urlaub und du wirst sehen, deine bösen Träume werden verschwinden«, munterte Amalia ihn auf. »Wir lassen unsere Seelen baumeln und erleben wieder ein richtiges Abenteuer. Na, komm schon hoch, der Flieger wird nicht auf uns warten.«
Amalia stand vom Sofa auf und ging durch den offenen Wohnbereich ins Schlafzimmer, um den Wecker auszuschalten.
Schon bald hörte Patrick das Klappern der Teller, das Klirren des Bestecks und die Tür des Kühlschrankes. Amalia war offenbar damit beschäftigt, den Frühstückstisch zu decken, während er noch immer niedergeschlagen auf dem Sofa dahinkauerte.
»Möchtest du nichts essen?«
»Doch, ich komme gleich. Gib mir noch eine Minute.«
Patrick stöhnte auf, als er sich hinsetzte. Er wischte sich den Schlafsand aus seinen Augen und schaute rüber auf das kleine Innenthermometer auf der Kommode. Neben der aktuellen Raumtemperatur konnte man der elektronischen Anzeige auch die Luftfeuchte sowie die Uhrzeit entnehmen – viertel nach fünf.
Als Patrick die Küche betrat, hatte seine Frau bereits gefrühstückt. Nur noch kleine Brotkrümel lagen auf ihrem Teller und winzige Reste der selbstgemachten Marmelade klebten am Rand.
»Ich geh‘ dann schon mal ins Bad und mache mich fertig. Du brauchst sicherlich noch einen Moment. Wenn du Wurst und Käse magst, die liegen noch im Kühlschrank. Bis gleich.«
Sie gab ihm einen sinnlichen, nach süßer Himbeere schmeckenden Kuss und verschwand durch die offenstehende Tür in den Flur.
Bis eben waren die negativen Gedanken für einen kurzen Moment in den Hintergrund gedrängt gewesen. Nun waren sie schlagartig wieder zurück.
Was für ein verrückter Traum, dachte Patrick, während er den Aufschnitt aus dem Kühlschrank holte. So nachdenklich wie er sein Brot schmierte, so langsam glichen seine Kaubewegungen einer Zeitlupeneinstellung. Er dachte über Amalias Worte nach und kam zu dem Ergebnis, dass sie wie so oft Recht hatte.
Verdammt noch mal Patrick, hör auf, dich in diesen Mist hineinzusteigern. So schlimm waren die Träume jetzt doch auch nicht.
Er fasste den Entschluss, sich jetzt nur noch auf den anstehenden Urlaub mit seiner Frau zu freuen.
Dass seine Frau mit ihm gemeinsam den Gipfelsturm in Angriff nehmen würde, bedeutete ihm sehr viel. Einfach war es nicht gewesen, Amalia von seinem Vorhaben zu überzeugen. Die Vorbereitung durch zahlreiche Wanderungen und Mountainbike-Touren in der heimischen Rhön hatte zwangsläufig zu dem ein oder anderen Muskelkater geführt, aber Amalia hatte dennoch ihre Freude an den langen Ausflügen gefunden.
Vom Klappern der Kleiderbügel aus dem Schlafzimmer schreckte er auf. Hektisch entsorgte er die leeren Aufschnittverpackungen und spülte seinen Frühstücksteller ab. Als er sich umdrehte, stand Amalia im Türrahmen und strahlte dabei über beide Ohren.
»Nimmst du mich so mit?«
Sie trug ihr rotes Kleid mit den kleinen weißen Punkten, das sich so elegant ihrer Figur anschmiegte. Die roten Ohrringe funkelten durch ihr blondes, lockiges Haar und waren perfekt auf ihre frisch lackierten Fingernägel abgestimmt.
Patrick sah sie prüfend an. »Wow, aber sicher!«
»Sieh zu, dass du jetzt auch fertig wirst, ja?!«
»Ich beeile mich. In zehn Minuten bin ich zurück.«
Er hastete ins Badezimmer, vorbei an den vollgepackten Reisekoffern und den Rucksäcken. Nachdem Amalias alter Koffer nach dem Winterurlaub hinüber gewesen war, hatte sie sich einen Premium-Designer Hartschalenkoffer gegönnt. Die Oberfläche zierte eine lächelnde Sonne mit blauen Augen und Spiralen in Regenbogenoptik. Der kunterbunte Koffer brachte die Fröhlichkeit seiner Besitzerin zum Ausdruck. Wenn Amalia das Zimmer betrat, ging die Sonne auf.
Die Haare frisch gewaschen, Zähne geputzt und parfümiert eilte Patrick ins Schlafzimmer und kehrte angezogen mit einer dunklen Jeans und einem blau karierten Hemd zurück.
»Bist du jetzt fertig?«, fragte Amalia mit einem Zwinkern.
»Fertig! Aber Schatz, kannst du mir einen Gefallen tun und zum Flughafen fahren? Dann kann in noch ein wenig die Augen zumachen. Ich fühle mich, als hätte ich die Nacht keine Sekunde geschlafen.«
»In Ordnung. Dafür bringst du das Gepäck ins Auto.«
»Einverstanden!«, erwiderte Patrick und hielt kurz inne. »Haben wir alle Unterlagen dabei? Den Voucher, die Reisepässe?«
Amalia griff nach ihrer braunen Lederhandtasche, öffnete den Reißverschluss und zog eine pinkfarbene Heftmappe heraus.
»Alles dabei!«, antwortete sie und lächelte ihn an.
»Perfekt, dann kann´s ja losgehen.«
Er nahm die Koffer und trug sie nacheinander in die Tiefgarage. Bis zum zulässigen Gewichtslimit ausgereizt, reichten die Koffer nicht aus, um die notwendige Ausrüstung und Kleidung unterzubringen. Der große, dunkelblaue Trekkingrucksack, den Patrick während der Wanderung tragen wollte, war ebenfalls prall gefüllt.
Amalia war der Masse an Gepäck gegenüber eher skeptisch eingestellt, wohingegen Patrick von der umfangreichen Packliste überzeugt war. Er musste für alle Eventualitäten gewappnet sein. Dementsprechend lange dauerte es, bis er das ganze Gepäck sorgfältig und in perfekter Lage von der Rückbank bis in den Kofferraum, verstaut hatte. Dann konnte es endlich losgehen. Amalia fuhr gerne mit Patricks Auto, einem SUV in dunkelblau mit Perleffekt. Das weiche Leder am Lenkrad fühlte sich einfach toll an und auch die edle Innenausstattung mit den äußerst bequemen Sitzen ließen ihr Herz höherschlagen.
Der sonnige Sommertag von gestern war einem wolkenverhangenen Himmel gewichen und der nächste Regenschauer schien nicht mehr lange auf sich warten zu lassen. Nach einer guten Stunde Fahrt wachte Patrick auf.
»Sind wir schon da? Hab ich geschlafen?«
»Tief und fest, ganz friedlich, ohne irgendwelche Vorkommnisse.«
»Puh, sehr gut! Ich kann mich auch gar nicht daran erinnern, etwas geträumt zu haben.«
»Siehst du, wie ich gesagt habe. Der Urlaub wird dir guttun.«
Er streckte sich, gähnte dabei und beobachtete mehrere Helikopter, die sich ihnen langsam näherten. Sie eskortierten offenbar einen Armeekonvoi, der ihnen kurz darauf entgegenkam. Weit mehr als einhundert Fahrzeuge schätzte Patrick. Jeeps, gepanzerte Fahrzeuge, Lastwagen, teilweise mit Kampfpanzern beladen, fuhren in Kolonne an ihnen vorüber. Er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals und ein beklemmendes Gefühl in der Magengrube. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, von denen man in den Nachrichten so viel hörte, schienen in diesem Moment ganz nah.
Amalia erging es offenbar ähnlich, sie versuchte, sich krampfhaft auf den Verkehr zu konzentrieren. »Wir müssen gleich abfahren. Kannst du mal nachsehen, in welches Parkhaus wir müssen?«
Patrick griff nach ihrer Handtasche und holte den Hefter heraus. Die ausgedruckte Parkplatzreservierung hing direkt auf Seite eins. Alle Unterlagen waren in der Reihenfolge sortiert, wie sie voraussichtlich benötigt werden würden. So kannte er seine Frau.
»Wir müssen in Terminal 1, Zufahrt P3«, las er vor.
Nach wenigen Minuten erreichten sie auch schon die Einfahrt zum Parkhaus. Amalia ließ die Scheibe herunter, um den Codierungscode direkt vor den Scanner zu halten. Es ertönte ein Piepen und die Schranke ging hoch.
Nachdem sie das Auto abgestellt und das Gepäck ausgeladen hatten, begaben sie sich zum Terminal. In der großen Wartehalle angekommen beschlich Patrick nicht nur ein mulmiges Gefühl, sondern der Kloß in seinem Hals, von dem er glaubte, er habe sich in den vergangenen Minuten wieder aufgelöst, war auf einmal wieder da.
Schwerbewaffnete Soldaten und Polizisten patrouillierten in der großen Halle. Nicht gerade das, was man sich für einen entspannten Urlaubsstart vorstellte. Die Bedrohung erschien ihm mittlerweile regelrecht greifbar.
»Ich bin echt froh, wenn wir endlich im Flieger sitzen«, flüstere Amalia. Patrick nickte. Er versuchte, sich abzulenken und konzentrierte sich auf das geschmeidige Klappern der Buchstaben- und Zahlenschilder an der großen Anzeigetafel, auf welcher die nächsten Flüge angezeigt wurden. Fasziniert studierte Patrick die möglichen Reiseziele: Los Angeles, Havanna, Shanghai, Neu Delhi, Abu Dhabi, Houston, Buenos Aires. Ihr Reiseziel, der Kilimandscharo Airport, wurde auf der Anzeigetafel bereits gelistet.
Flughäfen beeindruckten Patrick immer wieder. Sie waren für ihn so etwas wie das Tor zur Welt. Ein Ort, an dem verschiedenste Kulturen, Menschen aus allen Teilen der Erde zusammentrafen.
Den Check-In Schalter ihrer Fluggesellschaft konnten Amalia und Patrick schnell ausfindig machen und reihten sich in die kurze Warteschlage ein.
»Der nächste bitte«, rief die junge Dame am Schalter.
Patrick bemerkte sofort, wie Amalia von der Frau gemustert wurde, während sie ihren Koffer neben sich herschob.
»Guten Morgen, Sie haben aber einen schönen Koffer.«
»Vielen Dank!« Amalia wirkte sichtlich geschmeichelt.
»Ich habe zu Hause auch so einen. Die Koffer im Sortiment haben ja alle so schöne Muster. Ich konnte mich zunächst gar nicht entscheiden.«
»Mir erging es genauso. Ich habe zwischen den Blumen- und den Karibikmotiven geschwankt.«
»Ich habe mich für ein London-Motiv entschieden, aber die Auswahl ist ja wirklich riesig. Nun ja, dürfte ich bitte Ihre Bordkarten und Reisepässe sehen?«
Amalia hatte die Unterlagen bereits griffbereit.
»Oh, Sie fliegen nach Tansania. Das ist aber schön. Da war ich letztes Jahr auch mit meinem Freund. Machen Sie dort Safari?«
»Ja, direkt morgen geht es los. Anschließend noch Trekking und Strandurlaub auf Sansibar.«
»Wirklich toll, da nehmen Sie ja gleich alles mit. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug und einen schönen Aufenthalt.«
Auf dem Weg zur Personen- und Handgepäckskontrolle war Amalia ganz euphorisch.
»Ach Patrick, ich freu‘ mich so auf den Urlaub mit dir.«
Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn zärtlich auf die Lippen, während er sie fest an sich drückte.
Bei Patrick dauerte die Sicherheitskontrolle einen Moment länger als bei seiner Frau. Neben seiner Brille und dem Gürtel hatte er noch das Handy und den Geldbeutel in der Hosentasche. Anscheinend hatte er noch etwas vergessen aus der Hose zu nehmen, denn von einem männlichen Sicherheitsbeamten wurde er in eine der kleinen Kabinen zur Nachkontrolle gebeten. Der Scanner hatte einen Gegenstand in der Hüftregion moniert, was sich aber schnell als zerknäultes Taschentuch in der Hosentasche herausstellte.
»Alles in Ordnung!«, sagte die kräftige Dame in der blauen Uniform und ließ Patrick verwundert zurück.
»Das war´s schon?«, frage er, was die Mitarbeiterin entweder nicht hörte oder schlicht ignorierte.
»Da lassen sie den Terroristen einfach entwischen! Vielleicht sollte ich noch einmal nach der Security rufen«, scherzte Amalia.
»Sei still, sonst überlegen sie es sich noch anders«, rügte Patrick und fügte grinsend an: »Bei dir wäre ich auf jeden Fall auf Nummer sicher gegangen und hätte unter deinem Kleid nachgeschaut.«
»Blödmann!« Amalia gab ihm einen leichten Klaps.
»Hast du alles wieder eingesteckt, Handy, Geldbeutel? Nicht, dass wir wieder zurücklaufen müssen.«
Patrick suchte seine Taschen mit seinen Händen ab.
»Alles am Mann«.
Sie liefen weiter, nun gelöst auf den Aufruf ihres Fluges wartend.
»Wollen wir uns dort drüben noch etwas zu trinken kaufen?«, fragte Patrick und zeigte auf den kleinen Laden an der Ecke.
»Ich möchte nichts, aber du kannst dir ruhig etwas holen.«
»In Ordnung. Ich hol‘ mir was.«
»Gut, ich warte hier so lange auf dich.«
Amalia setzte sich auf die Bank gegenüber von dem Dessousladen und beobachtete einen älteren Mann in einer grauen Strickjacke und einer olivgrünen Hose, der sich an der Wand entlang, langsam, aber fokussiert der Puppe näherte. Kurz davor blieb er stehen und starrte sie eine ganze Weile lang an.
Mich würde ja brennend interessieren, was dem jetzt durch den Kopf geht.
Völlig ungeniert ging der Mann einen weiteren Schritt auf die Puppe zu, tastete mit der einen Hand am BH herum und streichelte mit der anderen Hand am glatten Mantel entlang.
Jetzt geht er ihr an die Wäsche.
In dem Moment, als eine Kundin den Laden verließ, zuckte der Mann ertappt zusammen und ging flotten Schrittes weiter.
Amalia studierte gerne ihre Umwelt, so wie auch in diesem Fall. Das Aussehen und das Verhalten von Menschen sowie deren unterschiedliche Reaktionen auf bestimmte Ereignisse fand sie schon immer äußerst spannend zu beobachten. Sie versuchte, die Personen, die an ihr vorübergingen, einzuschätzen und überlegte, von woher die Leute wohl kamen, wo sie hinwollten und was sie möglicherweise beruflich machten.
Inzwischen war Patrick mit einer Cola und einer Apfelschorle zurück.
»Wenn du magst, kannst du dann auch einen Schluck haben.«
»Äußerst großzügig von dir«, neckte Amalia ihn.
»Ich habe gerade einen komischen Kautz beobachtet. Der hat die ganze Zeit vor der Puppe dort drüben gestanden und dann angefangen, an ihr rumzuspielen.«
»Die Puppe mit den Dessous?«
»Ja!«
»Mhh ..., also Geschmack scheint er zu haben.«
»Patrick!«
»Das war ein Spaß! Es gibt eben Leute, denen ist nichts peinlich.«
Sie gingen weiter zu einem Zeitschriftenhandel und schmökerten dort ein wenig durch die Magazine.
Während sie auf das Boarding warteten und Amalia in einen Bericht über die neusten Ernährungstrends vertieft war, bemerkte Patrick, wie sich um den Fernseher eine Menschentraube bildete. Es ging um die schwelenden Konflikte in der Welt und die Angst, dass es zu einer noch größeren Eskalation kommen könnte.
Patrick war es leid, die ständigen Berichte über das Säbelrasseln zwischen einzelnen Nationen, erneuten Anschlägen, Gräueltaten und Raketentests zu hören. Natürlich war es schlimm und man sollte nicht einfach wegschauen, aber was sollte er als Einzelner denn tun? Täglich wurde er in den Medien mit neuen Hiobsbotschaften konfrontiert. Im Grunde ging es immer nur um Macht, Geld oder Religion. Konnten die Menschen nicht einfach friedlich miteinander leben? Was hatten uns die großen Kriege außer Tod und Zerstörung denn gebracht? Ihm fiel dann immer das Zitat eines großen Philosophen ein, der einmal sagte: Die Geschichte wiederholt sich, weil beim ersten Mal niemand zugehört hat.
Dazugelernt hat die Menschheit jedenfalls nicht viel, war sich Patrick sicher. Egal welcher Nationalität, Hautfarbe oder Religion wir angehören, gemeinsam könnten wir so viel mehr erreichen. Niemand auf der Erde müsste mehr Hunger leiden. Anstelle von Investitionen in Raketensysteme, mit denen wir uns gegenseitig umbringen, könnten wir inzwischen längst über Raumschiffe verfügen, mit denen wir das Weltall zu unserer Spielwiese machen. Wir bräuchten nicht weiter die begrenzten Rohstoffe auf unserem kleinen Planeten auszubeuten, sondern könnten sie aus der schier grenzenlosen Weite des Universums importieren und wir könnten...
Von einer Lautsprecherdurchsage wurde Patrick aus seinen Fantasien gerissen.
»Die Passagiere des Fluges XT157 nach Kilimandscharo Airport werden dringend gebeten, sich am Flugsteig A21 einzufinden.«
Das Boarding verlief zügig und sie konnten rechtzeitig ihren Platz im Flieger einnehmen. Amalia hatte bei der Buchung einen Fensterplatz auf der linken Seite gewählt. Patrick saß direkt neben ihr in der Mitte und las in seiner Zeitschrift.
Der Flug gestaltete sich durch die große Auswahl an Filmen, Büchern und Spielen recht unterhaltsam und die Flugbegleiter versorgten sie regelmäßig mit Getränken und kleinen Snacks. Nachdem sie die Grenze zum afrikanischen Kontinent überflogen hatten, kramte Patrick seine Schlafmaske aus dem Handgepäck, um sich ein wenig Entspannung zu gönnen. Die Alpträume in den vergangenen Nächten hatten ihn viel Kraft gekostet.
Sein Geist schwebte über den weißgrauen Wolken, die unter ihm vorüberzogen und er spürte den frischen Wind, der ihm ins Gesicht wehte. Am Horizont schob sich die aufgehende Sonne langsam über die Wolkendecke und ließ alles um ihn herum in einem goldenen Schein erstrahlen.
In der Ferne ragte ein Hügel aus den Wolken. Der Morgentau auf seinen Hängen schimmerte silbern im Sonnenschein und der große Turm auf der Hügelspitze warf einen langen Schatten auf die Wolkendecke. Patricks Geist tauchte hinab durch die feuchten Nebel zu einer Gruppe Menschen, die gespannt in Richtung des Hügels blickten und miteinander diskutierten.
»Verdammt nochmal, wie sollen wir denn bei der Nebelsuppe den Schatten des Turmes erkennen können? Das ist unmöglich!«, fluchte ein groß gewachsener Mann mit Kurzhaarschnitt und einer Camouflagehose. Mit seinen breiten Schultern und dem dicken Bizeps hatte er etwas von einem in die Jahre gekommenen Actionhelden.
»Beruhige dich, Richard. Mit Hilfe der aufgestellten Sensoren und der Berechnung des Sonnenverlaufs sollte das Ergebnis relativ genau ausfallen.«
Die junge Frau tippte hektisch auf die Tasten ihres Laptops. Der aufkommende Wind spielte mit ihren langen, braunen Haaren und ließ sie wild durch die Luft tanzen. Nach einer Weile hielt sie inne und starrte auf ihren Laptop, um über ihre Schulter zu schauen.
»Und, Jana, was sagt die Technik?«
»Dort drüben müsste es sein!« Sie zeigte in Richtung einer kleinen Anhöhe. Durch die dichten Nebelschwaden konnte man die schemenhaften Umrisse einer alten Buche erahnen.
»Dort werden wir unsere Analyse mit dem Magnetometer fortsetzen.«
»Bist du dir sicher?«
»Die Aufzeichnungen meines Vaters besagen, dass uns Glastonbury Tor den Weg zum Grab weisen wird. Der verlängerte Schatten des Turms von St. Michaels zur Sommersonnenwende.«
»Nun gut, dann fangen wir an. Wir werden ja sehen, ob dein Vater erneut recht behält.«
»Bisher haben uns seine Aufzeichnungen nicht enttäuscht, oder?«
Die junge Frau vergrub ihr Gesicht in dem hochgezogenen Kragen ihrer weinroten Jacke und widmete sich den Analysen.
Der Boden, auf dem sie standen, war durch die starken Regenfälle der letzten Tage aufgeweicht. Die Fahrzeuge, aus denen sie schweres Gerät und Kisten ausluden, hatten tiefe Spurrinnen in der Wiese hinterlassen. Die Männer waren eine ganze Weile mit dem Entladen beschäftigt, bevor sie Metallstangen in die Erde schlugen und mithilfe von elektronischen Geräten den Boden unter ihren erforschten. Neben dem Summen der Sensoren hörte man das Schlagen einer Turmuhr in der Ferne, ab und an drang das Schreien eines Vogels durch den nasskalten Dunst.
»Wahnsinn! Richard, das musst du dir ansehen! Ich glaube, wir haben es gefunden.«
»Bist du dir sicher? Was kannst du aus den Bodenaufzeichnungen erkennen?«
»Das Bodenradar hat ganze Arbeit geleistet. Siehst du das hier?« Sie zeigte mit ihrem Finger auf die roten und gelben Flecken auf dem Bildschirm ihres Laptops.
»Das hier sind die Fundamente einer Anlage. Das hier drüben könnte eine Treppe sein und das darunter ein altes Gewölbe, aber es liegt verdammt tief unter der Erde, zu tief, um eine genauere Prognose abgeben zu können.«
»Puh, das ganze Areal freizulegen, wird eine ganze Weile dauern.«
»Wir konzentrieren uns auf die Treppe und das, was darunter liegt. Der Rest spielt für uns keine Rolle.«
Sofort wurden um die besagte Stelle Scheinwerfer aufgebaut und die ersten Spatenstiche gesetzt. Nach einer guten Stunde mussten die ersten Arbeiter eine Pause einlegen, da sich die Grabungen als äußerst kräftezehrend herausstellten. Der nasse Lehmboden war klebrig und schwer. Er ließ sich nicht einfach wegschaufeln, sondern blieb bei jedem Stich an dem Spaten oder der Schaufel hängen und musste mit einer Kelle abgeschabt werden.
»Wenn das so weiter geht, sind wir in ein paar Wochen immer noch hier und dann könnte bereits alles zu spät sein«, fluchte Jana, schnappte sich einen Spaten aus der Materialkiste und sprang in den inzwischen gut einen Meter tiefen Graben.
Viele Spatenstiche später stießen sie auf etwas Hartes und Breites, bei dem sie nicht tiefer kamen. Endlich waren sie auf das Fundament gestoßen. Nach etwa vier Stunden harter Arbeit waren ein kleiner Teil des alten Bergfrieds und die ersten Stufen freigelegt.
Erschöpft und durchgeschwitzt stützte sich Jana auf den Spatenstiel und keuchte schwer. Ein junger Arbeiter mit einer Schiebermütze klopfte ihr lobend auf die Schulter.
»Spitze gemacht, Jana, aber eine Pause würde dir guttun. Komm, ich fahr‘ dich zurück zum Gasthaus. Dort kannst du dich eine Weile aufs Ohr hauen. Richard wird dir Bescheid geben, wenn es spannend wird. Im Moment kannst du hier eh nicht mehr viel tun.«
»Danke, Leon! Du hast wohl recht, aber ich fahre selbst zurück. Mach du hier weiter!«
Mit dreckverschmierten Klamotten und schwerem Schritt schlurfte Jana zu dem schwarzen Geländewagen und ließ sich auf den Sitz plumpsen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und beobachtete mit leerem Blick die Ausgrabung. Mit den Gedanken abgeschweift schreckte sie auf, als jemand an die Scheibe klopfte. Es war Leon, der mit ihrem Handy vor der Scheibe umher fuchtelte.
»Mensch, Leon, erschreck mich nicht so, was ist denn los?«
»Tut mir leid, Jana. Dein Handy ist dir aus der Hosentasche gefallen und ich dachte mir, du kannst es vielleicht noch gebrauchen.«
»Ja klar, gib schon her.« Ruppig riss sie ihm das Handy aus der Hand und fuhr los. Auf dem Weg ins Gasthaus setzte die Abenddämmerung ein und es fing an zu regnen. Schon bald konnte sie kaum noch die Straße erkennen. Der Asphalt wurde immer rauer, die Schlaglöcher rüttelten sie durch ...
Ein bohrender Schmerz riss Patrick aus seinem Traum. Das Flugzeug befand sich in schweren Turbulenzen und sackte von einem Luftloch ins nächste. Aufgrund des Druckabfalls in der Kabine waren die Sauerstoffmasken aus ihren Klappen in der Decke gefallen. Eine davon schwang vor seinem Gesicht hin und her. Im nächsten Moment lag das Flugzeug wieder ruhig in der Luft. Die Angst stand Amalia noch immer ins Gesicht geschrieben.
»Ich ... ich hatte solche Todesangst ... und ... und du hast einfach nur dagelegen und geschlafen«, erklärte Amalia mit weinerlicher Stimme. »Ich habe dich geschüttelt, aber du bist nicht aufgewacht.«
»Was ist denn passiert? Ich habe nichts mitbekommen.«
»Wie aus dem Nichts haben sich auf einmal dunkle Wolken gebildet und es fing an, zu blitzen. Das Flugzeug ist minutenlang hin und her geschaukelt, immer wieder heftig abgesackt und hat kontinuierlich an Höhe verloren. Ich dachte, wir stürzen ab! Aber in dem Moment, als du aufgewacht bist, war es schlagartig wieder vorbei.«
Das Signal für die Borddurchsage ertönte und der Flugkapitän versuchte die Passagiere zu beruhigen. Eine der Flugbegleiterinnen kam den Gang entlang entlanggeeilt, in der Hand hatte sie einen orangefarbenen Erste-Hilfe-Koffer. Direkt neben Patrick blieb sie stehen.
»Entschuldigen Sie, darf ich Ihnen helfen?«, fragte sie besorgt und deutete auf die Wunden an seinem Arm.
»Ach du Schreck. Was ist das denn?«
Amalia hatte sich vor Angst fest an seinen Arm geklammert und ihre Fingernägel dabei unbewusst so stark in seinen Unterarm gepresst, dass sie blutige Einkerbungen hinterlassen hatten. Die Stewardess säuberte die Wunden mit einem antiseptischen Spray und verband anschließend den Arm.
»Wie ist denn das passiert?«, fragte die Stewardess.
»Ich fürchte, ich war etwas zu anhänglich«, beantwortete Amalia zwinkernd die Frage und drückte Patrick einen Kuss auf die Wange.
Nach knapp achtstündiger Flugzeit begann der Landeanflug und bot ihnen einen spektakulären Blick auf die Vulkankegel des ostafrikanischen Grabenbruches. In der Ferne ragte der Mount Kenia aus den Wolken heraus und vor ihnen lag das Kilimandscharo-Massiv mit seiner schneebedeckten Gipfelregion.
Die Landung klappte reibungslos und alle Passagiere konnten den Flieger verlassen, auch wenn einigen die Angst noch tief in den Gliedern steckte. Beim Verlassen des Flugzeugs machten sie schlagartig Bekanntschaft mit der afrikanischen Hitze. Es war für diese Jahreszeit heiß, sehr heiß sogar. Patrick hätte am liebsten sofort seine enge Jeans gegen eine luftige, kurze Hose eingetauscht, aber die war noch in seinem Koffer. Hinter dem Rollfeld thronte der große Vulkan imposant über die Baumkronen und an dem Flughafengebäude waren in großen, gelben Buchstaben die Worte „Kilimandscharo International Airport“ angebracht.
Kapitel 3
Willkommen in Tansania
Der Kilimandscharo International Airport war zwar nur der zweitgrößte Flughafen Tansanias, aufgrund seiner Nähe zu den touristischen Attraktionen aber der vermutlich wichtigste des ganzen Landes. Amalias Koffer war einer der ersten auf dem Gepäckband. Ein wenig später nahm auch Patrick seinen Koffer in Empfang und die beiden machten sich auf den Weg in Richtung Ausgang. Während Amalia flotten Schrittes auf die Haupthalle zusteuerte, hielt Patrick Ausschau nach sanitären Anlagen.
»Schatz, warte einen Moment! Ich gehe dort drüben schnell auf die Toilette und ziehe mir eine kurze Hose an.«
»Halt warte!«, rief ihm Amalia nach. »Du willst doch nicht etwa deinen Koffer mit auf die Toilette nehmen? Das ist doch total eklig! Bis zum Hotel wirst du es doch wohl noch aushalten!?«
»Mir ist so heiß, der Schweiß läuft mir schon die Beine runter.«
Amalia verdrehte die Augen. »Okay, wenn es unbedingt sein muss, dann suche deine Hose raus. Ich nehme so lange deinen Koffer und wechsle inzwischen unsere Euroscheine in Schilling.«
Während Amalia wartete, nutzte sie die Zeit, um sich ein wenig umzusehen. Das Gebäude war im Vergleich zu anderen Flughäfen nicht wirklich groß, aber es gab neben der Wechselstube einen Supermarkt, einen Zeitschriftenladen, ein Bekleidungsgeschäft und sogar einen Juwelier. Daneben gab es noch eine Vielzahl kleiner Läden, in denen hauptsächlich Souvenirs angeboten wurden. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Patrick in seiner kurzen Stoffhose zurück.
Am Ausgang wurden sie bereits von einem großgewachsenen Mann in Empfang genommen, der ein Schild mit der Aufschrift Safari & Adventure Holidays und ihren Namen in die Luft reckte.
»Hello, we booking ...«, sprach Amalia den Mann an, wurde jedoch schnell von ihm unterbrochen.
»Herzlich Willkommen in Tansania. Sie sind Herr und Frau Baumann?«
»Ja, genau«, antwortete Amalia überrascht.
»Sehr schön, dann sind Sie bei mir richtig. Mein Name ist Abasi und ich werde Sie zu ihrem Hotel nach Arusha fahren. Bitte folgen Sie mir schon einmal zum Bus.«
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie deutsch sprechen, dazu noch so gut.«
»Vielen Dank. Aber das ist doch selbstverständlich, schließlich haben Sie eine deutschsprachige Reisebegleitung gebucht.«
»Oh, ähm ... haben wir das?«
Fragend schaute sie zu Patrick rüber, der aber nur mit den Schultern zuckte.
»Das stand zwar nicht explizit in unseren Unterlagen, aber umso besser.«
»Wir warten noch auf die anderen Gäste und dann kann es losgehen. Gerne dürfen Sie sich schon einmal ein Getränk aus der Kühlbox nehmen und im Bus einen Platz aussuchen.«
Beide nahmen sich eine eiskalte Limonade aus der hellblauen Box und staunten, als sie den Bus betraten. Alles war im Safaristil eingerichtet und in einem sehr neuen Zustand. Der schmale Gang glich einem ausgewaschenen Gebirgspfad. Auf den dunkelbraunen Sitzen waren Felle von verschiedenen Wildtieren befestigt und zwischen den Fenstern waren Baumstämme aus Hartplastik modelliert. Das grüne Astwerk erstreckte sich fast über die gesamte Decke und ließ hier und da einen blauen Himmel durchblitzen.
Patrick verstaute seinen Rucksack über der ersten Reihe und wählte einen Sitz mit Löwenfell. Amalia zögerte.
»Entschuldigen Sie, sind das echte Felle?«
»Nein, keine Sorge, das wäre strafbar. Die Felle sind alle aus Kunsthaar«, antwortete Abasi.
Erleichtert nickte Amalia und betrachtete die Felle nun genauer. Sie konnte das Fell eines Zebras und einer weiteren Wildkatze ausmachen, deren Namen ihr aber gerade nicht einfallen wollte. Gelassen setzte sie sich neben Patrick und nahm einen großen Schluck von der Limonade.
Nach und nach trafen auch die anderen Reiseteilnehmer ein. Als letztes betrat eine stämmige Frau mit pinkfarbenen Haaren den Bus, die heftig nach Luft japste. Neben Amalia legte sie eine kurze Pause ein, um zu verschnaufen. Ein abstoßender Schweißgeruch drang zu Amalia herüber. Abasi war äußerst aufmerksam und drückte der Frau noch ein zweites Softgetränk in die Hand, die sich daraufhin überschwänglich bei ihm bedankte.
Kurz darauf setzte sich der Bus langsam in Bewegung. Sie verließen den Parkplatz und bogen auf eine gut ausgebaute Straße ab, die endlos in Richtung Norden zu führen schien. Neben ihnen in der ersten Reihe saß eine ältere Dame. Amalia schätzte sie in etwa so alt wie ihre Großmutter, also so um die siebzig Jahre. Aus den Augenwinkeln versuchte Amalia, die Frau unauffällig zu beobachten, deren Unruhe ihr deutlich anzusehen war. Sie rutschte nervös auf dem Sitz hin und her und ihr Blick wanderte mit großen Augen von rechts nach links. Nachdem sie am rechten Fahrbahnrand eine Zeit lang einer grasenden Ziegenherde nachgeschaut hatte, blieb ihr Blick an Amalia hängen.
Mist, hat sie etwa mitbekommen, dass ich sie beobachte?
»Entschuldigen Sie bitte, junge Frau«, sagte die Dame zu ihr.
Ertappt zuckte Amalia für einen winzigen Moment zusammen.
»Darf ich Ihnen sagen, dass Sie in dem Kleid ganz wundervoll aussehen?«
Irritiert schaute Amalia zu der Dame rüber, die sie erwartungsvoll anschaute. Abasi warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Vielen Dank!«
»Ich bin ja so aufgeregt. Ob Sie es glauben oder nicht, aber das hier ist meine erste große Reise. Mein Mann wollte nie fliegen und ohne ihn wollte ich nicht verreisen. Wir haben daher nur im deutschsprachigen Raum Urlaub gemacht.«
Ein leises Bedauern in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Und jetzt haben Sie ihren Mann zu Hause gelassen?«, fragte Amalia neugierig. Kaum hatte sie es ausgesprochen, hätte sie sich für die blöde Frage selbst ohrfeigen können.
»Mein Mann ist vor zwei Jahren an Krebs verstorben«, antwortete die Dame leise.
»Das ... tut mir schrecklich leid. Ich ... ich habe nicht nachgedacht. Das ist mir jetzt furchtbar unangenehm.«
»Schon gut, junge Frau. Ich bin Ihnen nicht böse.«
Amalia fiel ein Stein vom Herzen.
»Meine Tochter hat mir die Reise zu Weihnachten geschenkt. Ich konnte mich zunächst überhaupt nicht darüber freuen. Sollte ich denn wirklich eine große Flugreise machen, jetzt wo mein Manfred verstorben war? Beim Gedanken daran habe ich mich schlecht gefühlt. Es kam mir so vor, als würde ich ihn hintergehen.«
»Nein, so etwas dürfen Sie nicht denken!« widersprach Amalia.
»Das hat meine Tochter auch gesagt. Wissen Sie was? Als ich vorhin aus dem Flugzeug gestiegen bin, fühlten sich die warmen Sonnenstrahlen an, als würde mir mein Manfred zärtlich über das Gesicht streicheln. Als würde er von oben zu mir herunterschauen und sich mit mir freuen.« Ihre Augen wurden glasig und eine Träne lief über ihre Wange, die sie aber schnell wieder wegwischte.
»Waren Sie eigentlich auch in dem Flieger aus Frankfurt?« erkundigte sich Amalia.
»Nein, ich bin von Berlin aus nach… ähm, lassen Sie mich kurz überlegen. Wie heißt nochmal die Hauptstadt von Katar?«
»Doha«, beantwortete Abasi die Frage. Auch wenn es so aussah, als würde er sich auf die Straße konzentrieren, hörte er den beiden Frauen offenbar aufmerksam zu.
»Ja genau, dort bin ich dann umgestiegen.«
»Interessant! Mein Mann Patrick und ich hatten einen Direktflug von Frankfurt aus. Zwischendurch hatten wir solch schwere Turbulenzen, dass sogar die Sauerstoffmasken aus der Decke gefallen sind.«
Die Frau schaute Amalia erschrocken an.
»Ach du meine Güte! Nein, also bei uns war alles ruhig.«
Das Gespräch unterbrach, als sie auf dem Highway nach Arusha vom Anblick eines aus der Steppe herausragenden Berges abgelenkt wurden. Die dicht bewaldeten Hänge des Mount Meru wurden nur von einem dünnen Wolkenschleier verdeckt und boten damit einen eindrucksvollen Kontrast zu der umliegenden Steppe.
»Ich heiße übrigens Paula«, sagte die Dame, um Gespräch wieder aufzunehmen.
»Amalia, schön, dich kennen zu lernen, Paula.«
»Wart ihr schon einmal auf einer Safari?«
Amalia schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist unser erster Safariurlaub.«
»Wissen Sie, ich habe zu Hause schon immer gerne Tierdokumentationen im Fernsehen geschaut. Die afrikanische Tierwelt hat mich schon immer fasziniert. Jetzt hier in Tansania zu sein, ist für mich einfach unbeschreiblich.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche, tupfte sich die Tränen unter ihren Augen weg und schnäuzte sich die Nase.
Amalia war so gerührt, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht auch noch zu weinen.
»Ich bin auch sehr gespannt, was uns erwartet. Schön, dass du dabei bist, Paula.« Sie streichelte der Dame über die Schulter, was von Paula mit einem anerkennenden Nicken gedankt wurde.