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"Der Anruf kam an einem grauen Dezembertag. Eine Männerstimme fragte auf Englisch, ob sie das Mädchen sei, das Adrien Vien in Halmstad getroffen hatte. ,Ja', antwortete sie, ,das bin ich.' Es hatte einen Unfall gegeben. Adrien war sofort tot. Er hatte nicht leiden müssen. Hannas Knie gaben nach." So wie der Wind die Blätter im Herbst, so treibt die Sehnsucht Hanna von Ort zu Ort, stets auf der Suche nach Liebe, nach mehr, weg von der Kleinstadt, der Engstirnigkeit, der Einförmigkeit des Lebens. Erst in Schweden und in den Armen von Adrien findet sie das Gefühl, angekommen zu sein. Doch nur wenige Tage sind den beiden vergönnt, bevor das Schicksal sie wieder voneinander trennt. Kann es eine Zeit danach geben, auch wenn sie Adriens Erinnerung für immer mit sich trägt?
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Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0408-8
ISBN e-book: 978-3-7116-0409-5
Lektorat: Luisa Bott
Umschlagabbildungen: Lennart Jönsson; Gulnara Mirgunova | Dreamstime.co
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Vorwort
Die Handlung ist frei erfunden!
Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Gegebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Pour Loïc
Es ist Nacht!
Es ist Nacht,
und mein Herz kommt zu dir,
hält’s nicht aus,
hält’s nicht aus mehr bei mir.
Legt sich dir auf die Brust,
wie ein Stein,
sinkt hinein,
zu dem deinen hinein.
Dort erst,
dort erst kommt es zur Ruh,
liegt am Grund
seines ewigen Du.
(Christian Morgenstern)
Einleitung
Der Wind umfängt sie warm und schön.
Ganz still liegt sie und zieht den Duft der Frühlingsblumen ein.
Süß und schwer hängt er in der Luft, der einer Porzellanblume ganz nah, die der weißen Hyazinthen und Duftveilchen ein paar Meter weiter.
Ein Nachbar grillt und dieser Duft ist auch angenehm. Hungergefühl macht sich bemerkbar. Hanna schließt die Augen.
Es ist so friedvoll und wunderbar, einfach nur hier zu liegen. Ganz still.
Nichts stört und nichts tut weh, nicht einmal ein einziges Zipfelchen in ihrem gebrochenen Körper.
Sie schlummert ein und träumt von dem weißen Sandstrand, die Wellen schlagen weißschäumend dagegen. Sie läuft und läuft – sieh da, sie kann wieder laufen, wie befreiend, wie schön!
Sie sieht ihn, weiter dort hinten, er zieht ein Boot an Land.
Gleich ist sie bei ihm. Er dreht sich zu ihr hin. Er hat kein Gesicht.
Hanna schreckt auf, Herrgott im Himmel, hör auf, hör auf, Gespenster zu sehen.
Ein Hund bellt unaufhörlich, laut und entnervend, wie auf Kommando schreit auch das Nachbarkind los, gellend, jemand fängt an zu sägen, Ende des Friedens.
Hanna will ihre Ruhe, die Leute haben kein Feingefühl. Sie sind egoistisch.
Meine Kinder haben nie geschrien, denkt sie und weiß, das stimmt ja auch nicht.
Sie denkt an das Haus auf Île de Ré. Warum jetzt?
Irgendwann muss sie es besuchen. Vielleicht diesen Sommer, vielleicht den nächsten … vielleicht nie. Denn das hat sie ja in 40 Jahren nicht geschafft.
Verdammt noch mal, reiß dich zusammen, fahr doch einfach hin, wer hält dich auf? Hanna steht auf und setzt sich an den Computer.
Kapitel 1
Der erste Schlag traf Hanna völlig unerwartet. Der zweite riss sie auf den schlammigen Boden, wo sie nur noch versuchen konnte, sich vor den Tritten der schweren Stiefel zu schützen. Die Stiefel gehörten Logan, ihrem Freund. Er war der Präsi der Death Spiders. Die Nässe drang durch ihre Kleidung, sie fror. Versuchte, sich zu schützen, doch das ging so einfach nicht. Logan stand auf ihrer Hand. Hanna spürte das Knacken. Der Schmerz machte sie rasend. Sie bekam einen seiner Finger zu fassen und biss zu. Hanna schmeckte das Blut, jedoch diesmal nicht ihr eigenes. Es hatte schon nicht gut angefangen. Der Festplatz lag direkt hinter einem Eisenbahndamm. Laute Musik dröhnte aus den Lautsprechern. Ab und zu wurde sie von einem vorbeifahrenden Zug übertönt. Es nieselte ununterbrochen und die Nässe kroch in Zelt, Schlafsäcke und Kleidung. Die Motorräder standen in langen Reihen auf der aufgeweichten Wiese und wurden von den meist bärtigen und langhaarigen Besitzern begutachtet. Die Stimmung war mehr feucht als fröhlich und Logans Augen wurden immer glasiger. Der Vizepräsi Heinz stoppte das blutige Werk seines Kumpels und half Hanna wieder auf die Beine. Alles tat ihr weh. Blut tropfte aus ihrer Nase. Heinz hielt ihr ein Taschentuch hin. Das hier war nicht zum ersten Mal passiert. Logan verlor öfter die Beherrschung, wenn er trank. Doch diesmal war es Hanna zu viel. Sie zog den Verlobungsring vom Finger und pfefferte ihn in den Schlamm. Heinz reichte ihr sein Bier und sie trank in langen Zügen. Das tat gut. Die Leute, die sich während des Zwischenfalls gesammelt hatten, verteilten sich schnell wieder. War ja auch nichts dabei, wenn einer seiner Braut auf die Schnauze haute. Bräute brauchten das. Hanna bewegte sich mechanisch. Irgendetwas in ihr war zerbrochen. Sie sah zu, dass ihr niemand folgte, und entfernte sich vom Festplatz. Es war stockdunkel und die Musik wurde langsam leiser. Zweimal fiel sie der Länge nach hin, doch das machte ihr nichts mehr aus. Wo sie hinwollte, war es egal, in welchem Zustand sie ankam. Die Böschung des Bahndammes war glitschig. Dann unendliche Ruhe. Der Zug würde bald kommen und ihr die ersehnte Ruhe geben. Und Logan würde sie nie wieder anfassen. Der Mann war riesig wie ein Bär. Im hohen Bogen pinkelte er gegen die Böschung, als er meinte, leises Weinen zu hören. Angestrengt lauschte er ins Dunkel. Das kam doch oben vom Bahndamm. Verflixt noch mal, dachte er, das Mädchen von vorhin, und der Zug muss jeden Augenblick kommen. Sie wehrte sich, doch er trug sie auf seinen Armen, als wäre sie nur eine Puppe. „Mensch, Mädchen“, sagte er, „das ist doch kein Kerl wert! Du bist doch so eine Hübsche!“ Er roch nach Bier und hatte einen langen Rauschebart. „Wo ist dein Zelt?“ Er trug sie ein paar Meter, dann wollte Hanna selber laufen. Sie hielt ihn aber am Arm, bis sie zu ihrem Zelt kamen. Hanna kroch hinein und weinte sich in den Schlaf. Die ganze Nacht wachte er vor dem Eingang ihres Zeltes. Legte sich einfach davor, als wäre es selbstverständlich! Und das in diesem Scheißwetter! Niemand rührte sich. Auch Logan hielt Abstand. Am Morgen redete er mit Heinz und der bot ihr an, mit ihm nach Hause zu fahren. Die Stimmung war äußerst gespannt. Hannas Hand tat höllisch weh. Der Finger so seltsam verdreht. Es gab nichts zum Kühlen. Logan sah nicht mal in ihre Richtung. Wahrscheinlich hatte er keinen blassen Schimmer, was er getan hatte. Er wechselte ein paar Worte mit Road-Captain Mikey, setzte sich auf die Harley Sportster, die sie mitfinanziert hatte, und fuhr los. Den Namen ihres Retters erfuhr Hanna nie, doch sie wusste, er war ein angesehenes Mitglied eines anderen Clubs. Ihr Herz war ihm ewig dankbar. Er hatte recht, kein Kerl war das wert. Einer von ihnen beiden würde früher oder später dran glauben müssen. Sie ließ sich das nicht mehr gefallen. Nun war Ende der Vorstellung. Sie wusste, dass das Einzige, was ihr noch helfen konnte, war, Abstand zu gewinnen. Drei Jahre konnten eine lange Zeit sein. Und diese drei Jahre hatte sie sich nun mit Logan herumgeschlagen, oder besser: er auf ihr herumgeschlagen. Er war der coole Typ für sie gewesen, damals, sie 16 und er 26, einer, der anders war als die Bauern, die sie sonst so kannte. Er hatte eine Harley, lange Haare und überhaupt alles, was Spießer nicht mochten. Er scherte sich einen Dreck um die Leute und er roch nach Freiheit. „Born to be Wild“. Und das war alles, was für sie zählte. Das Bikerleben war cool, Hanna liebte die Motorräder, das Motorradfahren, die Menschen, die Fahrten, die sie machten, die Gemeinschaft, alles gut, aber Logan hatte es übertrieben. Es reichte jetzt, die angebliche Freiheit war auf Rosinengröße zusammengeschrumpft. Sie wollte nur noch weg von diesem Arsch, der genauso dumm war wie die anderen, nur auf eine andere Art. Weg auch von der Kleinstadt, der Engstirnigkeit der Leute und der Einförmigkeit des Lebens. Die ganze große Welt wartete doch auf sie, sie hatte hier nichts mehr zu verlieren. Und dann der Druck, der zu Hause auf sie ausgeübt wurde. Hanna fühlte sich immer unverstanden, nichts, was sie machte, war gut, alle ihre Freunde waren generell schlechte Menschen und unakzeptabler Umgang. Gegen diese Stimmung anzukommen, war schwer. Ja, was erwartete man denn? Dass ein Ritter in Silberrüstung auf dem weißen Schimmel auf den Hof ritt und um ihre Hand anhielt? Natürlich wäre das schön gewesen, da hätte sie nicht Nein gesagt. Als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt. War allein zur alten Keltenburg, die in der Nähe des Dorfes lag, aufgestiegen, hatte dort in der Sonne gesessen und die Magie des Ortes gespürt. Ein Flügelschlag der Vergangenheit hatte sie gestreift. Eines Tages würde sie ihren Prinzen finden. Logan war das aber nicht. Manchmal dachte sie das nur, weil sie anders war als Hinz und Kunz. Die Gesellschaft und wie man eigentlich sein sollte, hatte sie förmlich in die Arme dieser Typen getrieben. Denn die waren nun mal anders. Vieles war von ihr einfach eine Trotzreaktion gegen dieses ewige „Ducken, Anpassen und Machen wie alle anderen“.
„Logan konnte auch ungemein romantisch sein, er kochte ihr Lieblingsessen, spielte Gitarre, ja, das konnte er, war sogar in einer Band, zumindest hin und wieder. Geld verdiente er damit natürlich nicht. Er hatte aber seine letzte Kohle zusammengerafft und ihr einen Spiegel mit Goldfassung gekauft, den sie einmal in einem Schaufenster gesehen und der ihr gefallen hatte. Und jedes Mal, wenn er ihr wehgetan hatte, tat es ihm unendlich leid, es würde auch nie wieder passieren, sie war ja die Liebe seines Lebens. So kam es auch zur Verlobung. Seine Oma hatte ein Geschenk für sie gehabt. Sie war sehr ernst gewesen. „Du behandelst dieses Mädchen ordentlich, hörst du!“, hatte sie gesagt. Hanna war das unangenehm. Sie wusste, dass er das nicht tat und wahrscheinlich auch nie tun würde.
Logan und sie hatten sich in der lokalen Diskothek, dem Metropol, kennengelernt. Altersgrenze 18, aber das war für Hanna kein Problem, eher eine Herausforderung. Und Herausforderungen liebte sie. Der Türsteher hatte ein Auge auf sie geworfen und machte keine Probleme, auch wenn sie Sarah mitnahm, die ja noch ein Jahr jünger war. Sie tranken Versautes, ein Gemisch von Bier und Cola. Hanna trug eine enge Levi’s, dazu ein schwarzes, geschnürtes Wildledertop. Die langen blonden Haare offen. Kaum geschminkt. Sie hatte auch einen guten Draht zu Jochen, dem DJ. Er spielte immer, was sie sich wünschte. An jenem Abend war die Disko voll. Die Leute standen in drei Reihen vor der Theke. Auf dem Tanzboden war nichts los, zu früh. Hanna neigte sich zu Jochen und flüsterte: „Einmal Lola, bitte!“ Er nickte und zwinkerte ihr zu. „Aber gerne, Mylady!“ Sie tanzte langsam mit geschlossenen Augen zu dem Song der Kinks, merkte gar nicht, dass sich ein Ring um sie bildete und sie allein tanzte. Jochen schmunzelte, ja, das Mädchen hatte es drauf. Er hatte viele gesehen in seinen Tagen als DJ, aber keine wie sie. Ein Naturtalent. Als der Song zu Ende ging, kam spontaner Applaus. Hoppla, Hanna erschrak. Sie eilte zur Theke. Ein Typ mit Rauschebart und Kutte legte den Arm um sie. Er roch nicht besonders gut. „Na, meine Hübsche, wie wäre es mit uns?“ Hanna wand sich aus seinem Griff. „Lass mich los, verdammt noch mal.“ Er hielt sie noch fester, es fing an, richtig wehzutun. „Hey, Zicke, hab dich nicht so, du gehörst mir!“ Er langte mit der freien Hand und grabschte ihre Brust an! Jetzt hatte Hanna genug! „Ich gehöre niemandem, merk dir das“, fuhr es aus ihr heraus. In einer Drehwendung war sie von ihm weg, holte aus und schlug zu. Ihre ganze Irritation über diese Beleidigung lag in diesem einen Schlag. Mit Erfolg. Der Rauschebärtige fiel wie ein Kegel auf der Kegelbahn. Es wurde mit einem Mal mucksmäuschenstill. Jochen hatte es auch gesehen und stellte die Musik aus. Hanna stand da, als ging es nicht um sie. Rudi, der Eigner vom Metropol, den man nicht oft zu Gesicht bekam, kam dazu. „Was ist los?“, fragte er. Da sagte einer: „Der Kerl hat es verdient, hat sie angegrabscht und so.“ Es war Logan. Rudi schmiss den Rauschebärtigen raus. Logan’s Worte hatten Gewicht. Damit hatte Hanna ihren Spitznamen weg – Schläger-Elli! So hatte Hanna von Anfang an ein Zeichen gesetzt und sich Respekt verschafft. Und so fing die Story an. Die meisten Mitglieder der Death Spiders hatten ihren Knock-out-Schlag gesehen. Wenn sie später gemeinsam an einem Lagefeuer saßen, lachten sie darüber. Niemandem fiel es auch nur ein, sie jemals in Frage zu stellen, außer Logan selbst. Insgeheim waren sie stolz auf sie. Hanna war geradeheraus, sie verstellte sich nicht und tat das, was sie für richtig hielt, wenn manchmal auch etwas übereilt. Auf den Bikertreffen wurden gerne Tittenshows arrangiert, was Hanna vollkommen widerwärtig und erniedrigend fand. Logan wollte sie immer auf der Bühne haben, aber die anderen Mitglieder schützten sie auch da. „Ich habe die Schönsten“, scherzte sie, „das muss ich nun wirklich nicht beweisen.“ Logan wollte ihr auch ein Tattoo aufzwingen, aber Hanna erinnerte sich an die Worte ihres Vaters. „Wenn du auf den Ball des Königs eingeladen wirst, willst du dann ein hässliches Tattoo haben oder die Prinzessin des Abends sein?“ Natürlich wollte Hanna immer eine Prinzessin sein, welches junge Mädchen wollte das nicht? Und sie wollte die große Liebe. Die, bei der sich alles richtig und vollkommen anfühlt. Bisher war damit aber so ziemlich alles schiefgelaufen!
Zu Hause erzählte sie immer nur die halbe Geschichte, wenn sie überhaupt etwas erzählte. Was niemand wusste, konnte niemanden aufregen. Es reichten ihr schon die Szenen, die auf sie warteten, wenn mal was rauskam. In dem kleinen Dorf in Bayern hatte man so gar kein Verständnis für irgendeine Art des Andersseins. Der Ort, wo sie geboren und aufgewachsen war, lag idyllisch an einem See in Südbayern. Dort hatte ihr Vater ein Segelboot und sie liebte die Ausflüge auf dem See. Ansonsten folgte man hier den vorgegebenen Normen und Traditionen. Etwas anderes wurde nicht akzeptiert. Als sie aus dieser Welt ausbrach, zerrissen sich die Leute die Mäuler. Dabei hatte doch jeder genug vor seiner eigenen Tür zu kehren.
Ihr kleiner Bruder Georg war dagegen ein Musterkind. Er spielte Geige und hatte nur Einsen in der Schule. Ihre Eltern liebten ihn abgöttisch. Er machte alles richtig, und wenn mal nicht, dann sah man darüber hinweg. Dagegen anzukommen, war schwer. Aber Hanna hatte Georg auch sehr gern. Er war ein lieber Kerl. Sie hielten als Geschwister gut zusammen.
Hanna und Logan fuhren auf Motorradtreffen mit anderen Clubs in ganz Deutschland. Hanna hatte viele Freunde unter den Rockern gehabt und sich mit ihnen stark gefühlt. Diese Freunde hatten sie auch immer vor Logan beschützt, wenn es nötig war, aber sie konnten ja nicht immer da sein. Und deshalb geschah es immer öfter, dass Hanna das Krankenhaus aufsuchen musste. Gebrochene Finger, Blutergüsse, Veilchen und die schmerzhaften Folgen von Stürzen aus fahrenden Autos. Der Arzt, der Hanna nach dem letzten Vorfall untersuchte, fragte nach den Umständen. „Ich bin gefallen und habe mich geklemmt.“ „Ja bestimmt“, sagte der Arzt, „aber das glaube ich Ihnen nicht. Sie wissen schon, dass das eigentlich gemeldet werden sollte.“
Der Finger war gebrochen. Der Mittelfinger, wie passend. Als die Death Spiders im Clubhaus ankamen, hatten sich die Mitglieder schnell zerstreut. So eine Party hatte ihren Tribut. Hannas Hand war dick angeschwollen, die Schmerzen unerträglich. Logan kam zu ihr rüber. „Na, was los hier? Hast du dich beruhigt?“ Hanna traute ihren Ohren nicht, es tat ihm also nicht einmal leid. Dieser Arsch, verdammt, Hanna hätte ihm am liebsten … aber das ging jetzt nicht. „Zeig mal her“, meinte er und nahm ihre Hand in seine. „Sieht nach Krankenhaus aus. Komm, ich fahr dich.“ Scheiße, Hanna wusste, dass er recht hatte. Er setzte sich in IHR Auto und fuhr sie zur Akutaufnahme. Da angekommen knallte er genau vor dem Eingang in die Wand. Mit ihrem Auto, in die Wand. „Uiii“, sagte er, „jetzt musst du aussagen, dass du gefahren bist, ich bin nicht nüchtern.“ Hanna war fassungslos. Warum verzieh sie ihm immer wieder? Glaubte sie, er würde sich ändern? Hanna hatte den Verdacht, dass das mit Liebe so gar nichts zu tun hatte. Sie hatte Freiheit und natürlich auch Liebe und Geborgenheit gesucht. Bisher war das allerdings Fehlanzeige. Klar hatte Hanna auch schöne Erinnerungen an diese Zeit, vor allem die Motorradfahrten waren herrlich. Aber auch genauso schreckliche. Das Elend des Drogenmilieus, Freunde, die starben, die ewigen Prügelausraster von Logan, die unhaltbare Situation zu Hause und die Sehnsucht nach mehr, nach einem anderen Leben, machten sie endlich mutig. Ihr Horizont endete wohl nicht hier. Sie war doch erst 18, das ganze Leben lag noch vor ihr und sie hatte, weiß Gott, etwas anderes verdient, als sich von einem neurotischen Rocker unterdrücken zu lassen. Obwohl sie sein Verhalten nie akzeptiert hatte, nein, sie wehrte sich immer, so gut es ging. Bekam sie zwei blaue Augen, sollte er zumindest eins haben. Aber jetzt war das Maß endgültig voll. Sie hatte verstanden, dass man jemandem, der einen schlägt, nicht ein einziges Mal verzeihen darf. Einmal ist schon einmal zu viel. Verzeiht man einmal, verzeiht man zweimal und dreimal, danach ist es schon Routine. Nein, Logan würde sich nie ändern, aber sie würde es. Das Leben auf dem Dorf war nicht ihre Welt gewesen und das Rockerleben noch weniger. Hanna erwachte aus dem Alptraum, der, so jung wie sie war, ihr Leben schon geprägt hatte.
Sie hatte mitten in diesem Chaos ihre Gesellenprüfung als Köchin bestanden und damit stand ihr doch alles offen. Der Schularzt hatte ihr von der Kochlehre abgeraten. Sie hatte eine Skoliose, die der schwere Beruf nicht begünstigen würde. Aber sie hatte sich durgesetzt. Sie liebte das Kochen, die Kreativität und Abwechslung. Außerdem war es ein krisensicherer Beruf, Menschen würden immer und überall essen.
Also Urlaub nehmen und ab nach Mainz, ihre Freundin Ina besuchen. Ach, war das schön, aufstehen, wenn’s einem passte, durch die Stadt schlendern, stöbern, einkaufen, ausruhen, ausgehen … Mainz, wie es lacht und singt sozusagen. Hanna liebte die Stadt. Die vielen gemeinsamen Unternehmungen verschafften Abwechslung. Sie gingen zum Kabarett oder ins Theater. Zum Open-Air-Konzert oder saßen im Publikum einer Fernsehshow. Eine neue Welt, interessante Leute und neue Freunde. Ina war immer positiv und fröhlich, sie ließ es nicht zu, dass man sich hängen ließ. Oft streiften sie über den Markt, probierten hier ein wenig Käse und da ein paar Oliven, kauften ein ofenfrisches Baguette und ein Fläschchen Beaujolais. Dann konnten sie stundenlang sitzen und plaudern. Es war köstlich.
Ina kannte viele spannende Leute. Sie arbeitete in der Zeitungsente, der Kultkneipe von Mainz. Das war das Tolle an dieser Stadt, dass es nicht solche Klassenunterschiede wie auf dem Land gab. An der Theke konnte sich der Uni-Professor mit dem arbeitslosen Maurer und der Penner mit dem Zahnarzt unterhalten, ohne dass daran etwas komisch gewesen wäre. An einem lauen Abend kam Hanna mit Ismael ins Gespräch. Er arbeitete als Kellermeister in einem der feinen Hotels der Stadt. „Wir brauchen Verstärkung in der Küche, ich lege ein gutes Wort für dich ein.“ Hanna wusste, welche Hölle sie zu Hause würde durchwandern müssen. Aber ihr Entschluss stand fest und hatte sie sich erst mal etwas in den Kopf gesetzt, dann zog sie es auch durch. Außerdem würde sie so auch Logan entkommen, von dem sie so gar nicht überzeugt war, dass er sie so ohne weiteres gehen lassen würde. Zu Hause erwartete sie die Mutter mit altbekannten Vorwürfen, der Vater mit ernsten Ermahnungen. Er verstand sie aber auch und unterstützte ihr Vorhaben und ihren Mut auszubrechen. Etwas anderes zu wagen. Am nächsten Tag kündigte Hanna ihre Stelle als Köchin und bereitete ihren Umzug vor. Den wahren Grund dafür wusste niemand so genau, sie sagte auch nichts anderes, als dass sie Veränderung brauche. Auch Logan bekam nicht mehr aus ihr heraus. Sie holte ihre Sachen aus der Wohnung, die sie eigentlich zusammen hatten beziehen wollen, und versprach, ihm bald ihre neue Adresse mitzuteilen. Das tat sie aber nie. Logan konnte nicht fassen, dass sie wirklich ging. Aber sie ging. Ohne sich umzudrehen oder sich von irgendjemandem zu verabschieden. Einfach so.
Zwei Wochen, nachdem Hanna die neue Stelle angetreten hatte, fand sie auch ein kleines Apartment, direkt gegenüber vom Hotel. So lange wohnte sie bei Ina. Hanna war sofort voll eingespannt. Es war Knochenarbeit mit regelmäßigen Überstunden. Am Wochenende Dienst. Aber ihr Chef mochte sie, bildete sie weiter aus, übertrug ihr Verantwortung. Ließ sie an Weinproben teilhaben. „Fräulein Sommer, Sie kennen sich ja richtig gut aus.“ Hanna lachte. „Vielleicht bin ich ja ein Naturtalent.“ Auch hier fand sie schnell Anschluss. So kann es gerne weitergehen, dachte sie. So viele nette Menschen. Ina wohnte über der Zillestube, einer Kneipe in der Münsterstraße. Das war fast nebenan vom Unterhaus.
Das Mainzer Unterhaus war eines der bedeutendsten Theater für Kleinkunst in Deutschland. Seit seiner Gründung im Jahr 1966 hatten seine Tradition, Bühnenkunst und Geschichte weit über die Grenzen seiner Region gewirkt und viele Künstler hatten hier den Traum von einer besseren Welt geträumt. Hanna las den Text und war begeistert. Hier wurden Träume wahr, das liebte sie, denn die hatte sie auch! Ina war fleißiger Besucher und nahm Hanna mit. Ina kannte die Kulturelite von Mainz. Eine neue Welt tat sich auf. In den nächsten Wochen lernte sie Georg Danzer kennen, den österreichischen Sänger dessen Lieder sie so sehr mochte, einen berühmten Erfinder, einen Prinzen und viele andere interessante Leute. Einmal suchte man beim ZDF jemand Freiwilligen, den der russische Tänzer Rudolf Nurejew bei einer Tanzshow mit einem Chiffonschal umspielte. „Das kannst du machen“, meinte Ina und schlug Hanna dem Produzenten vor. Der war begeistert. Hanna kaufte bei Karstadt eine weiße Hose und einen roten Angora Pulli. Die langen blonden Haare trug sie offen. Sie war kein bisschen nervös, aber es wurde ein aufregender Abend, vor allem weil danach alle, die zum Fernsehteam gehörten, zusammen essen gingen. Hanna und Ina auch. Wer hätte das gedacht, dass Nurejew so nett war und sie selig mit seinem Autogramm nach Hause gehen würde. Ein anderes Mal ging sie nach der Arbeit noch bei Ina vorbei. Da war voller Zirkus, laute Musik, Essen, der Sekt strömte. Hanna konnte es nicht fassen, da saßen doch tatsächlich Les Milords am Tisch. Es waren akrobatische Tänzer, die vor gestählten Muskeln nur so strotzten. Und es waren lustige Kerle! Hanna konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so viel gelacht hatte. Dass sie und Ina VIP-Tickets zur Vorstellung bekamen, freute sie sehr. Es imponierte ihr, welche unglaubliche Körperkontrolle und Eleganz die beiden besaßen. Das war schon etwas ganz Besonderes.
Eines Tages hatten sie im Hotel besonders viel zu tun. Vier Busse kamen gleichzeitig an und wollten versorgt werden. Ein Aushilfskoch, den Hanna noch nie vorher gesehen hatte, sprang ein. Er kam ihr vom ersten Augenblick an unheimlich vor. Er strahlte Feindseligkeit aus, obwohl Hanna sich beim besten Willen nicht erklären konnte warum. Irgendwann begriff sie, dass er ihr drohte, nicht offen, aber doch unmissverständlich. Er kam von Logan. Das wurde ihr klar, als sie ihn nach dem Dienst in Kutte und auf einer Harley davonfahren sah. Hanna wusste, dass sie sich von nun an in Acht nehmen musste. Die Arbeit hielt sie aufrecht und sie träumte davon, irgendwo im Ausland zu arbeiten. Am besten auf einem Kreuzfahrtschiff. Es regelte sich fast von allein, nur etwas anders, als sie gedacht hatte. Das Hotel, in dem sie arbeitete, war Mitglied in einem Partnerprogramm. Man konnte zwischen verschiedenen Ländern Stellen tauschen. Hanna meldete ihr Interesse an. Zwei Wochen später kam ihr Chef mit drei Angeboten. Bern, London und Halmstad in Schweden. Um Gottes Willen nicht London, Großstädte waren ihr ein Greul. Nach Jodeln in den Bergen war ihr auch nicht zumute. Aber Schweden, das hörte sich doch gut an. Das Astrid Lindgren und ABBA Traumland!!! Spontan sagte sie zu und ließ Mainz, wie es singt und lacht, hinter sich.
Kapitel 2
Mit dem letzten Tropfen der alten Liebe trank sie auf die neue. Gegen die sie sich mit Händen und Füßen gewehrt hatte und immer noch wehrte. Gegen die sie an ihre Vernunft appellierte. Ohne Erfolg. Diese Liebe, die sie so unvorbereitet gepackt hatte und durchschüttelte wie der Wind die Blätter im Herbst. Völlig kopflos.
lch kann nicht ganz normal sein, dachte sie, warum gerate ich immer an Männer, mit denen ich nicht einfach so glücklich sein kann. Was würde daraus werden?
Abschied, Trauer, Sehnsucht, Briefe, Hoffnung, Scheitern an einer Grenze oder Liebe für immer?
Keine Tränen, sie hatte doch gelernt, ließ es nicht mehr so leicht zu, dass man ihr das Herz brach. War es wirklich so?
Hanna stand auf der äußersten Spitze Land, war über die windumtoste Mole geklettert, stand an dem Leuchtturm und winkte der Liebe nach, der sie nicht zugestand, dass sie wehtat. Hanna hob den Arm mechanisch, die Hand, die winkte, war es wirklich ihre? Eine halbe Stunde oder mehr hatte sie nun gewartet, steif war sie vor Kälte, da half auch der dicke Norwegerpullover nichts mehr. Sie sah zu, wie die Schlepper die beiden Schiffe aus dem Kanal zogen.
Langsam, ganz langsam bewegten sie sich. Noch konnte sie nicht erkennen, welches der beiden Schiffe die Maillé Brézé war, doch im tiefsten Innern wusste sie, dass er sie schon sah. Zentimeter für Zentimeter schob sich das Schiff aus dem Hafenbecken, Hanna war wie erstarrt, nicht nur wegen der Kälte.
Sie beobachtete das Schiff genau, ließ es keine Sekunde aus den Augen, es war die Maillé Brézé. Sein Schiff. Das zweite war die Primauguet. Sekunden lag es still, dann kam es. Schob sich langsam näher, näher … Sie konnte schon die Mützen der Matrosen sehen. Sie standen alle an Deck, in geraden Reihen, am Bug, am Heck und auf dem oberen Deck. Für wen, fragte sie sich, der Hafen lag lange hinter ihnen. Hanna sah sich um, nein, sie war allein.
Eine durchaus beeindruckende Szene, 277 Männer, davon 17 Offiziere und 100 Unteroffiziere, nur für sie. Hanna sah sie und fragte sich, wie viele von ihnen jetzt traurig waren, weil sie ein Mädchen im Hafen zurücklassen mussten.
Aber nur ein Mädchen stand hier draußen am Leuchtturm. Das Mädchen suchte in den Reihen der weißen Mützen. Da hob einer die seine und winkte wie verrückt. Hanna hasste Abschied, doch sie hob den Arm und winkte zurück. Sie sah nichts anderes mehr als seine Gestalt auf dem oberen Deck. Sie spürte die Kälte nicht mehr. Zwei Augenpaare brannten sich ineinander, suchten, sich zu fesseln. Nein, sowas gibt es nur in Filmen, dachte Hanna, solch dramatische Abschiede. Das Schiff wurde schneller. Bleib doch stehen, wollte sie schreien. Sie ließ den Arm sinken, verzweifelt, sinnlos, es sollte ihr doch nie wieder jemand wehtun. Doch dann sah sie, dass da noch jemand ganz traurig war, ein Band spannte sich über das Wasser und schon warf sie ihm eine Kusshand zu. Sie bekam sie augenblicklich zurück.
In diesem Moment fühlten sie beide die gleiche Hilflosigkeit dem Schicksal gegenüber, die gleiche Verzweiflung, den gleichen Zorn.
Sie wollten ja gar nicht Abschied nehmen, waren noch gar nicht bereit dazu. Hanna und ihr Adrien! Das Mädchen am Leuchtturm, der Soldat stach in See. Billiges Klischee. Aber für sie beide die bittere Realität.
Adrien sah ihre einsame Gestalt am Leuchtturm, seine Hanna. Sie war stark und tapfer.
Er konnte nichts machen, er weinte, konnte die Tränen nicht aufhalten, sie war diejenige welche, die, nach der er sich so lange gesehnt hatte, und ihr Name war Hanna. Alain sah ihn an und meinte: „Adrien, jetzt hat es dich aber so richtig erwischt.“
Er entschwand ihren Blicken. Die Mannschaft wurde zu Punkten. Das Schiff wurde kleiner und kleiner, es war wohl besser, sie ging jetzt.
Wieder und wieder, den ganzen langen Weg zurück auf der Mole, wandte sich Hanna um. Einmal rutschte sie aus und schlug sich das Knie auf. Aber sie fühlte es nicht. Sicher konnte er sie noch durchs Fernglas sehen. lm Auto dann die Musik laut. Gefühle übertönen. Aber mussten sie jetzt ausgerechnet ein Liebeslied spielen? Was nun? Der Verkehr in der Stadt war grauenhaft, alles war grauenhaft. Nach Hause? Gott sei Dank hatte sie heute frei. Sie dachte, dass sie einen Black Bush gebrauchen konnte, einen, der den riesigen Kloß im Hals wegspülte.
Dann der Gedankenblitz, dass sie das Schiff vom Ende der Bucht aus in Grötvik vielleicht noch eine Weile sehen könnte. Sie fuhr hin. Gerade, als sie über den Hügel kam, sah sie die Silhouette der Maillé Brézé dem Horizont entgegeneilen, wendete den Blick nicht mehr ab. Krachte fast mit einem anderen Auto zusammen.
Versuchte, sich zu beherrschen, und stellte den Motor ab. Sah er noch zum Land hin? Sicher hatte er jetzt alle Hände voll zu tun. Genau 25 Minuten saß Hanna da und wartete, dass die Maillé Brézé ihrem Blick entschwand. Um 11:24 Uhr tat sie ihr den Gefallen. Hanna wusste nicht, dass es die letzte Reise der Maillé Brézé war.
Der Horizont war so leer wie sie selbst. Hanna saß eine Weile nur still. Zitterte. Herr im Himmel, dachte sie, wo kommt dieser Mann auf einmal her? Dieser absolut wunderbare Mann! Sie versuchte, sich zu fassen, fuhr nach Hause und legte sich ins Bett. Großer Fehler! Es roch nach ihm. Aber sie weinte nicht. Weinte auch später nicht. Niemand sollte ihr mehr wehtun.
Hanna war vorsichtig geworden. Der Abend, an dem sie Adrien kennengelernt hatte, war einer der wenigen, an denen sie ausging. Enge Jeans, Seidenbluse, Herrenjackett, alles in schwarz. Die langen blonden Haare trug sie offen. Sie hatte sich mit Sussie verabredet, ein Abend, von dem sie nicht viel erwartete, außer ein paar Bier zu trinken und gescheite Musik zu hören. Sie fuhr mit dem Bus zu Sussie, die noch mitten im Umzug steckte. Sie half ihr, noch ein paar Sachen in den vierten Stock zu tragen. Bei Pia und Nils tranken sie den ersten Wein. Dann zogen sie los. Die Diskothek Norre Kavaljeren hatte heute eindeutig Männerüberschuss. Alles voll mit hübschen oder auch weniger hübschen dunkelhaarigen Jungs. Ach herrjeh, es lagen zwei große französische Kriegsschiffe im Hafen. Sie hatte es in der Zeitung gelesen. Die Schiffe sollten eigentlich Göteborg anlaufen, da hatten jedoch Umweltaktivisten behauptet, sie hätten Atomwaffen an Bord, und somit den Besuch gestoppt. Die Halmstädter ließen sich nicht so leicht erschrecken und hießen die Franzosen willkommen.
Na, das konnte ja heiter werden. Als Hanna sich und Sussie das erste Bier holte, wurde sie schon von zwei Seiten angequasselt. Aber Hanna hatte ihre letzte Franzosenerfahrung Thierry noch allzu deutlich in Erinnerung und reagierte nicht. Thierry hatte ihr auf dem Schüleraustausch in der Bretagne schöne Augen gemacht. Er war lustig, sah umwerfend aus und war ein ausgezeichneter Koch. Er hatte ihr alles über das Hummerkochen und über Austern beigebracht. Abends hatte er ihr langes blondes Haar gebürstet, sehr sinnlich, und machte Komplimente.
Als Hanna nach dem Austernessen krank geworden, sehr unangenehm und im Krankenhaus gelandet war, hatte er sie kurzerhand und, ohne mit der Wimper zu zucken, ausgetauscht. Nein, danke! Franzosen, alles Schönschwätzer, und die, die zur See fuhren, waren noch einen Zahn schärfer. Die beiden Mädels wagten kaum, den Kopf zu wenden, weil sie völlig eingekreist waren. Nicht, dass da noch einer dachte, sie wären auf ein Abenteuer aus. Das fehlte gerade noch. Doch da man sie nicht übersehen konnte, wurden sie natürlich auch Gesprächsthema Nummer Eins. Sussie fand die Matrosenmützen so süß, dass sie unbedingt eine haben wollte, und wenn das nicht ging, dann wenigstens einen der roten Bommel.
Herausforderung des Abends. Hanna sah sich um, die meisten trugen Zivil, doch Moment mal, da hinten an der Theke stand einer in fescher Uniform. Und der starrte auch noch zu ihr rüber. Sussie hatte ihn auch gesehen und meinte, er sei zwar nicht der Allerhübscheste von allen, aber Hanna fand ihn wahnsinnig attraktiv und das lag nicht nur an der Uniform. Er sah urtypisch französisch aus, schwarze Haare und Schnurrbart, markante Gesichtszüge und eine stattliche Figur. „Komm schon, Hannchen“, quengelte Sussie. „Mach doch mal einen Versuch, du kannst doch etwas Französisch.“ Hanna zierte sich und konnte sich plötzlich an kein einziges Wort erinnern. Als sie sich umdrehte, sah er immer noch zu ihr hin und der Blitz schlug ein. Ehe sie sich versah, stand er schon samt Bier, Mütze und Kamerad neben ihr. Scheiß verzweifelte Seeleute.
Und sie hatten doch alle den Film „Ein Offizier und Gentleman“ gesehen, wie blöd konnte man denn sein. Was solls, jetzt würde sie Sussie die Mütze beschaffen. Er stellte sich mit einer Verbeugung vor, sein Name war Adrien Vien. Er sprach etwas Englisch und sogar ein paar Brocken Deutsch, sehr gut. Da sagte sie dem jungen Mann doch gleich einmal, wie toll sie das fand, dass er in Uniform ausging und zu seinem Land stand und zwar im Jahr 1987. Als er Hanna dann noch erzählte, dass er heute mit dem Fahrrad 40 km ins Landesinnere geradelt war, um etwas von Schweden zu sehen, war sie doch beeindruckt. Erstaunt stellten beide fest, dass ihr Gespräch über das übliche Blabla hinausging. Er erzählte, dass die Offiziere und ein Teil der Matrosen am Nachmittag von dem Marineverein von Halmstad eingeladen waren, das fand er ganz toll, ein totaler Gegensatz zu der Aktion in Göteborg. Überhaupt waren alle sehr freundlich hier.