Sehnsucht und Verrat - Black Heart Chroniken 2 - Kim Leopold - E-Book

Sehnsucht und Verrat - Black Heart Chroniken 2 E-Book

Kim Leopold

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Beschreibung

Eine dramatische Wende bringt den Palast der Träume in große Gefahr! Während der Reise zum Palast der Träume haben Alex und Louisa einen folgenschweren Fehler gemacht. Doch ehe sie darüber nachdenken können, spitzt sich die Lage zu: Louisas magische Fähigkeiten geraten außer Kontrolle, und die Hexenjäger greifen einen weiteren Clan an. Der Ratsvorsitzende Tyros macht sich selbst auf den Weg nach Marokko, um nach Überlebenden zu suchen, gerät dabei aber in unvorhergesehene Gefahr. Schnell wird klar: Der magische Rat wird gegen die Bedrohungen von innen und außen nicht ankommen. Während Louisa und Alex noch mit den Konsequenzen der Reise zu kämpfen haben, rücken die Feinde in gefährliche Nähe … Im zweiten Sammelband der beliebten Urban Fantasy Reihe Black Heart geht es dramatisch weiter: packende Action, politische Intrigen und Menschen, die bereit sind, alles für die Liebe zu tun.

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Sehnsucht und Verrat

Black Heart Chroniken 02

 

 

Kim Leopold

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Black Heart 05

Das Flüstern der Vergangenheit

 

Für die, die lieben.

 

 

Die glücklichsten Erinnerungen sind die, die uns am traurigsten machen.

 

 

 

 

 

 

[was bisher geschah]

 

1768 - Nach ihrer Hochzeit bleibt der Hexe Freya und ihrem frisch gebackenen Ehemann nichts anderes übrig, als die Magie aus ihr herauszukitzeln, um dem norwegischen König zu helfen. Weil es diesem jedoch nicht schnell genug geht, beschließt er, das Druckmittel zu erhöhen und Mikael zu foltern.

 

2018 - Die Wächter Tyros und Moose finden heraus, dass Alex und die Hexe Louisa einen Traumbund geschlossen haben. Während Louisa versucht, herauszufinden, was das alles für sie zu bedeuten hat, fällt in Marokko ein Clan zum Opfer der Hexenjäger. Schnell stellt sich heraus, dass Tyros eine Verbindung zu den Hexen und Wächtern dort hat. Sie fordern Verstärkung für Alex, Moose und Louisa an - als diese anreist, stellt sich heraus, dass der Wächter Daniel Louisas imaginärem Freund Liam zum Verwechseln ähnlich sieht.

 

Am Palast der Träume beginnt für die Wächterschüler Jascha und Aslan der erste Schultag, zu dem sie prompt zu spät kommen. Jascha legt sich mit seinem Lehrer Silas an und landet daraufhin im Krankenflügel, wo er die Heilerin Emma kennenlernt. Später treffen sie außerdem Hayet und Azalea, die gerade erst angereist sind.

 

[1]

 

Tyros

Marrakesch, 2018

 

Der Duft nach frischen Gewürzen und fruchtigen Tees liegt in der Luft, als ich aus dem Wagen steige. Es ist warm, so warm, dass ich meine Winterjacke noch am Flughafen in meinem Seesack verstaut habe und nur noch mein langärmeliges Shirt trage, damit es mich vor den Strahlen der Mittagssonne schützt.

In Marrakesch ist es halb elf, und die Innenstadt wimmelt nur so von Menschen, die ihren morgendlichen Markteinkäufen nachgehen. Ich bezahle den Taxifahrer in marokkanischen Dirham, die ich am Flughafen in Düsseldorf zu einem überteuerten Kurs eingetauscht habe, schicke eine kurze Nachricht an Moose, dass ich angekommen bin, und nehme meinen Seesack auf den Rücken.

Es ist achtzehn Jahre her, dass ich das letzte Mal hier gewesen bin, aber die Stadt hat sich kaum verändert. Die Gebäude sind noch die gleichen traditionellen Bauten aus hellem Stein, die immer wieder von Mosaiken und bunt bemalten Torbögen unterbrochen werden. Im Schatten der hohen Bäume sitzen Menschen und unterhalten sich, Rentner spielen Schach, Touristen machen Verschnaufpausen, vielleicht, weil sie überfordert von den ganzen fremden Eindrücken sind.

Ich setze mich in Bewegung und folge den Menschenmassen Richtung Djemaa el-Fna, dem großen Markt hier in der Medina. Schon von Weitem begrüßen mich die Trommel- und Flötenspieler, deren Musik sich mit den Stimmen der Marktschreier vermischt.

Mit den immer stärker werdenden Gerüchen füllt sich meine Seele mit Sehnsucht. Wie sehr habe ich dieses Land mit seinen Farben und Geschmäckern vermisst!

Wie sehr habe ich die Menschen hier vermisst ...

Der Gedanke an Najam Ahmar, den Clan, der überfallen wurde, wischt mir allerdings das Lächeln aus dem Gesicht. Malika und Junah standen nicht auf Mooses Liste, also haben sie vielleicht überlebt. Aber so viele Menschen, die mir wichtig waren, sind gestorben.

Ich balle die Hände zu Fäusten und versuche, nicht mehr darüber nachzudenken, denn die Wut ist mir so deutlich anzusehen, dass die Menschen mir schon ausweichen.

Wut hilft dir nicht weiter, sie macht dich unberechenbar, rufe ich mir Youssefs Worte in Erinnerung. Wenn der Clanführer damals nicht gewesen wäre, hätte ich niemals den Weg eingeschlagen, den ich nun gegangen bin. Normalerweise gelingt es mir gut, meine Wut im Zaum zu halten, aber jetzt fühle ich, wie sie mich innerlich auffrisst. Ich will die Verantwortlichen aufspüren und zur Rechenschaft ziehen. Etwas anderes hat in meinem Kopf keinen Platz mehr. Nicht einmal eine Erklärung für Moose hatte ich, aber die Dringlichkeit dieser Reise habe ich ihm trotzdem klargemacht. Er wird Fragen stellen, wenn ich zurückkomme, aber vorerst denke ich lieber nicht darüber nach.

Jetzt muss ich unbedingt Malika und Junah finden.

Bevor ich den Markt auf der anderen Seite wieder verlasse, kaufe ich frisch gepressten Granatapfelsaft und zwei Matlou, die gerade erst aus dem Ofen kommen und noch schön warm sind. Der Bäcker schlägt die Gebäckstücke in Zeitungspapier ein und reicht sie mir. Malika liebt die Kombination aus weichem Teig und saftigem Granatapfel immer noch über alles. Ich weiß, es ist unsinnig, sie für sie zu kaufen, aber ich spüre, wie sich dadurch meine Hoffnung verstärkt, sie wiederzusehen.

Während ich die Sachen in meinem Seesack verstaue, tauche ich in den Souks ab. Die kleinen Gassen mit den vielen unterschiedlichen Läden sind gewimmelt voll. Ich bin auf der Suche nach einem ganz bestimmten Geschäft, aber den genauen Weg habe ich nicht mehr in Erinnerung. Es ist so lange her.

Mit einer Karte kommt man hier nicht mehr zurecht, weil die Gassen so schmal sind, dass sie keine Namen tragen. Also frage ich mich in einem Kauderwelsch aus Arabisch und Französisch bei den Besitzern der verschiedenen Geschäfte durch, bis ich schließlich vor einem Laden stehen bleibe, in dem offensichtlich mit Tierhäuten und anderen skurrilen Gegenständen gehandelt wird.

Ich schiebe ein paar Schlangenhäute beiseite und betrete die Räumlichkeit. Die Frau hinter der Theke fällt mir zunächst gar nicht auf, zu erschlagend sind die vielen verschiedenen Muster und Farben hier. Erst als sie aufsteht und sich ihre Lippen zu einem erstaunten Oh öffnen, erkenne ich sie.

»Arifa.«

Sie beginnt zu strahlen und kommt hinter der Theke hervor, um mir zwei Küsse auf die Wangen zu geben.

»Tyros, bist du es wirklich?«, fragt sie auf Französisch und lehnt sich zurück, um mich zu betrachten. »Du bist so erwachsen geworden.«

Und du bist alt geworden, denke ich, spreche es aber aus Respekt nicht aus. Ihre einst dunklen Haare sind beinahe komplett ergraut, die Sonne hat ihrer Haut auch keinen Gefallen getan. Nicht einmal das Leuchten in ihren grünen Augen ist geblieben.

Sie lässt mich los und öffnet die Tür zu ihrem Wohnhaus. »Khadra! Komm mal bitte! Du musst den Laden übernehmen.«

»Wer ist Khadra?«, frage ich neugierig.

»Meine Enkeltochter«, erklärt sie. »Sie ist sechzehn.«

»Wow, ich hab viel verpasst.«

»Nicht allzu viel.« Arifa ruft erneut nach Khadra – Geduld war noch nie ihre Stärke – und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. »Du hast es sicher eilig. Nach allem, was mit Najam Ahmar geschehen ist.«

»Du weißt also bereits davon«, stelle ich überrascht fest.

Ein Schatten legt sich über ihr Gesicht. »Youssef hat es mir erzählt.«

Verwirrt blinzle ich sie an, die Hoffnung, Moose hätte sich in seiner Liste geirrt, breitet sich in meinem Magen aus. »Ich dachte ... Hat Youssef den Angriff überlebt?«

Sie schüttelt mit dem Kopf, und ich weiß nicht, was ich schlimmer finde: die Tatsache, dass er wirklich tot ist oder dass sie nach seinem Tod mit ihm gesprochen hat.

[2]

Freya

Christiania, 1768

 

Stille kann sich so unterschiedlich anfühlen.

Mal ist sie laut. Mal leise.

Manchmal unberechenbar.

Und manchmal genau das, worauf man gehofft hat.

Dieses Mal habe ich keine Angst, als es still um mich wird. Dieses Mal weiß ich, dass mir meine Magie geholfen hat. Sie hat uns gerettet, wenn auch nur für kurze Zeit.

Ich rapple mich auf und ertaste mir den Weg zu der Stelle, an der ich Mikael vermute. Schnell finde ich ihn. Er hängt an der Wand, weil man seine Hände dort festgebunden hat und er durch die Peitschenschläge in die Knie gezwungen wurde. Ich hocke mich neben ihn und taste nach seinem Herzschlag. Die Berührung meiner Fingerspitzen lässt ihn unruhig werden.

Kurz frage ich mich, ob es mit den anderen auch so wäre. Würden sie aufwachen, wenn ich sie berührte?

»Freya«, murmelt Mikael verwirrt und stöhnt auf. »Was ist passiert?«

»Nicht jetzt.« Ich ziehe den Dolch hervor, den er mir Stunden zuvor geschenkt hat, und durchtrenne seine Fesseln. Unsanft fällt Mikael zu Boden. Ich höre ihn scharf einatmen und verziehe schmerzerfüllt das Gesicht. Wie sehr wünschte ich, ich könnte sehen, was ich tue. »Wir müssen hier weg. Kannst du laufen?«

Eilig schiebe ich meine Arme unter seine und helfe ihm hoch. Er stützt sich mit seinem heilen Arm bei mir ab. Ich lege meine Hand auf seinen Rücken, er zuckt zusammen und hätte sich beinahe von mir losgerissen.

»Oh nein«, stoße ich leise aus und löse meine Hand sofort von der zerfetzten Haut. »Tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.«

Mikael antwortet mit zusammengepressten Lippen. »Schon gut.«

Er bringt uns zur Tür, die er vorsichtig öffnet, damit wir in den Gang lauschen können. Die Wachen am Beginn des Flures sind in ein Gespräch vertieft. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass sie uns nicht entdecken, wenn wir uns anschleichen, um sie zu überwältigen. Abgesehen davon würden wir das sowieso nicht schaffen, wenn ich uns nicht mit der Magie einen unschlagbaren Vorteil verschaffen würde.

»Wir können nicht hierbleiben«, flüstere ich. »Der König wird vielleicht bald aufwachen.«

»Irgendwo muss es einen Geheimgang geben«, raunt Mikael mir zu. »Aber den können wir jetzt nicht suchen. Erst mal brauchen wir ein Versteck.«

Ich nicke und überlege fieberhaft, aber ich kenne nur den Flur und das Königszimmer. Mikael dagegen scheint eine Idee zu haben, denn er greift nach meiner Hand und zieht mich hinaus auf den Flur. So leise wie möglich entfernen wir uns vom Gespräch der Wachen und biegen um eine Ecke. Mikael atmet erleichtert aus und wartet kurz, bevor wir weiterschleichen. Mit jedem Schritt fühle ich die Anspannung von mir abfallen.

Er öffnet eine Tür und zieht mich kurz darauf in einen Raum. Es ist warm und riecht nach Tabak, aber da niemand schreiend aufspringt, sind wir wohl allein. Ich lege den Kopf schief und lausche. Ein knisterndes Kaminfeuer, irgendwo tropft etwas in regelmäßigen Abständen, doch sonst ist es still.

Mikael schließt die Tür mit einem leichten Klicken und führt mich weiter in den Raum hinein. Ich stoße mit den Knien gegen ein Sofapolster, und er bittet mich, Platz zu nehmen. Zögerlich setze ich mich hin und befühle den samtigen Stoff. »Sind wir hier sicher?«

»Vorerst.« Mikael lässt sich neben mir auf das Sofa fallen. Ich taste nach seiner Hand und zeichne die markanten Knöchel nach. Er atmet schwerfällig aus. »Zumindest so lange, bis Struensee zurückkehrt.«

»Wieso?« Alarmiert horche ich auf. Was hat Struensee mit unserem Versteck zu tun?

»Das ist sein Gemach«, erklärt er. »Und er wird nicht erfreut sein, wenn er uns hier entdeckt.«

[3]

 

Tyros

Marrakesch, 2018

 

Khadra wirft ihre langen schwarzen Haare über die Schulter und setzt sich mit höflich-reserviertem Gesichtsausdruck hinter die Theke. Ich kann ihr ansehen, dass sie genervt ist, weil sie für eine Weile den Laden beaufsichtigen muss. Sie guckt genauso wie meine Schüler, wenn ich ihnen eine unliebsame Hausaufgabe gebe.

Arifa führt mich durch das steile Treppenhaus in ihre kleine Wohnung. Das Mosaik im gefliesten Vorraum ist ein großes Hamza - oder wie manche auch sagen: die schützende Hand der Fatima -das sie regelmäßig mit schützender Magie auflädt. Ich stelle meinen Seesack ab und schlüpfe aus den Stiefeln. Sie bedankt sich bei mir mit einem aufmerksamen Lächeln, bevor sie mich durch die kleine Wohnküche führt. In ihrer Wohnung riecht es nach Kräutern, Gewürzen und frischem Gebäck. Auf der Küchentheke entdecke ich ein Blech frisch gebackener Matlous, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Allmählich spüre ich meinen Hunger.

Die warmen Farben, mit denen ihr Wohnzimmer gestrichen ist, vermisse ich in Österreich. Diese marokkanische Wärme, die Herzlichkeit und das leckere Essen – alles Gründe, wieso ich lieber hiergeblieben wäre. Leider hatte ich keine andere Wahl.

Arifa bringt mich in den Raum, in dem vor achtzehn Jahren über meine Zukunft entschieden wurde. Die roten Wände, die Bücherregale mit den schweren, teils handgeschriebenen Büchern, Flaschen mit bunten Flüssigkeiten und Schraubgläsern mit getrockneten Kräutern werfen Erinnerungen an Männer auf, die längst zu Schatten ihrer selbst geworden sind. Ihre Sorge vor einem Krieg in der magischen Welt war es, die mich an den Palast gebracht hat. Nach wie vor frage ich mich, wieso sie ausgerechnet mich ausgewählt haben, um am Palast zu unterrichten und wenig später in den Rat aufgenommen zu werden.

Aber ich schätze, das ist eine der vielen Fragen, die mein Leben lang unbeantwortet bleiben werden. Außerdem bin ich wegen etwas ganz anderem hier.

»Setz dich«, bittet Arifa mich, also nehme ich auf einem der Sitzkissen an dem niedrigen Tisch Platz. »Wie kann ich dir helfen?«

»Ich hatte gehofft, du hilfst mir dabei, Malika zu finden.« Ich bemühe mich um einen neutralen Tonfall, aber das fällt mir verdammt schwer, wenn es um sie geht.

Arifa unterdrückt ein Lächeln. »Ich würde meinen, du wüsstest, wie du sie findest.«

»Ich kann sie nur im Traum erreichen, weil ich keine Handynummer von ihr habe. Aber wir haben die letzten Stunden nicht mehr zusammen geträumt, und ich will keine Zeit verlieren. Ich mache mir Sorgen.«

»Sie wird sich mit Sicherheit vor einfachen Auffindungszaubern verstecken«, gibt Arifa zu bedenken. Sie setzt Wasser auf, um uns Tee zu kochen. »Hast du etwas von ihr dabei?«

Ich greife in meine Hosentasche und ziehe das Hamza hervor, dass Malika mir vor vielen, vielen Jahren geschenkt hat. Bilder von uns blitzen vor meinem inneren Auge auf. »Reicht dir das?«

Arifa staunt nicht schlecht, als sie den kleinen bronzefarbenen Anhänger sieht. »Der summt ja geradezu vor Magie.«

»Immer noch?« Verblüfft betrachte ich die kleine Hand, die man hier auch Hand der Fatima nennt. Wie der Lebensbaum bei uns gilt die Hand der Fatima als schützendes Zeichen und wird oft mit Zaubern aufgeladen. »Ich dachte, ein Zauber in einem Amulett lässt nach einer bestimmten Zeit nach.«

»Nicht immer.« Arifa nimmt mir den Anhänger vorsichtig ab, umfasst ihn und schließt ihre Augen. Kurz darauf öffnet sie sie wieder und schaut mich nachdenklich an. »Malika hat es mit Erinnerungen an eure gemeinsame Zeit gefüllt. Jeder Kuss, jede noch so kleine Berührung ... Einer Hexe, die dieses Amulett anfasst, bleibt nichts davon verborgen.« Sie legt es auf den Tisch, wo es verräterisch zwischen uns liegt. »Ich habe mich schon oft gefragt, wie du es mit deinem Gewissen vereinbaren kannst, andere Hexen und Wächter für ihre Liebe zueinander zu verurteilen.«

»Das kann ich nicht«, erwidere ich rau, weil ich weiß, dass sie mir nicht helfen wird, wenn ich nicht ehrlich zu ihr bin.

»Warum bist du dann Ratsvorsitzender? Wie kannst du den Rat leiten, wenn du selbst eine Hexe liebst?«

Ihre Worte jagen mir einen Schauder über den Rücken. Seit achtzehn Jahren hüte ich dieses Geheimnis, und Arifa ist der einzige Mensch, der davon weiß. Jetzt, wo Youssef tot ist.

Sie verschränkt die Arme vor der Brust.

Ich ahme ihre Geste nach, weil ich mich in die Ecke gedrängt fühle. Sie fordert Antworten, die ich ihr nicht geben kann, auf Geheimnisse, die ich mit ins Grab nehmen muss.

»Ich habe dich nie gefragt, aber jetzt muss ich diese Antworten hören, Tyros. Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht ehrlich zu mir bist.« Sie schüttelt enttäuscht mit dem Kopf und geht zur Tür. Panik macht sich in mir breit. Ohne sie werde ich Malika vielleicht nicht rechtzeitig finden.

»Also gut«, schieße ich hervor. »Ich arbeite für den Rat, weil ich so die Macht habe ... gewisse Dinge vor ihm zu verbergen.«

[4]

 

Louisa

Düsseldorf, 2018

 

Rückblickend kommen mir manche Momente vor, als würden sie eine Ewigkeit andauern. Als würde die Zeit stillstehen müssen, weil der Kopf und das Herz sonst nicht schnell genug hinterherkommen.

Aber dann ist Platz für so viele Gedanken. So viele Fragezeichen.

Und so viel Angst.

Der Mann, der aussieht wie eine ältere Version von Liam, hebt vorsichtig die Hände. Ich weiß, er will mich beschwichtigen, mein Kopf weiß das, aber mein Herz macht einen Satz. Panik jagt wie ein Blitz durch meinen Körper und entlädt sich in einem lauten Schrei.

Es kracht so laut, dass ich die Hände auf meine Ohren presse. Ich falle auf die Knie, runtergedrückt von einem unsichtbaren Gewicht, das mich für einen Moment nicht mehr loslässt. Mein Schädel fühlt sich an wie entzweigerissen. Meine Hände zittern, meine Lippen sind feucht. Ich hebe den Blick, der Raum wirkt plötzlich so unscharf. Mit den Fingerspitzen fange ich die Feuchtigkeit meiner Lippen auf. Sie ist rot.

Ist das Blut? Ist das mein Blut?

Was ist passiert?

Verwirrt kneife ich die Augen zusammen und öffne sie wieder, in der Hoffnung, dass sich dadurch meine Sicht schärft. Es gelingt zumindest teilweise. Der Raum dreht sich immer noch um mich.

Allmählich sickern einzelne Eindrücke in mein Bewusstsein durch. Ein zerfetzter Tisch, Holzteile und Elektronik verstreut im Raum. Moose, der sich die Stirn reibt. Ivan, begraben unter einem Bildschirm. Liam oder Daniel oder wie auch immer er heißt, den es an die andere Wand geschleudert hat.

Und Alex.

Oh Gott.

»Alex?«, krächze ich. Meine Stimme klingt ungewohnt rau. Ich krieche über den Boden, schiebe eine kaputte Festplatte und ein paar grobe Holztrümmer beiseite, die mir in die Haut stechen, bevor ich bei Alex ankomme.

Er liegt an der Wand.

Regungslos.

In seinem Oberschenkel steckt ein zersplittertes Stuhlbein.

Vorsichtig, zögerlich strecke ich eine Hand aus, um nach seinem Puls zu tasten. Ich hinterlasse blutige Abdrücke auf seiner weichen Haut und atme erleichtert auf, als ich das schwache Pulsieren unter meinen Fingerspitzen spüre.

Ich versuche mich daran zu erinnern, was ich im Erste-Hilfe-Kurs gelernt habe, aber ich bin so müde. Mein Kopf ist so voll und gleichzeitig so leer. Am liebsten würde ich mich einfach neben ihn legen und warten, bis es ihm wieder besser geht. Er weiß doch sonst auch, was zu tun ist.

Mich auf ihn zu verlassen, erscheint mir gerade sehr sinnvoll, also rolle ich mich neben ihm zusammen und nehme seine Hand in meine.

»Ich lass dich nicht allein«, flüstere ich und schließe die Augen. Die wohlige Wärme in meinem Bauch hüllt mich in Geborgenheit. »Weck mich, wenn es ...« Ich vergesse, was ich sagen wollte. »Du weißt schon ...«

[5]

 

Tyros

Marrakesch, 2018

 

Arifa schaut mich verblüfft an. »Du hintergehst den Rat?«

»Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt«, gebe ich zähneknirschend zu. »Können wir jetzt das Thema wechseln? Wir müssen Malika finden, bevor es zu spät ist.«

»Also gut.« Arifa gibt sich geschlagen, gießt uns einen Granatapfeltee auf und fängt an, eine Paste zuzubereiten. »Ich werde euch beide in den Schlaf befördern. Je nachdem, wo Malika gerade ist und was sie gerade macht ... könnte das sehr gefährlich für sie werden. Sie wird zwar nicht direkt einschlafen, aber sie wird so müde, dass ihr nichts anderes mehr übrigbleibt, als eine Pause zu machen und sich hinzulegen. Wenn sie gerade Auto fährt ...«

»… könnte das schiefgehen«, beende ich ihren Satz und denke kurz über die Konsequenzen nach. Auch wenn Malika gerade auf der Flucht ist, würde ich sie damit so sehr ausbremsen, dass man sie zu fassen bekommt. Aber wenn ich bis zur Nacht warte, und sie nicht in meinem Traum erscheint ... wird mich nicht nur die Sorge um sie umbringen, ich würde mir auch Vorwürfe machen, dass ich nicht eher versucht habe, sie zu erreichen. Dennoch frage ich: »Gibt es keine andere Möglichkeit?«

»Ich kann probieren, sie zu orten, aber ich denke, sie versteckt sich.«

»Wie konnten die Hexenjäger den Clan überhaupt finden?«

Arifa zuckt mit den Schultern. »Ich glaube kaum, dass sie Magie nutzen, um Hexen zu finden. Das würde ihrem erklärten Ziel wohl eher widersprechen.«

»Hm«, mache ich nachdenklich und frage mich, woran ein normaler Mensch Hexen erkennt. Daran, dass sie meistens zurückgezogen leben und kein großes Aufsehen um sich machen? Oder wirkt unser Volk so anders auf die Menschen, dass es ein Leichtes ist, sie zu erkennen, wenn man erst mal weiß, dass Magie tatsächlich existiert?

»Jedenfalls sollte sich der Rat dringend um diese Hexenjäger kümmern, statt Problemen hinterherzujagen, die keine sind.«

Ich seufze. »Wem sagst du das? Ich versuche schon seit Jahren, sie dazu zu bewegen, das Gesetz zur Liebe fallen zu lassen. Aber wenn ich das nicht vorsichtig angehe, schöpfen sie Verdacht ... und wenn ich kein Ratsvorsitzender mehr bin, habe ich nicht mehr die Möglichkeiten und Ressourcen, die ich jetzt habe.«

Arifa nickt verständig und wischt sich die Hände an einem Küchentuch ab, bevor sie den Tee serviert und sich mit der gelben Paste zu mir setzt.

»Wie lange wird das etwa dauern?«

»Du hast zehn Minuten, bevor du langsam wach wirst«, erklärt sie. »Es wird sich anfühlen wie nach einer Vollnarkose. Du wirst eine Weile brauchen, bis dein Kreislauf wieder auf der Höhe ist.«

»Malika auch?«, frage ich nach, obwohl ich die Antwort längst kenne. Ein weiteres Mal frage ich mich, ob ich gerade wirklich die richtige Entscheidung treffe. Was, wenn ich sie in Gefahr bringe? Aber was, wenn sie längst in Gefahr ist, und ich ihr nur helfen kann, wenn ich sie so schnell wie möglich finde?

»Hoffen wir einfach, dass sie gerade sowieso Langeweile hat. Abgesehen davon bin ich sicher, wird sie glücklich sein, dass ihr euch seht und du in Marokko bist.« Arifa bedeutet mir, mich hinzulegen. Ich trinke etwas von meinem Tee und mache es mir dann zwischen den Kissen bequem. Sie entzündet eine rote Kerze und hält das Hamza in sicherem Abstand darüber, während sie ein paar fremde Worte murmelt. Ich beobachte angespannt, wie sie das Schmuckstück schließlich auf meinem Herzen platziert und meine Hand in ihre nimmt.

»Schließ die Augen und denk an Malika«, bittet sie mich. Ich gehorche und spüre kurz darauf, wie sie die gelbe Paste auf meiner Stirn verstreicht. Ihre leise Stimme begleitet mich in die Müdigkeit, sie verkommt zu einem weit entfernten Murmeln, bevor sie schließlich ganz verschwindet und meine Gedanken nur noch von Malika beherrscht werden. Von ihrem sanften Lächeln und dem Leuchten in ihren blauen Augen, wann immer sie mir im Traum begegnet. Von ihrem weichen Haar und dem Pfirsichduft ihrer Haut, von dem Gefühl von Sicherheit, das sie mir vom ersten Moment an vermittelt hat.

Es ist diesig. So diesig, dass die Aussicht nicht weit genug reicht, um in der Ferne irgendwas zu erkennen. Nur an einer alten Tankstelle bleibt mein Blick hängen, weit und breit das einzige Gebäude.

Ich möchte keine Zeit verschwenden und setze mich in Bewegung. Es kann nicht lange dauern, bis Malika auftaucht, wenn sie nicht ... Nein, diesen Gedanken führe ich nicht zu Ende.

An der Tankstelle ist nichts los, und ich frage mich unwillkürlich, ob das in Wirklichkeit auch so ist oder ob die Tankstelle nur so deutlich hervorgehoben ist, weil sie der Ort ist, an dem sich Malika aufhält.

Ein großer Baum markiert die Ausfahrt zur Straße. Daneben befindet sich ein Schild, auf dem die Entfernungen nach Marrakesch und El Kelaâ des Sraghna stehen. Das legt zumindest eine ungefähre Richtung fest.

»Tyr?«

Ihre Stimme jagt einen Stromschlag durch meine Adern. Gott sei Dank!

Ich drehe mich um und bin mit wenigen Schritten bei ihr. Sie schließt ihre Arme um mich und presst ihr Gesicht an meine Brust. Ihr Pfirsichduft erfüllt meine Nase.

»Was passiert hier?«, fragt sie und lässt mich los.

Ich gönne mir einen Moment, in dem ich ausschließlich ihr wunderschönes Gesicht betrachte. Die weiche Haut, die geschwungenen Lippen, die Stupsnase. All diese Dinge, die sich auch mit dem Alter kaum verändert haben und die dafür gesorgt haben, dass ich mich auf einen Schlag in sie verliebte. Und obwohl die Zeit knapp ist, ist sie doch auch wertvoll. Ich lege meine Hände sanft um ihre Wangen und küsse sie, die Frau, die ich seit achtzehn Jahren in meinem Herzen trage.

»Wir haben nicht viel Zeit«, flüstere ich dann leise. »Du musst mir verraten, wo du bist, damit wir uns treffen können.«

»Du bist in Marokko?«

»In Marrakesch.« Ich lächle sie sanft an. »Ich lass dich nicht allein nach Junah suchen.«

Ihr Blick wird noch weicher, als er sowieso schon ist, und ich sehe Tränen der Rührung in ihren Augen aufsteigen.

»Arifa hat uns verbunden, damit wir miteinander sprechen können«, erkläre ich.

»Was?«, entfährt es ihr schockiert. »Du bist bei Arifa? Du musst da sofort weg, Tyr.«

Verwirrt blinzle ich sie an. »Wieso das denn?«

»Sie war es.« Malika schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an. Die Angst ist ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Sie hat Najam Ahmar an die Hexenjäger verraten.«

 

 

[6]

 

Freya

Christiania, 1768

 

Mikaels Worte bereiten mir Sorge, aber noch mehr fürchte ich mich davor, dass seine Verletzungen ihn letztendlich doch bezwingen. Er hat viel Blut verloren, nicht nur durch die Peitschenhiebe, sondern vor allem, weil seine Wunde wieder aufgerissen ist. Der Schock sitzt ihm immer noch in den Knochen. Auch wenn er vorgibt, alles unter Kontrolle zu haben, spüre ich instinktiv, wie er bei jedem noch so leisen Geräusch zusammenzuckt.

Ich will seine Wunden reinigen, aber er lässt mich nicht. Er hat zu viel Angst davor, dass er seine Schreie nicht unterdrücken kann und sie uns finden. Also sitzen wir stattdessen hier und tüfteln einen Plan aus.

»Es gibt nur drei Wege. Entweder gehen wir so raus, wie wir gekommen sind«, zählt er leise auf. »Wir klettern aus dem Fenster oder wir finden den Geheimgang.«

Meine Hoffnung schwindet. »Wie sollen wir das bloß schaffen? Das ist unmöglich.«

»Nein.« Mikael steht auf und bewegt sich durch den Raum. »Nicht unmöglich. Nur wahnsinnig. Aus dem Fenster klettern können wir nicht. Die Wand ist nahezu eben, außerdem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du hinunterfällst, weil du nichts siehst. Abgesehen davon glaube ich auch nicht, dass ich klettern kann.«

»Also bleiben uns nur zwei Optionen.« Ich seufze und versuche angestrengt nachzudenken, wo ich einen Geheimgang verstecken würde, wenn ich das Schloss erbaut hätte.

»Um Mitternacht ist die Wachablösung.« Mikael kehrt zu mir zurück und setzt sich wieder hin. Er kann ein Stöhnen kaum unterdrücken. »Das wäre unsere Möglichkeit zu entkommen.«

Ich schüttle leicht mit dem Kopf. Wie hat er sich das vorgestellt? Wir würden ja nicht einmal zwei Wachen besiegen können, wie sollen wir es da mit vier Männern aufnehmen?

»Wir haben noch vier Stunden, um uns zu erholen und darauf vorzubereiten«, fährt er fort und erläutert mir seine haarsträubende Idee.

»Das ist verrückt«, flüstere ich. »Das wird niemals gut gehen.«

»Und doch ist es unsere einzige Chance, wenn sich der Geheimgang nicht ausgerechnet in Struensees Kammer befindet. Wir nutzen die Zeit zwischen den Wachgängen geschickt und verlassen dieses Schloss lebendig.« Er nimmt meine Hand und streichelt sie sanft. »Freya, wir können nicht hierbleiben. Wir haben keine andere Wahl.«

Ich atme tief ein und nicke dann. Auch wenn sein Plan waghalsig ist, es ist der einzige, der mit viel Glück klappen kann. Aber nicht, wenn es Mikael nicht besser geht.

Mir kommt ein irrwitziger Gedanke. Was, wenn ich ihn heilen kann? Ich habe meine Magie doch gerade schon benutzt. Ich weiß jetzt, wie sie sich anfühlt. Und ich weiß, dass ich ihn damit gerettet habe. Vielleicht ... vielleicht hat mein Geist jetzt genug Vertrauen geschöpft, um diese Macht nutzen zu können.

»Lass mich versuchen, dich zu heilen«, bitte ich ihn, bevor ich es mir anders überlegen kann.

»Bist du sicher, dass du genug Kraft dafür hast?«, fragt er.

Keine Zweifel, kein Misstrauen. Bloß die Sorge um mich.

Mir wird warm ums Herz. Ist es möglich, sich innerhalb so kurzer Zeit zu verlieben? Anders kann ich das Gefühl in meinem Inneren nicht deuten.

Ich räuspere mich. »Ich will es wenigstens versuchen.«

»Ich vertraue dir«, murmelt er leise und drückt meine Hand.

Mehr brauche ich nicht. Ich rutsche vom Sofa und bitte ihn, es sich bequem zu machen. Leider habe ich keine Ahnung, was ich hier tue und hoffe, dass es reicht, mich auf seine Heilung zu konzentrieren. Wenn ich mir doch bloß nicht so dumm dabei vorkommen würde, wie ich hier neben ihm knie und meine Hände über seinem zerfetzten Rücken ausstrecke.

Um mich von diesen wenig hilfreichen Gedanken abzulenken, rufe ich mir in Erinnerung, wie es sich angefühlt hat, die Magie zu benutzen. Dieses Kribbeln in meinen Fingerspitzen, der schnellere Herzschlag, das Pulsieren der Macht.

Bevor ich aber etwas Vernichtendes damit anrichte, konzentriere ich mich auf das, was ich von der Magie will. Ich stelle mir vor, wie sie aus meinen Händen herausgleitet und sich auf seinen Rücken legt. Wie sie eine sanfte Schutzschicht bildet und unter sich die Wunden heilt. Ich male mir aus, wie sie tief in ihn eindringt und keine Narben mehr zurückbleiben, und atme erstaunt ein, als sich das Kribbeln in meinen Fingerspitzen tatsächlich einstellt.

Aber genauso schnell, wie es gekommen ist, verschwindet es auch wieder.

Merkwürdig.

Ich reibe meine Fingerspitzen aneinander und starte einen neuen Versuch. Dieses Mal dauert es etwas länger, bis das Kribbeln zurückkehrt. Aber auch jetzt verschwindet es, kaum, dass es da ist.

»Geht es dir gut?«, fragt Mikael besorgt.

»Ja.« Ich runzle verwirrt die Stirn. »Ich denke schon.«

Wieso bleibt die Magie nicht, bis sie ihre Arbeit erledigt hat?

»Was ist denn los?«

Ich erkläre ihm, was mein Problem ist, und er überlegt eine Weile.

»Vielleicht denkst du an etwas anderes, sobald das Kribbeln auftaucht?«, fragt er dann, und mir wird klar, dass er recht hat. Wann immer ich die Magie aufkommen spüre, bin ich zu sehr darauf bedacht, sie zu halten, nicht darauf, ihn zu heilen.

Also versuche ich es noch ein drittes Mal, fest entschlossen, dieses Mal nur an Mikael und seine Heilung zu denken. Ich schließe die Augen, strecke die Hände aus und konzentriere mich, bis ich das Kribbeln spüre und weit darüber hinaus. Erst als ich mich darüber freue, dass ich es länger halten kann, verblasst es und verschwindet schließlich ganz.

Es ist also tatsächlich eine Sache der Konzentration.

»Wie geht es dir?«, frage ich, neugierig, ob meine laienhaften Versuche schon eine Verbesserung gebracht haben.

»Es juckt.« Er lacht leise auf. Das Geräusch wird von einem Kissen gedämpft, aber es tut trotzdem gut, sein Lachen zu hören. Das muss bedeuten, dass es ihm besser geht, oder?

Ich beschließe, es sicherheitshalber nicht dabei zu belassen und wiederhole das, was ich bisher getan habe. Mit jedem Mal hält das Kribbeln in meinen Fingerspitzen länger an, aber irgendwann kann ich nicht mehr. Ich bin auf einmal unsagbar erschöpft.

»Freya.« Er klingt erstaunt. »Es ist so viel besser. Was ... was ist los? Hat es geklappt?«

»Ich bin so müde«, wispere ich und gähne herzhaft. Mir kommt es vor, als hätte seine Heilung meinem Körper sämtliche Kraft entzogen. Es fällt mir nun sogar schwer, aufzustehen. Mikael zieht mich sanft hoch, und ich lasse mich in die Kissen sinken. »Ich glaube, ich ... ich schlaf gleich ein.«

»Ich wecke dich, wenn wir weiter müssen.« Mikael lehnt sich über mich und küsst meine Stirn. »Schlaf ruhig, meine Heldin.«

[7]

 

Tyros

Marokko, 2018

 

In meinem Kopf wabert ein dicker Nebel, meine Glieder sind taub, und auf meiner Zunge hat sich ein pelziger Belag gebildet, während meine Gedanken immer klarer werden.

Sie hat Najam Ahmar an die Hexenjäger verraten. Malikas Worte sind mir scharf im Gedächtnis geblieben, doch trotz der Dringlichkeit will es mir nicht gelingen, aus diesem Dunst aufzuwachen. Ich kann die Augen nicht aufschlagen. Es ist, als wären sie zugeklebt.

Ich bin noch so weit weg, dass es mir schwerfällt, meinen Atem zu regulieren. So angenehm es war, Malika zu sehen, so grauenvoll ist dieses taube Gefühl und das, was sie mir erzählt hat.

Es dauert eine Weile, bis sich der Nebel in meinem Kopf lichtet und mein Körper mir wieder gehorcht. Endlich kann ich die Augen öffnen und bin trotzdem umhüllt von Dunkelheit.

Ist es bereits Nacht?

Verwirrt schaue ich mich um, doch ich kann nicht einmal die Hand vor Augen erkennen. Ich will mich aufrichten, und in diesem Moment werden mir verschiedene Dinge bewusst. Ich kann mich nicht bewegen, weil ich gefesselt bin. Und ich kann nichts sehen, weil man mir einen Sack über den Kopf gestülpt hat.

Scheiße. Schlagartig bin ich wach.

Deshalb ist es so stickig hier, und das pelzige Gefühl auf meiner Zunge ist keine Nebenwirkung von der Magie, sondern kommt von dem Knebel, mit dem man mich stillhalten will.

Zugegebenermaßen verstehen meine Entführer ihr Werk. Hände und Füße zusammengebunden, vollkommene Orientierungslosigkeit, nicht die leisesten Geräusche bis auf meinen eigenen Atem, der mir unwirklich laut vorkommt.

Jetzt bloß keine Panikattacke bekommen. Ich war schon oft genug in brenzligen Situationen, und dass sie mich gefesselt und geknebelt haben, ist ein gutes Zeichen. Das bedeutet, sie wollen mich lebend.

Nur wer sind sie?

Hexenjäger?

Gestaltwandler?

Oder irgendeine dritte Macht, die etwas gegen Wächter und Hexen hat?

Eins ist klar. Arifa hat nicht nur den Clan und Youssef verraten, sondern auch mich. Youssef. Das macht den Schmerz noch bitterer. Warum hat sie das getan? Sollte sie als Hexe nicht eigentlich auf unserer Seite stehen?

Mühsam versuche ich meine Glieder zu bewegen, um die Fesseln etwas zu lockern. Mir fällt das kleine Messer in meinem Stiefel ein, doch da komme ich so einfach nicht dran. Wenn sich nichts an meiner Situation ändert, muss ich einschlafen und Malika bitten, Unterstützung aus dem Palast anzufordern. Nur hat mich der Zauber so sehr durcheinandergebracht, dass ich keine Ahnung habe, wie spät es ist. Nachmittag oder bereits Abend? Schläft sie vielleicht schon wieder?

Je länger ich darüber nachdenke, umso auswegloser erscheint mir meine Situation. Selbst wenn ich Malika erreichen würde und sie ein paar Wächter nach Marokko schicken, um uns zu helfen ... Es würde zu lange dauern, und wie sollen sie mich finden, wenn ich selbst keinen einzigen Anhaltspunkt für meinen Aufenthaltsort habe? Und was wird geschehen, wenn sie von unserer Verbindung erfahren? All die Jahre habe ich unser Traumband so gut geheim gehalten, um sie zu schützen. Wenn sie nun um Hilfe bittet, wird das Fragen aufwerfen, die mich nicht nur meine Stelle als Ratsvorsitzenden kosten könnten, sondern unter Umständen sogar mein Leben.

Am einfachsten wäre es, wenn sie Alex kontaktiert. Nur dass Alex eigentlich nicht helfen kann, weil ich Ivan und Daniel die Anweisung gegeben habe, ihn im Auge zu behalten. Außerdem würde er Fragen stellen, die ich nicht gebrauchen kann – gerade jetzt, in seiner Situation. Silas kommt ebenfalls nicht infrage. Auch wenn ich ihn für vertrauenswürdig halte, ist er einer der wenigen Strategen und Kämpfer, die gerade noch im Palast sind, und dort sollte er bleiben.

Moose. Das ist es. Wenn Malika Moose kontaktiert, könnte er vor dem Rat behaupten, ich hätte ihm eine Nachricht zukommen lassen. So ist Malika fein raus, und er kann ein Team zusammenstellen, das mich befreit, wenn ich es nicht in der Zwischenzeit allein schaffe. Er wird ganz sicher auch Fragen stellen, aber er ist der Einzige, der loyal genug ist, mich nicht zu verraten, bevor er nicht mit mir gesprochen hat.

Zufrieden mit meinem Einfall entspanne ich mich etwas und versuche mich bequemer hinzulegen. Wenigstens habe ich jetzt einen Plan.

 

[8]

 

Louisa

Düsseldorf, 2018

 

Ich sitze auf einem großen Stein am Wegrand und blicke einen Felsspalt empor, aus dem das Wasser mit lautem Tosen hinunterstürzt. Ein paar Tropfen spritzen bis zu mir und befeuchten mein Gesicht und die Hände.

Es ist warm, aber nicht zu warm. Der Wasserfall gibt genau das richtige Maß an Erfrischung ab.

Ein knackender Ast hinter mir lässt mich aufmerksam werden. Ich drehe mich um und presse die Lippen aufeinander, um nicht wie eine Irre zu grinsen.

Alex kommt den Weg entlang. Sein graues Shirt klebt an seinem trainierten Oberkörper. Er sieht aus, als wäre er einige Kilometer gewandert. Unsere Blicke treffen sich, und er lächelt mich an.

Mein Herz macht einen Sprung und hinterlässt ein kribbliges Gefühl in meiner Magengrube.

»Hey«, begrüßt er mich, nachdem er mich endlich erreicht hat. Seine Augen leuchten. Ob das an der Sonne liegt oder daran, dass er mich wiedersieht?

»Hey«, erwidere ich schüchtern und stehe schnell auf. Werden wir uns wieder küssen? Wieso kann ich an nichts anderes mehr denken als an seine Lippen?

»Geht’s dir gut?« Er runzelt besorgt die Stirn.

Verwirrt blicke ich ihn an. »Ja, wieso?«

»Erinnerst du dich nicht?«

Woran ... Ach ja. Vage Bilder tauchen in meinem Kopf auf. Liam, ein verwüstetes Wohnzimmer, blutige Fingerspitzen, Alex.

»Geht es dir gut?«, frage ich angsterfüllt. Durch meine Panikattacke muss die Magie aus mir herausgebrochen sein, so wie in der ersten Nacht, doch der Schub hatte wohl so viel Kraft, dass es das halbe Wohnzimmer zerlegt hat.

»Wenn’s mir nicht gutgehen würde, würde ich nicht träumen.« Er zuckt mit den Schultern. »So schlimm kann es also nicht sein.«

»Weißt du denn, was passiert ist?« Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass er so gelassen reagieren würde, wenn er wüsste, dass er ein kaputtes Stuhlbein im Oberschenkel stecken hat. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, ihm davon zu erzählen, aber ich weiß nicht, ob die Angst nicht sein Aufwachen auslösen könnte, und vielleicht ist es besser, wenn er vorerst noch nicht aufwacht.

Oder?

Was, wenn es den anderen auch nicht gut geht? Was, wenn aufwachen seine einzige Chance zu überleben ist?

Der Gedanke lässt das Bild vor mir aufflackern.

Alex schaut mich erstaunt an. »Was ist los?«

»Ich weiß nicht«, erwidere ich und spüre ein Ziehen in meinem Bauch. Ich schließe die Augen.

Als ich sie wieder öffne, blicke ich in blaue Augen hinter dicken Brillengläsern.

»Lou, hey. Bist du okay?« Moose lächelt mich unsicher an. Auf seiner Stirn ist eine Schramme, aber sonst scheint er keinen Kratzer abbekommen zu haben.

Ich mache eine innerliche Bestandsaufnahme. Schmerzender Kopf, schmerzender Hals, meine Nase fühlt sich irgendwie immer noch taub an, aber das warme Gefühl in meiner Bauchmitte ist geblieben. Ich bewege meine Arme und Beine und bin erleichtert, dass ich noch heile bin. Schließlich nicke ich nur, weil ich meiner Stimme nicht traue.

»Kannst du aufstehen?« Er streckt mir seine Hände hin, um mir aufzuhelfen.

Ich fühle mich noch etwas schwach auf den Beinen. »Was ist mit Alex?«, krächze ich, weil ich ihn nirgendwo entdecken kann. In mir breitet sich Sorge um ihn aus. Was, wenn unser Traum beendet wurde, weil er ... »Geht es ihm gut?«

»Er lebt.« Moose verzieht besorgt das Gesicht. »Aber gutgehen ist anders.«

»Wo ist er?«, frage ich und reiße mich von Moose los, um ein paar vorsichtige Schritte zu machen. Das Wohnzimmer hat es in alle Einzelteile zerlegt. Nicht nur der Tisch, die Stühle und die ganze teure Elektronik liegt in Bruchstücken im Raum herum, auch die Wand hat der Druckwelle nicht standgehalten.

»War ... war ich das?«, frage ich, entsetzt vom Ausmaß der Zerstörung. Für einen Augenblick denke ich nicht mehr an Alex. Wie ist sowas überhaupt möglich? Wie kann ich so viel Kraft haben?

»Du hast eine Panikattacke bekommen, als du Daniel gesehen hast. Du hast ihn Liam genannt«, erklärt mir Moose, aber daran erinnere ich mich noch sehr genau.

»Er sieht aus wie Liam«, flüstere ich. »Das kann doch kein Zufall sein.«

»Ist es auch nicht.« Moose sammelt ein paar Einzelteile der Elektronik ein, nachdem er sich vergewissert hat, dass ich nicht wieder umkippe. »Liam war Daniels Bruder. Er ist vor etwa fünf Jahren bei einem Einsatz ums Leben gekommen.«

Scharf atme ich ein. »Soll das heißen ... Liam war irgendwie ... real?«

»Davon kannst du ausgehen. Aber wieso für dich … das müssen wir wohl herausfinden.« Moose stopft ein paar Sachen in seinen Rucksack und nimmt meine Hand. »Jetzt müssen wir erst mal hier weg, bevor jemand kommt und unangenehme Fragen stellt.«

»Was? Wir lassen das jetzt einfach so?«

»In den Nachrichten werden sie nachher von einer explodierten Gasleitung sprechen. Dafür sorgen ein paar unserer Leute.«

Zweifelnd werfe ich einen Blick auf das Loch in der Wand. »Und die anderen? Alex?«

»Sind schon beim Auto. Ivan und Daniel haben ihn runtergebracht.« Er zieht mich aus der Wohnung, aber ich reiße mich noch einmal los, um meine Sachen zu holen. Ungeduldig wartet er in der Tür und nimmt mir den Koffer ab, bevor wir den Flur durch den Notausgang verlassen und die Feuertreppe hinuntereilen.

»Halt den Kopf unten und versuch unauffällig zu bleiben«, weist mich Moose an. Verwirrt blicke ich auf, weil mir nicht klar ist, wieso er diese Anweisung gibt, aber dann sehe ich die Menschenmenge, die sich vor dem Mehrfamilienhaus gebildet hat. Sie sind auf das Loch in der Wand und die Feuerwehr konzentriert, die gerade angerauscht kommt, so dass uns niemand große Aufmerksamkeit widmet und wir ungesehen zum Auto gelangen können.

Daniels Anblick lässt mich erschaudern. Selbst wenn er nicht Liam ist, ist es immer noch gruselig genug, dass er ihm so ähnlich sieht. Er wirft mir einen entschuldigenden Blick zu.

»Wie geht es Alex?«, frage ich mit rauer Stimme. Meine Stimmbänder fühlen sich an, als hätte ich den ganzen Tag geschrien.

»Er hat viel Blut verloren«, erklärt Daniel, weil Ivan über Alex gebeugt ist, um ihn zu versorgen. »Ist immer noch ohnmächtig. Eigentlich müssten wir ihn in ein Krankenhaus bringen.«

»Das geht nicht.« Moose seufzt, nimmt die Brille ab und massiert seinen Nasenrücken, bevor er sie wieder aufsetzt. »Da werden sie Fragen stellen. Ich versuch es noch mal bei Diana. Vielleicht haben wir dieses Mal Glück.«

Er zückt sein Handy und entfernt sich etwas vom Auto. Daniel nimmt mir meinen Koffer ab, um ihn zusammen mit den Überresten der Elektronik im Kofferraum zu verstauen. Als er wieder zurückkommt, reicht er mir eine Flasche Cola.

»Danke.« Ich bin überrascht, dass er ausgerechnet jetzt daran denkt, meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.

»Gern.« Er lächelt freundlich. »Auch wenn unser Start etwas holprig war: Ich freu mich, dich kennenzulernen, Louisa. Ich bin Daniel.«

Etwas nervös reiche ich ihm meine Hand, weil es das Normalste ist, was ich in dieser Situation tun könnte. Und wenn ich nicht langsam ein bisschen Normalität habe, drehe ich am Rad.

»Willst du dich nicht schon mal ins Auto setzen?« Daniel führt mich zur Beifahrertür, und ich rutsche widerwillig auf den Sitz, bloß um mich gleich darauf zur Rückbank umzudrehen und nach Alex zu schauen.

Er sieht nicht gut aus.

Er ist blass um die Nase. Ein Zeichen dafür, dass er zu viel Blut verloren hat. Ivan hat sein Bein abgebunden und die Wunde notdürftig versorgt, aber das Stuhlbein steckt immer noch drin. Normalerweise habe ich kein Problem mit Blut, aber zu wissen, dass es Alex ist, der da gerade liegt, lässt meinen Kreislauf zurück in den Keller fallen.

Ich wende mich ab, rutsche in meinen Sitz und schließe für einen kurzen Moment die Augen, um tief durchzuatmen. Nur einen Augenblick lang das Chaos aus Menschen, Sirenen und Schreien auszublenden, um mein eigenes Chaos zur Ruhe zu bringen.

Er kommt wieder in Ordnung.

Wir finden jemanden, der ihm helfen kann.

Es ist deine Schuld.

Feuerwehr, Rettungssanitäter und Polizisten ... sie alle suchen in dem Haus nach Verletzten.

Nach Toten sogar.

Wenn ich mich nicht unter Kontrolle kriege, dauert es nicht mehr lange und ich bringe noch aus Versehen jemanden um.

Mit zitternden Händen öffne ich die Flasche Cola und trinke ein paar großzügige Schlucke. Ich brauche dringend etwas Stärkung. Aber die Süße sorgt bloß dafür, dass mir noch übler wird.

Vielleicht stehe ich auch unter Schock.

Wieder einmal.

Am liebsten wäre ich jetzt in meinem Zimmer und würde mich unter meiner Decke verkriechen. So sehr ich Alex mag, gerade wünschte ich mir, ich hätte ihn niemals getroffen. Dass er mich niemals in diese Welt hineingezogen hätte.

Moose reißt die Fahrertür auf. »Ich hab Diana erreicht. Sie ist in Köln und wartet auf uns. Schafft er das?«

Für einen Moment frage ich mich, wer diese Diana überhaupt ist und warum sie so wichtig ist. Aber der Gedanke verschwindet wieder, sobald Moose seine Tür zuzieht.

»Er muss«, erwidert Ivan finster.

Daniel lehnt sich an meine Tür und schaut ins Auto. »Ich kümmere mich drum, dass hier alles in Ordnung ist und komme dann nach.«

Moose nickt. Ivan steigt aus, schließt die Tür und steigt auf der anderen Seite wieder ein, so dass er Alex’ Kopf auf seinem Schoß platzieren kann. Schweigend blickt er mich aus seinen grünen Augen an. Kommt es mir nur so vor oder gibt er mir die Schuld an allem?

[9]

 

Tyros

Marokko, 2018

 

»Tyros?« Malika stürmt auf mich zu und fällt mir um den Hals. »Ich dachte, du wärst tot. Wieso bist du nicht zum Treffpunkt gekommen?«

Ich vergrabe meine Nase in ihrem Haar und atme tief ein. Wie sehr ich mich darauf gefreut habe, sie endlich wieder im echten Leben zu berühren, wird mir erst jetzt klar. Und obwohl ich sie wenigstens im Traum noch länger halten würde, löse ich mich von ihr, um ihr zu erzählen, was geschehen ist. Die Zeit ist zu kostbar, um sie nicht mit Plänen zu füllen. Wenn alles gesagt ist, können wir den Traum immer noch genießen.

Ihre Augen weiten sich erschrocken, als sie von meiner Misere erfährt. Sie verflucht Arifa auf Arabisch – zumindest denke ich das. Meine Arabisch-Kenntnisse haben in den letzten achtzehn Jahren arg nachgelassen.

»Du musst Moose kontaktieren«, erkläre ich ihr schließlich. »Aber du darfst ihm auf keinen Fall sagen, in welcher Beziehung wir zueinander stehen. Sag ihm einfach, du bist von Najam Ahmar und hast beobachtet, wie ich in Arifas Haus ging und nicht wieder hinauskam. Und dass ich dir gesagt hätte, du sollst ihn kontaktieren, wenn ich nicht wiederkomme.«

Sie nickt bedächtig und lässt sich den Plan durch den Kopf gehen. »Wird er keinen Verdacht schöpfen?«

»Wahrscheinlich schon«, gebe ich zu. »Aber Moose ist vertrauenswürdig. Er wird uns nicht verraten, bevor er nicht mit mir gesprochen hat.«

»Okay.« Malika reibt sich übers Gesicht und setzt sich auf das Sitzkissen. »Was ist mit Junah?«

Ich gehe vor ihr in den Schneidersitz und greife nach ihrer Hand. »Wir finden sie. Das verspreche ich dir.«

Sie lächelt müde und schüttelt den Kopf. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, ermahnt sie mich dann. »Sie ist jetzt schon über achtundvierzig Stunden verschwunden. Ich bin mir sicher, dass die Hexenjäger sie entführt haben.«

»Das denke ich auch, sonst wäre sie …« Ich breche den Satz ab. »Wir finden sie«, wiederhole ich stattdessen zuversichtlicher, als ich mich fühle, und ziehe Malika an mich heran. Sie bettet ihren Kopf an meiner Brust, und ich lausche eine Weile ihren ruhigen Atemzügen, bis diese unkontrollierter werden. Ich hebe den Blick und stelle fest, dass sie weint.

Sie schaut zu Boden, beschämt über ihre Tränen und den Schmerz, der so greifbar ist. Ich wünschte, ich könnte ihn ihr nehmen. Ich wünschte, mein eigener Schmerz wäre nicht so übermächtig. Aber so kann ich ihn einfach nur mit ihr zusammen aushalten und ihr zeigen, dass ich sie nicht alleine lasse.

»Meine süße Malika«, flüstere ich und hebe die Hände an ihre Wangen, um ihre Tränen zu trocknen. Bald löse ich sie mit meinen Lippen ab und erkunde ihre salzige Haut. An ihren Lippen mache ich Halt und atme tief ein. Sie legt ihre Stirn an meine.

»Ich liebe dich«, haucht sie, bevor sie den Abstand zwischen uns schließt und mich küsst. Ihre Lippen sind weich, ihre Zunge so süß wie in jeder Nacht. In meinem Herzen wächst die Sehnsucht danach, sie endlich wieder in meinen Armen zu halten und zu spüren. Im Vergleich zur Realität sind unsere gemeinsamen Träume nur ein schwacher Trost.

Sie rutscht von ihrem Sitzkissen auf meinen Schoß und löst meinen Zopf, um ihre Hände in meinem Haar zu vergraben. Ich umfasse ihre Hüften und –

Panisch schnappe ich nach Luft und huste, als sich eiskaltes Wasser den Weg in meine Luftröhre bahnt. Ich reiße die Augen auf, doch es ist immer noch dunkel. Jemand zerrt mich hoch, ich versuche mich zu wehren, aber die Fesseln verhindern meine Bewegung.

Meine Arme werden hochgerissen und festgezurrt, so dass ich nur noch auf den Zehenspitzen stehen kann. Erst dann zieht man die Kapuze von meinem Kopf. Ich öffne die Augen und kneife sie gleich wieder zusammen, weil mich das Licht blendet. Der Knebel wird aus meinem Mund entfernt, und ich kann wieder atmen.

»Was wollt ihr?«, frage ich dann grimmig. Meine Stimme ist rau, es kommt mir vor, als habe ich sie eine Ewigkeit nicht mehr benutzt. Ich wage einen erneuten Versuch, meine Augen zu öffnen. In dem kurzen Moment, wo ich es aushalte, erkenne ich, dass man den Strahler direkt auf mich gerichtet hat. Ich muss die Augen wieder schließen, so grell ist es.

Was für Arschlöcher.

Einen Moment lang ist es still, dann tritt jemand vor den Scheinwerfer und verdunkelt das Licht. Ich blinzle, vor mir steht ein Mann und mustert mich abfällig. Ich kenne ihn nicht und weiß nicht, ob mich das beruhigen oder eher beunruhigen sollte.

»Wir suchen Freya Erikson«, durchbricht er das Schweigen und macht einen Schritt auf mich zu. »Und du weißt, wo sie ist.«

[10]

 

Freya

Christiania, 1768

 

Ich wache vom Schlagen der Turmuhr auf. Mein Herz pocht aufgeregt, und mit einem Mal bin ich hellwach. Ich zähle mit, wie oft der Glockenklang ertönt, untermalt vom leisen Knistern des Kaminfeuers.

Elf Mal.

Noch eine Stunde bis zur Wachablösung.

»Mikael?«

»Ich bin hier.« Seine Stimme dringt von der anderen Seite des Raumes zu mir. »Ich suche nach einem Geheimgang, aber ich finde keinen.«

»Vielleicht geht er vom Zimmer des Königs ab«, vermute ich und setze mich auf.

»Wie auch immer.« Mikael kehrt zu mir zurück. »Wir haben keine Zeit mehr. Uns bleibt nur noch die eine Möglichkeit. Bist du bereit?«

»Nicht wirklich. Aber es hilft ja nichts.« Seufzend stehe ich auf und strecke mich. »Wie geht es dir?«

»Besser. Viel besser. Und dir?« Er berührt mich an der Schulter, bevor er mich in seine Arme zieht. Ehe ich etwas sagen kann, vergräbt er seine Nase in meinem Haar und murmelt ein heiseres Danke. Ich erlaube mir für einen Moment, mich fallen zu lassen und atme seinen vertrauten Duft ein.

Mikael weiß, was er tut.

Er bringt uns hier raus.

Ich hebe den Kopf, und kurz darauf treffen unsere Lippen aufeinander. Unser Kuss ist schwerfällig und traurig. Er schmeckt nach Abschied. Nach der Gewissheit, dass wir diese Nacht nicht überleben werden.

Aber das lasse ich nicht zu. Ich habe noch nicht genug von Mikael und dem, was zwischen uns geschieht. Nicht einmal annähernd. Und das wird mir weder der König noch seine Wachen nehmen.

Mikael löst sich von mir und streicht eine Haarsträhne hinter mein Ohr. »Also gut, dann wollen wir mal.«

Ich nicke entschlossen, auch wenn ich im ersten Teil unseres Plans noch keine große Rolle spiele. Er lässt mich los und marschiert durch den Raum.

»Ich hab jede Menge Münzen gefunden«, klärt er mich auf. »Vielleicht sollten wir davon auch noch ein paar einstecken. Er wird sie sicher nicht vermissen.«

Ich zucke mit den Schultern. Hochverrat, Diebstahl ... die Liste wird immer länger. Aber andererseits: Wie wollen wir sonst über die Runden kommen, wenn Mikael nicht auf sein Geld zugreifen kann?

Also gehe ich zu ihm und gebe ihm meinen Beutel, den ich immer am Gürtel befestigt habe. Er füllt ihn prall auf und reicht ihn mir zurück, bevor er anscheinend seinen eigenen füllt. Dann höre ich, wie er mit ein paar Münzen in seiner Hand spielt. Er weist mich an, mich versteckt zu halten, bis er wiederkommt.

»Sei vorsichtig«, flüstere ich und gehe hinter dem Bett in Deckung. Er öffnet die Tür und geht auf den Flur. Einen Moment lang höre ich bloß meinen lauten Atem, aber dann lässt Mikael die Münzen zu Boden fallen. Das Klimpern wird hundertfach von den Wänden zurückgeworfen. Es erscheint mir so laut, das ganze Schloss müsste davon wach werden.

Jetzt hängt alles davon ab, ob sich die Wachen aufteilen. Wenn eine stehen bleibt und die andere kommt, um nach dem Rechten zu sehen, kann er sie überwältigen. Wenn sie beide kommen ... geht der Plan nicht auf.

Es dauert eine Weile, bis ich die Schritte höre. Angespannt halte ich den Atem an, bis es raschelt und jemand leise stöhnt. Als ein lebloser Körper in den Raum geschleift wird, wird mir klar, dass wir es geschafft haben.

[11]

 

Tyros

Marokko, 2018

 

»Spuck’s endlich aus.« Die Faust landet ein weiteres Mal in meinem Bauch. Mein Körper würde sich gerne krümmen vor Schmerz, aber es geht nicht, denn ich hänge immer noch an der Decke.

»Vergiss es«, erwidere ich keuchend. Meine Lippen schmecken metallisch, aber den Drang danach, das Blut auszuspucken, habe ich schon vor einer Weile verloren.

»Haben sie dir das beigebracht?« Der Mann vor mir lacht verächtlich auf. Es scheint ihn nicht im Geringsten zu stören, dass ich nicht kooperiere. Wenn es nach ihm ginge, würde er vermutlich so lange weitermachen, bis ich entweder spreche oder tot bin. Welcher Fall davon zuerst eintritt, weiß ich mittlerweile selbst nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich sehr viele unschuldige Schüler verraten würde, wenn ich ihnen sage, wo Freya ist. »Hat sie dich mit einem Zauber belegt, damit du sie nicht verrätst? Anders kann ich mir nicht erklären, wie man ihr so treu ergeben folgen kann.«

Ich erwidere nichts. Was soll ich auch sagen?

Jedes Wort von mir ist eins zu viel.

Zu viele Menschenleben stehen auf dem Spiel. Das ist nichts im Vergleich zu meinem.

Und trotzdem frage ich mich, wie lange ich noch schweigen werde.

Er gibt seinen Handlangern ein Zeichen, und sie lösen meine Fesseln.

Ich falle unsanft zu Boden und kann mich nicht abfangen, mein Handgelenk knackt und jagt stechende Schmerzen meinen Arm hinauf. Für einen winzigen Augenblick hoffe ich, dass sie es vorerst aufgeben. Dass sie mich verschnaufen lassen. Doch ich irre mich.

Sie packen mich an den Schultern und schleifen mich durch den Raum. Pressen mich auf eine Platte, den Kopf tiefer als den Rest des Körpers, und ehe ich mich versehe, fixieren sie mein Gesicht und pressen mir einen Lappen über Mund und Nase.

Und dann ertränken sie mich mitten in der marokkanischen Dürre.

So fühlt es sich zumindest an, als sie das Wasser aus einer großen Gießkanne direkt in meinen Mund schütten, bis es mir den Atem nimmt. Meine Lungen stehen kurz vor dem Kollaps, und in mir breitet sich Panik aus. Ich will um mich schlagen, doch ich kann mich nicht rühren. Ich will schreien, doch das Wasser nimmt mir die Luft und löst einen Würgereflex aus, den ich nicht mehr unterdrücken kann.

Für einen Moment will ich sterben, doch sie lassen mich nicht.

Sie nehmen den Lappen weg, und der Druck auf meine Luftröhre verschwindet. Wasser läuft aus meinem Mund, und ich schnappe nach Luft. Mein Herzschlag geht beunruhigend schnell.

Erschöpft schließe ich die Augen. Die Gewissheit, keine Wahl zu haben, treibt mich in den Wahnsinn.

»Wenn du nicht redest, machen wir das wieder und wieder und wieder mit dir«, raunt mir der Anführer der drei Männer ins Ohr. »Solange, bis du redest.«

Ich kratze all meinen Stolz zusammen und öffne die Augen, um ihn wütend anzublinzeln. Er soll bloß nicht das Gefühl haben, dass es einfach wird.

»Fick dich«, erwidere ich heiser. Er lacht und gibt seinen Männern ein Zeichen. Sie pressen den Lappen zurück auf mein Gesicht. Mir wird schwindelig, weil ich keine Luft mehr bekomme. Ich würge und huste so sehr, dass ich selbst schon nicht mehr daran glaube, dass ich diesen Tag überleben werde.

Und dann ist es wieder vorbei. Ich ringe nach Luft. Alles dreht sich, mein Herz rast wie verrückt, aber ich werde ihnen nicht verraten, was sie wissen wollen.

Der Anführer muss die Entschlossenheit in meinen Augen sehen, denn er verengt seine eigenen zu Schlitzen, bevor er den Männern ein Zeichen gibt. Wieder und wieder ertränken sie mich, solange, bis mir alles wehtut, weil ich so sehr verkrampfe, und ich die Augen vor Erschöpfung kaum noch aufhalten kann.

Aber das muss ich auch nicht.

Das Bild meiner persönlichen Hölle hat sich längst hinter meine Augenlider gebrannt.

[12]

 

Louisa

Düsseldorf, 2018

 

Ich schließe die Augen und lehne den Kopf zurück, um meine Gedanken zu sortieren und mich etwas zu entspannen, auch wenn die Sorge um Alex alles andere als entspannend ist. Aber mein Kopf fühlt sich an, als würde er explodieren, und ich bin immer noch so müde.

Im Radio läuft eine akustische Version irgendeines Top-Hits, aber Moose dreht es aus, noch bevor wir die Autobahn erreicht haben. Niemandem ist nach Musik. Aber die Stille ist nicht viel besser. Sie gibt mir das Gefühl, eine absolute Katastrophe für diese Männer zu sein.

Ich drehe den Kopf zur Seite, damit Moose meine Tränen nicht sieht. Jetzt sollten sie sich mal ausnahmsweise keine Gedanken um mich machen, sondern sich voll auf Alex konzentrieren. Da können sie meine Tränen nicht gebrauchen.

Eigentlich will ich auch gar nicht in Selbstmitleid baden, aber es fällt mir verdammt schwer, die positiven Seiten meines neuen Lebens zu sehen. Stell dir vor, du besuchst Hogwarts, hat Mama gesagt, aber hätte sie mir gleichzeitig verraten, dass mit der Magie so viele Hindernisse kommen ... ja, was dann? Das bin ich. Die Magie ist ein Teil von mir, den ich nicht abschalten kann. Wenn ich weiterhin so tue, als könnte ich einfach in mein altes Leben zurückkehren, wird es nur noch schlimmer.

Ich muss lernen, mit meiner Magie umzugehen. Ist es nicht in Büchern und Filmen immer so, dass man seine Kräfte nutzen muss, damit sie einem nicht um die Ohren fliegen?

Aber wie?

Meine Gedanken kreisen immer wieder um dieses Thema, und immer wieder bleibe ich an der gleichen Frage hängen. Wie kann ich möglichst schnell die Kontrolle über mich zurückerlangen?

Eine Antwort finde ich nicht. Irgendwann versiegen meine stummen Tränen, und das Land der Träume ruft nach mir.

Dieses Mal sieht der Wasserfall etwas anders aus, als ich ihn in Erinnerung habe. Ein tiefes Becken am Grund, in dem sich klares Wasser sammelt. Der perfekte Swimming-Pool.

»Du bist zurück.«

Alex. Erleichtert drehe ich mich um. »Und du bist immer noch hier.«

Am liebsten wäre ich ihm in die Arme gefallen, weil ich so froh bin, dass er immer noch träumen kann, aber ich weiß nicht, ob er das überhaupt möchte. Vielleicht war unser Kuss auch nur eine einmalige Sache, ein Ausrutscher, bedingt durch all das gemeinsam Erlebte.

Er hebt die Schultern und lässt sie entkräftet wieder fallen. »Ich komm hier so schnell nicht weg. Was geht da vor? Wieso wache ich nicht wieder auf, Louisa?«

»Du ...« Ich lasse mich auf einen großen Stein sinken. »Du bist verletzt. Schwer. Wir sind unterwegs nach Köln. Moose meint, Diana könnte dich vielleicht heilen.«

»Ihr habt sie endlich erreicht?«

Ich nicke. »Ivan hat einen provisorischen Verband angelegt, aber ... es ist ganz schön ernst.«

»Oh«, macht er und setzt sich fassungslos neben mich. Er fährt sich mit den Händen durchs Haar, seine Lieblingsgeste, wenn er verzweifelt ist. Unbewusst strecke ich meine Hand aus und lege sie auf sein Knie, um ihm zu signalisieren, dass ich für ihn da bin.

»Das ist meine Schuld«, flüstere ich. »Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.«

»Diana wird es richten.« Er hebt den Blick, aber darin fehlt die Gewissheit. Der Glauben an seine eigenen Worte. »Und wenn nicht, musst du es versuchen.«

Ihn heilen?

»Aber wie? Alles, was ich bisher kann, ist Räume und Kaffeetassen zerstören und Federn fliegen lassen.«

»Du musst akzeptieren, wer du bist.« Er nimmt meine Hand in seine und dreht sie um, um mit seinen Fingern die feinen Linien nachzuzeichnen. »Stell dir vor, du bist eine Protagonistin aus deinen Lieblingsbüchern. Hermine zum Beispiel. Was würde sie tun, wenn sie in deiner Situation wäre?«

»Bücher wälzen, bis sie den perfekten Zauberspruch gefunden hat.«

»Und dann?«, fragt er. »Hätte sie Angst, ihn anzuwenden?«

Ich muss keine Sekunde darüber nachdenken. Natürlich nicht. Protagonisten sind furchtlos oder wenn sie sich doch mal fürchten, überwinden sie ihre Angst im Nu. Immer rechtzeitig, um ihre große Liebe oder die besten Freunde zu retten. Aber ich bin doch keine Protagonistin.

Ich bin einfach nur Lou.

»Stell dir vor, du bist wie sie«, fährt Alex fort und erklärt mir dann einen Zauber, mit dem ich Wunden verschließen kann. »Es wird dich viel Kraft kosten. Vielleicht so viel, dass du nicht fertig wirst, bevor du aufhören musst. Aber es wird vielleicht reichen, um mich zu stabilisieren, bis wir zurück im Palast sind. Dort wird Emma alles Weitere übernehmen.«