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Das unvergessliche Porträt einer indigenen Gemeinschaft: Ein Junge wächst im Reservat der Penobscot in Maine auf. Das Leben ist geprägt von den Mythen der Ahnen und den Härten des Alltags. Mit der zufälligen Entdeckung eines Gefäßes, auf dem ein alter Fluch lastet, setzt der Junge die Auflösung seiner Familie in Gang. Die demente Großmutter sieht in ihm einen wichtigen Menschen aus ihrer Vergangenheit, doch er muss mit der Gegenwart fertigwerden: kein Job, keine Perspektive, und die illegale Stachelschweinjagd löst die ewigen Geldprobleme nicht. Da kommt ihm die Idee, das Stammesmuseum um wertvolle antike Streitkolben zu erleichtern. Eindrucksvoll, mit leuchtendem Humor und großer Menschenkenntnis erzählt Morgan Talty vom Rand der Gesellschaft über das Amerika von heute. «Es steckt so viel rohe und schöne Kraft in diesem Buch. Morgan Talty schreibt gnadenlos ehrlich, komisch und traurig zugleich. Welch eine Leistung! Beim Lesen dieses Buches habe ich buchstäblich gelacht und geweint.» Tommy Orange
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2025
Morgan Talty
Roman
Ein Junge wächst im Reservat der Penobscot in Maine auf. Das Leben ist geprägt von den Mythen der Ahnen und den Härten des Alltags. Mit der zufälligen Entdeckung eines Gefäßes, auf dem ein alter Fluch lastet, setzt der Junge die Auflösung seiner Familie in Gang. Die demente Großmutter sieht in ihm einen wichtigen Menschen aus ihrer Vergangenheit, doch er muss mit der Gegenwart fertigwerden: kein Job, keine Perspektive, und die illegale Stachelschweinjagd löst die ewigen Geldprobleme nicht. Da kommt ihm die Idee, das Stammesmuseum um wertvolle antike Streitkolben zu erleichtern.
Eindrucksvoll, mit leuchtendem Humor und großer Menschenkenntnis zeichnet Morgan Talty das unvergessliche Porträt einer indigenen Gemeinschaft. Ein Autor, der vom Rand der Gesellschaft ein großes Buch über das Amerika von heute geschrieben hat.
Morgan Talty, geboren 1991, gehört der Penobscot Indian Nation an. Sein Debüt Sein Name ist Donner wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem PEN/Robert W. Bingham Prize, dem American Academy of Arts and Letters Sue Kaufman Prize, dem National Book Critics Circle John Leonard Prize, dem New England Book Award und dem National Book Foundation's 5 Under 35 Honor. Talty unterrichtet Kreatives Schreiben und Native American and Contemporary Literature an der University of Maine, Orono. Er lebt in Levant, Maine.
Thomas Überhoff studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und arbeitete lange als Lektor und Programmleiter. Er übersetzte unter anderem Sheila Heti, Nell Zink, Jack Kerouac und Denis Johnson.
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «The Night of the Living Rez» bei Tin House, Portland.
Morgan Talty verwendet in der direkten und indirekten Figurenrede bewusst Rassismen und diskriminierende Sprache. Dabei handelt es sich um eine Wiederaneignung seitens Betroffener und nicht um eine Aufforderung zur Reproduktion. Die Übersetzung orientiert sich eng am Original.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Night of the Living Rez» Copyright © 2022 by Morgan Talty
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung General zoology, or Systematic natural history Bd. 2, T. 1. London 1800-1826. Biodiversity Heritage Library (biodiversitylibrary.org/item/64347)
ISBN 978-3-644-02036-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Mom (1959–2021)
Und für alle Frauen, die mich erzogen haben
Winter, und ich lief nachts neben verharschten Schneewehen über den Gehweg. Ich kam von Rabs Wohnung außerhalb des Reservats. Rab – dieser Weiße mit dem breiten Mund und den Augen, die er beim Lachen zukniff – verkaufte Gras. Auf Verarsche stand er nicht. Ich hatte nach einem Gramm gefragt, und nachdem er es abgewogen und in ein Plastiktütchen gepackt hatte, das er mir hinhielt, suchte ich in meinen Hosen- und Jackentaschen zwischen den Zigarettenblättchen und dem Taschenmesser nach dem Bargeld, und er glaubte mir nicht, als ich meine Nummer abzog und immer wieder sagte: «Scheiße, scheiße, scheiße, es muss auf dem Weg hierher rausgefallen sein.» Er schüttelte den Kopf, nahm das Gras aus dem Tütchen und tat es zurück in sein Einmachglas. «Auf Pump lass ich dich nicht rauchen», sagte er, darauf ich: «Fick dich ins Knie, Rab, ich hab das Geld wirklich verloren, du wirst schon sehen, pass auf, wenn ich in einer halben Stunde mit der Kohle wieder da bin, kommst du dir richtig blöd vor.» Er zuckte die Achseln, Tut mir leid, Mann, und ich knallte beim Gehen die Tür zu.
Der Fluss unter der Brücke zum Reservat war noch zugefroren, das Eis leuchtete blauweiß im Licht des Vollmonds. Der Gehweg oben war nicht geräumt worden, seit der letzte Nordoster im November Schnee geschissen hatte, und ich lief in den Stiefelspuren all der Leute, die zu Fuß nach Overtown gegangen waren, um Gras zu kaufen oder einen Bus zu erwischen, der uns skeejins brachte, wohin auch immer wir mussten, also nirgendwohin, weil es außer Gras alles, was wir brauchten, im Res gab. Na ja, auch außer Best Buy oder Bed, Bath & Beyond, aber die Indigenen, die sich 4K-UHD-Blu-Rays oder weiße Zierdeckchen leisteten, besaßen Autos und hätten nie den Bus genommen, so wie ich oder Fellis jeden Tag zur Methadonklinik. Das war noch was, was es im Res nicht gab: eine Methadonklinik. Dafür hatten wir heilige Orte, an denen einmal im Monat Schwitz- und Peyoterituale stattfanden, bloß dass ich, seit ich Methadon nahm, dem Arzt im Res zufolge nicht mehr an spirituellen Übungen teilnehmen durfte.
Indigene, die über Indigene urteilten.
Die Straßen im Res waren ruhig, die Bäume bogen sich unter der Schneelast, und als ich an dem gefrorenen Sumpf vorbeikam, stöhnte irgendwer. Ich blieb stehen. Nichts, also ging ich weiter über die glitzernde Straße, bis ich es erneut hörte.
«Wer ist da?», rief ich. Wieder das Stöhnen. Irgendwo im Sumpf war ein Mann. Ich ging näher ran und lauschte. Da war es wieder: ein tiefes Röcheln, und mit dem ausgekühlten Ohr voraus folgte ich ihm.
Der Sumpf war fest zugefroren, der Schnee zu Haufen zusammengeweht, und so rutschte ich übers Eis und suchte nach der Geräuschquelle. Das durch kahle Äste leuchtende Mondlicht erhellte den Sumpf, und zwischen Baumstümpfen und hartem Schnee lag ausgestreckt ein irgendwie eingeklemmter Mensch. Er versuchte, sich aufzusetzen, fiel aber immer wieder zurück, als hätte er gerade tausend Sit-ups gemacht und bekäme keinen einzigen mehr hin.
Es war Fellis.
«Fellis?», sagte ich, als ich über ihm stand.
Er versuchte, sich aufzurappeln, aber irgendwas zog ihn wieder runter. «Fick dich», sagte er. «Hilf mir.» Er stöhnte und zitterte.
Er sagte nicht, wie ich ihm helfen sollte, also musste ich mich hinhocken, um besser sehen zu können. Ich schnippte mein Feuerzeug an, und seine lila verfärbte Lippe bebte.
«Beeil dich», sagte er.
«Fellis, wenn ich nicht weiß, was mit dir ist, kann ich dir nicht helfen.»
«Mein Haar», sagte er.
Ich leuchtete mit der Feuerzeugflamme hin. «Heilige …», sagte ich und lachte los. Statt zu einem dichten, glänzenden Zopf geflochten zu sein, war Fellis’ Haar lose im Schnee festgefroren.
«Hol mich raus, Dee», sagte er. «Dee, hol mich hier raus.»
Zuerst versuchte ich, das Haar aus dem Schnee zu ziehen, ihn abzuklopfen. Aber es kam nicht frei, also zerrte ich daran, und Fellis schrie auf.
«Nimm den Kopf hoch», sagte ich, klappte mein Taschenmesser auf, und beim Einrasten der Klinge erhob er wieder die Stimme.
«Warte, warte», sagte er. «Schneid es nicht ab.»
«Was soll ich denn sonst tun? Dem Eis sagen, es soll dich loslassen?»
Fellis spuckte aus. «Geh zu mir nach Hause und hol kochendes Wasser.»
Ich schloss das Messer. «Fellis, bis ich damit wieder hier bin, ist es längst kalt.»
Er war still. Als würde irgendwer oder -was unter uns oder um uns rumwandeln, knackte das Eis und hallte im Sumpf wider. Der Mond schien hell, und ich sah mich um. Da waren bloß wir.
«Ich muss es abschneiden», sagte ich. «Sonst kommst du hier nicht raus.»
Fellis fragte mich nach einer Zigarette, und als ich ihm sagte, nein, ich hätte keine, fluchte er: «Verdammter Mist, verdammter Scheißwinter, verfickter.»
Ich lachte.
«Das ist nicht lustig, Dee.»
«Schau mal», sagte ich. «Soll ich meinen Zopf auch abschneiden?»
Fellis atmete tief durch, und er hustete und würgte. «Nein», sagte er. «Schneid es einfach ab. Ich muss nach Hause. Mir ist übel.»
Ich machte das Messer wieder auf, nahm sein Haar in die Faust und schnitt. Als ich die letzte Strähne durchhatte, rollte Fellis sich seitlich fort von der Stelle, an der er festgehangen hatte. Er rieb sich den Schädel, als wäre er gerade aufgewacht.
Ich half ihm aufstehen, und wir schlitterten über das Eis aus dem Sumpf. Unterbrochen von Brechreizanfällen sagte Fellis, dass er am Morgen den Bus zur Methadonklinik verpasst hatte – «Ach was?», sagte ich, denn ich hatte ihn weder im Bus noch in der Klinik gesehen – und dann dachte, dass ein bisschen Schnaps vielleicht gut wäre, bevor er sich übergeben musste, weil er kein Methadon genommen hatte. Nachmittags hatte er noch etwas Schnaps übrig gehabt, als er beschlossen hatte, zu Rab zu gehen, um sich Gras zu besorgen, und auf dem Weg hatte er dann beim Sumpf eine Pause eingelegt, um die Ruhe zu genießen, die bei übermäßigem Trinken einkehrt, und als er sich in den Schnee hatte fallen lassen, war er sofort eingenickt. Als er aufwachte, war sein Haar im Schnee festgefroren.
Ich brachte ihn zu Beth, seiner Mutter, wo er noch wohnte. Bis vors Haus schaffte er es ganz gut allein, aber auf der Eingangstreppe stützte ich ihn.
«Ich hätte nie gedacht, dass ich mal einen Stammesbruder skalpieren würde», sagte ich.
«Leck mich», sagte er. Er kramte in der Hosentasche nach dem Hausschlüssel.
«Willst du was kiffen?», sagte ich.
«Hast du nicht zugehört? Ich hab es nicht bis zu Rab geschafft.» Er schloss die Haustür auf.
«Das nehm ich dir ab», sagte ich. «Gib mir die Kohle.»
Fellis sah mich an.
«Zwanzig Minuten», sagte ich. «Ich lauf schnell hin und zurück, während du dir das hübsche Kahlschädelchen aufwärmst.»
Er gab mir dreißig Mäuse, und ich fragte nicht nach, woher er die hatte. Tags zuvor hatte er noch gesagt, er habe kein Geld.
«Für einen Zwanziger», sagte Fellis. «Und geh bei Jim’s rein und besorg ein paar große Dosen Bier und eine Tüte Chips. Alles außer Humpty Dumpty.»
Auf dem Weg durch Fellis’ Einfahrt stellte ich mir Rabs Gesicht vor, wenn ich ihm das Geld gab. Was hab ich dir gesagt? Was ist jetzt mit dem Gramm?
«Dee», schrie Fellis mir hinterher. «Noch was. Bring mir mein Haar mit, damit wir es verbrennen können. Wir wollen doch keine Geister im Nacken sitzen haben.»
«Wir sind sowieso verdammt», sagte ich. «Aber dein Haar bring ich dir gern mit.»
Ich lief los und fragte mich: Haar oder Gras zuerst? Gras schien am sinnvollsten. Es würde komisch aussehen, das Haar mit dem Eis dran wie einen vollgesogenen Mopp bei Jim auf den Tresen zu legen, während ich in meinen Taschen nach Fellis’ Geld kramte. Jim – der alte Waldschrat – würde sagen: «So was nehmen wir nicht mehr.» Ich würde ihm direkt ins Schwabbelgesicht starren und sagen: «Ich handle nicht mit Haar, du alter Sack», dann würde ich eine Zehndollarnote für das Dosenbier und die Chips auf den Tresen klatschen. Mit dem klingelnden Restgeld in der Tasche würde ich dann zu Rab gehen, und er würde sagen: «Bring das Haar hier raus, du tropfst mir die ganze Wohnung voll», und ich würde es auf den schlammfeuchten weißen Boden im Hausflur werfen müssen, während Rab die bereits abgewogenen Blüten noch mal abwog.
Nein, ich würde Fellis’ Haar auf dem Heimweg aus dem Sumpf holen. Dann würde Fellis auf seinem ungemachten Bett und ich auf dem zerrissenen Sitzsack in der Ecke sitzen, jeder mit einem großen Bier, während die Grasschwaden den Raum grau vernebelten, und wir würden an dem Haar rumprokeln und es auswringen und warten, bis es trocken genug war, dass wir es verbrennen konnten.
Ich hatte kein Fieber mehr, aber Mom machte sich Sorgen, dass ich immer noch krank war, und sagte mir, ich solle es langsam angehen. Den ganzen ersten Morgen in unserem neuen Heim ließ sie mich mit einer Schüssel Cornflakes und einer halben Scheibe Toast auf der Couch sitzen, während sie auspackte und das Haus einrichtete, ihre braunen Regale an die weißen Wände schraubte und dann ihren bunten Nippes reinstellte, Miniaturen größerer Dinge wie hölzerne, mit bemalten Holzfrüchten gefüllte Schälchen, winzige Limofläschchen aus Glas, kleine Porzellanschildkröten und eine Reihe winziger, winziger Bücher mit echten Seiten, die alle leer waren. Als ich aufgegessen hatte, saß ich da und machte mir Gedanken über Moms Haar. Sie hatte es sich schneiden lassen, und mir war schleierhaft, wie sie die Zeit dazu gefunden hatte. Als sie mit dem Haus fertig war, gingen wir raus. Da saß ich dann auf den Betonstufen und spielte mit meinen Spielzeugmännern, die ich in einer schwarzen Plastikwanne aufbewahrte, Geschenke meines Vaters, wenn er aus dem Casino gekommen war. Ich hatte eine Menge Spielzeugmänner. Während ich spielte, arbeitete Mom im Schuppen. Sie ordnete und stapelte überzählige Kartons von unserem Umzug in die Panawahpskek Nation. Vielleicht war Umzug nicht das richtige Wort. Ich wusste nur, dass wir unser Leben mit meinem Vater und meiner Schwester unten im Süden aufgegeben hatten. Ich hatte x-mal nachgefragt, aber Mom hatte nie gesagt, ob Paige auch mitkommen würde.
Ich hatte noch nicht lange gespielt, als ich einen meiner Männer in einem Spalt zwischen der Treppe und der Tür verlor. Es war ein roter Alien, und obwohl er nicht meine Lieblingsfigur war, ärgerte mich das. Als ich hinter die Stufen spähte, wurden meine Knie nass vom Schnee und meine Hände kalt und schmutzig. Die Sonne knallte mir in den Nacken; sie leuchtete auch genau im richtigen Winkel hinter die Betonstufen, und in ihrem Licht glaubte ich, meinen Spielzeugmann zu sehen. Aber als ich nach ihm tastete, bekam ich irgendwas Hartes, Rundes zu fassen. Ich zog es raus.
Es war ein mit Haar, Mais und Zähnen gefülltes Schraubglas. Die Zähne waren weiß und an den Wurzeln leicht gelblich verfärbt. Das Haar war grau und dünn und ungebunden. Wild. Und der Mais glich irgendwie den Zähnen, weiß, gelb und hart.
«Mumma», sagte ich. «Was ist das?»
«David», rief sie aus dem Schuppen zurück. «Kannst du warten? Bitte, Schatz.»
Ich sagte nichts, wartete und untersuchte das Glas. Meine Hand war leicht gerötet, entweder von dem heißen Glas, das den ganzen Nachmittag in der Sonne gelegen hatte, oder von dem kalten Schnee, in dem ich rumgekrochen war.
Mom kam aus dem Schuppen und blinzelte im Licht.
«Was ist was, gwus?», sagte sie. Sie meinte: mein Junge.
Ich hielt ihr das Schraubglas hin, und sie nahm es. Ich sah, wie sie es anschaute, mit schräg gelegtem Kopf und Augen so rund wie das Glas selbst. Dann ließ sie es in den matschigen Schnee fallen und befahl mir, meine Spielsachen aufzusammeln. «Nein, nein, egal», sagte sie. «Lass die Spielsachen. Komm, wir gehen rein.»
Sie ging ans Telefon und rief jemanden an, dessen Stimme am anderen Ende ich hören konnte; sie klang vertraut. «Ich komme vorbei», sagte die Stimme. «Bin bald da. Fass das Ding nicht an, und lass ihn auch nichts anfassen.»
Mom legte auf und zündete sich eine Zigarette an.
Wir warteten lange. Mom blieb stumm, und ohne Unterhaltung oder meine Spielzeugmänner, mit denen ich mich hätte beschäftigen können, versuchte ich, mir den Umzug in unser neues Heim ins Gedächtnis zu rufen, der ja keine entfernte Erinnerung war, sondern erst einen Tag zurücklag. Aber wegen des Fiebers fielen mir bloß Bruchstücke ein. Kilometerlange Highways, kilometertiefe Kiefernwälder. Ich entsann mich, auf dem Beifahrersitz unseres weißen Toyotas gesessen zu haben, während das Fieber in mir brannte. Mom hatte ihre lange Winston 100 an das einen Spalt weit geöffnete Fahrerfenster gehalten, und bei 130 km/h hatte die vorbeiströmende Luft den Rauch rausgesaugt. «Wir haben Paige dagelassen», sagte ich immer wieder. «Wir haben sie dagelassen, Mumma.» Mum nahm den Blick von der Straße und sah mich an. Sie legte mir die Hand auf die verschwitzte Stirn. «Du Ärmster», sagte sie. Sie fuhr schnell. Richtig schnell, und die meiste Zeit behielt sie dabei mich im Blick, als wäre ich die Straße zu unserem neuen Zuhause.
Jetzt schreckte mich ihre Stimme auf. «Kau nicht ständig auf deinen Nägeln rum», sagte sie. Sie zündete sich eine zweite Zigarette an, während wir warteten. «Er hat gesagt, du sollst nichts anfassen – das betrifft auch deinen Mund.» Eine ganze Weile versuchte ich, mir unsere Ankunft vorzustellen, versuchte, mich genau daran zu erinnern, wie meine Mutter ein Bett zusammengebaut, es bezogen und mich unter die Decken gesteckt hatte. Aber eigentlich war ich dazu nicht imstande. Mir fiel nur ein, dass ich in der Nacht einen Traum gehabt hatte, in dem ich aus dem Bett ins Dunkel des mir unvertrauten Hauses krabbelte, nach einem nicht vorhandenen Türknauf griff und über Kartons stolperte, die verstreut im kurzen, schmalen Flur standen, der direkt in die Küche und das kleine Wohnzimmer führte, wo mich eine Männerstimme ansprach und zurück ins Bett schickte. Ich fragte den Mann, wer er war, aber er antwortete nicht. Er brachte mich zurück in mein Zimmer, und seine Stiefel hallten durch den Flur davon.
Beim Geräusch eines Pick-up-Trucks, dessen Motor abgestellt wurde, sagte Mom: «Endlich», und stand vom Tisch auf. Als der Mann durch die Einfahrt und die Treppe raufkam und über den Spalt stieg, wusste ich sofort, dass mein Traum keiner gewesen war. Dieser Mann, den Mom wegen des Schraubglases angerufen hatte, hatte mich in der vergangenen Nacht ins Bett gebracht. Er war dunkelhäutig wie Mom, und im Gegensatz zu ihr hatte er langes schwarzes Haar und einen schmalen schwarzen Oberlippenbart. Dick war er nicht, aber ein bisschen kräftig schon, was ich im Dunkeln nicht bemerkt hatte, und seine Jeans waren ausgebleicht und schlabbrig. Er trug ein schwarz-rotes Flanellhemd.
«Gwus», sagte Mom. «Das ist Frick. Er ist Medizinmann.»
«Er war heute Nacht hier», sagte ich zu Mom, und dann zu Frick: «Ich hab dich gesehen.»
«Was glaubst du denn, wer den Herd angeschlossen hat?», fragte Frick.
Ich dachte, Mom.
«Lass mich mal deine Hand anschauen», sagte er.
Ich streckte sie aus, und er nahm sie und strich mir über den Handteller. Dann ließ er los und sprach mit Mom über das Schraubglas. «Das ist schlechte Medizin», sagte er, und Mom fragte, wer sie da hingetan haben könnte. Darauf hatte Frick keine Antwort. «Könnte jeder hier im Res gewesen sein. Ich kümmere mich drum.»
Er verließ das Haus. Ich fragte mich, warum man das Glas nicht einfach wegwerfen konnte, fragte mich, was Frick damit vorhatte. Ich erkundigte mich bei Mom, und sie wurde ziemlich sauer.
«Das kann man nicht wegwerfen», sagte sie. «Frick ist Naturheiler. Das Glas muss vernünftig entsorgt werden.»
Ich fragte noch mal nach, und sie sagte, was ich dort gefunden hätte, sei da gewesen, um mir zu schaden. Um uns zu schaden.
«Aber mir geht’s gut», sagte ich, worauf sie meinte: «Nur für alle Fälle.»
Bald machte Frick die Tür wieder auf und sagte, er sei bereit für uns. Mom nahm mich mit nach draußen hinters Haus und runter in den Wald, wo vier Fähnchen von einem Baum hingen: rot, weiß, schwarz und gelb.
«Die vier Himmelsrichtungen», erklärte mir Mom.
«Wozu sind die da?», sagte ich.
«Um uns zu heilen.»
«Aber mein Fieber ist doch weg», sagte ich. «Ich bin nicht mehr krank.»
«Bist du wohl», sagte sie.
Frick kniete sich vor den Baum mit den vier Fähnchen, und er murmelte Worte auf skeejin. Es war komisch, jemanden außer Mom, Paige und Grammy, wenn sie zu Besuch war, skeejin sprechen zu hören. Aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte, und konnte die Worte immer noch nicht ausmachen, als um ihn her Rauch aufstieg und er aufstand und eine riesige Muschel von der Größe eines Baseballhandschuhs hochhielt, die mit Tabak und diesem langen, buschigen Zeug gefüllt war, von dem ich später erfuhr, dass es Salbei war, der brannte und dabei so beruhigend roch wie Salzwasser.
In der Hand hielt er eine große Feder – Adler, sagte Mom –, deren Kiel mit Perlen verziert war. Weiter vor sich hin murmelnd kam er auf uns zu, und Mom meinte, er bete. «Er räuchert uns. Das ist gute Medizin. Pass auf, wie ich es mache, gwus.»
Im Gehen stolperte Frick über eine kräftige Wurzel und ließ den rauchenden Salbei fallen.
«Scheiße», sagte er.
Ich lachte; Mom machte scharf: «Pssst», und ich hielt die Klappe.
Frick holte den Salbei aus dem Matsch und tauenden Schnee, ging wieder los und blieb vor ihr stehen. Er musste den Salbei neu anzünden. Der Rauch wallte auf und um ihn her, und mit der Feder wedelte er ihn über meine Mutter. Er fing am Kopf an, strich den Rauch mit der Feder über sie und durch ihr kurzes Haar, dann über ihre Brust. Sie drehte sich um, und er machte am Rücken weiter. Wieder drehte sie sich um, sodass sie ihm das Gesicht zuwandte, und hob die Arme. Er sah sehr ernst aus. Er räucherte die Unterseiten ihrer Arme und ihre Achselhöhlen. Dann die Beine. Mom hob die Füße, und Frick wedelte Rauch darunter. Er trat zurück, murmelte noch ein paar Worte, begab sich wieder zu dem Baum mit den Fähnchen, die sich in einer leisen Brise strafften, und dann kniete er sich noch mal hin und sprach, diesmal lauter, weitere Worte. Stand wieder auf und räucherte mich auf dieselbe Weise wie meine Mutter.
Als er fertig war, räucherte er auch meine Spielsachen, die Stufen und die Hintertür. Dann räucherte er alles im Haus, und ich sah, wie sich unser neues Heim mit beißendem Qualm füllte. Ich hustete einmal. Endlich war er damit durch und kehrte zu dem Baum zurück, während Mom und ich uns drinnen an den Küchentisch setzten.
Nach einiger Zeit kam Frick durch die Tür und hielt irgendwas Rotes in der Hand. Zuerst dachte ich, er hätte hinter die Stufen gegriffen und meinen Plastik-Alien rausgeholt, aber es war nicht meine Spielzeugfigur. Es war dünnes gelbes Stroh, gehüllt in ein rotes Tuch und dann mit Draht umwickelt.
«Kannst du mir eine Heftzwecke besorgen?», sagte er zu Mom, die aufstand und in einer Küchenschublade kramte, aber keine finden konnte. Sie ging in das leere Zimmer, in dem, wie ich hoffte, Paige bald wohnen würde, kam wieder raus und gab Frick eine winzige grüne Pinnwandnadel. Er heftete das gelbe Stroh im roten Tuch über unsere Haustür. «Das wird die schlechte Medizin draußen halten», sagte er zu Mom und mir. «Außerdem hab ich noch das hier.»
Er grub in seiner Hosentasche und zog ein kleines, oben zugenähtes Hirschledersäckchen raus. Es war nicht größer als ein Quarter, und in der Mitte steckte eine geöffnete Sicherheitsnadel.
«Komm her», sagte er zu mir. Ich trat vor, und er ließ sich auf ein Knie nieder. Er umklammerte das Säckchen, schob die Hand in mein Hemd, stieß auf Höhe meines Herzens die Sicherheitsnadel durch den Stoff und drückte sie zu.
«Kann ich auch eins haben?», fragte Mom, und er zog noch eins aus der Tasche. Mom nahm es und pinnte es sich an.
«Das ist ein Medizinbeutel», sagte Frick. «Hab ich selbst gemacht.»
«Wie funktioniert der?», fragte ich.
«Er funktioniert eben einfach», sagte er.
Der Beutel kratzte, und ich mochte ihn nicht. Ich hatte vor, ihn abzunehmen und unters Bett zu stopfen, sobald ich in meinem Zimmer war. Was er da über der Tür aufgehängt und angepinnt hatte, war zumindest nicht körperlich unangenehm. Störend aber schon – es sah aus wie ein Spielzeug, so wie es in das rote Zeug gewickelt war, und jedes Mal, wenn ich durch den Flur oder aus dem Haus ging, dachte ich an meinen verlorenen Plastikmann, den es immer tiefer in den Schneematsch saugte.
Es schien, als wäre Frick fast so schnell eingezogen, wie Mom all den Hausrat ausgepackt hatte. Den ganzen Tag war er da und hockte mit ihr rum, auf der Couch oder am Küchentisch, und wenn ich ins Bett ging, war er immer noch da, und sie tranken Wein aus einem Karton. Morgens trank er schwarzen Kaffee und rauchte mit Mom. Bald lag seine Haarbürste im Bad, Strähnen trieben unabgespült in der Kloschüssel, und seine Zahnbürste stand neben meiner im Becher.
Ich hörte Frick sagen, das Schraubglas sei ein alter Fluch und höchstwahrscheinlich nicht gut gemacht, dass sich wohl irgendwelche skeejins mit Mom und mir hätten anlegen wollen, es aber richtig gewesen sei, sich abzusichern, zu beten und zu räuchern und unser Heim zu weihen.
Mir ging es gut, wie auch schon vor dem Räuchern, als ich das Glas angefasst hatte, deshalb sah ich das genauso wie Frick, dass es wohl nicht gut gemacht war, aber Mom war sich da nicht so sicher. «Ich weiß nicht», sagte sie immer wieder, eigentlich nicht zu mir, sondern zu Frick, der dann den Kopf schüttelte. «Erst die Zeit wird das zeigen», sagte sie.
Ende März fing ich mit der Schule an, und danach verbrachte ich die Nachmittage bis zur Dinnerzeit im Gemeinschaftshaus – verrostetes Dach, gelbe Mauern – und spielte auf dem Betonfeld mit ein paar Jungs aus meiner Klasse Basketball; ich fühlte mich im Nullkommanichts heimisch, so als wäre ich schon mein Leben lang da gewesen und nicht mitten in der Nacht mit Fieber aus dem Bett gezerrt und weit, weit nach Norden gefahren worden, wo Mom herkam.
Falls Dad über unser Verschwinden wütend war, sagte er nie was zu mir, aber spätabends hörte ich Mom am Telefon mit ihm streiten, und einmal hörte ich, dass Frick an den Apparat ging und ihn anschrie: «Du Spieler», sagte er und lallte dabei, «du hast dich richtig verzockt.» Wenn ich sie abends am Telefon hörte, schlief ich oft ein, um dann von meinem verlorenen Alien hinter den Treppenstufen zu träumen.
Fast jeden Abend nach dem Dinner sprach ich mit Dad, und immer stellte er die Fragen, die Mom nie stellte: «Wie war’s in der Schule?» – «Was hast du gefrühstückt?» – «Was hast du zu Mittag gegessen?» – «Was hast du heute gespielt?» – «Irgendwelche Hausaufgaben?» – «Was ist dein Lieblingsfach?» Manchmal sagte er, er werde mir ein Spielzeug schicken. «Wenn ich den nächsten Job kriege, schicke ich dir dieses Raumschiff.» Immer ließ er mich auf irgendwas hoffen, und wenn ich das Spielzeug vergessen hatte und längst an anderes dachte, landete irgendeine kleine Actionfigur mit FedEx auf unseren schiefen Betonstufen und wanderte dann in meine schwarze Plastikwanne zu all den anderen Männern. Die Wanne wurde langsam voll, kaum kriegte man noch den Deckel zugeklickt.
Monatelang erwähnte Mom das Schraubglas mindestens einmal am Tag. «Damit ist irgendwas», sagte sie dann. «Ich glaube nicht, dass das schon vorbei ist.» Schließlich hörte sie auf, darüber zu reden, weil Frick es ihr aufgetragen hatte, aber dann am Ende des Sommers, als es nachts schon schneidend kalt wurde und Paige in ihrem VW mit dem erblindeten Lack auftauchte, fing sie wieder damit an. Ich hatte den Wagen schon gehört, bevor ich ihn zu Gesicht bekam, hatte gehört, wie der Motor aufjaulte und dann zu knallen begann, als sie in den ersten schaltete. Mom und Frick saßen am Küchentisch und tranken Kartonwein aus Hartplastikbechern. Ich rannte durch den Flur in die Küche, vorbei an den Trinkenden, und riss die Haustür auf.
«Ich hab dir doch gesagt, dass sie kommen würde», sagte Mom. Ich war so glücklich über Paiges Ankunft, dass mich Moms Lüge gar nicht kümmerte: Sie hatte nie gesagt, dass Paige kommen würde.
Barfuß rannte ich über die sandige, mit spitzen Kieseln gespickte Einfahrt auf Paige zu und umschlang ihre Hüften, und sie umarmte mich, wuschelte mir durchs Haar und küsste mich auf den Kopf. «Du bist gewachsen, weißt du das, chagooksis?» Chagooksis. Kleiner Scheißer.
«Und du hast immer noch Segelohren», sagte ich. Sie zog eine Grimasse, rümpfte die Nase, und dann küsste sie mich noch mal auf den Kopf.
Drinnen nahm Mom Paige fest in den Arm, und Frick stand auf und schüttelte ihr die Hand. Paige sagte nichts zu ihm, und nachdem er gegangen war, wurde mir klar, dass Mom ihr nichts von ihm erzählt hatte. Ich saß auf der Couch, aß italienisches Eis und sah mir die Simpsons an. Mom und Paige rauchten am Küchentisch, und wann immer Werbung kam, hörte ich ihnen zu.
«Wer ist der Kerl überhaupt?», sagte Paige.
«Frick», sagte Mom zu ihr. Da Mom noch jung gewesen war, als sie Paige bekommen hatte, teilten sie eine gewisse Vertrautheit, und Paige hatte eine Art, Mom dazu zu bringen, dass sie sich öffnete und irgendwie nicht mehr bloß mütterlich war. Manchmal, wenn Paige dabei war, fragte ich mich, ob sie nicht in Wahrheit Moms Schwester war, so wie sie miteinander redeten, sich stritten und einander verwünschten.
«Frick?», sagte Paige. «Was zum Teufel soll das, Frick?»
Mom lachte. «Er heißt Melvin, aber er frickelt eben gern an Sachen rum.»
«Tut er das?»
Moms Feuerzeug flammte auf. «Tut er was?»
«An Sachen rumfrickeln.»
Mom war still und dachte nach. «Tja, tut er wohl.»
«Komischer Vogel», sagte Paige. «Als ich angekommen bin, kriegte er gar nicht den Mund auf. Er hat mir die Hand geschüttelt und sich wieder hingesetzt, kein Wort gesagt und ist dann aufgestanden und verschwunden.»
«Ach, er ist bloß schüchtern.»
«Wenn du meinst.»
Mom schob ihren Stuhl zurück, und die Beine quietschten auf dem Boden. Ich hörte, wie die Kühlschranktür aufging. «Gwus», sagte sie. «Willst du was trinken?»
Ich sagte Nein, und dann fragte sie Paige, ob sie einen Becher Wein wollte. Ich starrte auf den Fernseher, wo Homer Bart würgte, dass dessen rosafarbene, wie ein Wurm aussehende Zunge durch die Luft schwang, und ich lachte, lachte ganz für mich allein, während die leere Plastikdose von dem italienischen Eis auf meinem Bauch rumhüpfte. Dann kam Werbung, ich hörte auf zu lachen, es folgte ein Moment gewaltiger Stille, und dann fiel Mom über Paige her wie Homer über Bart.
«Von wem ist es, Paige? Hä?», schrie Mom.
«Beruhigst du dich bitte?»
«Tu ich nicht.» Sie knallte ihren Plastikbecher hin. «Deshalb bist du also hier raufgekommen, ja? Du kleines Aas. Kleines Aas!»
Ich linste um die Ecke in die Küche, und Mom stand über Paige gebeugt, und jetzt erhob sich Paige und hielt dagegen, stieß sie brüllend und fluchend mit dem Körper weg.
Das mit dem Herzrasen war nichts Neues, aber ich bekam trotzdem Panik und schlug schreiend gegen die Wand: «Aufhören!»
Mom sah mich nicht an. «Geh in dein Zimmer, gwus. Auf der Stelle.»
Ich eilte durch den Flur, während Moms Worte mir durch den Kopf hallten, und bevor ich die Tür schloss, hörte ich noch Paige: «Er wird erwachsen werden und dich auch hassen.»
Ich blieb in meinem Zimmer und spielte mit den Spielzeugmännern, während sie bei laufendem Wasserhahn leise weiterstritten. Mom ließ Teller, Tassen und Besteck scheppern, während sie abspülte. So hörte sich ihr Abwasch jedes zweite Mal an. Dann und wann kam mir Paiges Lachen zu Ohren, und ich wusste, dass es Mom noch wütender machte. Nach ungefähr einer Stunde wurde es still im Haus. Aber dass sie nicht redeten, hieß nicht, dass der Streit vorbei war.
Ich packte die Plastikmänner weg, öffnete die Tür und schlich durch den Flur in die Küche. Mom wischte die Arbeitsplatte ab, und die Hintertür stand offen; durch die Fliegentür sah ich Paige draußen auf den Stufen sitzen, rauchend und mit angezogenen Knien.
«Junge», sagte Mom. Ich stand still. Es gab ein Wort, dass mir Moms Laune zuverlässig verriet: Junge. Irgendwas war dran an der Art, wie sie mich gwus – was dasselbe bedeutete – oder Junge nannte. Vielleicht der Ton, in dem sie es sagte.
«Junge», sagte sie noch mal. «Geh und sag deiner Schwester, dass Rauchen in der Schwangerschaft schädlich ist.»
«Ich soll ihr das sagen?», fragte ich.
«Du hast mich schon verstanden.» Unter metallischem Geklapper der Gasringe schrubbte sie den Herd sauber. Sie warf den Lappen beiseite, nahm ihren Plastikbecher und trank aus. Dann ging sie in ihr Zimmer.
Durch die Fliegentür sagte ich: «Paige?»
Sie sah mich nicht an. «Ich weiß schon, David. Geh fernsehen.»
Den Rest des Tages kam Mom nicht mehr aus ihrem Zimmer, und nachdem Paige mir Abendessen gemacht hatte, tauchte Grammy auf. Grammy erschien immer unangekündigt, und bei mehr als einer Gelegenheit machte Mom alle Lichter aus, wenn sie sie in die Einfahrt einbiegen sah, nahm mich mit in ihr Zimmer und sagte mir, ich solle still sein, ihr sei heute nicht nach Besuch, und ich musste mit ihr auf dem kratzigen Teppich sitzen und zuhören, wie Grammy klopfte, klopfte und klopfte, und ich stellte mir vor, wie sie das Gesicht an das kleine Fenster in der Haustür drückte und nach uns Ausschau hielt. «Wir waren spazieren», sagte Mom dann immer, wenn sie Grammy das nächste Mal sah.
Die Tür war offen, deshalb kam Grammy rein. Ich hüpfte von der Couch. «Hi, mein Junge», sagte sie. Ich umarmte sie. Paige drehte den Hahn über der Spüle zu und trocknete sich die Hände ab.
«Wann bist du hergekommen, doos?», sagte Grammy zu Paige.
«Vor einem Weilchen.»
Grammy lief in Schuhen über das Linoleum und schloss Paige auf eine Weise in die Arme, die besagte: Wie schön, dich zu sehen. «Wo ist eure Mom?», sagte sie.
«Der geht’s nicht so gut.»
Grammy schaute in den Flur.
«Hat irgendwas Falsches gegessen», sagte Paige.
Grammy sagte: «M-hm.» Sie stand in der Tür, und Paige fragte, ob sie sich nicht setzen wollte.
«Nein, nein», sagte Grammy. «Ich bin bloß vorbeigekommen, um zu sehen, ob David nicht zum Abendgottesdienst in der Kirche mitwill.» Jetzt sah sie mich an, und auf den Blick hin konnte ich nur Ja sagen. Schließlich war sie meine Grammy. Aber allein wollte ich nicht mit, gar nicht wegen ihr, sondern wegen der Kirche.
«Wenn Paige auch mitkommt», sagte ich. Paige ließ kopfschüttelnd die Schultern sinken. Sie ging in ihr Zimmer, sich umziehen.
Grammys Wagen war ein stotternder Haufen rostiges Metall mit zwei Türen. Ich hatte gedacht, Paiges Auto wäre schlecht beieinander, aber Grammys war noch mal eine ganz andere Nummer. Der Motor produzierte alle paar Minuten so ein jaulendes Geräusch wie eine Luftschutzsirene. Ihr Blinker ging zwar, aber die Anzeige war kaputt, deshalb fuhr sie manchmal kilometerweit mit angeschaltetem Blinksignal. Vielleicht war ihr das auch bewusst, vielleicht legte sie sich gern mit anderen Fahrern an. Außerdem schaltete sich das Radio von selbst ein und aus, und nachdem wir schweigend an dem kleinen Gesundheitszentrum, dem großen, wie eine Konservenbüchse aussehenden Gemeinschaftshaus, der hinter dichten Kiefern verborgenen Stammesverwaltung und der braun geziegelten Schule mit dem Footballfeld vorbeigefahren waren, bogen wir auf den Kirchenparkplatz ein, und das Radio ging an und spielte Meredith Brooks’ «Bitch»; Paige wackelte im Takt mit dem Kopf und sagte Grammy, sie solle es lauter stellen, aber Grammy drehte das Radio schnell aus.
«Michaganasuus», sagte sie. Dieses kleine Miststück.
Wir stiegen aus, und Grammy eilte vor uns her. Paige ging an meiner Seite und flüsterte mir was über Goog’ooks zu. Böse Geister. «Die verfolgen Grammy», sagte sie zu mir. «Deshalb ist das Radio angegangen.»
Ich gab mir zwar Mühe, keine Angst zu haben, aber ich hatte doch welche. Paige sprach ständig über Goog’ooks, und ein Grund, warum ich nie bei Grammy übernachtete, war, dass Paige gesagt hatte, dort spuke es, und als ich Mom davon erzählte, sagte die, die ganze Insel sei verhext, dass unser Volk sie über Jahre, Jahre und Jahre als Friedhof benutzt habe, dass sie sogar noch spätabends Goog’ooks an die Wände klopfen hörte. Sie meinte, ich solle mich nicht fürchten.
In der Kirche nahmen wir unsere Plätze ein, und ich blätterte in der Bibel vor mir. Ansonsten gab ich nicht besonders acht auf das, was passierte, beobachtete nur ab und zu Leute; manche hatten die Augen geöffnet, manche geschlossen. Ich glaubte auch nicht, dass Paige so genau zuhörte – sie hielt den Kopf zur Seite geneigt, die Augen nur halb geöffnet, als würde die Predigt des Pfarrers sie einschläfern.
Nachdem wir uns angestellt hatten, um den Leib Christi zu empfangen – den ich nicht zu mir nehmen durfte und den der Priester durch ein Kopftätscheln ersetzte, weil meine Mutter mich nicht hatte taufen lassen –, kehrten wir auf unsere Plätze zurück. Paige stupste mich an. Grammy sah mit der Hand auf der Brust zu, wie Paige ihre Oblate entzweibrach und die Hälfte mir gab. In meinem Mund löste sie sich auf, und sie schmeckte wie ein mehliger Keks, der nass geworden und wieder getrocknet war.
Paige sah meine angeekelte Miene und flüsterte: «Besser hat Jesus es einfach nicht hingekriegt.»
«Die hat Jesus gemacht?», sagte ich.
Paige verschränkte die Arme. «Ich kenne mich aus, oder?»
Grammy befahl uns, verflixt noch mal den Rand zu halten.
Der Gottesdienst zog sich. Wenn wir knien mussten, knieten wir, wenn wir singen mussten, sangen wir, wenn wir beten mussten, beteten wir. Grammy betete wahrscheinlich darum, dass Gott Paige verzieh, und Paige betete wahrscheinlich um eine Zigarette. Ich betete um die sichere Rückkehr meines Aliens im roten Raumanzug. Ich fühlte mich immer noch mies, ihn da unten ganz allein unter diesen Stufen zu wissen, im kalten Matsch begraben, und ich betete, dass ihn eines Tages der Jahreszeitenwechsel an die Oberfläche bringen und ich ihn wiederfinden würde.
Zum Ende knieten wir ein letztes Mal und sagten noch ein Gebet auf, aber ich betete um nichts, weil ich mich nicht konzentrieren konnte: Ich roch nämlich einen stinkenden Schleicher, einen Pups. Ich hielt die Augen offen und sah mich um, und ich spürte, dass Paige es auch tat. Unsere Blicke fanden sich, und sie beugte sich zu mir.
«David», flüsterte sie und deutete in die Runde. «Hast du dich schon mal gefragt, warum man Kirchen stille Örtchen nennt?»
Ich kniff die Lippen zusammen und merkte, dass ich rot anlief. Ich biss mir auf die Zunge und benutzte den Schmerz, um mir das Lachen zu verkneifen. Grammy sah uns kopfschüttelnd an, aber es wirkte, als würde auch sie sich Mühe geben, nicht loszulachen, und als Paige Grammys Gesicht sah, entrang sich ihr ein krächzender kleiner Pruster, laut genug, dass der Pfarrer ihn hörte, laut genug, dass Köpfe sich umwandten, laut genug, dass der Mensch, der da einen fahren lassen hatte, wusste, er war ertappt.
Grammy lieferte uns wieder ab, erinnerte mich, dass ich jederzeit zu ihr kommen könnte, und ich sagte Okay. Frick war da, sein Truck stand dicht hinter Paiges Wagen, aber wir sahen weder ihn noch Mom. Ich ging durch den Flur zu meinem Zimmer und spähte durch die Ritze unter Moms Tür. Da war kein Licht an. Keine Stimmen.
Ich machte mich bettfertig, zog meinen Schlafanzug an und ging zu Paiges Zimmer. Ich stand in der offenen Tür, versuchte, sie auf mich aufmerksam zu machen. Sie lag angezogen im Bett, den Kopf auf ein Kissen gestützt, las mit einer Zigarette zwischen den Fingern das Lokalblatt von Overtown, und der Rauch wand sich und stieg an dem grauen Papier entlang zur Decke auf. Sie legte die Zeitung beiseite und sah zu mir her.
«Be-de-gée, chagooksis», sagte sie. Komm rein, kleiner Scheißer.
Ich krabbelte auf ihr schmales Bett, versuchte, mich herumzuwälzen, und stieß ihr dabei den Ellbogen in die Seite. «Au! Kannst du nicht still liegen?»
Sie las. Rauchte. Schnippte die Asche ab. Drückte die Kippe aus. Zündete sich noch eine an. Blätterte um, faltete die Seiten. Schließlich ließ sie die Zeitung auf ihren Bauch sinken, und es sah wie ein kleiner Hügel aus, aber ich wusste, dass bloß ihre Kleider den machten, noch nicht das Baby. Paige stieß eine besonders lange Rauchwolke aus, und dann war sie still.
Der Kühlschrank in der Küche summte, und dann grummelte er tief wie ein Magen und schaltete sich ab. Ein Rohr in der Wand rappelte. Eine Minute Stille, bis der Kühlschrank sich summend und grummelnd wieder anschaltete. Klick. Noch ein Rohr. Stille. Das ging so weiter, bis ein anderes Klopfen dazukam, leise über den Flur und an den Wänden entlang. Es wurde lauter, kam näher, und Paige muss gespürt haben, wie ich ihren Arm umklammerte, denn sie meinte, es sei ein Rohr, aber das Klopfen wurde immer lauter, schien direkt über ihre Zimmertür zu wandern, und ich wusste, dass in dem dünnen Sperrholz keine Rohre lagen.
Paige schlug die Augen auf und schaute. Das Klopfen hörte auf, und ich hörte erneut den Kühlschrank angehen und die Fußleistenheizung pingen, aber dann wurde alles ruhig, und bevor ich mich versah, sprang Paige auf, dass ich vom Bett flog, hielt sich den Schenkel und schrie.
Paiges Schrei weckte Mom und Frick, und Mom kam in Unterhose und langem T-Shirt raus, Frick mit vorstehendem braunem Bauch über seinen blauen Boxershorts, und beide kniffen im Licht die Augen zusammen.
«Was zum Teufel ist hier los?», sagte Mom.
«Au, Scheiße!» Paige konnte ihre schwarze Hose nicht so hoch aufkrempeln, deshalb zog sie sie runter, wobei Frick entsetzt zuschaute, aber dann weiteten sich seine Augen erst richtig. Ich packte Mom am Handgelenk und hielt mich an ihr fest, während ich mir Paiges Oberschenkel anschaute. Irgendwas hatte sie da gebissen – winzig kleine Zahnabdrücke.
«Geh zur Seite», sagte Frick zu Mom.
«Könnte das an dem Schraubglas liegen?», fragte sie.
Frick ignorierte sie, trat dicht an Paige ran und besah sich die Bissspuren. Paige erzählte Mom und ihm, was wir gehört hatten, das Klopfen, dann die Stille und schließlich der Schmerz in ihrem Bein. Ich umklammerte weiter Moms Handgelenk.
Wir schauderten, aber Frick blieb ruhig. Er ging in Moms Zimmer, holte eine kleine hirschlederne Tasche raus und sagte zu Paige, sie solle mitkommen.
«Bleibt einfach im Haus», sagte er zu Mom und mir. Er war immer noch in Unterwäsche, und ich spürte, wie die Kälte durch die offene Tür drang und mich durch die Schlafanzughose zwickte. Mom und ich setzten uns an den Küchentisch. Sie rieb sich den Schädel, und ich fragte sie, ob sie Kopfweh hatte.
«Ein bisschen, gwus.»
Sie blieben lange weg, und dann öffnete Frick die Hintertür, und Paige folgte ihm, während ihr die Kälte folgte. Frick trug die Muschelschale, Rauch stieg in Spiralen auf, drehte sich und wehte davon, als er hinter sich und Paige die Tür zumachte. Er räucherte das ganze Haus – vor allem Paiges Zimmer –, und dann räucherte er Mom und mich.
Als er fertig war, segnete er seine Muschelschale und den Tabak und tat alles in die hirschlederne Tasche zurück. Mom sagte nichts. Sie umarmte Paige, gab ihr einen Gutenachtkuss, dann machte sie bei mir dasselbe und trug mir auf, ins Bett zu gehen.
Aber ich konnte nicht schlafen. Die ganze Nacht lauschte und lauschte ich auf das Klopfen, das nie zurückkam, und versuchte, nicht daran zu denken, was hinter alldem steckte. Irgendwann mitten in der Nacht stand ich auf, legte mich auf den Boden und zog die schwarze Plastikwanne unterm Bett hervor, und als sie herauskam, hing unten an der Wanne der Medizinbeutel dran, den Frick mir gegeben hatte. Vorsichtshalber pinnte ich ihn von innen an mein Schlafanzugoberteil, und die Nadel pikste mich. Ich wusste nicht, ob ich blutete. Ich betastete die Haut, aber sie fühlte sich nicht blutig an.
Ich öffnete die schwarze Plastikwanne. Die Männer nahm ich gar nicht raus – ich betrachtete sie bloß, den Haufen Plastikfiguren im Mondlicht, das durch die geteilten schwarzen Vorhänge im Fenster hinter mir fiel. Mir ging auf, dass ich einige von ihnen loswerden und Platz für neue schaffen musste. Was tun mit den alten Spielzeugmännern, deren Farbe ausblich und deren Gelenke verdreckt und verschmiert waren? Ich dachte an meinen Vater, bevor ich die Wanne leise schloss und mich wieder hinlegte. Während die Stunden vergingen – und ich immer mal wieder wegdöste –, erhellte sich mein Zimmer mit kaltem Morgenlicht, das durchs Fenster reinströmte. Ich tastete nach dem Beutel, aber er war abgefallen. Ich warf Decken und Kissen vom Bett und suchte danach; dann schaute ich zwischen Bett und Wand. Er lag ganz hinten unterm Bett. Ich versuchte dranzukommen, aber er war zu weit entfernt. Ich ließ ihn liegen und ging durch den Flur in die Küche.
Gewöhnlich tat Mom mir am Abend Cornflakes in ein Schälchen, füllte eine kleine Tasse mit Milch und stellte sie in den Kühlschrank, damit ich sie nicht zu wecken brauchte und mir mein Frühstück selbst machen konnte. Aber das hatte sie vergessen, und anstatt zu versuchen, Cornflakes in eine Schüssel zu schütten und Milch aus einem Vierliterbehälter über die Flocken aus dem Vorratsschrank zu kippen, ging ich direkt zur Couch, stellte den Fernseher an und schaute Trickfilme. Im Haus war es kalt, und Mom hatte mir aufgetragen, die Finger vom Thermostat zu lassen. Frick hatte mir immer noch nicht gezeigt, wie man den Holzofen anmachte, deshalb wickelte ich mich in eine Decke und blinzelte zum Fernseher, der nur leise an war, und wenn Werbung kam, lauschte ich, ob Mom, Frick oder Paige sich rührten, husteten oder ihr Feuerzeug anschnippten.
Ein paar Clips später hörte ich, wie eine Tür aufging und das Licht im Bad angeknipst wurde; ich hörte, wie Pipi laut ins Wasser klatschte, und ich wusste, es war Frick. Er spülte, ging aus dem Bad in die Küche und stöpselte die Kaffeemaschine ein. Er sagte nichts; vielleicht hatte er mich nicht gesehen.
Nach und nach standen alle auf, und Mom und Paige sprachen darüber, was sie zum Frühstück machen sollten, während Frick am Küchentisch saß, rauchte und an seinem Kaffee nippte. Paige briet Rührei, und Mom machte ein paar Würstchen, diese Dinger in der gelben Packung, die in der Mikrowelle heiß werden. Dazu machte sie Toast, aber wir hatten keinen Toaster, deshalb tat sie ihn in den Backofen, und das Brot wurde nicht richtig knusprig, sondern nur hart und spröde.
Mom stellte den verstaubten grauen Gettoblaster an, legte ihre Elton-John-CD ein und spielte «Tiny Dancer». Niemand sprach über das Schraubglas oder die Bissspuren. Frick und ich aßen und hörten zu, wie Mom und Paige lachten und mitsangen, den Mund voller Ei oder einem Bissen Toast, bis wir alle mit Essen fertig waren und den Song dreimal gehört hatten.
«Verdammich», sagte Mom, stand auf, stellte die Teller klappernd aufeinander und brachte sie zur Spüle. «Das waren gute Eier.»
Paige drehte sich auf ihrem Stuhl um. «Willst du das Geheimnis wissen?»
«Liebe?», singsangte Mom.
«Nein, kleine Flamme und ein Achtel Butter.»
Mom warf Paige einen langen Blick zu, so lang, wie ich